Blutsbande - Marijana Pilawa - E-Book

Blutsbande E-Book

Marijana Pilawa

5,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Die Aachener Kinderärztin und Virologin Marie Hartwig fährt für ein Jahr nach Paris, um dort an einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt im Hôpital Necker mitzuwirken. Schon im Thalys begegnet sie dem bekannten, französischen Schauspieler, André Gaston, den sie näher kennen und lieben lernt. Nach einer Vergewaltigung nimmt André die traumatisierte Marie bei sich auf und bittet sie schon kurze Zeit später seine Frau zu werden. Während ihr Mann zu Dreharbeiten in der Bretagne weilt, fühlt sich Marie in Paris beobachtet und verfolgt. Nach Andrés Rückkehr wird er in der Tiefgarage seines Hauses von zwei Attentätern überfallen und schwer verletzt. Marie erhält eine Todesdrohung.

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Seitenzahl: 284

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Marijana Pilawa: Blutsbande

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum

Text: © 2022 Copyright by Marijana Pilawa

Umschlag: © 2022 Copyright by Marijana Pilawa

Abbildung: Pixabay, lizenzfrei

Inhalt: Marijana Pilawa, Wittenberger Str. 94, 01277 Dresden,[email protected] - Alle Rechte vorbehalten - epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Erster Teil

Marie

„Danke, Papa!“ sagt Marie liebevoll.

Ihr Vater hat sie zum Hauptbahnhof nach Aachen gefahren und ihr dabei geholfen, die beiden schweren Koffer und die Reisetasche in den Thalys, der sie nach Paris bringen wird, zu tragen.

Von Kindesbeinen an herrscht ein sehr inniges und vertrauensvolles Verhältnis zwischen Vater und Tochter. Es ist eine Beziehung, auf die ihre Mutter oft sogar eifersüchtig war. „Du bist ein Papakind“, hatte sie früher häufig zu ihr gesagt. Marie hatte dies jedoch immer lachend verneint.

Zum Abschied umarmen sich Vater und Tochter noch einmal herzlich, dann steigt Marie im letzten Moment in den Zug ein, der sich fast augenblicklich in Bewegung setzt.

Marie verstaut sorgfältig das Gepäck in die Ablage und sucht schließlich den von ihr gebuchten Sitzplatz in der ersten Klasse des Großraumwagens auf. Sie hat sich für einen Platz in der hintersten Reihe des letzten Waggons entschieden, da sie aus Erfahrung weiß, dass es auch der ruhigste ist, denn hier herrscht kein Durchgangsverkehr mehr. Während sie durch den Großraumwagen geht, registriert sie, dass er nur spärlich mit Passagieren besetzt ist, da aufgrund der aktuellen Corona-Situation weitaus weniger Menschen verreisen. Und nachdem sie ihr Handgepäck untergebracht, ihren schwarzen Mantel mit Pelzkragen ausgezogen und aufgehängt hat, nimmt sie den für sie reservierten Platz ein.

Auf der anderen Seite des Ganges sitzt bereits ein Mann mit schwarzen Haaren. Sein Gesicht ist, wie auch Maries‘, mit einer medizinischen Gesichtsmaske bedeckt. Für einen Moment schaut er zu ihr hinüber. Ihre Blicke treffen sich. Sie bemerkt ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen, dass sie seltsam warm berührt.

Marie schaut aus dem Zugfenster. Es ist Januar und es hat zu schneien begonnen.

Als sie mit ihrem Vater im Auto von Kornelimünster zum Hauptbahnhof nach Aachen gefahren ist, waren es zunächst nur einige wenige kleine Schneeflocken, die von einem noch freundlichen, blauen Himmel herab rieselten. Doch seit der Thalys die unsichtbare Grenze zwischen Deutschland und Belgien überquert hat, ist der Schneefall heftiger geworden. Die vorüberfliegende Landschaft ist kurz vor Lüttich bereits mit einer mehreren Zentimeter hohen weißen Schneeschicht bedeckt. So viel Schnee hat es in dieser Region schon seit einigen Jahren nicht mehr gegeben. Der Klimawandel macht sich auch hier deutlich bemerkbar.

Marie kann sich noch gut an die heftigen Winter in ihrer Kindheit erinnern. Der Gutshof ihrer Eltern, etwas außerhalb von Aachen, schon am Rande der Eifel gelegen, war manchmal für Tage eingeschneit. Die alten, gemütlichen Wohnräume waren jedoch behaglich warm, vor allem die große Wohnküche in der Marie vor Weihnachten mit ihrer Mutter Plätzchen und andere wunderbare Leckereien gebacken hat. Ihre Erinnerungen daran sind so lebhaft, sodass sie den Duft von frischem Gebäck zu riechen vermeint. In dieser kalten, oft sogar rauen Jahreszeit hat auch ihr Vater die nötige Muße mit ihr zu spielen oder ihr aus Büchern vorzulesen. Vor allem aber zieht er das vor Freude jauchzende kleine Mädchen auf dem Schlitten über die hinter dem Gutshof gelegenen verschneiten Wiesen oder sie bauen gemeinsam Schneemänner auf dem von den Gutsgebäuden eingerahmten Innenhof.

Einige Jahre später hebt ihr Vater sie auf das kleine Pony, das ihre Eltern ihr zum sechsten Geburtstag geschenkt haben. Als Jugendliche besitzt sie sogar ein eigenes Reitpferd. Gemeinsam mit ihrem Vater oder ihrer damals besten Freundin Johanna reitet sie fröhlich über die Wiesen oder durch das direkt an den Gutshof angrenzende Waldgebiet. Diese Zeiten gehören für Marie mit zu ihren schönsten Kindheits-und Jugenderinnerungen.

