Bobby - Eddie Joyce - E-Book

Bobby E-Book

Eddie Joyce

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Beschreibung

Der Tag, an dem sich alles veränderte – die mitreißende Geschichte einer New Yorker Familie nach 9 /11

Fast zehn Jahre ist es her, dass Bobby Amendola als Feuerwehrmann beim Einsturz der Twin Towers sein Leben lassen musste, und noch immer sind die Wunden in seiner irisch-italienischen Familie nicht verheilt. Weder bei dem Vater, der selbst Feuerwehrmann war, noch bei der Mutter, die weiterhin jeden Morgen in das unveränderte Zimmer des toten Sohnes geht. Auch beim großen Bruder, einem erfolgreichen Firmenanwalt, bricht der wohlgeordnet-sorgenfreie Alltag gerade auseinander, während das Leben seines Bruders Franky noch nie anders als zerbrochen war. Und dann will Bobbys Witwe ausgerechnet am neunten Geburtstag von Bobby Junior einen neuen Mann mitbringen in das Familienhaus auf Staten Island ...

Ein zärtlicher, bewegender Roman über Familie, Liebe, Verlust und Akzeptanz – und über das kleine Glück des Alltags.

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Seitenzahl: 549

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Wie schafft man es, am Verlust eines Sohnes, eines Bruders, eines Ehemanns und Vaters nicht zu verzweifeln?

Auch über neun Jahre nach dem Anschlag vom 11. September ist die Lücke, die Bobby Amendolas Tod in seiner Familie hinterlassen hat, noch schmerzlich spürbar. Jeder kämpft auf seine Weise mit der täglichen Unbill, doch das Vertrauen in die Familie und der Trost aus den kleinen Freuden des Alltags geben ihnen Mut für das Morgen.

»Die Wärme, mit der Eddie Joyce seinen Charakteren begegnet, findet sich in jedem einzelnen Wort wieder und sorgt dafür, dass wir Leser genauso tief für sie empfinden wie ihr Autor.«

Stewart O’Nan

»Der bisher beste Roman, der das menschliche Leid nach den Anschlägen von 9/11 erfasst.«

The New York Times

Eddie Joyce wurde auf Staten Island geboren und wuchs dort auch auf. Nach einem Studium in Harvard und am Georgetown Law Center war er zehn Jahre lang als Jurist in Manhattan tätig, meist als Strafverteidiger, bevor er mit dem Schreiben begann. Bobby ist sein erster Roman.

Eddie Joyce

Bobby

Roman

Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring und Karen Nölle

Deutsche Verlags-Anstalt

Für Martine

1 Jemand anders als Bobby

Gail erwacht mit durchstochenem Herzen, diesen wie jeden Tag. Ihr Mund ist trocken. Sie greift nach dem Glas Wasser auf dem Nachttisch, doch es ist über Nacht warm geworden. Neben ihr schnarcht Michael friedlich den feuchtfröhlichen Abend aus.

Sie kann samstags nie lange schlafen. Freitagabends ist sie nicht zu gebrauchen, da ist sie wie unter Drogen. Sie bestellen eine Pizza, meistens mit Salami, aber gestern Abend ohne alles, weil Fastenzeit ist. Sie isst zwei Stücke, trinkt zwei Gläser Chianti und liegt um acht auf der Couch und schläft. Bevor Michael sich ins Leaf aufmacht, breitet er eine Decke über ihren leblosen Körper. Er weckt sie, wenn er heimkommt, spätestens gegen elf heutzutage. Er hilft ihr die Treppe hinauf und atmet sie dabei mit einem Bierdunst an, der auf dem Heimweg schon schal geworden ist. Sie wird gar nicht richtig wach, bringt mit Mühe die Energie auf, ihre müden Knochen unter die Decken zu packen. Er sagt etwas Liebes, küsst sie auf die Stirn.

Am nächsten Morgen springt sie immer sofort aus dem Bett. Sie braucht kein Koffein und keinen Wecker, ein unbestimmtes Schuldgefühl treibt sie, sich in den Tag zu stürzen. Noch ehe sie aus der Dusche steigt, läuft sie auf Hochtouren, macht Listen, macht Pläne. Was an Pflichten ansteht. Heute, morgen, die Woche, den Monat. Sie wird es sich später notieren. Im stillen Schlafzimmer zieht sie sich an, auf dem Bett sitzend, wo die weiche Decke die Energie dämpft, die sie braucht, um die Strümpfe überzustreifen. Nur ein Schnarcher von Michael hin und wieder erinnert sie daran, dass sie nicht mutterseelenallein auf der Welt ist.

Ein rascher Blick in den Spiegel. Nicht Eitelkeit ist das, nicht mehr, sondern die ältere Schwester: Würde. Sie vergewissert sich, dass sie keine Vogelscheuche ist, dass die Sachen, die sie im Dunkeln angezogen hat, sich nicht beißen. Braune Cordhose und ein ausgebleichtes langärmeliges grünes T-Shirt. Geht schon.

Ein Schritt aus dem Schlafzimmer, schon wird ihre Energie auf die Probe gestellt. Bobbys Zimmer ist direkt gegenüber, und so gern sie einfach daran vorbeiginge, sie muss es betreten. Seit Bobbys Heirat und Auszug ist es unverändert. Er nahm die meisten Sachen mit, aber das Zimmer sieht aus wie früher. Wie das Zimmer eines erwachsenen Sohnes, der noch zu Hause wohnt. Das Bett ist gemacht, das Fenster einen Spaltbreit offen. Ein verblasstes Poster von Patrick Ewing, schweißtriefend und zum Fürchten, hängt über dem Bett. Mitten im Sprung, um einen Wurf zu blocken. Sie nickt ihm zu.

Patrick, wie geht’s uns heute Morgen?

Gut, Mrs A, gut. Irgendwie kriege ich diesen Wurf nie fertig geblockt. Immer fehlen ein paar Zentimeter.

Nicht aufgeben, Patrick.

Wird gemacht, Mrs A.

Sie zieht scharf die Luft ein, schließt die Augen, versucht sich zu erinnern, wie es war, mit ihrem Sohn in diesem Zimmer zu sein. Er war kaum jemals da. Zum Schlafen, und das war’s. Die älteren Jungen mussten sich ein Zimmer teilen, aber Bobby kriegte sein eigenes. Sie weiß nicht mehr, wie das kam. Irgendwie halt. Keine Erklärung, keine Begründung: eine Übergangsregelung, zeitweise praktisch für die Familie und dann vom schlichten Vergehen der Zeit zementiert. Als sich einer der älteren Jungen beschwerte – Peter, es muss Peter gewesen sein –, war es zu spät.

»Macht mir nichts aus, Mom. Er kann es haben. Ich tausche, oder Franky zieht zu mir.«

Nachgiebig wie Gummi, ihr Bobby. Doch der Tausch kam nie zustande. Der Jüngste bekommt die abgetragenen Sachen, das ramponierte Spielzeug, wird in die Pfanne gehauen und im Stich gelassen, gehänselt und schikaniert. Da soll er wenigstens sein eigenes Zimmer haben, auch wenn er es gar nicht will.

