Blutzoll - Alexander Wohnhass - E-Book

Blutzoll E-Book

Alexander Wohnhass

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Beschreibung

Die verstörende Geschichte eines Söldners, der die zu jagen beginnt, die ihn einst beauftragten. Selbst zur Zielscheibe von Polizei, Verbrechern und Medien geworden, zieht er eine Spur der Verwüstung durchs Land. Alexander Wohnhaas – der Sänger von MEGAHERZ – legt mit Blutzoll einen absolut bösen Thriller vor, der unserer Gesellschaft erbarmungslos den Spiegel vorhällt. Die edle Erstauflage in der SPECIAL EDITION erscheint Ende Dezember/Anfang Januar: • Edles Hardcover im Maxi-Format, 320 Seiten • eingeschlagen in rotes Iris-Leinen, mit aufwendiger Prägung • farbiger Vor- und Nachsatz • Hochwertiger Schutzumschlag, vollfarbig bedruckt • Limitierte Erstauflage

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1. Auflage Dezember 2015

©opyright 2015 by Alexander Wohnhaas

Cover By Agnieszka Szuba, www.tbwcreative.com

Satz: nimatypografik

ISBN: 978-3-944154-41-1

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

Genehmigung des Verlags gestattet.

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U-line UG (haftungsbeschränkt)

Neudorf 6 | 64756 Mossautal

www.u-line-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Bruchstücke einer Erinnerung, Afghanistan

Etwa ein Jahr später

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EpilogNachspiel

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Schlusswort

Ein besonderes Dankeschön!

Gewidmet allen Opfern kriegerischer Auseinandersetzungen und denjenigen, die unter Terror und Verfolgung leiden.

Vorwort

Hallo und herzlich willkommen in meinem neuen Roman Blutzoll – Der Tod riecht nach Diesel und Schwefel.

Die Arbeit von über 3 Jahren Recherche, Ideen sammeln, unzähligen Gesprächen, welche die Vielfalt meiner Charaktere bereichert haben und mir halfen, diese Geschichte so authentisch wie möglich zu gestalten, hat nun ein Ende und ich darf Dir, lieber Leser, endlich meinen neuen Roman anvertrauen. Er beinhaltet viele aktuelle Themen, die ich gewissenhaft recherchiert und über die ich mir viele Gedanken gemacht habe, bevor ich sie in meine Geschichte einfließen ließ. Dennoch ist und bleibt es eine fiktive Geschichte. Alle Personen und Örtlichkeiten, die ich darin beschreibe, sind erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder existierenden Orten ist zufällig. Der Name der Stadt wird nicht genannt und auch Bärlachsfeld, das Viertel, in dem der Großteil der Rahmenhandlung passiert, ist ebenso meiner Fantasie entsprungen. Dennoch glaube ich, dass diese Geschichte in vielen deutschen oder auch europäischen Städten so oder so ähnlich passieren könnte.

Wer an Hintergründen interessiert ist, was mich zu dieser Geschichte bewegte, auf welchen Grundlagen ich das Ganze aufgebaut habe usw., den verweise ich auf das Schlusswort, das ich absichtlich ans Ende dieser Geschichte gesetzt habe.

In diesem Sinne wünsche ich Dir, lieber Leser, hiermit ein anregendes und hoffentlich kurzweiliges Lesevergnügen.

Bruchstücke einer Erinnerung, Afghanistan

Die Sonne knallt wie ein wütendes Versprechen auf die felsige Landschaft. Ich begleite eine amerikanische Einheit in den Süden Kandahars. Die Amerikaner haben mich schon öfter angeheuert. Ich kenne mich hier aus, doch was heißt das schon in dieser gottverlassenen Gegend?

Das Dorf liegt vor uns. Drei gepanzerte Transporter, vollbesetzt mit etwa fünfzig Mann, brettern über die löchrige Piste. Es gibt nur einen Weg und der tiefe Graben daneben lauert wie eine tödliche Schlangengrube. Kundschafter haben uns berichtet, dass das Dorf sicher sei. Die Taliban wären abgezogen, weiter südlich in die Berge. Kundschafter, die auf meiner Gehaltsliste stehen. Doch kann ich ihnen trauen? Kann ich irgendjemandem in diesem Land trauen, dessen Loyalität gerade so weit reicht, wie man spucken kann? An einem Tag wird man gastfreundlich bewirtet, von jedermann mit offenherzigen Worten begrüßt und am nächsten schlitzen die gleichen Männer einem die Kehle auf. Nichts, was ich woanders nicht auch schon erlebt hätte. Doch dieses Land und ihre Leute sind unerbittlich. So störrisch wie ein Esel, so wild wie Broncos und so rachsüchtig wie Sizilianer.

Kein angenehmer Ort, doch das ist es ja nie.

Als wir das Dorf erreichen und die Kolonne eine enge Straßenmündung passiert, springt plötzlich aus einer Seitengasse ein Junge auf die Straße. Er rennt einem roten Fußball hinterher der über die Straße kullert. Die heran donnernden Fahrzeuge scheint er nicht zu bemerken oder er glaubt, seinen Ball noch retten zu können, bevor wir darüber fahren und ihn platt walzen.

Der Beifahrer lacht grimmig und brüllt:

«Gib Gas! Fahr ihn zu Brei!»

Der Krieg macht aus jedem Menschen etwas anderes.

Der Fahrer hingegen wirkt unsicher. Er ist noch jung, vermutlich erst wenige Tage oder Wochen im Einsatz. Er wird langsamer.

«Mann, gib Gas!» motzt der Beifahrer. «Wir dürfen hier nicht stehenbleiben!»

Der Ball rollt direkt auf unser Fahrzeug zu. Der Junge achtet gar nicht auf uns. Er sieht nur den Ball, als wären wir Luft. Das Ganze sieht so komisch aus, dass man es für einen Witz hätte halten können, doch ich weiß es besser.

Der Fahrer steigt in die Eisen, der Beifahrer schreit entsetzt und ich ducke mich und gehe in Deckung. In dem Moment fliegt auch schon die erste Sprengladung in die Luft. Bumm!

Etwa ein Jahr später

1

«Es gibt mehr als nur eine Hölle, an der man zugrunde gehen kann. Im Altersheim zwischen demenzkranken Schwachsinnigen, im Rinnstein liegend durch einen goldenen Schuss, der einen direkt zu den Sternen katapultiert, oder mit einem Riesenknall, mit Pauken und Trompeten, im heißen Feuer explodierender Napalmbomben.

Ja, das wäre ein Ende nach meinem Geschmack.

Am allerschlimmsten ist jedoch die Hölle, die man sich selber schafft. Die einen auffrisst, von innen heraus. Wie ein Wurm, der einen Apfel aushöhlt, oder eine eingefangene Kugel, die sich allmählich durch die Eingeweide frisst, bis man qualvoll und elendig an der eigenen Scheiße krepiert.

Ich habe sie alle schon erlebt. Jegliche erdenkliche Art der Erniedrigung, Vergiftung, Zerstörung menschlichen Daseins.

Ich bin ein Söldner. Einer, der für Geld Krieg spielt.

Wenn man nichts anderes gelernt hat, außer zu töten und anderen das Leben zur Hölle zu machen, gar kein so übler Job. Gut bezahlt und, wie gesagt, ein Ende mit Pauken und Trompeten fast schon inklusive.

Außerdem kommt man viel rum. Irgendwie fühlt man sich sogar wie ein Tourist. Nur dass man statt der schönsten die schlimmsten Orte auf Erden besucht. Dort, wo es keine Regeln gibt, außer der einen, die über allem steht. Sei schneller und cleverer als der Dummkopf, den du gerade ins Jenseits befördern willst.

Ideale, irgendwelche Ambitionen oder so einen Schwachsinn überließ ich stets meinen Auftraggebern.

Mich interessierte nur Bares und die Action.

Schnell rein, viel Krach machen und im Blut der anderen waten.

Unzählige Jahre habe ich das ausgehalten. Wie eine Maschine gelebt.

Es gab keinen Krieg, der mir zu schmutzig war, keinen Auftrag, der zu große Risiken barg, und kein Geld, das zu sehr stank.

Wenn man sieht, wie kleine Kinder im Granathagel einer Splitterbombe zerfetzt werden oder Soldaten wie Tiere über Frauen herfallen und ihnen nicht nur ihr Ding unten reinstecken, sondern auch mal eine Pistole oder den Lauf ihres Gewehrs – in Afrika erledigen sie das manchmal auch nur mit Macheten. Es gibt Tage, da denke ich, die ganze Welt ist ein einziges, verrücktes Schlachthaus. Ja, wenn man das alles und noch viel gemeinere Dinge gesehen hat, dann stumpft man mit der Zeit einfach ab oder schießt sich selbst eine Kugel in den Kopf, nur um diese Bilder wieder loszuwerden.

Letztere bringen sowieso nicht die richtige Einstellung für diesen Beruf mit sich.

Ich habe versucht, mich aus derlei Schweinereien immer so gut es ging herauszuhalten. Aber Gewalt gehört nun mal dazu. Jeder weiß das. Der Tod ist unser Geschäft und das Sterben gehört zum Krieg wie all die anderen Dinge, die ich Ihnen erzählt habe.

Hören Sie genau zu. Ich will ja, dass Sie meine Situation richtig beurteilen.