Nach dem Abitur beschließt Marie in Aachen Humanmedizin zu studieren, um sich ihren langgehegten Traum, Kinderärztin zu werden, zu erfüllen. Schon wenige Tage nach Studienbeginn lernt sie Michael kennen, der etwas älter ist als sie. Sie verlieben sich ineinander und sie sind schon kurze Zeit später ein Paar. Zum Leidwesen ihrer Eltern verlässt Marie, die gerade erst im alten Gutshaus für sie frisch renovierten Räumlichkeiten, um mit Michael in ihre erste, kleine gemeinsame Wohnung zu ziehen.

Michael! Marie seufzt.

„Ihre Fahrkarte, bitte!“ Marie ist so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie den Schaffner gar nicht wahrgenommen hat.

Und nur wenig später fährt der Thalys auch schon in den Hauptbahnhof von Lüttich ein.

Es schneit mittlerweile immer heftiger. Die am Zugfenster vorüberfliegende Landschaft ist kaum noch als solche zu erkennen. Der blaue Himmel ist einem trüben dichten Grau gewichen.

Marie denkt wieder an Michael. Sie galten als Traumpaar in ihrem Freundeskreis. Die Beziehungen ihrer Freunde und Bekannte hielten mal mehr oder weniger lange. Ihre Verbindung schien jedoch von Bestand zu sein. Sie wurden darum von allen beneidet. Und tatsächlich waren sie auch jahrelang glücklich in ihrer kleinen, engen Studentenbehausung. Erst viel später als Michael und sie ihre Festanstellungen als Ärzte im Aachener Klinikum hatten, bemühten sie sich um eine größere Wohnung, die sie mit großer Freude gemeinsam mit Mobiliar und weiteren Einrichtungsgegenständen ausstatteten.

Doch vor etwa zwei Jahren hatte Michael ihr im verflixten zehnten Jahr eingestanden, ein Verhältnis mit einer Krankenschwester in Ausbildung begonnen zu haben. Sie war nun schwanger von ihm und er wollte sich, wie er Marie gegenüber sagte, seiner Verantwortung stellen und die junge Frau heiraten.

Der Thalys fährt soeben in den Hauptbahnhof von Brüssel ein. Die belgische Hauptstadt kennt sie gut, da hier eine ihre besten Freundinnen lebt. Christine und sie hatten gemeinsam ein paar Semester Medizin studiert. Christine entschloss sich jedoch noch vor Beendigung des Studiums, lieber Simultandolmetscherin zu werden. Als solche war sie nun erfolgreich bei der Europäischen Union tätig und Marie hatte die Freundin schon mehrfach in Brüssel besucht.

Nachdem der Thalys die französische Staatsgrenze überquert hat, ist der Schneefall so stark geworden, dass die Konturen der Landschaft nicht mehr eindeutig auszumachen sind. Von der Tageszeit her ist es zwar erst mittags, aber draußen ist es beinahe stockdunkel. Der Zug bewegt sich so schwerfällig, als kämpfe er sich durch einen dichten, schwarzgrauen und unwirklichen Nebeltunnel hindurch. Mit einem Mal verlangsamt er seine Fahrt, bis er schließlich inmitten des immer dichter werdenden Schneetreibens auf halber Strecke zwischen Brüssel und Paris stehen bleibt.

Erst nach einer geraumen Weile erfolgt eine Lautsprecherdurchsage des Schaffners in deutscher und französischer Sprache, der Zug habe anhalten müssen, weil ein Baum an der Bahnstrecke durch die Last des vielen Schnees auf die Schienen gefallen sei. Die Weiterfahrt werde sich auf unbestimmte Zeit verzögern, da er keine Auskunft geben könne, wie lange es dauern werde, den Baum zu beseitigen. Er bitte daher die Fahrgäste um ein wenig Geduld.

Marie schaut zu ihrem Nachbarn hinüber. Es ist, als hätte er nur darauf gewartet, denn genau in diesem Moment erwidert er ihren Blick.

Marie lässt ihre Gedanken wieder schweifen. Nachdem Michael aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen ist, hält es auch sie nicht mehr länger dort aus. Sie findet eine kleine, aber feine Wohnung im Frankenberger Viertel in Aachen und beschließt, sich auch beruflich zu verändern, indem sie an der RWTH in Aachen eine Weiterbildung zur Fachärztin für Mikrobiologie mit Schwerpunkt der Virologie beginnt.

Jetzt befindet sie sich auf dem Weg nach Paris, um im Rahmen eines internationalen Wissensaustauschs ein Jahr lang als Ärztin und Wissenschaftlerin in der virologischen Abteilung des Instituts Imagine am Hôpital Necker klinische Studien zu betreiben. Dieses Hospital ist das größte Kinderkrankenhaus in Frankreich. Es wurde als solches bereits im 18. Jahrhundert gegründet, um Kinderkrankheiten – vor allem seltene – zu behandeln und zu erforschen.

Eine dieser Krankheiten ist als Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome bekannt, kurz PIMS genannt. Bei dieser Krankheit findet in allen Organen eine Entzündungsreaktion statt. Die Kinder und Jugendlichen haben tagelang hohes Fieber, häufig zusammen mit Durchfall, Bauchschmerzen, Erbrechen, entzündeten Schleimhäuten und Ausschlägen. Mehr als die Hälfte der Erkrankten muss sogar auf der Intensivstation behandelt werden. PIMS ist zwar mittlerweile als eigenständiges Krankheitssyndrom anerkannt, tritt jedoch auffallend häufig nach einer Sars-Cov-2-Infektion auf.

Für Marie und ihre französischen Kollegen gilt es in einem gemeinsamen Projekt die PIMS-Erkrankung im Zusammenhang mit einer vorausgegangenen Covid-19-Erkrankung zu erforschen.