Außerdem wollte sie nicht, dass Peter seinen Willen bekam. Er war vierzehn oder fünfzehn. Überall der große Zampano. Schon Ansprüche, zwar nicht wie die reichen Bengel, aber eine Erwartungshaltung. Er legte sich ins Zeug, das war nicht zu leugnen. War gut in der Schule, doch das fiel ihm leicht. Gut auch in Sport – Football, Baseball –, was ihm auch leichtfiel. Aber er hatte die Erwartung, dass sich ihm alle Türen zu öffnen hatten, die Sicherheit, dass er eines Tages das Schloss erobern und die Prinzessin ficken und den ganzen Wein bechern würde, weil er so intelligent und sportlich und gut aussehend und fleißig war. Womit er gar nicht so verkehrt lag, wie sich später herausstellte.

Doch das Zimmer bekam er nicht. Sie erinnert sich jetzt: eine Liste guter Gründe, am Küchentisch präsentiert. Ein selbstgefälliges kleines Lächeln am Schluss aus Genugtuung über die Brillanz seiner Logik. Der Schock und die Kränkung, als sie Nein sagte, ohne Begründung. Sie wollte, dass der kleine Großkotz mal eine Enttäuschung erlebte. Komisch, wie man manchmal die eigenen Kinder hassen kann.

Sie geht zu dem kleinen Bücherregal, das unter dem Fenster steht. Darauf eine Handvoll Basketballpokale. Einen hat ein Windstoß umgeweht. Sie hebt ihn auf, betrachtet die Plakette: Most Improved Player, Farrell Junior Varsity 1990–91. Der Pokal bedeutete ihm viel. Sie stellt ihn wieder auf den marmornen Sockel, schiebt ihn an seinen angestammten Platz unter den anderen.

Vor ein paar Jahren dachte Michael laut über die Möglichkeit nach, das Zimmer anderweitig zu nutzen. Als zusätzliches Gästezimmer oder als häusliches Arbeitszimmer oder vielleicht als Spielzimmer für die Enkel. Sie starrte ihn aus ihren blauen Augen unbewegt an, bis ihm die Worte ausgingen. Er brachte das Thema nie wieder zur Sprache.

Manchmal denkt sie, er hatte recht. Das Zimmer hat keine Atmosphäre, es ruft keine besonderen Erinnerungen wach. Es erinnert sie einfach an Bobbys Fehlen, und dafür braucht sie eigentlich kein Zimmer. An manchen Tagen tut es ihr weh, dieses Zimmer, wenn sie beim Eintreten jemanden in seinem Bett liegen sieht und kurz eine obszöne Hoffnung aufflackern fühlt, die gleich wieder verlischt, wenn ihr klar wird, es ist Franky, und er hat sich hier verkrochen, während sie schliefen, ein betrunkenes Häufchen Elend, das der einen Trübsal die nächste hinzufügt. An solchen Tagen schließt sie die Tür und lässt Franky schlafen. Wenn er sich am Morgen verkatert und verschämt davonstiehlt, wäscht sie die Laken und macht das Bett neu und fühlt Bobby noch ein Stück weiter entgleiten.

Vor allem ist es eine Ablenkung. Ein Aufschub von vielleicht fünf Minuten, vielleicht einer Stunde, bevor ihr Tag richtig losgeht. Wie heute. So, es wird Zeit, Mr Ewing viel Glück zu wünschen und in die Gänge zu kommen. Sie bekreuzigt sich und verlässt das Zimmer.

Schon ist sie ein Stockwerk tiefer und fegt wie ein Wirbelwind durchs Haus, um die ganzen kleinen Pflichten zu erledigen, die während der Woche liegen geblieben sind und die sie schon gestern Abend hätte erledigen sollen. Überall, wo sie hinkommt, erwacht das Haus zum Leben: Die Waschmaschine schlürft, die Spülmaschine gluckst, die Kaffeemaschine brodelt und zischt. Aufleuchtende Lampen markieren ihren Weg durchs Haus. Bad, Flur, Treppe, Küche, Wohnzimmer, Veranda. Die Holzfußböden ächzen bei jedem Schritt zu ihr auf, und die Knochen in ihren Fesseln und Füßen antworten mit beunruhigendem Knacken. Der Müll wird hinaus-, die Zeitung hereingebracht.

Stimmen aus dem Radio tönen wieder durch die Küche, ohne zu ahnen, dass sie in den Schlafensstunden abgestellt waren. Ein ganz normaler Nachrichtensender. Nichts Politisches, nichts Empörendes. Bloß die Verkehrslage, das Wetter, die Vorkommnisse in den fünf Stadtbezirken und in New Jersey, Connecticut, Long Island, Westchester. Meldungen, die ihr das Gefühl geben, dass sie Teil einer Gemeinschaft ist. Einer großen, weit verstreuten, zänkischen Gemeinschaft, aber einer Gemeinschaft.

Es gab eine Messerstecherei in Yonkers, einen tödlichen Unfall wegen Trunkenheit am Steuer in Garden City, vom Sturm heruntergerissene Stromleitungen in Massapequa. Dazwischen Heile-Welt-Geschichten: eine anonyme Spende an eine Suppenküche in Mount Vernon, ein geretteter Hund in Canarsie, eine Spenderniere für ein krankes Kind in Flushing.

Wie schrecklich. Wie großartig. Wie deprimierend. Die Verkehrslage, irgendwo immer schlecht, selbst zu dieser Tageszeit, selbst an einem Samstag. Die Sprecherin führt auf, wie lange man wo steht, und klingt dabei wie die Empfangsdame in einem Restaurant, die die Wartezeit für einen Tisch abschätzt. Fünfzehn Minuten am Holland Tunnel stadteinwärts. Zwanzig stadtauswärts. Dreißig Minuten am Lincoln Tunnel stadtauswärts. Fünfundvierzig stadteinwärts. Eine Stunde an der George Washington Bridge in beiden Richtungen.

Meistens hört sie morgens kaum hin. Es läuft nebenher, damit sie in Schwung kommt, Gesellschaft hat. Die Stimmen im Radio verfolgen Gail überall im Haus. Sie werden leiser, verschwinden, kommen wieder, werden vom Wäschetrockner übertönt, werden lauter, verschwinden wieder. Gail spitzt die Ohren nur, wenn im Radio etwas Lokales erwähnt wird.

Ein Unfall auf dem West Shore Expressway. Wieder ein Angriff auf Schwule in Port Richmond. Ein junger Bursche aus Prince’s Bay in Afghanistan verwundet. Wenn das geschieht, was nicht häufig ist, unterbricht sie ihr geschäftiges Treiben und hört zu.

An diesem Morgen geschieht nichts. Der Stadtbezirk bleibt stumm.

Sie ist jetzt in der Küche und inspiziert den Kühlschrank. Er ist immer leerer, scheint ihr, als er eigentlich sein sollte, aber wenn sie ihn auffüllt, wirft sie am Schluss jedes Mal die Hälfte der Lebensmittel weg. Sie haben keine drei heißhungrigen halbwüchsigen Jungen mehr, die rund um die Uhr essen. Der Kühlschrank ist wie das Haus: leerer als früher. Es ist nicht zu ändern.