Krieg, das sind nicht diese High-Tech-Szenen, die man aus dem Fernsehen kennt und die mehr an Videospiele erinnern, als an die tatsächliche Hölle, die in dem Moment losbricht, wenn die Bombe einschlägt, die Panzer ihre Granaten abfeuern und wir hineingehen. Mann gegen Mann. Mit Gewehren, Messern und manchmal sogar mit bloßen Fäusten. Zerrissene Körper, verbrannte Leichen, abgetrennte Gliedmaßen, die man kotzend, blutend im Dreck eines Hinterwäldlerdschungels zusammensucht, während man selbst am Verbluten ist. Mancher Pechvogel kommt nur noch scheibchenweise aus dieser Scheiße heraus.

Das sind alles Bilder, die keiner gerne im Fernsehen sieht, nicht wahr? Dort zeigt man lieber Generäle in adretter Uniform oder Ziele, die wie in einem Ego-Shooter aus weiter Entfernung terminiert werden, in Rauch aufgelöst, wie ein bösartiges Geschwür, das man mit einem Skalpell sauber herausoperieren kann. Damit sind dann alle Probleme beseitigt. Die Menschen, die armen Schweine, die dabei draufgehen, die zeigt man nicht. Wozu auch? Das würde den Zuschauern nur das Abendessen versauen. Ach, ich weiß gar nicht, warum ich mich deswegen überhaupt so aufrege.

Im Krieg sterben Menschen. So ist das eben. Aber kennen Sie die Gesichter dazu? Haben Sie ihnen gegenübergestanden, als sie gestorben sind? Männer, Frauen, Kinder, Zivilisten, Guerilleros oder Gotteskrieger, die meinen, dafür ins Paradies zu kommen. Verfluchte Irre, sag’ ich Ihnen! Haben Sie sie gesehen? Keiner kennt ihre Gesichter. Nicht einmal ich kann mich an sie erinnern. Sie sind tot und damit Geschichte.

Klingt vermutlich ein wenig herzlos, aber anders überlebt man diese Hölle nicht. Ich weiß es. Ich war nämlich dort. So viele, verdammte Jahre lang.

Doch dann … ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen davon erzählen soll. Sie halten mich sowieso für verrückt. Alle tun das. Verdammt, sogar ich kann es kaum glauben!

Doch dann … dann kamen sie.

Oh ja, sie!

Ha, wer siesind?

Wollen Sie mich verarschen? Wollen Sie, dass ich mich hier um Kopf und Kragen rede?

Ja, das tue ich!

Ich bin fertig! Durchgeknallt! Verstehen Sie? Nur noch ein Schatten meiner selbst! Verdammt, sehen Sie mich an!

Ich zittere nachts, wenn ich allein bin. Und glauben Sie mir, das kommt nicht von meinen Erinnerungen. Ich scheiß auf die Kriege, die Leichen, das Blut, das an meinen Händen klebt! Es war meine Entscheidung! Mein Beruf!

Sie machen doch auch ihren Job. Kriegen Sie Gewissensbisse, wenn Sie einen ins Irrenhaus stecken, weil er Ihrer Meinung nach ein gottverdammter Spinner ist?

Ich glaube, Sie schlafen ganz gut.

Das konnte ich auch! Bis sie kamen!

Sietauchen auf, wie es ihnen passt. Manchmal ist es mein Nachbar, dann irgendein Kind, das auf der Straße spielt. Manchmal ein alter Mann, der eben noch schlafend die Nachmittagssonne auf einer Parkbank sitzend genießt.

Ihre Augen sind voller Blut und sie starren mich an! Sie starren mich an, Doktor!

Glauben Sie mir, ich habe jedes scheiß Grauen auf Erden gesehen und ihm ins Gesicht gespuckt, aber diese Augen ertrage ich nicht!

Ich habe aufgehört. Bin raus aus dem Geschäft. Schon seit einem Jahr habe ich keine Waffe mehr angerührt. Ich habe die Kriege hinter mir gelassen. Ein für alle Mal!

Doch siekommen immer wieder! Sielassen mich nicht in Ruhe! Weil siees wissen. Weil siewissen, was ich getan habe!

Doktor, ich war schon bei einem Priester. Der hat mir Ihre Nummer gegeben. Sie sind meine letzte Hoffnung. Ich möchte, dass sieverschwinden!

Ganz egal. Wenn ich verrückt bin, bin ich es eben. Sie verschreiben mir einfach irgendwelche Pillen und mein Leben geht ganz normal weiter. Als wäre nichts geschehen, verstehen Sie? Als hätten sienie existiert!»

2

«Eine wirklich interessante Geschichte, Herr Rabe. Rabe? Das ist doch Ihr richtiger Name, oder?»

Ich sitze in einem bequemen Sessel. Mein Gegenüber ist ein Doktor. Aber er trägt keinen weißen Kittel. Er ist kein Arzt, der mit irgendwelchem Metzgerwerkzeug Hand an mich legt, obwohl mir das jetzt bei weitem lieber wäre. Ich weiß nicht, wie viele Wunden ich schon davon getragen habe, wie oft ich mich selbst verarztet oder mein Leben irgendeinem Kurpfuscher anvertraut habe. Dieser hier ist ein gemütlicher Mann mittleren Alters mit kleinem Speckring um die Hüften. Er trägt einen weiten, karierten Pullover, dessen modische Blütezeit wohl weit in die 70er Jahre zurückreicht. Seine hohe Stirn und sein blankes Haupt sind von einem recht unordentlichen, angegrauten Haarkrank umstellt. Dazu noch eine dicke Hornbrille und ein etwas gelangweilt wirkender Gesichtsausdruck. Ich habe mir den perfekten Eierkopf ausgesucht, um über meine Zukunft zu entscheiden.

«Manche Namen wählt das Schicksal», antworte ich. Er kann ja nicht ahnen, dass ich tatsächlich so heiße.

Der Mann lächelt kurz. Ein erster Gemütsausdruck, der ihn fast ein wenig menschlich wirken lässt. Jedenfalls ganz kurz.

«Schon gut. Ich verstehe», sagt er.

Er wartet einen Augenblick, als würde er nach den richtigen Worten suchen. Ich frage mich, ob es für das, was ich durchmache, überhaupt richtige Worte gibt.

«Diese … äh … wie nannten Sie ‹sie› gleich?»

«Siehaben keine Namen. Jedenfalls haben siesich noch nie bei mir vorgestellt. Bitte, Doktor, das ist nicht gerade leicht für mich!»

«Das kann ich verstehen. Das kann ich durchaus verstehen.»

Seine Stimme klingt, als hätte er diesen Satz schon millionenmal gesagt. Die müden Augen, die hinter den dicken Gläsern seiner Brille wie Monsteraugen aussehen, mustern mich wie ein exotisches Tier und er macht den Anschein, als denke er ernsthaft über mein Problem nach. Dann nimmt er einen Füller und schreibt etwas in ein kleines Buch, das vor ihm auf seinem Schreibtisch liegt.

«Nun, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie nicht gerade das Leben eines Heiligen geführt. Das, was Sie mir soeben beschrieben haben, würde bei manchem Menschen schon genügen, um schwere Traumata auszulösen. Kriegserlebnisse, in all ihrer grausamen Konsequenz, sind ebenso wie schlimme Kindheitserfahrungen Schocksituationen, die sich tief in unser Gedächtnis prägen. Ein Gehirn kann sich zwar abhärten, das Erlebte verdrängen, ebenso die Schuldgefühle unterdrücken, manche von uns können das besser andere weniger, aber es vergisst nicht. Irgendwo müssen ja die ganzen Bilder und Eindrücke, die Sie die Jahre über angesammelt haben, hin, nicht wahr? Es wäre schön, wenn unser Gehirn einen großen Abfalleimer besäße, in dem wir gemütlich unseren emotionalen Sondermüll entsorgen könnten.» Er lacht mechanisch, als hätte er soeben einen Witz gerissen, über den sich jeder totlachen müsse, doch als er merkt, dass ich so gar nicht darauf anspringe, setzt er seine unverbindliche, humorlose Maske wieder auf. «Ähm», er räuspert sich verlegen, «ich meine … also … normalerweise verarbeiten wir das Erlebte unterbewusst in unseren Träumen. Haben Sie denn Träume? Schlafen Sie nachts, Herr Rabe?»

Ich schlucke.

Es ist gefährlich, sich auf einen Seelenklempner einzulassen. Diese Menschen haben geradezu einen Riecher dafür, unangenehme Fragen zu stellen.

«Ich schlafe nicht sehr viel.»

«Nehmen Sie Schlafmittel?»

Ich schweige einen Augenblick. Soll ich dem Doc wirklich erzählen, dass ich nachts schweißgebadet im Bett liege und Angst davor habe, einzuschlafen? Nicht wegen meiner Erinnerungen. Ich hatte schon früher Träume mit Toten, mit Menschen, die ich auf dem Gewissen habe. Das hatte mir alles nichts ausgemacht.

Ich erinnere mich an Rudy. Eine Katze, die mir irgendwann einmal zugelaufen war und regelmäßig meine Wohnung auseinandernahm, während ich die Welt gerade mal wieder in Brand steckte. Ich erinnere mich an ihre Augen. Blutende Katzenaugen. Sie weckte mich eines Nachts, leckte mir die Wange und ihr Blut tropfte mir direkt ins Gesicht. Ich schmeckte es auf meinen Lippen.

Vor Schreck habe ich das arme Vieh an die Wand geknallt und das halbe Magazin meines Revolvers darauf abgefeuert.

Seitdem halte ich mir keine Haustiere mehr.

«Nein», antworte ich, «ich kann einfach nicht schlafen.»

Der Mann macht ein leicht brummiges Geräusch, das wie ein langgezogenes ‹Hmmmmm› klingt.

«Gibt es sonst irgendwelche Pharmazeutika, die Sie zurzeit einnehmen?»