Marie hat für die gesamte Zeit des Forschungsprojektes mit einem französischen Kollegen, der ihre Stelle an der RWTH übernimmt, die Wohnung getauscht. Während der junge Wissenschaftler bereits in ihrem Appartement im Frankenberger Viertel eingezogen ist, verbringt sie noch ein paar ruhige Tage auf dem Gut ihrer Eltern.

Sie genießt in dieser Zeit ausgiebige Spaziergänge, die sie in der näheren Umgebung des Landgutes, allein oder manchmal auch in Begleitung ihres Vaters macht.

Die bei ihren gemeinsamen Streifzügen durch die Natur geführten Unterhaltungen geben ihr viel, sind ihr seit jeher sehr wichtig gewesen. Wenn sie mit ihrer Mutter zusammen ist, dominieren eher Gespräche über ihre private Zukunft. Für ihre Mutter war Michael der Traumschwiegersohn. Sie hat Maries Trennung von ihm weitaus weniger verwunden als Marie selbst. Und sie gibt ihrer Tochter immer wieder zu verstehen, wie wichtig es ihr ist, Marie in einer festen Beziehung zu wissen.

Marie ist dagegen erstaunt, als sie schon nach kurzer Zeit feststellt, die Trennung von Michael eher als befreiend zu empfinden. Ihr ist es augenblicklich viel wichtiger, erst einmal ihre eigene Persönlichkeit und vor allem ihre eigenen Bedürfnisse auszuloten.

Die junge Frau ist in ihre Gedanken versunken, sie bemerkt kaum, dass der Thalys sich langsam wieder in Bewegung setzt und zunehmend an Fahrt aufnimmt.

Den letzten Abend hat sie mit ihren Eltern im gemütlichen Wohnzimmer bei einem Glas Glühwein vor dem Fernseher verbracht. Ihre Mutter ist ein großer Fan, der Sendung „Wer wird Millionär“ mit Günther Jauch.

An diesem Abend ist die Sendung mit prominenten Gästen besetzt, darunter als Stargast, der auch in Deutschland sehr populäre französische Schauspieler André Gaston.

Maries Mutter ist hell auf begeistert von dem gutaussehenden Franzosen. Sie bekommt vor lauter Aufregung rote Flecke auf den Wangen. Marie und ihr Vater necken sie deswegen sogar ein bisschen.

„Ich finde ihn sehr nett“, merkt sie deshalb ein wenig gekränkt an. „Und außerdem sieht er unglaublich gut aus!“

Der Thalys läuft endlich mit etwa zwei Stunden Verspätung im Gare du Nord in Paris ein.

Maries Koffer sind schwer. Ihr Zugnachbar hilft ihr, das Gepäck auf dem Bahnsteig abzustellen. Sie bedankt sich höflich bei ihm. Er grüßt noch zum Abschied und verschwindet schließlich im Getümmel der Bahnreisenden.

Marie geht mit den beiden Koffern und dem Handgepäck mühsam beladen durch die Bahnhofshalle bis zum Ausgang des Gare du Nord, wo normalerweise jede Menge Pariser Taxis auf die Ankömmlinge warten. Normalerweise! Jedoch ausgerechnet heute nicht! Was ist los? Marie blickt sich etwas ratlos um. Vor dem Ausgang warten weitere Fahrgäste, die, wie sie, nach einem Taxi Ausschau halten. Nur wenige Meter entfernt sieht sie ihren Zugnachbarn, auch er ist offensichtlich auf der Suche nach einem Taxi.

„Was ist los? Wo sind die Taxis?“ fragt einer der Umstehenden.

„Ja, wissen Sie denn nicht, dass heute die Taxifahrer streiken!“ sagt ein vorübergehender Mann, gekleidet in der Uniform eines französischen Bahnbeamten.

Ein älterer Mann, der direkt neben Marie steht, flucht leise vor sich hin.

„Sch … Scheibenkleister!“ denkt auch Marie. „Jetzt muss ich mit der Metro fahren. Wahrlich kein Vergnügen mit den beiden schweren Koffern und dem Handgepäck, zumal jetzt auch noch Rushhour in Paris ist.“

Missmutig hält Marie Ausschau nach einem Schild, das ihr den Weg zur Metro weist. Unweit von ihr erblickt sie einen der typischen grünen Pariser „Metropolitain“-Eingänge, die zur Untergrundbahn führen. Schwerfällig wendet sie sich mit ihren Gepäckstücken dorthin.

Plötzlich hört sie eine sympathische, männliche Stimme in ihrem Rücken sagen: „Sie wollen doch nicht etwa mit den schweren Koffern in die Metro?“

Marie dreht sich um. Vor ihr steht ihr Zugnachbar.

„Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Ich werde jetzt einen Freund anrufen, der uns hier abholt und wir bringen dann auch Sie zu Ihrem Zielort.“

Marie zögert. Sie ist von Natur aus etwas schüchtern und zurückhaltend gegenüber Fremden. Er sieht ihre Befangenheit und lächelt. Marie bemerkt dabei seine sympathischen Augenfältchen über der Schutzmaske. Ohne ihre Antwort abzuwarten, zieht er auch schon sein Handy aus der Manteltasche und wählt eine Nummer. Marie hört, wie sich am anderen Ende der Leitung eine männliche Stimme meldet.

„Jean holt uns ab“ sagt ihr Zugnachbar, nachdem er das Gespräch beendet hat. „Wenn Sie einverstanden sind, Mademoiselle, bringt er auch Sie zu Ihrem Bestimmungsort.“

Marie ist sich immer noch unschlüssig, ob sie das Angebot des ihr fremden Mannes annehmen soll. Der Gedanke an die überfüllte Metro lässt sie jedoch erschaudern. Also entschließt sie sich, seine Offerte anzunehmen.