Sie blickt in den Schrank, um sicherzugehen, dass sie die Frühstücksflocken hat, die Alyssa und Little Bobby am liebsten mögen. Sie hat gerade eine Schachtel Honey Nut Cheerios in der Hand, als eine Meldung ihre Aufmerksamkeit erregt: ein gewaltsamer Einbruch am gestrigen Abend irgendwo auf Long Island in einer Ortschaft namens Moriches. Zwei Männer drangen in das Haus eines alten Ehepaares ein. Der Mann war ein Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg, dreiundachtzig Jahre alt. Sie schlugen ihn bewusstlos. Er liegt im Koma, aber sie interviewen seine Frau, deren Angst mit Händen zu greifen, über die Ätherwellen zu fühlen ist. Einen Mann haben sie gefasst, der andere ist noch flüchtig.

Gail hofft, dass ein Polizist, ein richtig geladener, verkaterter Bulle, ihn in einem kalten Erdloch aufspürt, ihm in den Bauch schießt und ihn dann unter einem Berg nasser Blätter verfaulen lässt. Sie sieht den Polizisten deutlich vor sich, wie er sich lautlos anschleicht, die Waffe gezogen, wie sein Atem in der Kälte dunstet. Bohrende Schmerzen im Hinterkopf vom vielen Whiskey am Abend zuvor. Geladen wegen diesem und jenem. Wegen einer unbeglichenen Rechnung. Endlich mal eine Chance zu ausgleichender Gerechtigkeit. Der Verbrecher nichts ahnend, ein mieser Junkie, gerade am Runterkommen. Der Polizist ist so gut wie da.

Lieber Himmel, woher kommen diese Gedanken?

Moriches. Kennt sie nicht, nicht mal dem Namen nach. Jetzt aber verbindet sich etwas mit dem Namen, sie wird ihn sich merken. Moriches, wo alte Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg zu Klump gehauen werden und Polizisten auf das Gesetz scheißen und Selbstjustiz üben.

Die Frau gefällt ihr, die Frau des Veteranen. Ihre Stimme, ihre Art, beides aus einer anderen Zeit. Gail versucht, genau hinzuhören. Schlimm, was sie erlebt hat. Wie tief ihr die Angst sitzen muss. Moriches. Wenn Tina kommt, wird sie sie bitten, auf dem Computer nachzuschauen, ihr zu zeigen, wo es liegt. Sie will wissen, wo es liegt, will den Punkt auf der Landkarte sehen.

Gail kennt die meisten Ortschaften nicht, von denen sie im Radio hört, aber jede weckt ein Gefühl. Manche Namen gefallen ihr: Lynbrook, Mamaroneck, Dobbs Ferry. Andere gefallen ihr nicht: Sayville, Passaic, Scarsdale. Sie war verblüfft, als Michael ihr erzählte, Scarsdale sei eine wohlhabende Stadt. Der Name klang hart, nach einer verfallenen Bergarbeiterstadt. Narbental. Eine Narbe in der Erde, Narben auf den Gesichtern. Hätte sie nie gedacht.

Wenn es gar nichts mehr zu tun gibt, wenn sonst nichts sauber gemacht oder aufgeräumt werden kann, setzt sie sich an den Tisch und wartet auf Tina und die Kinder. Sie breitet den Advance auf dem Tisch aus, blättert ihn durch. Die Zeitung berichtet eingehender als das Radio, verdient mehr Konzentration. Eine Millionengemeinde ausgedünnt auf einige hunderttausend.

Zwischen einzelnen Artikeln blickt sie zum großen Erkerfenster an der Straßenseite der Küche hinaus. Der Morgen ist grau, die Sonne am Himmel, aber von einem Streifen tief hängender Wolken verdeckt. Die anderen Häuser ringsum sind dunkel. Die Straße ist still. Die ganze Nachbarschaft schläft den Wochenstress aus.

Der Straßenabschnitt hat sich in den vierzig Jahren, die sie hier zu Hause sind, nicht sehr verändert. Weniger Bäume. Weniger offene Flächen. Eine Handvoll neuer Häuser, die sich nicht recht einfügen. Ansonsten ist die Wirra Lane von der späteren dichten Bebauung, unter der das übrige Staten Island leidet, weitgehend verschont geblieben.

Eine kurze innere Leere. Ihre Gedanken wandern zu Franky. Sie hofft, er hat seinen momentanen Job noch, hofft, er hat ihn noch nicht geschmissen. Sie hat ihn seit Wochen nicht gesehen. Seit Wochen auch nichts mehr von ihm gehört, will ihr scheinen. Vielleicht hat er ja eine Frau kennengelernt. Gott, wie sehr sie das hofft! Mit der richtigen Frau würde er wieder in die Spur kommen. Mit der richtigen Frau würde er sich zusammenreißen.

Sicher, die richtige Frau wäre zu klug, um sich überhaupt mit ihm einzulassen.

Das war nicht immer so. Früher, vor gar nicht so langer Zeit, war Franky beinahe so was wie ein Frauenheld. Ganz ansprechend auf so eine spitzbübische Art. So ein Funkeln im Blick, das nichts Gutes verhieß, gewiss, aber charmant. Sie hatte eines Morgens bei Tagesanbruch hier an diesem Tisch gesessen, als ein Auto vorfuhr. Franky und Bobby wohnten beide noch zu Hause, sie besuchten Sommerkurse am CSI und wetzten sich in sämtlichen Kneipen auf der Forest Avenue die Ellbogen ab. Auch die Nacht davor waren sie aus gewesen. Gail hatte sie kommen hören, nach vier, die stolpernden Schritte im Flur auf dem Weg in ihre Zimmer.

Wenigstens meinte sie, sie gehört zu haben, alle beide, aber natürlich hatte sie nicht die Betten kontrolliert. Sie konnte nicht wieder einschlafen, deshalb ging sie nach einer Stunde Hinundherwälzen nach unten, um den Tag zu beginnen. Und auf einmal hielt leise ein Auto vor der Tür, und sie sah, wie Franky sich auf dem Beifahrersitz zu dem Mädchen am Steuer hinüberlehnte und mit ihr knutschte. Er stieg aus, klappte leise die Tür zu und war schon auf dem Weg zur Eingangstreppe, als das Mädchen – schwarze Haare im Pferdeschwanz, sportlich, lange Beine in kurzen Jeans – auch ausstieg und ihm mit einem Zettel in der Hand nachlief. Er machte kehrt, gab ihr noch einen langen Kuss und steckte den Zettel in die Tasche. Er winkte ihr nach und ging dann ins Haus, fröhlich und unbeschwert wie ein Mann, der gerade eine Nummer geschoben hat, was wahrscheinlich der Fall war. Er nahm die im Dunkeln sitzende Gail nicht wahr.

»War das Kerry Cole?«, fragte sie unvermittelt, um ihn zu erschrecken. Gail kannte sie aus dem Advance. Sie war ein paar Jahre zuvor ein Fußballstar auf der Insel gewesen, hatte ein Stipendium für Notre Dame bekommen, war wohl den Sommer über zu Hause. Er setzte sich Gail gegenüber, ein Feixen im Gesicht.

»War sie, Mutter, war sie«, sagte er mit einem künstlichen irischen Akzent. »Prima Mädel.«

Er holte den Zettel aus der Tasche, strich ihn auf dem Tisch glatt. Gail sah den Namen Kerry, eine Telefonnummer darunter. Bobby wäre verlegen gewesen und Peter verstimmt, aber Franky war ungeniert. Eher noch stolz. Und Gail empfand auch einen seltsamen Stolz. Sie konnte sich vorstellen, dass ein Mädchen wie Kerry Cole sich in Peter verguckte. Aber in Franky? Der im Schneckentempo durchs Community College dödelte? Dessen großes Ziel im Leben der nächste Abend an der Theke war? Dessen ideales Lesepensum die zwei Seiten mit Sportergebnissen in der Post waren?