Wie er dieses Wort ‹Pharmazeutika› betont, gefällt mir nicht. Er glaubt wohl, ich wäre ein Junkie, ein durchgeknallter Drogensüchtiger. Scheiße, wenn es eine Droge gäbe, die mir diese Halluzinationen erspart, wäre ich schon längst süchtig danach.

«Nein, ich bin clean.»

Wenn man mal den Alkohol außer Acht lässt. Der ist quasi eine Berufs­krankheit.

«Also schön, wie sehen ‹sie› denn überhaupt aus? Beschreiben Sie mir diese Erscheinungen.»

«Das kann ich nicht. Siesehen jedes Mal anders aus. Nur ihre Augen sind stets die gleichen. Sie bluten. Kullern wie dicke Tränen aus ihnen heraus. Rote, blutige Tränen! Und manchmal ist da noch dieses Feuer. Das sieht wirklich gruselig aus. Das müssen Sie mir glauben! Als stünden ihre Augen in Flammen. Blut und Feuer! Was hat das zu bedeuten?»

Wieder ertönt dieses langgezogene ‹Hmmmmmm›, dann nimmt er seinen Füller und kritzelt erneut etwas in das Büchlein.

«Was schreiben Sie da?»

«Nichts», sagt er und rückt seine Hornbrille zurecht. Sein übergroßer Kopf wackelt dabei komisch.

«Dieses Blut hört einfach nicht auf», erzähle ich weiter. «Es fließt über ihre Gesichter, bis sie komplett damit besudelt sind. Manchmal denke ich, ob sie wohl tot sind? Aber dann reden sie, tun ganz normale Dinge. Als ob es normal wäre, mit blutenden Augen ein Eis zu kaufen oder jemanden einen ‹Guten Tag› zu wünschen. Siebluten! Unaufhörlich. Und es ist echtes Blut. Ich kann es ­riechen! Diesen Geruch vergisst man nicht so schnell, wissen Sie.»

«Scheint fast so», meint der Doc plötzlich, in die Aufzeichnungen seines Buchs vertieft, «als würden sie ihren eigenen Dämonen begegnen.»

«Wie bitte?»

«Verzeihen Sie, das war wohl etwas zu salopp ausgedrückt.» Er hört mit seinen Kritzeleien auf und hält stattdessen den Füller jetzt wie eine Waffe, mit der er dolchartig in meine Richtung sticht, jedes Mal, wenn er irgendetwas betonen will. «Sehen Sie, unser Gehirn verfügt normalerweise über eine Filterfunktion, welches die unwichtigen von den wichtigen Informationen trennt. Bei traumatischen Erlebnissen, wie bei Ihnen, kann diese Filterfunktion jedoch aussetzen oder sogar ganz wegfallen. Dann kommt es zu Reizüberflutungen. Das Gehirn kann nicht mehr unterscheiden, welche von den unzähligen Informationen relevant oder irrelevant sind. Das kann sogar so weit führen, dass selbst Zeitlinien verschwimmen und sich plötzlich Bilder aus ihrer Vergangenheit mit Ereignissen aus der Gegenwart vermischen und somit ganz neue Sinnzusammenhänge in ihrem Kopf entstehen. Das nennt man auch ‹Flashbacks›. Darunter leiden sehr viele Kriegsveteranen.»

Ich starre den Doc offenbar ein wenig hilflos an.

«Das, was Sie sehen, ist nicht real. Es existiert nur in ihrem Kopf. Ihr Gehirn gaukelt Ihnen das alles nur vor, weil es sich momentan nicht anders zu helfen weiß, wie es mit der Flut an Informationen fertig werden soll.»

«Sie glauben also, ich bilde mir das alles nur ein?»

«Genau genommen … ja.»

«He, hören Sie, ich rieche dieses Blut! Haben Sie schon mal diesen Geruch in der Nase gehabt? Wissen Sie, wie Leichen stinken, wenn sie ein paar Tage alt sind? Ich schon! Außerdem reden sie mit mir.» Ich stocke einen Moment, denn das scheint selbst mir ein wenig zu verrückt zu klingen. «Nicht immer», relativiere ich sofort. «Es sind Stimmen, die ich noch nie gehört habe. Das können jedenfalls unmöglich alles nur Einbildungen sein!»

«Nun, Gerüche sind nichts anderes als Informationen, die unser Gehirn definiert und zuordnet. Gerüche, Geschmack, Geräusche, Bilder, das sind alles Informationen, die bei Ihnen gerade verrücktspielen. Normalerweise entscheidet unser Gehirn im Bruchteil von Sekunden darüber, ob wir uns etwas merken oder nicht. Wie ein Computer, der eigenständig Dateien abspeichert oder eben nicht. Sehen Sie zum Beispiel diese Blumen.» Er zeigt auf einen kleinen Strauß roter Tulpen, die in einer geschmackvollen Vase auf dem Fenstersims stehen. «Ein Geschenk meiner Frau», bemerkt er beiläufig. «Im Normalfall würden Sie, wenn ich nicht wie jetzt Ihre Aufmerksamkeit darauf lenke, so gut wie keine Notiz davon nehmen. Sie würden sogar aus diesem Zimmer gehen und nicht einmal wissen, ob da überhaupt Blumen waren. Außer Sie sind Liebhaber von roten Tulpen, dann würden Sie sie wahrscheinlich sofort bemerken und sich auch daran erinnern. Doch wir nehmen mal an, Sie interessieren sich nicht für Blumen. Ein Gehirn mit normaler Filterfunktion würde diese Information als unwichtig abtun und Sie würden sie nicht bewusst wahrnehmen. Aber ein Gehirn ohne Filterfunktion nimmt einfach alles an Informationen auf und würde vielleicht ganz willkürlich diesen roten Tulpen eine übergeordnete Priorität einräumen und plötzlich sehen Sie nur noch diese Tulpen. Sie können sich weder auf das Gespräch mit mir konzentrieren noch auf irgendetwas anderes in diesem Raum. Das Rot dieser Tulpen wird übermächtig, erstrahlt in feurigem Glanz. Und weil diese Tulpen plötzlich so wichtig für Sie sind, kann Ihr Gehirn sogar ganz andere Bilder damit assoziieren. Feuer ist ein gutes Beispiel. Feuer bedeutet Gefahr. Wenn Ihr Gehirn diese Tulpen nun als Gefahr definiert, könnte es gut möglich sein, dass diese Tulpen in Ihren Augen auf einmal zu brennen beginnen. All dies wäre für Sie real, was Sie sehen, hören oder schmecken, aber das ist es nicht. Glauben Sie mir, das, was Sie durchmachen, sind altbekannte Phänomene. Vietnam, der Golfkrieg, Afghanistan. Jeder Kriegsschauplatz hinterlässt Narben in der Psyche.»

Ich ertappe mich, wie ich äußerst misstrauisch die Tulpen begutachte. Sie gehen Gott sei Dank nicht in Flammen auf, wie es mir der Doc in so eindrucksvollen Worten geschildert hat.

«Was ich da so höre», kommt dieser hochgelehrte Quacksalber allmählich zu seinem Schlussplädoyer, «klingt mir das alles nach einer wirklich interessanten Psychose, die bei Ihnen offenbar in Realitätsverlust und Wahnvorstellungen mündet. Seit wann sind Ihnen diese Symptome aufgefallen?»

Ich mache eine Pause und fühle, wie unsichtbare Hände nach mir greifen. Jetzt ist es also amtlich. Ich bin verrückt.

«Vor etwa einem Jahr», antworte ich.

«Befanden Sie sich da in einem Einsatz?»

Ich schweige und nicke bloß.

Wieder kritzelt der Doc etwas in seine Unterlagen.

«Verstehe.» Er macht ebenfalls eine kurze Pause, schließt die Akte, die er anscheinend schon über mich angefertigt hat, und holt einen Rezeptblock aus einer Schublade seines Schreibtisches. «Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Das, was Ihnen widerfährt, sind Phänomene, die wir an vielen Kriegsveteranen beobachten. Es gibt mehrere Gründe dafür und die Therapien sind meist langwierig und kompliziert. Aber vorerst verschreibe ich Ihnen etwas, dass sie wieder ruhiger schlafen lässt. Ein Neuroleptikum. Das ist ein Mittel, das die Konzentration der Neurotransmitter in Ihrem Gehirn heruntersetzt. Nehmen Sie davon jeweils eine Pille morgens und abends und immer dann, wenn Sie wieder diese ... äh … Bilder plagen.»

«Und mit dieser Pille verschwinden die blutenden Augen?»

Das Gesicht des Docs ist wie die Maske einer Sphinx zu keiner Gefühlsregung fähig.

«Mit der Zeit. Vermutlich. Sie müssen schon ein wenig Geduld haben.»

Das ist das Problem, denke ich mir. Mit meiner Geduld bin ich am Ende. Ich brauche Lösungen. Klare und schnelle Lösungen.

Unschlüssig darüber, was ich davon halten soll, stecke ich das Rezept in eine meiner Taschen.

«War das alles?»

«Ja», nickt der Mann in stoischer Ruhe. «Fürs erste. Um Ihre Probleme wirksam aufzuarbeiten, brauchen wir natürlich noch weitere Sitzungen. Sagen wir nächste Woche um dieselbe Zeit? Ach ja, und vergessen Sie nicht, Ihre Versichertenkarte an der Rezeption abzugeben. Ich hoffe, Sie sind privat versichert. Bei den Gesetzlichen kann es sein, dass Sie für die Behandlung etwas zuzahlen müssen.»

Ich nicke, obwohl es mir ehrlich gesagt schnurzpiepegal ist, ob der Doc sein Geld bekommt. Ich habe, was ich brauche. Ein paar Pillen gegen diesen ganzen Schwachsinn.