Gemeinsam stehen sie nun wartend vor dem Bahnhofsgebäude. Der Verkehr ist um diese Zeit furchtbar. Die Straßen von Paris sind mit Autos vollgestopft. Und zudem wird es auch zunehmend kälter.

Endlich nach fast einer Stunde Wartezeit hält in ihrer Nähe ein schwarzer BMW.

„Hallo André, alter Junge. Du hast dir ja den richtigen Tag zum Verreisen ausgesucht.“

„Wenn ich gewusst hätte, dass heute hier die Taxis streiken, wäre ich tatsächlich noch einen Tag länger in Köln geblieben“, kontert der so Angesprochene. „Jean, das ist übrigens die junge Dame, von der ich dir erzählt habe. Können wir sie mitnehmen?“

„Aber selbstredend! Wo müssen Sie denn hin, Mademoiselle?“ fragt Jean.

„Zum Hôpital Necker in der Rue de Sèvres“, antwortet Marie.

„Ich hoffe, Sie sind nicht ernsthaft krank?“ merkt Jean an.

„Nein, nein! Ich bin nicht ernsthaft krank“, erwidert Marie knapp.

Die beiden Männer helfen ihr, die schweren Gepäckstücke im Kofferraum des BMWs zu verstauen.

Nachdem Jean sein Navigationsgerät auf die von Marie genannte Adresse programmiert hat, steuert er den Wagen sicher durch die winterweiße französische Hauptstadt.

Paris ist wunderbar mit den vielen Lichtern und der weißen Schneeschicht, die wie Puderzucker auf den Dächern der Gebäude, an denen sie vorüberfahren, liegt. Im aufkommenden Abendnebel zerfließen die bunten Lichter und tauchen die Stadt in ein fast märchenhaftes Flair. Wenn nur die vielen hupenden Autos auf den Straßen nicht wären.

Eine dreiviertel Stunde später haben sie das Ziel erreicht – das Hôpital Necker.

Marie will Jean für die Fahrt angemessen entlohnen, aber der lehnt lachend ab.

„Nein, nein!“ sagt er. „Ich habe mir für jeden Tag eine gute Tat vorgenommen. Das war meine gute Tat für heute.“

Marie bedankt sich verlegen.

Ihr Zugnachbar hat in der Zwischenzeit die beiden Koffer und ihr Handgepäck aus dem Kofferraum des BMWs geladen.

Die junge Frau bedankt sich auch bei ihm und will sich verabschieden.

„Tun Sie mir noch einen kleinen Gefallen?“ fragt er lächelnd.

„Wenn ich kann!“ sagt sie vorsichtig.

„Wollen wir uns morgen Nachmittag um 15 Uhr wieder hier an dieser Stelle treffen?“

Marie schaut den Mann etwas unsicher an. Er bemerkt ihre Verlegenheit.

„Ich würde Sie einfach gerne wiedersehen! Ja?“

„Ja, in Ordnung!“ antwortet sie leise.

„Na, dann bis morgen.“ Er nickt ihr noch einmal zu und geht lächelnd davon.

Marie winkt noch einmal, dann fährt der Wagen an und taucht im strömenden Verkehr von Paris schnell unter.

Marie sucht den Eingang des nahegelegenen Ärzte-und Gästehauses des Hospitals, in dem sie nun ein Jahr lang wohnen wird. Sie läuft mit ihrem sperrigen Gepäck an der Gebäudefassade entlang, bis sie schließlich das Eingangsportal entdeckt.

Im vorderen Bereich eines langgestreckten Flures befindet sich ein kleiner Raum, mehr ein Glaskasten, ähnlich einer alten Kinokasse. Darin sitzt ein ältlicher Mann in einem blauen Kittel, wohl der Hausmeister oder Concierge.

Marie geht auf ihn zu und stellt sich vor.

Der Mann bringt sie schließlich zu ihrem Zimmer in der vierten Etage des Gebäudes. Er schließt ihr den Raum auf und überreicht ihr, bevor er sie verlässt, den Zimmerschlüssel.

Das Zimmer besitzt die Form eines langgestreckten Schlauchs und hat große Ähnlichkeit mit einem Tigerkäfig, in dem man nur auf und ab gehen kann. Es ist spartanisch eingerichtet: ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein paar Regale voll mit Büchern, in einer Nische befindet sich noch ein Waschbecken. That‘s all!

„Oh je, kein guter Tausch“, denkt sie.

Ihr französischer Kollege dagegen ist nun in ihrer kleinen, geschmackvoll eingerichteten Wohnung in Aachen. Sie muss sich nun ein Jahr lang Küche, Bad und WC mit zwölf anderen Bewohnern auf der Etage teilen.

„Na, ja! Das habe ich ja vorher gewusst! Bei den Mieten hier in Paris kann ich zu diesem Preis nicht wirklich viel erwarten.“

Und kalt ist es außerdem! Also erst einmal die Heizung aufdrehen.

Marie inspiziert an ihrem ersten Morgen in Paris zunächst einmal die Waschgelegenheiten ihrer Unterkunft. Der Duschraum befindet sich am Ende eines langen Ganges. Es ist ein unangenehmer, kalter weißgefliester Raum, in dem es keine separat abgeschlossenen Duschkabinen gibt, sondern nur glitschige Vorhänge, welche die Duschbecken voneinander abtrennen.

Ebenso abstoßend findet sie die Gemeinschaftsküche, da der Raum einen äußerst schmuddeligen Eindruck vermittelt, wozu nicht zuletzt die auf dem Küchentisch vom Vortag übriggebliebenen Krümel und Kaffeeränder beitragen. Ein Blick in die beiden Kühlschränke weist ein ähnlich unappetitliches Bild vor ihren Augen auf. Zwischen vielen Bierflaschen stehen unter anderem alte Joghurtbecher, Gläser mit Marmelade-und Butterresten, welche bereits ein grünlich-haariges Eigenleben entwickelt haben.