Und die war tatsächlich Franky nachgelaufen, um ihm ihre Nummer zu geben. Hatte mit ihm direkt vorm Haus rumgeknutscht, wie wenn es ihr letzter Tag auf Erden wäre. Als Mutter von drei Jungen – drei Männern inzwischen – hatte Gail sich über die Jahre an ein gewisses Maß von Machogehabe gewöhnt. Trotzdem war es merkwürdig, wenn sie sich freute, dass ihr Sohn vielleicht über seinem Niveau gevögelt hatte. Aber sie freute sich. Und sie war stolz.

»Lässt sie sich im Sommer zum Pöbel herab?«, fragte sie und bereute es sofort. Sie hatte es scherzhaft gemeint, aber bei Franky passierte es ihr manchmal, dass sie grausam wurde, ohne es zu wollen. Aber er nahm es nicht krumm.

»Was soll ich sagen, Mutter? Über Geschmack lässt sich schlecht streiten.«

Er lächelte. Er war nicht betrunken, nicht einmal beschwipst. Er strahlte über das unwahrscheinliche Glück seiner Eroberung. Er war über das Alter hinaus, wo Gail ihm noch einen Vortrag über Vorsicht und Verhütung halten konnte. Und sie konnte sich weiß Gott etwas Schlimmeres vorstellen, als dass Franky ein liebes, gescheites Mädel wie Kerry Cole schwängerte.

»Ruf sie mal an, Francis«, sagte sie und versuchte dabei, nicht zu klingen, als wollte sie ihn drängen.

»Ich hab einen Bärenhunger«, entgegnete er.

Sie briet etwas Speck an und verquirlte ein paar Eier, dann setzte sie sich zu ihm, während er aß. Aus seinem Feixen wurde ein freundliches Lächeln.

»Prima Mädel. Meine Fresse.«

Er musste die Eier in eine Serviette spucken, weil er so heftig lachte. Sie wiederholte es ihm in den nächsten paar Wochen, es war ihr gemeinsamer Insiderwitz. Er konnte manchmal so locker sein. Er hatte seine Momente.

Er rief sie nie an, trotz allem mütterlichen Zureden. Gail sah Kerry Cole nie wieder, bis einige Jahre später im Advance ihre Hochzeit angekündigt wurde. Da hatte Gail zahllose Morgen mit Franky hinter sich: Tage, wo sie ihm aus dem Taxi helfen musste, Tage, wo sie ihn bewusstlos im Vorgarten liegen sah, Tage, wo er überhaupt nicht nach Hause kam, und natürlich der Tag, an dem er anrief und ihnen konfus nuschelnd erzählte, dass er verhaftet worden war.

Es gab sogar noch ein paar Tage, an denen er von einem Mädchen abgesetzt wurde. Keine davon war Kerry Cole, aber es fehlte ihm nicht an weiblicher Gesellschaft. Er hatte immer noch eine gewisse Anziehung, sah immer noch nicht schlecht aus. Wenn er so auf einem Barhocker saß – ein betrunkenes, verfallenes Denkmal für seinen verstorbenen Bruder –, kam Franky bei Kneipentussis einer bestimmten Sorte wahrscheinlich ganz gut an.

Manche Frauen lieben Sanierungsprojekte.

Auf dem Tresen beendet die Kaffeemaschine ihr angenehmes Geplätscher. Sie macht eine Kanne für Michael; sie selbst zieht den Starbucks vor, den Tina zu den Bagels mitbringt. Michael mäkelt daran herum.

»Er ist zu teuer, er schmeckt angebrannt.«

Gail ist das egal. Ihr schmeckt er. Sie trinkt lieber eine gute Tasse Kaffee als vier schlechte. Michael ist beim Trinkgeld spendabel, würde einem Freund seinen letzten Dollar geben, aber anderswo ist er so knickrig, dass Gail nur staunen kann.

Nicht knickrig. Sparsam. Er spart am Kaffee, damit er mürrischen Barmännern fünf Dollar Trinkgeld geben kann. In Gails Augen widersinnig, aber das macht nichts. Sie muss nicht alles verstehen, was ihr Mann tut. Das zu begreifen hat sie Jahre gekostet. Wenn sie einen Vorbereitungskurs für angehende Bräute geben sollte, wäre das ihr erster Rat.

Versuch nicht, alles zu verstehen, was er tut.

Michael ist aufgestanden. Das Gleichgewicht im Haus hat sich mit ihm verschoben. Sie weiß so sicher, was er gerade tut, als ob sie mit ihm im Zimmer wäre. Ein steifer Gang ins Bad, gefolgt vom eiligen Hochklappen der Brille und einem langen, genüsslichen Strullen. Während Michaels samstagmorgendlicher Pissorgien sind schon Regierungen gestürzt. Die Pissdauer verrät ihr, wie viele Biere er am Vorabend gekippt hat: zehn Sekunden für jede Flasche.

Gail hört die Dusche angehen. Kurz gepisst. Da muss Michael gestern Abend brav gewesen sein.

Die Umpolung der Ordnung im Haus – ein zweiter Körper unterwegs, ein zweites Bewusstsein den Fängen des Schlummers entwichen – überrascht sie jedes Mal wieder. Es ist wie ein zweites Erwachen, genauso abrupt, aber fordernder. Der Tag hat sich in seiner Spur auf den Anbruch zubewegt, und jetzt ist er angebrochen. Das Haus, riesengroß in seiner Leere, wird bald zusammenschrumpfen, wenn es im Lauf des Tages Michael Raum bieten muss, Tina, den Kindern. Erst wenn die Stille schwindet, sehnt Gail sie sich zurück.

Der Morgen hat sie eingeholt. Zeit, an die Arbeit zu gehen. Sie greift sich Block und Schreibstift. Sie überlegt einen Moment, welcher Tag ist.

13. März.

Noch zwei Tage bis zu den Iden des März. Sie hat im vorigen Jahr aufgehört zu unterrichten, aber in dieser Woche hätte ihre achte Begabtenklasse normalerweise mit Julius Caesar angefangen. Sie hat immer versucht, es zeitlich so zu legen, dass sie die Stelle mit den Iden des März auch an den Iden des März lasen. Im Unterricht kommt es auf die Kleinigkeiten an. Du unternimmst sonst was, damit sie bei der Stange bleiben und weiterlesen. Über die Jahre beschwerten sich ein paar Eltern, Shakespeare sei für Achtklässler, selbst für begabte, zu anspruchsvoll. Aber Gail fand das Stück immer für die Altersstufe ideal. Es ging darin um Freundschaft, Verrat, Verschwörung, Ehre: genau die Sachen, mit denen sie sich in ihrem eigenen Leben herumzuschlagen begannen. Außerdem mussten Kinder gefordert werden, nicht gehätschelt.