Das hoffe ich jedenfalls.

3

«Der Chef hat nach dir gefragt.»

Kaum habe ich eingestempelt, kommt auch schon Mike auf mich zu. Ein Mann Mitte dreißig, der so aussieht, als hätte er das Beste von seinem Leben schon hinter sich. Dreitagebart, Bierwampe, kleine, streitlustige Augen und eine Stimme wie aufgewärmtes Chili. Sehr scharf und direkt. Er ist mein Schicht­leiter und damit der Aufseher meines neu gewählten Sklavendaseins.

«Was will er denn?»

«Na, kannst du dir das nicht denken?»

«Nein. Wieso auch? War irgendwas?»

Mike schüttelt verständnislos den Kopf und deutet mürrisch zur Treppe, welche zu den Büroräumen führt.

«Geh besser gleich zu ihm rauf. Er wartet nicht gerne.»

«Na, toll! Bestell ihm, er kann mich …»

«Das sagst du ihm besser selbst!» bürstet er mich ab und entschwindet in die Lagerhalle.

Schon wieder diese Wutgefühle. Doch ich würge sie runter wie kalten Kaffee.

Ich sollte tatsächlich nicht wegen jeder Kleinigkeit gleich die Wände hochgehen. Seltsamerweise scheinen die Worte des Docs doch Spuren bei mir hinterlassen zu haben. Ja, gehen wir die ganze Sache mit mehr Gelassenheit an. Probier’s mal mit Gemütlichkeit. War das nicht aus irgendeinem Walt Disney Streifen?

Gott, wie ich diese Zeichentrickfilme hasse! Dieser naive Kitsch. Das ist doch nicht das Leben. Natürlich nicht. Wer will auch schon das Leben in knallbunten Farben sehen? Ich habe es gesehen und das Leben ist rot. So rot wie Blut, wie Napalm, wie der blühende Mohn, der Stoff aus dem die Träume sind und die Währung für fast jeden zweiten Krieg, an dem ich beteiligt war.

Ich wende mich ab und gehe ein Stockwerk höher.

Wie erniedrigend. Das, was ich momentan tue, um irgendwie wenigstens ein paar Kröten zu verdienen, kann ich wohl kaum als eine Tätigkeit bezeichnen, mit der ich sinnvoll mein Tageswerk verrichte. Ich bin Hilfsarbeiter in einem Lager. Schubse irgendwelche Paletten von Ort A nach B, packe irgendwelche Kisten von Ort C nach D und muss dazu noch den Anweisungen von Hohlköpfen folgen, die ich innerhalb einer Sekunde ins Jenseits befördern könnte. So gesehen bin ich wirklich ganz unten angekommen. Ein gutes Beispiel für die stoischen Packesel, auf deren Rücken dieses Land zu einer der größten Wirtschaftsmächte der Welt aufgestiegen ist. Mir wird geradezu schlecht, wenn ich daran denke.

Ich kenne zwar Disziplin, Pflichtgefühl und Leistungsbereitschaft, all die Tugenden, die jeder brave Deutsche schon mit der Muttermilch aufgesogen hat, aber bisher habe ich mich immer außerhalb dieses Systems gesehen. Ich war nie einer dieser übereifrigen Musterschüler, für die die Arbeit der Lebensinhalt ist, die mit zwanzig schon verheiratet sind und über einen Bausparvertrag ihr Eigenheim finanzieren. Aber selbst die sterben inzwischen aus. Wir sind nur noch eine graue Masse. Austauschbar. Hauptsache wir laufen von Ort A nach B, wenn man es uns befiehlt.

Ich muss plötzlich schmunzeln. Das Ganze erinnert mich fast an meine Ausbildung beim Militär. Doch das war eine ganz andere Geschichte.

Die Armee versucht aus jedem Einzelnen das Teil eines Ganzen zu formen. Dafür zerstört man das Individuum, um aus der Asche den Geist der Einheit zu beschwören. Das ist schon beinahe so simpel wie perfide. Und diese Einheit, dieser Chorgeist, wenn man so will, ist keine Gleichschaltung, keine Gehirnwäsche. Es ist viel mehr stumpfsinniges Vergessen. Ritualisieren bestimmter Handlungen, exerzieren fest vorgefertigter Übungen, ob sie einem nun sinnvoll erscheinen oder strunzdumm. Ordnung, Struktur, Instruktionen, Ordnung, Struktur … Bis man letztlich jeden eigenständigen Gedanken verliert und man zu funktionieren beginnt. Auf Knopfdruck. Das ist der Moment, an dem sie einen füttern. Mit allem, was für die Mission wichtig ist. Manchmal hübscht man es noch mit moralisch einwandfreien Argumenten auf. Verteidigen Sie die Demokratie. Befreien Sie ein unterdrücktes Volk von ihrem Tyrannen. Blablabla. Ich habe dort einfach nur zu töten gelernt. Alles Andere hat mich nie interessiert. Diese Einheit erfüllte weder mein Herz, noch war ich je ein Teil davon, und mein erster Einsatz war eine Katastrophe. Meine militärische Laufbahn jedenfalls war schneller beendet, als sie vertraglich vorgesehen war. Wahrscheinlich gibt es heute noch einige Männer mit Orden an der Brust, die mein Gesicht am liebsten im Dreck sehen würden. Was soll’s. Als Söldner war es einfacher. Man war nur für sich selbst verantwortlich. Und die Bezahlung war auch besser.

Und jetzt? Was ist aus mir geworden?

Gleich muss ich einem Bürohengst gegenübertreten, der sich eindeutig für etwas Besseres hält. Dabei ist er nur der Leiter eines Lagers von einer Kaufhauskette, die versucht, Billigfernseher an den Mann zu bringen. Im Prinzip ist er ein Hanswurst, ein kleiner Fisch in der großen Nahrungskette des Kapitalismus. Aber in seinem winzigen Refugium hält er sich für den lieben Gott höchstpersönlich. Und dabei klebt er nur an einem Posten, der für ihn zur Sackgasse geworden ist und der ihn jeden Tag daran erinnert, wie es hätte sein können, wenn er nur ein weniger smarter, klüger und gerissener wäre, als das missmutige Spiegelbild, das ihm jeden Morgen den Tag versaut.

Ich kenne Staatsmänner, die sich mit allen Mitteln ihren Platz an die Spitze erkämpft haben. Ich bin Mördern gegenübergestanden, die mich ans Messer liefern wollten, sehr vielen sogar. Ich habe Idealisten große Reden schwingen hören und einige von ihnen gingen für ihre Sache tatsächlich durchs Feuer. All diese Menschen hatten es. Karma. Die Kraft, etwas bewegen zu können. Seinen Worten Taten folgen zu lassen. Letztendlich kommt es nur darauf an. Doch welches Karma besitzt dieser Bürohengst? Mit welcher Berechtigung lässt er mich jetzt hier einfach so antanzen? Ich könnte ihn umbringen. Ganz leicht. Es wäre nur ein kurzer Handgriff. Es würde kaum Krach machen und wahrscheinlich würde ihn sogar kaum jemand vermissen. Ja, das könnte ich. Warum tue ich es nicht?

Ich hole tief Luft und versuche alle Gewaltfantasien aus meinem Gedächtnis zu streichen. Kein Griff zu meiner Waffe, die ich sowieso nicht bei mir trage. Kein befreiender Amoklauf, bei dem ich alle Waschlappen von der Oberfläche dieses Planeten tilge.

Denk an die Worte des Docs! Wie lange ist das schon her? Hast du heute überhaupt schon deine Pille genommen?

Ich weiß es nicht mehr.

Die meisten Dinge, die ich in letzter Zeit tue, geschehen mechanisch, ohne ­darüber nachzudenken, als wäre ich ein seelenloser Zombie oder so. Der selbstbestimmte, freie Mann, der ich einmal gewesen bin, ist einem Sklaven gewichen. Nur noch eine Hülle, ein Schatten meiner selbst. Erbärmlich!

Ich bin genauso ein Nichts, ein Niemand.

Hätte ich noch genug Mumm in den Knochen, ich würde die Waffe, mit der ich so viele Menschen gerichtet habe, gegen mich selbst richten.

Ich stehe vor dem Büro und trete ein. Ohne zu klopfen. Schon aus Prinzip.

4

Der Bürohengst räkelt sich gelangweilt in einem viel zu großen Chefsessel. Er ist ein schmaler, ziemlich farbloser Typ. Ein Standardgesicht mit Standardklamotten zu einem Standardleben. Das Büro ist steril, ohne Esprit und persönliche Note. Das Bild einer hässlichen Frau und zweier hässlicher Kinder neben dem klobigen PC-Monitor ist der einzige, private Moment in dieser scheußlichen Zelle, in die sich dieser Mann selbst eingesperrt hat.

Etwas besorgt prüfe ich, ob vielleicht rote Tulpen auf dem Fenstersims ­stehen. Aber nein. Nichts Rotes reizt meine Augen. Kein Blut, kein Feuer. Alles gut.

«Sie wollten mich sprechen», komme ich ohne Umschweife zur Sache.

Der Chef, der soeben noch gemütlich die Hände über dem Bauch gefaltet hatte und dabei abwesend dem mechanischen Kreisen seiner Daumen gefolgt war, hechtet erschrocken vor und haut sinnlos auf die Tastatur seines PCs herum. Als er mich erkennt, atmet er jedoch einen Moment auf, um dann mit hochrotem Kopf seinem Stress und seiner Wut Platz zu machen.

«Was fällt Ihnen ein? Können Sie nicht anklopfen wie jeder normale Mensch?»

Ich zucke die Achseln und lächle mitleidig.

«Ich dachte, es sei dringend. Ich kann auch später wiederkommen.»