Marie verspürt Übelkeit in ihrem Magen aufsteigen, die ihr jeglichen Appetit auf ein Frühstück versagt, obwohl sie seit gestern Vormittag nichts mehr gegessen hat.

Sie beschließt gleich nach dem Duschen erst einmal das weitläufige Krankenhausareal zu erkunden. Allerdings kommt sie nicht allzu weit. Denn schon am ersten Eingang verweigert man ihr den Zutritt, da sie ohne einen gültigen Mitarbeiterausweis das Hospitalgelände nicht betreten darf. Zumal auch die Einlasskontrollen aufgrund der Corona-Maßnahmen strenger als üblich durchgeführt werden.

Marie ruft daraufhin mit ihrem Mobiltelefon in der Personalabteilung ihrer zukünftigen Arbeitsstätte an, mit der Bitte, ihr den Zugang zum Gelände des Hôpital Necker zu ermöglichen. Ein kurzer Anruf der virologischen Abteilung beim Pförtner reicht aus, ihr den Einlass ins Krankenhaus zu gewähren.

Und so sucht sie mit einem Plan des Geländes, den ihr der Pförtner mitgegeben hat, zuallererst die Personalabteilung auf, wo man ihr vorläufige Zugangsdokumente ausstellt, mit welchen sie nun ungehindert den gesamten Komplex des Hospitals betreten darf.

Auf dem Weg dorthin entdeckt sie zu ihrer großen Freude eine Cafeteria, die sogar geöffnet ist. Das Frühstück ist damit schon mal gesichert.

Und etwas später findet sie auf ihrem Orientierungsgang über das weitläufige Klinikgelände auch noch eine Personalkantine. Wunderbar – für die elementaren Bedürfnisse des täglichen Lebens ist nun ausreichend gesorgt.

Mit dem Geländeplan in der Hand sucht sie die Forschungseinrichtung Imagine des Hôpital Necker auf, um sich mit ihrem zukünftigen Arbeitsplatz und ihren neuen Kollegen vorab ein wenig vertraut zu machen.

Da sie ihre Forschungsstelle erst zum Beginn des Monats Februar antritt, hat sie noch ein paar Tage Zeit den gesamten Klinikkomplex sowie das nähere Umfeld ausgiebig zu erkunden. Das weitläufige Areal mit seiner Vielzahl von Gebäuden umschließt in seinem Zentrum auch zwei liebevoll angelegte Grünflächen.

Marie beschließt jedoch ihre Entdeckungstour für heute zu beenden, um in ihre bescheidene Behausung im Gästehaus zurückzukehren.

In ihrem Zimmer angekommen, beginnt sie Koffer und Reisetasche auszupacken. Dabei macht sie eine erstaunliche Entdeckung. Der Kleiderschrank ist bis zur Innendecke mit zum Teil sehr dicken medizinischen Fachpublikationen und Zeitschriften vollgestopft. Als sie die Schranktür öffnet, fallen ihr die Wälzer entgegen. Marie gelingt es gerade noch rechtzeitig zur Seite zu springen, um nicht von den schweren Büchern erschlagen zu werden. Eines nach dem anderen fällt polternd zu Boden. Die junge Frau schüttelt entrüstet mit dem Kopf. Wo soll sie denn nur ihre Kleider und ihre anderen persönlichen Dinge unterbringen? Sie beginnt einige der Bücher in der kleinen Nische zwischen Schrank und Waschbecken aufzustapeln, um wenigstens einen Teil des Schrankes für ihre Kleidungsstücke nutzen zu können. Bei dem fast aussichtslosen Versuch, nur etwas Behaglichkeit in dem kleinen Zimmer zu schaffen, vergeht die Zeit im Nu.

Ganz plötzlich fällt ihr wieder ein, dass sie um 15 Uhr eine Verabredung hat. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Marie spürt etwas Nervosität in sich aufsteigen. Ihr Herzschlag beschleunigt sich. Ein Date mit einem wildfremden Mann! Ist das wirklich klug? Ausgerechnet sie, die immer so zurückhaltend gegenüber anderen ist, lässt sich auf so etwas Ungewisses ein.

Aber Marie spürt auch Abenteuergeist in sich aufkeimen. „No risk, no fun“, denkt sie. „Und irgendwie muss ich hier schließlich Leute kennenlernen.“

Und so macht sie sich schnell ein wenig frisch und legt noch ein besonders sorgfältiges Augenmakeup auf, während der Rest des Gesichts dank der Schutzmaske ruhig vernachlässigt werden kann.

Nur wenige Minuten vor 15 Uhr verlässt sie endlich das Zimmer und kommt etwas atemlos vor dem Eingang des Gästehauses an.

Und da sieht sie ihn auch schon stehen und warten, genau dort, wo sie gestern aus dem BMW gestiegen ist und wo sie sich voneinander verabschiedet haben. Sie erkennt ihn sofort wieder, das schwarze Haar, der schwarze Mantel. Er wird heute Nachmittag von einer schwarzen französischen Bulldogge begleitet, die er sorgsam an der Leine mit sich führt.

Auch er hat die junge Frau sofort bemerkt und kommt ihr nun ein paar Schritte entgegen.

Nicht nur Marie ist nervös. Auch das Hündchen kläfft sie böse an. Das Tierchen möchte ihr wohl zu verstehen geben, seinem Herrn bloß nicht zu nahezutreten.

Erst als er sachte auf die kleine Bulldogge einspricht, beruhigt sie sich ein wenig.

„Hallo“, begrüßt er Marie nun. „Ich habe schon befürchtet, Sie würden gar nicht kommen.“

Seine leuchtend blauen Augen – oder sind sie grün, Marie ist sich da nicht ganz schlüssig – strahlen vor Freude. Es sind Augen mit einem unglaublichen Tiefgang.