Eine turbulente Zeit im Jahr. St. Patrick’s Day. Beginn des NCAA-Turniers, in dem die Hochschulbasketballer um die Meisterschaft spielen. Cody’s Wettpool. Bobbys liebste Woche im Jahr. Wo ihr blauäugiger Junge mit dem italienischen Nachnamen und dem irischen Gesicht den Fischerpullover mit Zopfmuster, den Gail ihm in Galway gekauft hatte, auf jeder verdammten S.-Patrick’s-Parade im Großraum New York spazieren trug: in Manhattan, Hoboken, Bay Ridge und natürlich hier auf der Forest Avenue. Wo er den Pullover langsam mit immer mehr braunen Guinnessflecken einsaute. Wo er tagelang ununterbrochen Basketball guckte. Es war, fand er, als hätte man alle guten Dinge im Leben in eine Woche gestopft, außer Thanksgiving und den Vorabend zu Thanksgiving.

Was ist mit Weihnachten?, fragte sie dann.

Überschätzt, erklärte er kategorisch. Abgesehen von deinem Essen, Mom. Überschätzt.

Warte ab, bis du mal Kinder hast, dachte sie dann. Warte ab, bis du sie am Weihnachtsmorgen die Treppe hinuntersausen siehst.

Sie schreibt »zu erledigen« neben das Datum und macht am linken Seitenrand ein paar kurze Gedankenstriche, neben die dann die Erledigungen kommen.

– Putzmittel.

– Aufschnitt.

– Peter wegen Mittwoch anrufen.

– Bobby juniors Geburtstagsparty.

Ein einzelner Strich steht einsam und allein unten auf der Liste. Da war noch irgendwas. Als sie die Wäsche in den Trockner tat, wusste sie es noch. Ihr Gedächtnis ist auch nicht mehr, was es mal war, aber sie weiß, wann sie etwas vergessen hat. Sie tippt mit dem Stift auf den leeren Fleck, als würde sich der Punkt, wenn sie hartnäckig bleibt, von selbst nachtragen.

Ach, was soll’s, wenn es wichtig ist, wird es ihr schon wieder einfallen. Der Strich wird nicht lange einsam bleiben.

Die Listen sind nicht mehr so lang wie früher. Sie kann sich an Zeiten erinnern, da konnte sie gar keine Listen machen, da sprang die nächste Pflicht sie schon an, ehe die eine erledigt war. Einer der Jungen mit blutiger Nase und hungrig obendrein, einer der Jungen auf dem Sprung, weil er zum Sport gefahren werden muss. Klingeling, das Telefon: einer vom Kino abzuholen. Einen Eisbeutel geholt, die Ziti in der Mikrowelle aufgewärmt. Im Auto den einen Sohn an der Sporthalle abgesetzt, den zweiten am Kino eingeladen, auf dem Rücksitz mitverhaftet der dritte, mit der einen Hand den Eisbeutel an die Nase haltend, in der anderen eine Tupperdose mit den restlichen Nudeln. Der Kinogänger steigt ein, zwei seiner Kumpane sitzen schon halb, ehe er fragt.

»Können Jimmy und Steve mit zu uns kommen?«

Klar können sie. Die Freunde der Söhne waren immer willkommen, das Haus immer offen. Wochenende für Wochenende, Jahr für Jahr fütterte Gail eine kleine Heerschar von Jungen durch.

Der mit der blutigen Nase war natürlich Bobby. Der mitgeschleift wurde, während sie die beiden Älteren über die ganze Insel kutschierte. Wenn dann nur noch sie beide im Wagen waren, verstellte Gail den Rückspiegel, um ihn anzuschauen.

»Alles klar, Käpt’n?«

Oder so ähnlich.

Ein Lächeln als Antwort, einen Wattebausch in der Nase. Keine Sorge, Mom, sollte sein Lächeln heißen. Alles paletti. Eine Engelsgeduld, alles war ihm ein Abenteuer. Als Junge genau wie später als Mann.

Gail legt die unvollständige Liste beiseite und greift zur Zeitung. Irgendwo auf der Straße schrillt die Alarmanlage eines Autos vor sich hin, während ein trantütiger Nachbar den richtigen Knopf an seinem Schlüsselbund sucht. Als der Alarmton endlich verstummt, hört sie Michaels Schritte auf der Treppe. Gähnend und gut gelaunt tritt er in die Küche.

»Guten Morgen, meine Schöne.«

»Selber guten Morgen.«

Michael sieht gut aus für einen Mann, »der auf dem vorletzten Loch pfeift«, wie er von sich selbst sagt. Sein Gesicht ist immer noch freundlich, immer bereit zu lächeln, obwohl ihm das Leben die Trauer nicht erspart hat. Er öffnet einen Schrank, holt eine rote Feuerwehrtasse heraus. Er schenkt sich eine Tasse Kaffee ein und gibt einen kleinen Schuss Milch dazu. Er küsst Gail auf die Wange und setzt sich neben sie, blickt aus dem Fenster.

»Na, wie sieht die Welt heute aus?«

»Wie immer.« Sie leckt sich den Finger, blättert um. »Wie war’s im Leaf?«

»Wie immer.«

Er lächelt.

»Wer hat das Spiel gewonnen?« Als sie auf der Couch einschlief, lag Duke zur Halbzeit gegen Virginia Tech sechs Punkte zurück.

»In der zweiten Hälfte ist Duke davongezogen. Eine Nummer zu groß.«

»Scheibenkleister. Und wann ist jetzt die Ziehung?«

»Du meinst die Auslosung? Morgen Abend.«

»Und, schließt ihr dies Jahr wieder Wetten ab, du und die Jungs?«

Er runzelt künstlich entrüstet die Stirn.

»Warum stellst du Fragen, auf die du die Antwort kennst?«

»Aus demselben Grund, warum du hartnäckig in einen Pool einzahlst, den du nie im Leben gewinnst. Es macht mir Spaß.«

Er lächelt wieder.

»Eins zu null für dich.«

Wenn die »March Madness« tobt, die Hochschulmeisterschaft im Basketball, gehört Cody’s Pool einfach dazu. Das System ist von genialer Einfachheit. Wette auf die vier Endrundenteams, die Final Four. Wette auf den Sieger. Wette auf die Gesamtpunktzahl im Endspiel. Zehn Dollar die Wette. Hört sich kinderleicht an, aber wenn du bei einem Endrundenteam danebenliegst, bist du draußen.

Kansas verliert in der zweiten Runde? Schon sind elftausend Wetten futsch, über hunderttausend Dollar. Syracuse unterliegt nach einem Treffer in der Verlängerung genau zur Schlusssirene? Ein Viertel der Teilnehmer sind aus dem Rennen. Tschüs, bis zum nächsten Jahr. Die Leute, die mitwetten, kommen von überall – aus Jersey, Brooklyn, der City, selbst Connecticut. Voriges Jahr war über eine Million im Pott. In bar.

Sie zieht Michael damit auf, aber sie liebt den Pool. Eine eigene Lotterie für die Insel. Die Lehrer in der Schule geben ein paar Tippzettel ab. Desgleichen die Männer hinter der Theke bei Enzo’s. Franky und Bobby saßen früher stundenlang hier an diesem Tisch, siebten Teams aus, rückten andere nach oben. Sie legten mit Freunden zusammen, gaben auch ein paar Zettel mit ihren Tipps ab. Immer wieder revidierten sie ihre Wetten. Wenn sie sich nur mit der gleichen Hingabe um ihre Schulaufgaben gekümmert hätten, so wie ihr älterer Bruder das tat.