Sein Kopf, der irgendwie vogelartig aussieht, zuckt zusammen. Die Nase zu lang, die Augen enganliegend, die Wangen ausgemergelt, dazu ein dünner Hals und herabhängende Schultern, die ihm etwas Geierhaftes verleihen. Nein, eine Augenweide ist er nicht. Muss er aber auch nicht sein. Schließlich ist er ja der Chef. Seine Gesichtszüge entspannen sich wieder und er winkt mich herein.

«Nein. Nein. Kommen Sie herein. Und machen Sie die Tür hinter sich zu.»

Ich folge seinen Anweisungen und baue mich vor seinem Schreibtisch auf. Nervös blickt er zu mir hoch. Er ist wie ein Schaf, das den Wolf erblickt und sich einbildet, der Hirtenhund zu sein.

«Wollen Sie sich nicht setzen?»

«Dauert es denn lange?»

Die angespannten Schultern verhärten sich wieder.

«Gut, wie Sie wollen. Sie wissen, weshalb Sie hier sind?»

Wieder zucke ich die Achseln.

«Ehrlich gesagt, nein. Der Schichtleiter wollte nichts sagen. Schätze, er will Ihnen die Pointe nicht versauen.»

Jetzt habe ich ihn wütend gemacht. Demonstrativ laut hackt er auf die Plastikblöcke der armen Tastatur ein, die gar nichts dafür kann.

«Ah, hier haben wir Sie ja. Edgar Rabe. Schweißer, Gabelstapelfahrer mit LKW-Führerschein, den er jedoch wegen eines Arbeitsunfalls unter Alkoholeinfluss wieder verloren hat. Seit etwa acht Wochen bei uns, beschäftigt über die Zeitarbeitsfirma Work Resolution. Kommt dauernd zu spät zur Arbeit, pöbelt seine Mitarbeiter und seine Vorgesetzten an, schafft dabei nicht annähernd sein Pensum, von Ihrer Fehlerquote beim Kommissionieren ganz zu schweigen, und was Ihre Umgangsformen betrifft, nun ja, davon konnte ich mir ja soeben selbst ein Bild machen.»

Der Bürohengst beschreibt haargenau meinen jämmerlichen Versuch, im normalen, bürgerlichen Leben wieder Fuß zu fassen.

«Ehrlich gesagt, von dem, was mir Ihre Vorgesetzten sagen und dem, was hier in Ihrer Akte steht», er legt tatsächlich Akten über seine Mitarbeiter an, denke ich einen Moment ungläubig, «gibt es eigentlich keinen Grund, der für eine Weiterbeschäftigung spricht. Hören Sie, ich weiß nicht, für wen Sie sich halten. Vielleicht glauben Sie ja, für etwas Besseres geboren zu sein. Mir imponieren Sie jedenfalls damit kein bisschen. Kein bisschen, sag’ ich Ihnen! Kommen hier rein, als könne nichts und niemand Sie anfeinden. Glauben Sie etwa, die Welt wartet nur auf Sie? Anstand! Das ist es, was Ihnen fehlt. Genau das ist auch das Problem, dass ihre Kollegen mit Ihnen haben.»

«Hat sich denn jemand wegen mir beschwert?»

«Beschwert? Ja, hören Sie mir denn gar nicht zu? Sie fügen sich nicht ein, werden nicht Teil des Teams, verstehen Sie? Ein Unternehmen kann nur dann funktionieren, wenn …»

Er redet weiter, doch ich achte nicht mehr darauf. Ich kann einfach nicht. Seine Backen plustern sich auf und er macht dabei Geräusche, die an ein schnaufendes Walross erinnern. Sein hochroter Kopf ist wie ein Kochtopf, dessen Deckel scheppert und hüpft, da der Dampf darunter endlich entweichen möchte. Ich bilde mir ein, ein Pfeifen zu hören und stelle mir vor, wie heiße Luft aus seinen Ohren drückt. Wie in einem Cartoon oder einem schlechten Sketch. Seine Augen sind große Kulleraugen, die wild hin und her rollen, und sein Mund, der aufgeregt auf und zu gehend eine Schnappatmung simuliert, klappert dabei wie der Schnabel eines Papageis. Ich beherrsche mich, nicht laut loszulachen.

Nein, lieber lasse ich meine Gedanken treiben und begebe mich an einen anderen Ort. Weit weg von hier, zu einer anderen Zeit.

Vor meinen Augen erscheint plötzlich der karge Staub einer weitläufigen, versandeten Steppe. Ein Dorf. Ich habe dieses Dorf schon einmal gesehen. Afgha­nistan, letzten Sommer.

Bumm!

Ich spüre noch immer die Detonation in meinen Knochen. Für mehrere Sekunden höre ich nur ein monotones Fiepen. Ich bin wie betäubt. Schreie dringen nur gedämpft zu mir vor. Der Fahrer ist tot. Der Beifahrer liegt mit offenem Bauch neben mir. Sein Gesicht eine Fratze aus Wut und Schmerzen. Ich blicke an mir herab. Wie durch ein Wunder habe ich kaum eine Schramme abbekommen. Ich schnappe mir ein Gewehr und krabble aus dem dampfenden Wrack.

Draußen erwartet mich das Chaos. Kugeln prasseln von allen Seiten auf uns ein. MG-Feuer. Heckenschützen. Wir sind umzingelt. Das Dorf hat sich in einen Hexenkessel verwandelt. Aus Fenstern, von Dächern, aus den Seitenstraßen. Überall lauert der Tod.

Aus einem anderen Wagen, den sie nicht erwischt haben, höre ich jemand verzweifelt ins Funkgerät brüllen, während der Motor des Wagens unablässig weiterröhrt, da der Fahrer mit einer Kugel im Kopf über das Lenkrad gebeugt liegt und sein Fuß wahrscheinlich noch das Gaspedal durchdrückt. ‹Verstärkung!› höre ich. ‹Wir brauchen Verstärkung!› Bis sie hier ist, werden wir alle tot sein, denke ich.

Ich nehme das Gewehr und schieße wahllos in das Getümmel. Ich mache das, wofür ich bezahlt werde. Ich töte. Ich nehme jeden mit, der dumm genug ist, seinen Kopf aus der Deckung zu wagen. Und dann, als wäre es ein Traum, eine merkwürdige Erscheinung, sehe ich den Ball wieder. Den roten Fußball, weswegen wir überhaupt in diesen ganzen Schlamassel geraten waren. Er rollt über den Platz. Und hinter ihm her rennt der Junge. Er kickt den Ball, den roten Fußball, mitten in den Kugelhagel.

«Hören Sie mir überhaupt zu? Mann, ich rede mit Ihnen! Glauben Sie etwa, Sie verbessern Ihre Lage, wenn Sie mir nicht zuhören?»

Der Spuk ist vorbei und ich stehe wieder in dem muffigen Büro. Der Wichtigtuer ist aufgestanden und pocht mit seiner kleinen Faust auf den viel zu großen Tisch.

«Jede Arbeit, die man verrichtet, wirkt sich auf etwas Größeres aus. Wenn Sie zu spät kommen und sich nichts sagen lassen, behindern Sie den reibungslosen Ablauf einer ganzen Abteilung. Jemand anderer muss dann Ihretwegen mehr arbeiten. Wollen Sie das? Macht es Ihnen Spaß, andere Ihretwegen arbeiten zu lassen?»

Ich höre seine Stimme, sehe seinen Mund sich bewegen, aber noch immer hallen die Bilder in mir nach, die Bilder vom letzten Jahr.

Dieser rote Fußball. Rot. Überallhin verfolgt mich diese Farbe. Das Blut, das Feuer, die Tulpen in der Praxis. Und jetzt …

Entsetzt starre ich auf die Krawatte meines Chefs. Das kann nicht wahr sein! Ich reibe mir die Augen, doch das, was ich sehe, bleibt so unfassbar wie zuvor. Die Krawatte, sie ist … sie ist rot. So rot wie Mohnblüten, wie der Himmel, wenn das Napalm zündet, so rot wie das Feuer, das Blut in ihren Augen.

«Wollen Sie sich wirklich so Ihre Zukunft verbauen? Es kostet mich nur einen Anruf und Sie sind raus. Sie haben keinen Vertrag bei uns. Ihre Firma schickt uns einfach einen …»

Ich starre noch immer fassungslos auf die Krawatte. Ich hätte schwören können, dass sie noch vor wenigen Augenblicken eine andere Farbe gehabt hatte. Aber wahrscheinlich habe ich mich geirrt. Eine Verwechslung. Habe ich die Krawatte überhaupt schon angesehen?

«Ich will Ihnen noch eine Chance geben», höre ich den Bürohengst reden. «Niemand soll sagen, ich würde einem Mitarbeiter keine zweite Chance geben. Es fehlt Ihnen nur die richtige Einstellung, hören Sie? Ein bisschen mehr Rückgrat …»

Ich höre das Geschwafel, doch es interessiert mich nicht.

Das Rot seiner Krawatte sticht mir in die Augen, reißt an meinen Nerven.

Was hat der Doc nochmal über die Tulpen gesagt? Nichts von alledem ist real. Das bildest du dir nur ein. Ein schlechter Scherz, den sich dein Gehirn mit dir erlaubt.

Das Leben ist rot. Rot wie Napalm, Mohn, wie Blut und Feuer, wie ein Fußball … und eine Krawatte, ausgerechnet eine Krawatte!

«Spielen Sie diesen Naivling oder sind Sie bloß zu blöd, um mir zu folgen?»

Der Bürohengst ist inzwischen aufgesprungen, zieht mich am Ellbogen, um meine Aufmerksamkeit zu erzwingen.