„Ich könnte mich darin verlieren“, denkt Marie verwirrt. Sie ist es auch, die als erste ihren Blick abwendet.

„Hallo“, erwidert auch sie nun etwas schüchtern.

Um ihre gegenseitige Verlegenheit zu überbrücken, sagt er: „Ich heiße übrigens André.“

„Und ich Marie“, antwortet Marie leise.

„Wollen wir ein bisschen spazieren gehen? Titus braucht ein wenig Auslauf, darum ist er auch so nervös.“

André schlägt dann auch sogleich die Richtung zum nahegelegenen Jardin du Luxembourg ein.

Auf dem Weg dorthin reden sie nur wenig.

Der Jardin du Luxembourg bietet sich ihnen wie eine traumhaft schöne Winterlandschaft dar. Es ist zwar bitterkalt, aber der Schnee glänzt in der bereits tief stehenden Januarsonne. Die Bäume, die Blumenrabatten – oder das, was unter der dicken Schneeschicht zu vermuten ist – die Wasserbecken und Skulpturen gleichen einer Märchenlandschaft.

Die Sonne hat die Pariser in den Park gelockt, denn zahlreiche Menschen wandeln wie Marie und André in der Anlage und genießen die Sonnenstrahlen.

Das kleine Hündchen stapft mit seinen kurzen Beinen tapfer neben ihnen durch den Schnee.

Hin und wieder fällt der Schnee von den Bäumen auf die nur wenig freigeräumten Gehwege.

Titus bellt den vor seiner Nase herunterfallenden Schnee verärgert an.

„Ist doch schon genug hier unten“, scheint er sagen zu wollen.

„Titus ist sehr eigenwillig“, lacht André. „Er bringt halt seinen Unmut über Alles und Jeden gerne zum Ausdruck. Aber vielleicht ist es auch nur meine schlechte Erziehung.“

Sie dringen tiefer und tiefer in die Parkanlage ein. Und je weiter sie gehen, desto weniger Besucher sind noch zu sehen, so dass sie nun fast allein unterwegs sind.

Plötzlich bleibt André stehen und sagt: „Wie wäre es, wenn wir unsere Gesichtsmasken abnehmen und einfach mal die frische Luft in vollen Zügen genießen?“

Marie nickt zustimmend und André zieht denn auch als erster der beiden seine Maske vom Gesicht.

Marie verschlägt es die Sprache.

„Mein Gott, kann das sein? Den habe ich doch erst vor einigen Tagen gemeinsam mit meinen Eltern in der Show bei Günther Jauch gesehen.“

Sie schaut André fassungslos an.

„Nein, oder?“ bringt sie nur heraus.

André Gaston hat schon viele Situationen wie diese erlebt. Deswegen lacht er einfach nur und fragt schelmisch: „Schlimm?“

„Nein, nur habe ich das nicht erwartet!“ antwortet sie verlegen.

„Jetzt sind Sie dran! Wollen Sie Ihre Maske nicht auch mal ausziehen?“

Langsam und bedächtig streift nun auch Marie ihre Maske vom Gesicht. Irgendwie, tief in ihrem Innersten, hofft sie inständig, dass sie ihm gefällt.

Er blickt sie lächelnd an. Und nach einem kurzen Moment des Schweigens und Schauens sagt er: „Ich wusste gleich, als Sie in den Zug gestiegen sind, dass Sie eine schöne Frau sind! Und jetzt sehe ich, Sie sind sogar sehr schön!“

„Ich vermute mal, Sie haben das schon zu vielen Frauen gesagt.“

Wieder lacht André auf.

„Stimmt! Das habe ich schon zu vielen Frauen gesagt! Und … ich meine es auch jedes Mal ernst! Aber in Ihrem Fall – wow!“

Er schaut sie voller Bewunderung an.

Marie wendet sich schüchtern von ihm ab.

André bemerkt ihre Verlegenheit und wechselt darum schnell das Thema. Er lobt ihr gutes Französisch und fragt schließlich, was sie nach Paris geführt hat.

„Urlaub kann es ja in der Corona-Zeit nicht unbedingt sein, da die Hotels, die Museen, die Bistros und Bars geschlossen sind.“

Marie ist froh über den Themenwechsel. Sie erzählt ihm, dass sie sich im Rahmen eines Forschungsprojektes in Paris aufhält, um in Kooperation mit französischen Wissenschaftlern die Verbindung einer sehr seltenen Kinderkrankheit und einer vorausgegangenen Covid-19-Erkrankung zu untersuchen.

Er hört Marie aufmerksam zu, während sie spricht und stellt zuweilen interessierte Fragen.

Inzwischen ist es fast dunkel geworden, so dass sie den Rückweg zum Hôpital Necker antreten.

In Paris herrschen aufgrund der Corona-Maßnahmen strenge Ausgangsregeln. Seit ein paar Tagen gibt es hier eine bußgeldbewehrte landesweite Ausgangssperre von 18 Uhr abends bis 6 Uhr in der Früh. Seit dem vergangenen Jahr besteht in allen öffentlich zugänglichen, geschlossenen Räumen wie Geschäften, Banken, Bahnhöfen und Flughäfen eine Verpflichtung zum Tragen einer Gesichtsmaske. Diese Verpflichtung wurde etwas später auch auf Straßen, Plätze und andere öffentliche Orte mit dichterem Publikumsverkehr ausgedehnt. Dies gilt insbesondere für viele Bereiche der Innenstadt von Paris.

Vor dem Eingang des Gästehauses angekommen, verabschieden sie sich voneinander.

„Morgen um 15 Uhr wieder hier?“ fragt André gespannt. Marie schaut ihn an und lacht fröhlich. „Bis morgen!“

Maries erste Tage in Paris vergehen wie im Flug. Morgens erkundet sie zumeist das weitläufige Krankenhausareal und die nähere Umgebung des Hôpital Necker.