Als Peter studierte, rief er im März regelmäßig zu Hause an und gab seine Tipps durch. Gegen Ende des Studiums wollten seine Freunde mitmachen. Zwei von ihnen fuhren sogar zum ersten ausgeflippten Wochenende mit. Sie fuhren mit ihm geradewegs zu Cody’s und gaben ihre Wettscheine ab. Das ganze Wochenende guckten sie im Keller die Spiele. Franky und Bobby mit dabei. Basketball nonstop. Alle paar Stunden ein Mordsradau. Michael saß mit ihr in der Küche und meinte, er wolle mal nachsehen gehen, was los sei. Stundenlang tauchte er nicht wieder auf. Als er schließlich kam, leuchtete ihm die joviale Energie männlicher Kumpanei aus allen Knopflöchern, so wie nach einem guten Abend im Leaf.

Doch dies hier war besser. Dies war sein eigen Fleisch und Blut, dies waren seine Jungs.

Gail kochte und ließ Michael das Essen nach unten bringen. Schlichte Kost, die den Magen füllte, die das Bier aufsaugte. Parmesanhühnchen, Würstchen mit Paprika, Penne in rauen Mengen, Schweinebraten mit Sauerkraut. Sie musste ein paar eilige Fahrten zu Enzo’s einschieben, um für Nachschub zu sorgen, für Brot und Aufschnitt. Was für Massen sie verschlangen!

Eine längere Pause zwischen den Nachmittagsspielen und den Abendspielen. Mit Recken und Strecken und großen Sprüchen kamen sie aus dem Keller und wollten, dass es weiterging wie gehabt, nur woanders. Peter und seine Freunde volljährig, Franky dicht genug dran für das Leaf. Aber nicht Bobby, der war wieder der Nachzügler, der bei Muttern bleiben musste. Letzte Klasse in der Highschool, aber hier immer noch der Kleine.

Gail war wütend auf die anderen Jungen, wütend auf Michael. Konnten sie nicht einfach im Keller bleiben? Sie würde ihnen sogar das Bier besorgen. Sie konnten es kistenweise trinken da unten. Wenn nur Bobby mit von der Partie sein durfte. Aber Bobby war es egal. Es machte ihm gar nichts aus.

Mom, hättest du was dagegen, wenn Tina herkommen und die Spiele mit uns gucken würde?

Mit uns?

Natürlich nicht.

Gail schaut auf die Uhr an der Mikrowelle. Halb zehn. Tina verspätet sich.

»Was soll es heute zu Abend geben?«, fragt Michael.

»Ich dachte, ich mache den Linseneintopf deiner Mutter, mit Würstchen drin. Ein letztes wärmendes Winteressen, bevor der Frühling kommt.«

Er trinkt seinen Kaffee.

»Bist du sicher, dass du kochen willst?«

Gail klappt die Zeitung zusammen, nimmt die Brille ab.

»Warum? Hast du eine andere Idee?«

»Ich dachte, wir könnten vielleicht in die City fahren und in dieses Kellerlokal in Chinatown gehen, wo wir früher immer mit den Jungs hingegangen sind, das mit den leckeren Klößen.«

»Michael Amendola. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Was ist mit der Maut auf der Brücke?«

»Mach du dich nur über mich lustig. Sehr nett. Ich versuche, meinen Horizont zu erweitern, und du machst dich über mich lustig.«

»Nach Manhattan fahren, Klöße essen. Als Nächstes sagst du noch, wir sollten uns Sushi holen.«

»Warum nicht? Ich schlage ein neues Kapitel auf, Goodness. Sushi. Falafel. Pediküre und Yoga. Verständnis und Mitgefühl. Weg mit dem Alten, her mit dem Neuen. Von mir aus können sie Moscheen auf dem Mond bauen, und ich werde keinen Piep dagegen sagen.«

»Interessant. Klingt so, als könnte in diesem neuen Kapitel nicht viel aus dem alten stehen.«

»Langsam, wir wollen es nicht übertreiben. Kapitel aufschlagen ist ein Kapitel für sich. Was im alten steht, ist erst dann überholt, wenn das neue sich wirklich bewährt hat. Am besten fängt man mit etwas Einfachem an. Mit Klößen zum Beispiel.«

Sie lachen gemeinsam. Es ist schön, wenn sie sich zum Tagesanfang gegenseitig aufheitern.

»Aber sonst klingt es nach einer prima Idee. Eine Abwechslung.«

Er schüttelt den Kopf, kreist die Schultern.

»Muss auch gar nicht Chinatown sein. Little Italy ist gleich daneben. Entweder oder.«

»Mir gleich. Mal was anderes.«

Er steht auf.

»Gut.«

Ein bekanntes Auto bremst auf der Straße vor dem Haus und biegt in ihre Einfahrt. Das Auto rollt aus, und die Beifahrertür geht auf. Alyssa schiebt sich hinaus. Sie ist zwölf, an der Schwelle zu so vielem im Leben. Während sie zum Haus schlurft, ist ihr Blick starr auf den winzigen Bildschirm ihres Telefons gerichtet. Bobby junior hüpft aus der hinteren Tür und saust an seiner Schwester vorbei, dass seine schwarzen Haare flattern. Er winkt ihnen durchs Fenster aufgeregt zu.

Das Schlusslicht macht Tina mit einem Kaffeetablett. Sie sieht erschöpft aus. Sie nickt ihnen durchs Fenster zu, ein verkniffenes Lächeln im Gesicht.

»Sie hat abgenommen«, sagt Michael.

Michaels Bemerkung, die Gail aus unerfindlichen Gründen verstört, hängt einen Moment in der Luft, bevor die Haustür unter Bobby juniors Gewicht auffliegt und er ins Haus stürmt, die Jacke schon halb abgestreift. Er schlenkert die Arme frei, und die Jacke fällt im Durchgang zwischen Veranda und Wohnzimmer zu Boden. Er lehnt sich zurück, schmettert.

»Euer Racker ist da!«

Er bricht in Gekicher aus, lässt sich von Michael die Haare zausen, bevor er sich in Gails Arme schmiegt.

»Du hast mir gefehlt, Bob-a-loo.«

»Du mir auch, Oma.«

Er riecht nach Cheerios und Milch. Er hat die dunklen Haare seiner Mutter, sonst aber alles vom Vater. Die blauen Augen, das drollige Grinsen, die unverwüstliche gute Laune. Seine glatte Wange an ihrer runzligen fühlt sich jung an. Er wird in wenigen Tagen neun. Sie freut sich schon seit Wochen auf seinen Geburtstag. Nächsten Sonntag, die Familie ganz unter sich. Grillen im Garten wie früher in alten Zeiten. Sie lässt ihn los, und er hüpft zu Michael zurück, um ihn abzuklatschen.

Alyssa kommt hinter ihrem Bruder herein. Nach Bobbys ansteckendem Überschwang ist ihr immer gleiches Schmollgesicht wie eine Ohrfeige. Ein paar Aknepickel auf der Stirn, sonst noch kein Anzeichen von Pubertät. Ihr Körper mit seinen geraden Linien, krummen Schultern und braunen Spaghettihaaren ist geradezu schmerzhaft geometrisch. Hoffentlich, sagt sich Gail, ist sie eine Spätentwicklerin.