«Hören Sie endlich mal zu, wenn ich Ihnen etwas sage!»

«Herrgott, halten Sie die Schnauze!» fahre ich ihn plötzlich an.

«Was? Wie war das eben?»

«Sind Sie taub? Hören Sie auf! Ich kann Ihr Gejammer nicht mehr ertragen!»

Der blasse Spargeltarzan schüttelt sich erschrocken, dann geht er mich an, will meinen Ärmel erneut packen.

«Was fällt Ihnen ein? Wissen Sie denn nicht, mit wem Sie reden?»

Ich stoße ihn zurück. Vielleicht sogar etwas gröber als ich wollte, doch zu meiner Verblüffung lässt er nicht locker. Geht mich nochmal an. Empört ruft er:

«Das wird Sie Ihren Job kosten! Das sage ich Ihnen …»

Es ist zwecklos. Ich kann das Rot seiner Krawatte nicht ignorieren. Es flimmert, pulsiert, wie der Herzschlag eines aufgeregten Mannes, es brennt …

Mein Gott, die Krawatte brennt tatsächlich!

Flammen schießen empor. Wie durch Geisterhand entzündet sich dieses Ding um seinen Hals. Ich reiße die Augen auf, mein Puls rast.

Es ist nicht real! Der Doc hat es gesagt. Es kann nicht real sein!

«Ich werde dafür sorgen, dass Sie nie wieder einen Job bekommen! Hören Sie? Ich mach’ Sie fertig …»

Ich sehe in sein Gesicht, dieses harte, kantige Vogelgesicht. Es hat sich verändert. Alles hat sich verändert. Hass. Grimmiger, kalter, abstoßender Hass. Das ist alles, was ich noch erkennen kann. Ich starre in seine Augen, in diese hasserfüllten Augen und es beginnt. Dicke, rote Tränen kullern daraus, fließen wie schmutzige Bäche über die aufgeplusterten Backen, die scharfe, kantige, viel zu lange Nase. Er schreit, keift und zankt wie ein feuerspeiendes Monstrum. Er ist kein Mensch mehr, kein Bürohengst, kein Hanswurst. Er ist einer von ihnen.

Sie.Sie sind hier!

Edgar! Edgaar!

Ich höre sie. Sie rauschen durch meinen Kopf, flüstern aus dem Nichts, aus den Schatten. Diese Stimme.

Edgaaaaar!

Ich kann sie nicht abschütteln.

Ich weiche zurück. Panisch suche ich den Ausgang. Doch dieses Monster, dieses schreckliche Ding, das einmal mein Chef gewesen ist, kommt auf mich zu, schreit mich immer wieder an.

Ich will hier raus.

Es ist nicht real! Das alles bildest du dir nur ein! Nur ein Traum! Nur ein böser Traum!

«Ich mach’ Sie fertig! Sie brauchen sich hier nie wieder blicken zu lassen …»

Doch ich höre etwas anderes, etwas ganz anderes, das plötzlich über allem zu schweben scheint. Diese Stimme. Sie klingt … so logisch. Als käme sie aus mir und trotzdem gehört sie jemand anderem, etwas anderem. Sie sagt nur:

Schlag ihn! Los, schlag ihn! Edgaaar! Er hat es verdient. Er hat es verdient, dieser Hanswurst! Los, schlag ihn! Mach ihn fertig!

Ich hole aus und strecke ihn nieder. All meine Wut und meine Furcht liegen in diesem Schlag. Ich höre ein fürchterliches Heulen. Das Monster kracht zu Boden und endlich finde ich die Tür und fliehe aus dem Büro. Ich renne und hinter mir heulen Dämonen, finstere Teufel, denen ich sowieso nicht davonlaufen kann.

5

Ich laufe. Renne, schneller und schneller werdend, über Wege, die mit Leichen gepflastert sind. Es sind nicht nur Leichen. Manche von ihnen scheinen noch zu leben. Ein halb aufgerissener Schädel hebt sich aus dem Meer der Toten und ruft mir zu: «He, besorg mir eine Kippe! Ich will noch einen letzten Zug nehmen!»

Er lacht gequält und verstummt für immer.

Der Bürohengst, der zum Monster wurde, die Krawatte, Afghanistan, einfach alles. Es versinkt in Blut und Chaos. Wo bin ich überhaupt? Wo laufe ich nur hin?

Es ist egal. Nichts von alledem ist real. Es existiert nur in meinem Kopf. Der Doc hat es gesagt. Die Tulpen haben nicht gebrannt. Dafür diese scheiß Krawatte! Warum? Egal. Beachte es nicht. Der Tod gehört zum Geschäft und dieses Geschäft verstehst du. Es ist nichts Persönliches. Nur ein Geschäft. Wie ein Vertrag, den man abgeschlossen hat. Ich töte und niemand stellt Fragen. Nur ein Geschäft und alle sind glücklich.

Plötzlich rollt etwas Feurigrotes in meine Richtung. Springt, hüpft in großen Bögen und kommt direkt auf mich zu. Es ist ein Ball. Ein feuriger, roter Ball.

Ich versuche ihm auszuweichen, springe in Deckung. Doch das Ding bewegt sich rasend schnell. Es kommt immer näher. Ich kann ihm nicht ausweichen. Als es mich erreicht … ein Knall. Ein ohrenbetäubender Knall.

Ich stürze, lege mich zu meinen toten Kameraden. Aus. Tot. Mach dir nichts draus. Es ist nur ein Geschäft. Nur ein Geschäft.

6

Sie kickt stupide den Ball gegen die Hauswand. Es ist etwa zehn Uhr morgens. Vor ungefähr zwei Stunden hatte sie ihre Mutter mit dem eher flapsigen Versprechen verlassen, zur Schule zu gehen. Seitdem lümmelt sie sich auf den Straßen herum und langweilt sich.

Von den anderen Jugendlichen, die genauso wenig Lust auf die abturnenden Sprüche der Lehrer haben und sich ihre Zeit lieber mit Automaten spielen, saufen und blöde Sprüche klopfen totschlagen, hält sie sich fern. Seitdem Rüdiger, ein dauergeiler Kotzbrocken mit zu viel Speck auf den Hüften und einer grässlichen Zahnspange, ihr mal an den Arsch gefasst hat, geht sie lieber ihre eigenen Wege. Zudem hält sich dieser Spinner auch noch für einen kleinen Adolf Hitler. Kommandiert eine hohlköpfige, kahlrasierte Bande herum, die meint, das deutsche Vaterland gegen alle fremden Einflüsse verteidigen zu müssen. Und das ausgerechnet hier, wo es dreimal so viele Ausländer wie ‹Kartoffeln› gibt – so nennt man die wenigen Deutschen, die hier noch leben.

Sie macht sich nichts draus. Ob sie nun eine Kartoffel ist, der Türke ein Döner am Spieß, der Araber ein Kanak oder der Pole ein Pollack. Sollen sie sich doch alle die Köpfe deswegen einschlagen. Lieber prügelt sie ihre überschüssige Energie in den Fußball und rennt mit ihm über Felder, kickt ihn über Zäune, donnert ihn gegen Fensterscheiben, holt ihn aus irgendwelchen Gärten oder dem dichten Unterholz der wenigen Grünanlagen, die es hier gibt.

Alles ist besser, als seine Zeit in den stickigen, völlig überfüllten Klassenzimmern zu verbringen. Dort fühlt sie sich mehr tot als lebendig und der ätzend monotonen Stimme des Lehrers kann sowieso niemand folgen.

Von ihrem Anspruch auf Bildung weiß sie genauso wenig wie von der sogenannten Chancengleichheit. Die ist eh nur ein Slogan auf Wahlplakaten von Politikern, die bestimmt noch nie hier waren. Das einzig Aufregende in ihrem Viertel sind die ständigen Streitereien zwischen Türken, Deutschen, Pakistani, Russen, Rumänen und gefühlten zwanzig anderen Nationen. Manchmal ist das Leben nicht gerade einfach hier. Ein falsches Wort in der falschen Tonlage kann ganz schnell in den falschen Hals geraten. Meistens wird dann geschrien, in der jeweiligen Landessprache. Manchmal fliegen auch Fäuste und ab und an passiert auch etwas Schlimmeres. Wenn sich hier etwas ändert, da ist sie sich sicher, dann eher zum Schlechten. Welches Interesse sollten diese ‹Banditen von Politikern›, wie sie ihr Stiefvater immer beschimpft, wenn er im Fernsehen irgendwelche sinnlosen Diskussionen verfolgt, schon an ihren Problemen haben? Dieses Viertel ist eine Sackgasse. Wenn sie es hier raus schaffen will, ist sie ganz allein auf sich gestellt.

Und ihre Fahrkarte ist der Fußball.

Der Ball ist ihr bester Freund. Wenn sie wütend ist, kann sie ihn quälen und drischt ihn mit Gewalt in irgendein Garageneck. Ist sie gutgelaunt, dribbelt sie ihn mit sanften, kurzen Berührungen um Verkehrsschilder herum oder tänzelt mit ihm imaginäre Gegenspielerinnen aus.

Die deutsche Frauennationalmannschaft. Das ist ihr großer Traum. Ja, Fußballweltmeisterin werden wie Birgit Prinz und die vielen anderen Heldinnen, die auf Postern in ihrem Zimmer hängen.

Doch ihr Pech ist, dass sie für Fußball eine Mannschaft braucht, und da fängt das ganze Übel an. Mit anderen zusammen etwas unternehmen ist absolut nicht ihr Ding. Sie bleibt lieber allein. Hier gibt es außer ihr eh keine Mädchen, die sich für Fußball interessieren und mit Jungs … na ja, da reicht ihr die Erfahrung mit Rüdiger, um zu wissen, dass sie darauf gut verzichten kann. Vielleicht entdeckt sie ja mal irgendein Talentsucher, während sie hier draußen kickt. Solange muss sie jedenfalls allein weiter an ihrer Technik feilen.