Das Forschungsinstitut Imagine ist in einem modernen Gebäude untergebracht, welches von den Architekten Jean Nouvel und Bernard Valéro entworfen worden ist. Es befindet sich an der Ecke des Boulevard du Montparnasse und der Rue du Cherche-Midi und ist erst vor wenigen Jahren eröffnet worden. Diese Einrichtung ist dazu gedacht, alle, die an der Erforschung und Behandlung seltener Krankheiten beteiligt sind, eine intensive Zusammenarbeit zu ermöglichen.

Imagine gestattet Wissenschaftlern wie Marie, eine tägliche Nähe zu den Patienten und stärkt gleichzeitig die Kooperation mit den medizinischen Fachkräften und dient letztlich einer schnelleren Erforschung von seltenen Krankheiten.

Für Marie ist es damit die ideale Forschungsstätte, da sie mit ihrer zweigleisigen Ausbildung zur Kinderärztin und Virologin genau diese Schnittstelle ausfüllt.

Die Forschungsräume, in denen eine Vielzahl von Wissenschaftlerteams und Kerneinrichtungen untergebracht sind, befinden sich in der zweiten und fünften Etage des Gebäudes. Sie sind um ein riesiges, modernes Atrium, das von Tageslicht durchflutet wird, gruppiert. Balkone, Gärten und Tagungsräume dienen den Mitarbeitern und Patienten als abwechslungsreiche Treffpunkte, die das Zusammengehörigkeitsgefühl von Wissenschaftlern, Ärzten und Patienten zusätzlich fördern.

Nachdem Marie ihren Erkundungsrundgang auf dem ausgedehnten Gelände des Hôpital Necker weitgehend abgeschlossen hat, sucht sie auch schon erste Kontakte zu den Ärzten in den Facheinrichtungen für Kinderheilkunde, um mit ihnen ihre Erfahrungen über die PIMS-Erkrankung von Kindern auszutauschen. Diese Erkenntnisse spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der klinischen Untersuchungen, die sie in den kommenden Monaten im Imagine vornehmen wird.

Ihr Forschungslabor befindet in der fünften Etage des großen, modernen Gebäudes. Schon die ersten Besuche in der virologischen Abteilung des Imagine zeigen ihr, dass dort enge, freundschaftliche Beziehungen zwischen der wissenschaftlichen Institution und dem pflegerischen und ärztlichen Personal vorherrschen.

Zu ihrer großen Freude sind ihre künftigen Teamkollegen auch sehr nett und offen, der Umgangston ist locker und fröhlich. Marie ist, was ihren neuen Arbeitsplatz betrifft, guter Dinge.

Auch im Ärzte-und Gästehaus des Hôpital Necker hat sie erste Kontakte, die aber weitaus weniger erfreulich sind. Ihr Zimmernachbar entpuppt sich als ein sehr aufdringlicher Zeitgenosse, der seine Stereoanlage erst nach 22 Uhr so richtig laut aufdreht und damit das ganze Umfeld gnadenlos belästigt. Maries freundliche Bitte, die Einhaltung der nächtlichen Ruhe zu wahren, führt lediglich dazu, dass er die Musik noch einen Tick lauter einstellt.

Ein anderer Mieter pöbelt sie mit sexistischen Bemerkungen, sobald sie sich in den Gemeinschaftsräumen und auf dem Flur begegnen, an. Marie versucht daher, diesen beiden unangenehmen Männern nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Sie meidet vor allem die Küche, die ihr ohnehin zu schmuddelig ist.

Bereits am zweiten Abend ihres Aufenthaltes im Gästehaus ruft auch ihr französischer Austauschpartner an. Er teilt ihr aufgeräumt seine Begeisterung über ihre schöne Wohnung in Aachen mit.

„Ja, glaube ich“, denkt Marie traurig. „Du hast es bei weitem besser getroffen. Ich habe diesbezüglich die Arschkarte gezogen.“

Mittlerweile freut sich Marie über ihre gemeinsamen Nachmittagsspaziergänge mit André Gaston, bei denen sie die nähere Umgebung des Hôpital Necker ausgiebig erkunden. Sie werden auch immer vertrauter im Umgang miteinander.

André erzählt ihr von seinem Leben als Schauspieler, von seiner Arbeit an den unterschiedlichsten Filmsets der Welt, von seinen Kollegen. Er bringt Marie mit lustigen Begebenheiten aus seinem Schauspielerdasein auch immer wieder zum Lachen.

Sie lachen überhaupt sehr viel, denn André besitzt einen unbeschreiblichen Humor. Er schildert ihr seine Erfolge, aber er scheut sich auch nicht über seine Misserfolge zu berichten.

In Deutschland ist er bekannt, seit er vor vielen Jahren auf der Berlinale den Silbernen Bären als bester Nebendarsteller in einem französischen Jugenddrama erhalten hat und daraufhin sofort von einer deutschen Produktionsfirma für eine Hauptrolle in einem Historienfilm besetzt wird. Seit dieser Zeit ist er immer wieder in deutschen und deutsch-französischen Filmen zu sehen.

Seine ersten Deutschkenntnisse hat er auf einem sprachlich ausgerichteten Gymnasium in seiner Heimatstadt Brest erworben. Um in Deutschland arbeiten zu können, hat er fleißig Deutsch gelernt und somit seine Sprachkenntnisse immer weiter ausgebaut.

Gerade im Moment hat er eine Durststrecke als Schauspieler zu überstehen und das ist nicht nur dem Stillstand der Filmindustrie aufgrund von Corona geschuldet.

Aber seit ein paar Tagen ist er wieder optimistisch. Er wird die Hauptrolle in einem Kriminalfilm, der in der Bretagne spielt, übernehmen. Erst vor wenigen Tagen fand das für ihn erfolgreiche Casting statt.