Als Letztes kommt Tina. Mit ihrer freundlichen, aber müden Art – ein Kompromiss zwischen den Stimmungen ihrer Kinder – stellt sie gewöhnlich das Gleichgewicht wieder her. Heute nicht. Nein, heute ist ihr Herz deutlich auf Alyssas Seite, und das beunruhigt Gail. Tinas schlechte Laune wird einen Grund haben, etwas Reelles wird dahinterstehen.

Sie blickt Gail mit schmerzlicher Miene an wie eine Mutter, die ihrem Kind eine unangenehme Wahrheit beibringen muss. Und da begreift Gail den Grund so plötzlich, wie ein Zweig bricht, wenn er weit genug gebogen wurde.

Es ist die einzig logische Erklärung.

Tina hält sich nicht mit Vorgeplänkel auf. Sie versucht sich nicht zu rechtfertigen. Sie erwähnt Bobby nicht. Sobald sie allein sind – die Kinder im Wohnzimmer vor dem Fernseher geparkt, Michael zu Besorgungen unterwegs –, spricht sie es aus und bestätigt, was Gail bereits weiß.

»Ich habe jemand kennengelernt.«

Gail sieht ihre Schwiegertochter an. Tinas Hände zittern, und sie presst sie zur Beruhigung fest auf den Tisch, die Finger gespreizt. Gail legt ihr die Hand auf die Schulter, drückt sie.

»Schön für dich, Tina. Das freut mich für dich.«

Keine richtige Lüge, doch kaum ausgesprochen, klingt es schon falsch. Es freut sie wirklich. Aber es macht sie auch traurig. Sie kann es nicht leugnen. Sie hat sich davor gefürchtet, auch wenn sie es ihr irgendwo gewünscht hat. Sie findet, es sollte ein besseres Wort für diese Empfindung geben. Bittersüß fasst es nicht. Die Empfindung ist anders. Freude und Schmerz durchfließen einen gleichzeitig, untrennbar vermischt. Gail ist sicher, dass es ein italienisches Wort für diese Empfindung gibt, ein Wort, das Maria, ihre Schwiegermutter, gekannt hätte. Ein kleines Wort, das genau so klingt, wie ihr zumute ist.

Tina hat noch mehr zu sagen, aber Gail will nicht, dass sie weiterredet. Sie will nicht, dass sie Dinge verspricht, die sie vielleicht nicht halten kann. Schon jetzt fühlt sie den Abstand zwischen ihnen wachsen. Schon jetzt schützen sie sich vor dem, was auf sie zukommt, jede sich selbst und beide einander. Tina sammelt die Kraft zum offenen Wort. Die penetranten schrillen Töne des samstäglichen Kinderprogramms plärren vom Wohnzimmer herüber.

»Tina, ich weiß, wie sehr du meinen Sohn geliebt hast.«

Tina umarmt sie, und Gail spürt, dass sie tatsächlich dünner ist. Nach Bobbys Tod hatte sie zugenommen. Ihrer zierlichen Figur stand das nicht gut. Das ganze Fett blieb im Gesicht und am Hintern hängen, sodass sie schwerer aussah, als sie war. Aber sie ist wieder schlank geworden, hat jetzt fast die Figur wie damals als Teenager, als Gail sie kennenlernte. Selbst Michael ist das aufgefallen. Sie hätte es merken müssen. Sie bekommt ein fürsorgliches Flattern in der Kehle.

Bobby junior kommt in die Küche.

»Mom, kann ich einen Doughnut haben?«

Tina zieht die Nase hoch, und Gail wischt sich mit dem Hemdsärmel die Augen. Bobbys Augen glänzen vor Verlegenheit. Gail ringt sich ein Lächeln ab. Sein halbes Leben lang kommt der arme Junge schon in Küchen voll weinender Frauen.

»Alles in Ordnung, Bob-a-loo. Wir weinen bloß wegen irgendwas Dummem.«

»Habt ihr über meinen Dad geredet?«

»Gewissermaßen, ja.«

»Komm her, Liebling.«

Tina tritt um den Tisch und breitet einladend die Arme aus. Bobby blickt auf seine Schuhe.

Er braucht einen männlichen Einfluss. Es ist wahrscheinlich eine gute Entwicklung. Tina bemuttert ihn zu sehr, will ihn vor der Welt abschirmen, die ihm den Vater genommen hat. Eine heikle Balance. Du willst deine Kinder schützen, aber du darfst es nicht übertreiben. Wenn du sie vor allem behütest, lernen sie nie, für sich selbst zu sorgen. Michael hatte immer die Sorge, dass sie Bobby zu sehr bemutterte. Ihren Kleinen.

»Du machst eine Schildkröte ohne Panzer aus ihm. Wenn die Welt dann hart zutritt, weiß er nicht, was er tun soll.«

Und die Welt hatte hart zugetreten.

Alyssa schlurft in die Küche, den Blick wieder auf ihr Telefon geheftet. Sie schaut auf, beurteilt die Lage und runzelt die Stirn.

»Warum heult ihr alle?«

Es ist eine Beschwerde, als Frage getarnt.

Als Tina und die Kinder wieder weg sind, bleibt Gail lange am Tisch sitzen und verarbeitet diese neue Entwicklung. Sie hat Fragen. Natürlich hat sie Fragen. Jede Menge. Sie häufen sich von allein auf, obwohl sie versucht, nicht daran zu denken. Ihr wird ganz schwindlig von den Möglichkeiten, eine so unerfreulich wie die andere. Sie sieht Tina im Hochzeitskleid, Kinderferien in Disney World mit einem neuen Vater, Umzug der ganzen Familie nach San Francisco.

Ja, sie hat Fragen. Sie hat mehr Fragen, als sie verkraften kann.

Aber die Antworten, die wichtigen Antworten, liegen schon auf dem Tisch. Er ist ein netter Kerl, und er ist gut zu den Kindern. Und es ist etwas Ernstes, muss etwas Ernstes sein. Tina ist im Lauf der Jahre mit ein paar anderen Männern ausgegangen. Gail weiß das, auch wenn es nie ausdrücklich zur Sprache kam. Tina verlor nie ein Wort darüber, weil es nie so ernst war, dass ein Gespräch sich gelohnt hätte. Dass es jetzt ein Gespräch gegeben hat, heißt, es ist etwas Ernstes. Dass es etwas Ernstes ist, heißt, er ist ein netter Kerl und gut zu den Kindern. Sie könnte ewig so weiternudeln.

Schön, er ist nett und gut zu den Kindern, und es ist etwas Ernstes. Alles Weitere wird sie früh genug erfahren. Sinnlos, sich wegen Dingen verrückt zu machen, die man nicht in der Hand hat.

Sie weiß, es stimmt, sie sollte sich nicht verrückt machen, aber sie weiß auch, dass es ihr keine Ruhe lassen wird. Die Fragen werden nicht weggehen. Die Antworten werden ihr nicht genügen. Sie fühlt, wie die Freude darüber nachlässt, wie die Traurigkeit zunimmt, in Vereinsamung übergeht. Sie muss etwas tun, irgendwas, um sich abzulenken. Sie braucht eine Verschnaufpause von ihren eigenen Gedanken.

Sie steht auf, schaut aus dem Fenster. Draußen ist es noch grau, einer dieser düsteren Schummertage, eine bloße Brücke von Dunkel zu Dunkel. Sie zieht eine Jacke an, und in Erwartung der Kälte läuft ihr gleich ein Schauder über den Rücken bis in die Beine hinein.