Sie zimmert den Ball wieder gegen die Hauswand. Doch diesmal verspringt er, fliegt im hohen Bogen über sie, prallt auf ein Autodach, hüpft noch ein, zwei Mal auf und ab und kreuzt den Weg eines Mannes, der gerade hinter ihr auftaucht. Er rennt und scheint für nichts und niemanden Augen zu haben. Auch für den Ball nicht.

Sie kennt ihn vom Sehen her. Ein komischer Kauz. Er wohnt im gleichen Haus wie sie. Ein großer Typ mit der Statur eines Actionhelden. Mittellange, dunkelblonde Haare, breite Schultern, ein dichter, ungepflegter Vollbart und dunkle Augen, die meistens ein wenig zu ernst dreinblicken.

Als ihn der Ball trifft, schreit er panisch, versucht noch auszuweichen, hechtet zu Boden und bleibt dort liegen. Der Ball kullert ins nächste Gebüsch. Das Ganze sieht so komisch aus, dass sie beinahe lachen muss. Stattdessen hat sie nun doch ein klein wenig ein schlechtes Gewissen, geht zu ihm, beugt sich runter und fragt:

«Alles in Ordnung?»

Der Mann schlägt die Augen auf. Sein Blick macht ihr nun doch ein wenig Angst.

«Wo ist er? Wo ist dieses Höllending?»

«Hä? Was meinen Sie?»

«Dieses springende Monstrum!»

«Meinen Sie etwa den Fußball, über den Sie gestolpert sind?»

«FUSSBALL!»

Der Mann springt auf, packt das Mädchen bei den Schultern und schreit sie an:

«Hast du FUSSBALL gesagt? Wo ist dieser Ball?»

«He, lassen Sie mich los! Sie tun mir weh!»

Plötzlich ändert sich der Blick des Mannes wieder, als er in ihre Augen sieht.

«Nein, nicht du auch. Wer bist du? Was willst du von mir?»

«Was?»

Sie versteht nur noch Bahnhof. Der Typ scheint völlig übergeschnappt zu sein.

«Wie ist dein Name?

«Lisa.»

Ihre Stimme zittert. Sie wollte ihm eigentlich gar nicht antworten, aber jetzt spürt sie, wie eine eiskalte Hand ihr Herz packt und es einfach aus ihr herausdrückt.

«Lisa.» Die Augen des Mannes werden zu gefährlichen Schlitzen. «Ist das dein Ball gewesen?»

Sie nickt. Sie muss schniefen und ihre Augen werden feucht. Der Mann hält sie noch immer in seinen Pranken gefangen, doch dann lässt er sie auf einmal los.

«Du solltest besser aufpassen, wohin du deinen Ball schießt, Lisa», sagt er mit gepresster Stimme. Dann dreht er sich um und läuft schnellen Ganges zum Haus.

Sie bleibt stehen und schaut ihm völlig verwirrt hinterher. Langsam weicht das Zittern aus ihren Gliedern und aus Angst wird Wut. Sie spuckt aus und schickt ihm einen hasserfüllten Blick hinterher. Was für ein Freak! Nur Freaks und Irre hier!

Sie hätte es wissen sollen. Niemand im Haus redet mit ihm. Selbst ihre Mutter behauptet felsenfest, eines Nachts Schüsse aus seiner Wohnung gehört zu haben. Aber die Polizei hatte sie deswegen nicht angerufen. Das gehe ja schließlich niemanden etwas an, hatte sie gesagt.

Lisa holt sich ihren Ball und kickt ihn, schon aus Trotz, besonders laut gegen die Hauswand.

7

Völlig außer Puste komme ich in dem Drecksloch an, das mein Vermieter unverschämter Weise ein komfortables, möbliertes Appartement nennt. Zumindest steht es so in meinem Mietvertrag, den ich irgendwann einmal unterzeichnet habe. Jetzt liegt das Ding in einem Berg von Rechnungen, Mahnungen und sonstigem bürokratischen Wahnsinn, den mein Briefkasten in regelmäßigen Abständen ausspuckt. Manchmal wünsche ich mir, sie alle bei offenem Fenster auf das Fenstersims zu legen und darauf zu hoffen, ein großer Windstoß möge kommen und all meine Sorgen einfach davon blasen.

Ein frommer Wunsch.

Ich bleibe stehen und versuche, das soeben erlebte auf die Reihe zu bekommen.

Das Schlachtfeld liegt hinter mir. Der Bürohengst, die brennende Krawatte, dieser feuerrote Ball und dann … Lisa heißt sie. Das Mädchen mit den Engelsaugen. Ein dummer Vergleich, aber mir fällt nichts Besseres dazu ein. Kein Blut, kein Feuer lagen darin. Nein, sie waren blau, einfach blau. Ein so helles, strahlendes Blau wie ein wolkenloser Himmel. Es war so kräftig, so rein, als könne sie damit direkt auf den Grund meiner Seele blicken. Wieder spüre ich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Diese Augen. Sie waren fast noch furchteinflößender als die blutigen Fratzen der anderen.

Was für ein Tag!

Was ich jetzt brauche, ist ein ordentlicher Schluck Wodka. Irgendetwas, das mein Kratzen im Hals wegspült, das meine Hände nicht mehr zittern lässt und mir ein wohlig warmes Gefühl des Entschlummerns schenkt. Das macht vieles erträglicher. Nicht leichter, aber erträglicher.

Ja, das ist ein guter Plan.

Die Unordnung in meiner Bude stört mich nicht. Es ist eh nur die Abstellkammer für meinen Körper, wenn ich gerade nichts zu tun habe und in letzter Zeit habe ich verdammt oft nichts zu tun.

Wo habe ich nur die Flasche liegen lassen? Ich weiß, dass noch eine da sein muss.

Ich wühle mich durch die am Boden verstreuten, weggeworfenen Schachteln der Pizzalieferanten, leere Flaschen, die mir den Weg versperren, Berge davon, Abfall, Dreck, Plunder, der es sich lieber dort als im Mülleimer bequem gemacht hat, und schließlich finde ich eine halbvolle PET-Flasche mit Cola. Neugierig schraube ich den Deckel auf und nehme den Brodem eines billigen Fusels wahr.

Jacky-Cola. Besser als nichts.

Ich setze an und lasse das warme Gesöff meine Kehle runter donnern. Die Flasche musste schon eine halbe Ewigkeit wie ein Schatz unter dem Müllberg vergraben gewesen sein. Das Cola schmeckt schal und warm und die Mischung ist wenig vielversprechend. Enttäuscht werfe ich die leergetrunkene Flasche wieder dorthin zurück, wo ich sie gefunden habe. Ich drehe mich um, in der Hoffnung in der Küche mehr Glück zu haben, als ich bereits den übergewichtigen Fleischberg auf mich zurollen sehe.

Eine tellergroße Faust trifft mich genau zwischen die Augen und ich fliege mit tausend Lichtern, die plötzlich in meinem Kopf explodieren, zurück in den Haufen Unrat, der mein Leben ist.

Zehn Minuten später und um eine aufgerissene Lippe, geschwollene Augen und zahllose blaue Flecken reicher, sehe ich mich Mustafa und Ali gegenüber. Zwei stinkende Kanalratten, die mir nur einer auf den Hals gehetzt haben kann.

«Wo ist Geld von Achmed?» brummt Ali wie ein wütender Bär und sein Pfannkuchengesicht zittert wie Wackelpudding in der Sonne.

«Welches Geld?» antworte ich frech und kassiere gleich noch mal einen unfreundlichen Haken.

«Wo ist Geld von Achmed?» wiederholt Ali, als hätten die wenigen Gehirnzellen hinter den Tonnen von Fett, die seinen Körper wie ein Michelinmännchen aufpumpen, nur diesen einen Satz drauf.

«Edgar», fixiert mich nun sein Partner mit einem Blick, der an eine ­schlechte Kopie von Robert De Niros Darstellung in Der Pate erinnert. «Mach nicht alles so kompliziert. Achmed möchte das Geld wieder, das du ihm schuldest. Er hat gesagt, dass wir es dir notfalls auch Stück für Stück ‹rausschneiden› sollen.»

Mustafas Deutsch ist nicht so gebrochen wie das von Ali, dafür ist er im Vergleich zu seinem Partner ein Zwerg und seine Stimme klingt, als hätte er Seife im Mund. Die zwei sind ein merkwürdiges Paar. Der eine etwas zurückgeblieben, dafür mit einem Hunger und einer Kraft gesegnet, die Ihresgleichen sucht, der andere ein neunmalkluger Angeber. Sie verdingen sich im hart umkämpften Schlägergeschäft. Nicht sehr erfolgreich, wie ich zuletzt hörte. Wie habe ich mich ausgerechnet von diesen zwei Amateuren so überrumpeln lassen können?

Ich schiele vorsichtig an den beiden vorbei zur Küche. Der Kühlschrank steht fast in Blickrichtung. Wenn ich mich nur ein wenig anstrengen würde und das letzte Bisschen Energie aus mir herauskitzle, dann könnte ich es vielleicht bis dorthin schaffen. Ich müsste nur den Berg Fett und Fleisch loswerden, der gerade auf mir sitzt, und Mustafa einen kräftigen Tritt in den Hintern verpassen. Letzteres wäre wohl die einfachere Übung. Mein Gott, ich weiß nicht einmal, wo hinter diesem angefressenen Fettpanzer von Ali irgendetwas sein soll, das an menschliche Organe erinnert. Seine Mutter musste eine sehr gute Köchin gewesen sein und zum Dank hatte er ihr dafür die Haare vom Kopf gegessen.