André freut sich nicht nur darüber, wieder als Schauspieler arbeiten zu können, sondern er freut sich vor allem deshalb darauf, weil die Außenaufnahmen hauptsächlich in seiner Heimat entstehen werden.

André ist dort geboren, er hat dort seine Wurzeln und er ist, wie Marie sehr schnell bemerkt, mit Leib und Seele ein Bretone.

Seine Mutter lebt immer noch in Brest. Er freut sich sehr darauf, sie dann auch häufiger zu sehen.

Die Dreharbeiten zu seinem neuen Film werden den ganzen April über in der Bretagne stattfinden.

Auch Andrés kleine Bulldogge Titus, die sie auf ihren Spaziergängen immer begleitet, scheint Marie langsam zu akzeptieren. Manchmal schaut Titus sie noch mit einem kritischen Blick von der Seite her an, der ihr wohl sagen soll, solange ich die Nummer eins bei meinem Herrn und Meister bin, ist alles gut!

Marie arbeitet nun bereits seit einer Woche in der Forschungseinrichtung am Hôpital Necker. Ihre Arbeitstage betragen bis zu zehn, manchmal elf Arbeitsstunden, nicht selten auch länger. Die Routine setzt schnell ein, da sie ihre Studien, die sie bereits in ihrem Institut an der RWTH in Aachen begonnen hat, in Kooperation mit ihren französischen Kollegen fortsetzt.

Es geht vor allem um die Früherkennung der PIMS-Erkrankung und um die besten Behandlungsmöglichkeiten. Dazu werden die Inzidenzen und die klinischen Verläufe der Erkrankung und ihr Zusammenhang mit verschiedenen Risikofaktoren ausgewertet. Genetische Studien von an SARS-CoV-2-infizierten Kindern werden weltweit zusammengetragen, um mehr Informationen über die Verbindung bestimmter Gene mit den PIMS-Symptomen zu liefern. Ein wichtiger Baustein ihrer Forschungen bildet die langfristige Nachsorge von pädiatrischen COVID-19-Überlebenden.

Trotz ihrer anstrengenden Tätigkeit liebt Marie ihre Arbeit, vor allem auch deswegen, weil sie die direkte, praxisbezogene Nähe der Forschungseinrichtung zu den erkrankten Kindern schätzt.

André sieht sie jetzt nur noch selten. In ihrer kargen Freizeit telefonieren sie nun abends miteinander.

André liest zurzeit in einem Studio in Paris ein Hörbuch ein.

Der einzige Wermutstropfen in ihrem alltäglichen Dasein stellt ihre Unterkunft dar. Marie fühlt sich in ihrem Zimmer im Ärzte-und Gästehaus immer unwohler. Sie denkt sogar ernsthaft darüber nach, sich eine andere Wohnung in Paris zu suchen.

An Maries erstem freien Wochenende holt André sie ab, um mit ihr und Titus, wie er scherzhaft sagt, eine Landpartie zu unternehmen.

Als Marie aus dem Gästehaus tritt, wartet er bereits auf sie. Er steht mit verschränkten Armen vor einem silberfarbenen Mercedes und öffnet ihr – ganz gentlemanlike – die Autotür.

Die Fahrt führt sie nach Versailles, wo er seinen Wagen auf einem Parkplatz ganz in der Nähe des Petit Trianon abstellt.

Um diese Jahreszeit ist der Park von Versailles fast menschenleer. André kennt die Gartenanlage zwar von Dreharbeiten her, er war jedoch noch nie privat hier. Und so hat er einen Plan des Parks aus dem Internet ausgedruckt, der ihnen den Weg zum Petit Trianon weist, dem kleinen Lustschlösschen, in welchem sich die Gemahlin des französischen Königs Ludwig XVI., Marie-Antoinette, von der Etikette und der Strenge des Versailler Hoflebens zurückziehen konnte.

Er erzählt Marie, während sie durch die Anlagen spazieren, ein wenig von der Geschichte Versailles. Marie-Antoinette war es denn auch, die den Gartenbereich in diesem Teil des Parks nach englischen Vorbildern umgestalten ließ. Östlich des Petit Trianon gelegen, finden sie schließlich auch das kleine Dorf, das nach dem Wunsch der französischen Königin entstand und in das sie sich gelegentlich zurückziehen konnte. Eine solch ländliche Idylle war damals in Mode, das Leben auf dem Lande wurde mit der Vorstellung von Freiheit und Schönheit verbunden. Im ausgehenden 18. Jahrhundert propagierten Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau ein Leben nah an der Natur. Mit diesem Dorf oder hameau de la reine, so der französische Begriff, machte sich die Königin beim Volk sehr unbeliebt, berichtet André weiter. Ihre angebliche Verschwendungssucht hatte ihr einen schlechten Ruf eingebracht, und die Vorstellung, dass sich Marie-Antoinette mit silbernen Rechen oder kleinen Eimern aus Porzellan dem „bäuerlichen Leben“ hingab, ärgerte nicht nur das Landvolk, das zu dieser Zeit ein erbärmliches Dasein führte. Zudem war das Gerücht im Umlauf, der Unterhalt des Dörfchens verschlinge Unmengen von Geld. Das Schicksal Marie-Antoinettes ist allseits bekannt. Sie wurde während der Französischen Revolution hingerichtet, schließt André seine Erläuterungen ab.

„Arme Marie-Antoinette!“ entfährt es Marie.

„Wieso arm? Sie hat ein verschwenderisch-luxuriöses Leben geführt, während das Volk hungerte!“ erwidert André.

„Das rechtfertigt keineswegs, dass sie auf diese Weise sterben musste!“ sagt Marie mit erstaunlicher Entschiedenheit.