Verdammt, so weit ist es nicht bis zum Kühlschrank!

Wenn ich nur an das Eisfach käme. Nein, es ist nicht der Wodka, an den ich jetzt denke. Der ist mir inzwischen ordentlich vergangen. Das Eisfach ist schon seit Ewigkeiten kaputt und dient nun als Versteck für eine alte Liebe, die mich umtreibt. Jedes Mal, wenn meine Dämonen heulen, und im Moment schreien sie förmlich nach mir.

Betty, mein Goldstück, hilf mir!

«Suchst du das hier?»

Mustafa kramt eine große Kanone aus seiner billigen Lederjacke und fuchtelt mit ihr vor meiner Nase rum. Der verchromte Lauf zielt direkt auf meine Stirn.

«Kaum zu glauben. Der große Rabe lässt sich seine Knarre von zwei Halunken wie uns abnehmen.» Er grinst dabei überheblich, was sein kleines, frettchenartiges Gesicht nicht gerade hübscher macht. «Wenn ich das Achmed erzähle, wird er sich totlachen. Glaubst du nicht auch, Ali?»

Der fette Riese grunzt nur.

«Allerdings würde es noch viel besser klingen, wenn ich dir vorher mit deiner eigenen Kanone das Licht ausblase.»

Damit setzt er die Mündung ansatzlos an meine Stirn und ich fühle, wie mich Bettys kühler Stahl kitzelt. Doch etwas stimmt an dieser Szene nicht. Ich bemerke, wie sich Mustafas Adamsapfel bewegt und seine Wangen nervös zucken. Er schwitzt ein wenig zu sehr für diese kaltblütigen Worte.

«Wenn du das tust, sieht Achmed nie wieder was von seinem Geld.»

Mustafa zögert.

«Und wie willst du dieses Geld beschaffen?» sagt er nun gereizt. «Schau dich doch mal um. Wir haben alles durchsucht. Außer dem Zeug, das nicht mal ich anfassen würde, weil es so eklig ist. Du hast nichts. Das Einzige, das du noch hast, ist diese Waffe und die Knarre ist höchstens noch ein paar hundert Euro wert. Damit kannst du deine Schulden wohl kaum zurückzahlen.»

Ich spucke ein wenig Blut vor ihm aus. Es ist nur ein Verdacht, aber ich bin drauf und dran, den Bluff meines Lebens zu riskieren.

«Na, das vielleicht nicht, aber ich habe wenigstens keine Skrupel davor, ­jemandem das Licht auszublasen, wie du es so nett formulierst.»

Mustafas Augen werden zu gefährlichen, dünnen Schlitzen, doch seine Stimme zittert, nur ein klein wenig, genauso wie die Mündung, die er mir jetzt direkt vor mein linkes Auge hält.

«Heißt das, du denkst, ich hätte Angst, dich kaltzumachen? Wer von uns beiden liegt denn grade im Dreck? Hä? Du oder ich?»

Ich bleibe ruhig und werfe ihm diesen herablassenden, todesverächtlichen Blick zu, den nur echte Killer zuwege bringen. Ich mag zwar wahnsinnig sein und irgendwelche Stimmen rauschen durch meinen Kopf, von denen ich keine Ahnung habe, was sie von mir wollen, aber das kriege ich noch hin. Ich hoffe es jedenfalls.

«Na, dann tu es», sage ich gelassen. «Bin schon sehr gespannt. Das ist eine Desert Eagle, Kaliber 50AE. Wenn du mir aus dieser Entfernung in den Kopf schießt, fliegt dir mein ganzer Schädel um die Ohren. Ist eine Riesenschweinerei, das wieder aus den Haaren zu bekommen. Überlass die Drecksarbeit doch lieber echten Männern. Weshalb willst du dir die Hände schmutzig machen?»

«Ich mach’ dich kalt! Ich sag dir, ich mach’ dich kalt!»

Ich lächle ihn an. Zugegeben, zumindest das fällt mir einigermaßen schwer.

«Okay, okay, sparen wir uns die langweiligen Reden. Drück ab. Ist vielleicht besser so. Bestell Achmed einen schönen Gruß von mir. Das nächste Mal, wenn er seine Ganoven schickt, soll er gefälligst welche mit mehr Grips aussuchen. Man killt den Raben nicht, bevor er nicht einen allerletzten Auftrag übernimmt.»

Mustafa ist fertig. Ich sehe es an seiner Mimik. Sie arbeitet, als würde jeder Gedanke darauf wie TNT explodieren. Er atmet zu schnell, schluckt und der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Wenn er mich jetzt umbringt, dann höchstens aus Versehen. Weil ihm der Finger abrutscht.

«Was soll das heißen? Willst du etwa einen Auftrag? Von wem? Von Achmed? Für was?»

«Na, um das zu tun, wozu du offenbar nicht in der Lage bist. Den Müll entsorgen, sauber machen, Dreck aufräumen. Du wärst überrascht, was für eine tolle Hausfrau ich bin, wenn man mich dafür anständig bezahlt.»

«Hä?»

«Ich rede von Menschen, Mustafa. Ich bringe Menschen um. Das ist mein Gewerbe. Kapiert?»

Mustafa sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an und verzieht das Gesicht, als würde er über etwas angestrengt nachdenken. Der abgebrochene Zwerg sieht dabei aus, als säße er auf dem Scheißhaus und presse gerade eine widerspenstige, höllisch dicke Wurst aus seinen Arschbacken.

«Du willst für Achmed arbeiten?»

Ich nicke, auch wenn ich zweifle, ob ich dazu noch in der Lage bin. Ich frage mich gerade, wer hier der Angeber ist. Mustafa oder ich? Ich meine, ich habe gerade meinen Arbeitgeber umgehauen, weil ich glaubte, er sei ein blutendes, scheiß Ungeheuer. Ich fresse Pillen von einem Doc, der mir attestiert, dass ich völlig plemplem bin. Und da soll ich noch die Eier haben, jemand anderem den Schädel wegzublasen? Aber habe ich denn eine Wahl? Allein das erdrückende Gewicht von Alis Hintern auf meinem Bauch zwingt mich, jeden erdenklichen Strohhalm zu ergreifen.

«Ja, noch ein Auftrag», höre ich mich selber sagen. «Ist doch ganz einfach. Er kann es sich aussuchen. Sag ihm, dass ich sein Mann bin. Ein Job. Dann sind wir quitt. Ich denke, das ist ein faires Angebot.»

Die Mündung gleitet noch etwas tiefer, zielt jetzt direkt auf mein selbstgefälliges Lächeln.

«Ich glaube, du spinnst! Schau dich mal um. Hier stinkst schlimmer als bei Ali zuhaus’ und das ist schon furchtbar genug.» Ali grunzt kurz missmutig und ich habe Angst, dass er mich noch einmal mit seinen Dampfhammerfäusten bearbeitet. «Achmed sagt, du säufst zu viel und dein letzter Auftrag ist auch schon eine Ewigkeit her. Man sagt sich komische Dinge über dich.»

Und wieder eilt mir mein Ruf voraus.

«Sag’ ihm, ich brauche nur einen Auftrag. Töten ist wie Fahrradfahren. Das verlernt man nicht.»

Ich wäre froh, ich könnte mir selber glauben. Aber ich weiß, dass Mustafa darauf eingehen wird. Leute seines Formats scheuen jedes Risiko. Mich jetzt umzubringen und ohne Geld zu Achmed zurückzukehren, und wenn es auch nur die Möglichkeit ist, dieses Geld über einen Gefallen einzutreiben, ist etwas, das sich Mustafa nicht zutraut. In meinen besten Zeiten hätte ich mir selbst nicht mal eine Sekunde zugehört und sofort abgedrückt. Deshalb war ich auch einmal einer der besten und Mustafa und Ali müssen sich mit Rippen brechen, Nasen blutig schlagen und dem schmutzigen Rest, der sonst noch so anfällt, über Wasser halten. Kleine Fische eben. Gott sei Dank hat Achmed wohl gerade nichts Besseres auf seiner Gehaltsliste.

Endlich verschwindet die Mündung aus meinem Blickfeld und Ali steht langsam auf und lässt mich los.

«Gut, ich sag’ es Achmed. Aber ich glaube kaum, dass ihm die Sache gefallen wird. Dein Ruf ist nicht mehr der beste. Sollte er trotzdem was für dich haben, melde ich mich bei dir. Andernfalls», er grinst wie ein Teppichhändler, der einen gerade übers Ohr hauen möchte, «nun ja, dann sehen wir uns wieder.»

Er steckt meine Betty ein und will sich umdrehen.

«He, was ist mit meiner Kanone?»

Er wartet und lässt seine Finger über den Griff der Waffe gleiten, die jetzt in seinem Hosenbund klemmt.

«Die behalte ich. Falls Achmed sich gegen dich entscheidet, komm’ ich ­wenigstens nicht mit leeren Händen.»

«Scheiße, das ist nicht …»

Bumm! Schon trifft mich Alis Dampfhammerfaust wieder genau zwischen die Augen und Millionen von Sternchen explodieren am Firmament meines Horizonts, der sich soeben in die Waagrechte verabschiedet.

«Nicht fair? Wolltest du das sagen?» Mustafa lacht dreckig und tritt zusätzlich mit seinem Stiefel in meine ungeschützte Flanke. «Wenn Achmed nicht gefällt, was ich ihm sage, komme ich wieder und zeig dir, was nicht fair ist.»