Das italienische Wort, das Maria gebraucht hätte, vielleicht schlägt sie es später nach. Vielleicht erfindet sie einfach selbst ein Wort.

Bevor sie geht, schaut sie noch einmal auf ihre Pflichtenliste. Der letzte Strich steht immer noch einsam und verlassen auf dem Zettel. Sie nimmt sich den Stift und trägt die Erledigung nach.

Nämlich:

Bobby davon erzählen.

2 Die geilste Pizza der Welt

Tina formt mit den Lippen einen weichen Kreis und trägt knallroten Lippenstift auf. Sie begutachtet das Ergebnis im Toilettenspiegel, im Zweifel, ob die Farbe zu ihr passt. Oder der Anlass. Selbst die einfachsten Entscheidungen – welcher Lippenstift, Haare hochgesteckt oder lang – irritieren sie heute Abend. Das Gefühl hat sie seit der Highschool nicht mehr gehabt: das Flattern im Magen, die fast schon ängstliche Erwartung, der Kopf ein Sieb, unfähig, einen einzigen Gedanken zu halten.

Du warst seit der Highschool mit niemand anderem zusammen, fällt ihr beim Anblick ihres Spiegelbilds ein. Richtig zusammen.

Nur dass sie nicht mehr auf der Highschool ist, wo Gefühle das einzig Wichtige waren. Wichtiger als die Schule, wichtiger als die Familie, wichtiger als die Freundinnen. Wo sie etwas ganz tief, ganz rein empfinden konnte, ohne eine Ahnung seiner wirklichen Kraft zu haben. Der Kraft, sie zu verändern, ihr Leben, die Wichtigkeiten. Der Kraft, neue Seelen ins Dasein zu bringen.

Nein, sie ist nicht mehr auf der Highschool. Die wirkliche Welt mischt sich ein, lässt nicht locker. Ein Dutzend Bedenken rangeln in ihrem Kopf um die Oberhand. Die Kinder, Bobby, Wade, diese Nacht, der nächste Morgen, aufwachen in einem anderen Bett, ein anderer Mann neben ihr, der Blick, mit dem Gail sie beurteilt. Sie weiß, dass dieses letzte Bild Quatsch ist, doch sie wird es nicht los. Jedes Mal taucht es auf, wenn sie ihre unausgegorenen Gedanken wieder durchgehechelt hat. Sie liegt in Wades Bett, und er ist auf der Toilette. Sie sieht eine seiner blassen nackten Hinterbacken über einem langen, dünnen Bein, aber die Toilettentür schneidet seine vordere Körperhälfte ab. Der Wasserhahn läuft, sie kann es hören. Seine Bettlaken sind lindgrün. Tina rekelt sich nackt auf dem Bett, und Gail steht in der Tür und betrachtet sie kopfschüttelnd und stirnrunzelnd.

Die ganze Vorstellung ist absurd. Sie ist noch nie in seiner Wohnung gewesen, hat noch nie seinen nackten Arsch gesehen. Und sie betet zu Gott, dass er keine lindgrünen Laken hat.

Sie ist nicht mehr auf der Highschool. Warum kann sie dann Stephanie aus dem Schlafzimmer herüberblöken hören? Zwanzig Jahre vergehen, und du findest dich mehr oder weniger in derselben Situation wieder. Stehst im Bad und redest über Männer. Sie hört, wie Stephanie Vinny mehrmals ein Arschloch nennt, aber denkt nicht weiter darüber nach. Es ist nur Gezeter, das sie umtönt.

Ein halbes Dutzend Mal hat sie daran gedacht, Gail anzurufen, einmal sogar schon ihr Handy aufgeklappt. Sie hat ihr heute Morgen von Wade erzählt, doch dabei war ihr, als verheimlichte sie etwas. Was sollte sie ihr auch sagen?

Gail, falls ich mich heute Morgen nicht deutlich genug ausgedrückt habe, ich habe vor, mit diesem anderen Mann zu schlafen, von dem ich dir erzählt habe. Heute Nacht. Einverstanden? Gut, dann hätten wir das geklärt. Okay, ich berichte dir, wie es gelaufen ist.

»Hörst du mir überhaupt zu?«

Stephanie ist leise ins Bad gekommen, während sie in Gedanken war.

»Jesus Christus! Hast du mich erschreckt!«

»Du hast mir also gar nicht zugehört?«

»Entschuldige, Steph. Ich bin mit den Gedanken woanders.« Sie deutet auf ihre Lippen. »Zu krass?«

»Nicht wenn du ihm auf dem Weg zum Restaurant noch kurz einen bläst.«

»Also ja, eindeutig zu krass.«

Sie fängt an, sich den Lippenstift abzuschminken.

»Wär vielleicht gar nicht verkehrt. Da ist sexuell gleich mal der Druck raus. Auf die Art könnt ihr beide euer Essen genießen. Na ja, du vielleicht nicht, je nachdem.«

Typisch Stephanie, sie bringt das Gespräch immer auf Sex, versucht, Tina zu verunsichern. Das macht sie schon seit der Highschool. Stephanies Liebesleben mit Vinny wird vor Tina in allen Einzelheiten ausgewalzt, doch sie hat schon lange gelernt, ihrerseits nichts preiszugeben. Stattdessen wendet sie einen simplen Trick an, um zudringliche Fragen abzuwehren: Richtungswechsel. Stephanie ist immer gern bereit, über sich zu reden.

»Du hast gerade von Vinny und einem Jets-Spiel erzählt.«

»O Mann, ich fang noch mal von vorne an.«

Stephanie klappt den Toilettendeckel herunter und setzt sich darauf. Sie holt ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche ihrer Trainingshose, nimmt eine und steckt sie sich in den Mund.

»Was dagegen?«

»Nein«, sagt Tina und schaltet das Gebläse an. »Lass das die Kinder nicht sehen.«

»Willst du eine?«

Sie hätte liebend gern eine Zigarette. Aber sie weiß, sie sollte nicht. Sie winkt ab. Stephanie wirft das Päckchen auf den Marmorwaschtisch, an dem Tina lehnt. Sie zündet sich die Zigarette an, zieht und bläst den Rauch Richtung Abluft. Tina trommelt mit den Fingern auf der Marmorplatte, als sie den brennenden Tabak riecht.

»Wie gesagt, im Dezember ist Vinny mit den Jungs zu einem Jets-Spiel gefahren. Wie üblich. Es war saukalt, und ich wollte verhindern, dass sie sich was abfrieren oder sich unterkühlen, und alle so: ›Ja, ja, ja‹, nicht wahr, als wenn ich das letzte Arschloch wäre. Ich: ›Vin, draußen sind minus zehn Grad und Wind, und sie werden nicht acht oder neun Bier im Bauch haben, die sie warm halten, Vin‹, und er: ›Ja, ja, Steph, ja, ja, hab ich schon verstanden‹, und er zwinkert den Jungs zu, und alle lachen. Und dann laufen sie aus dem Haus und fahren im Denali davon, und alle grinsen sie vor Begeisterung, mich los zu sein. Grinsen alle drei, weil sie endlich die Pestbeule los sind. Und weißt du was? Mir ging’s genauso.

Na, egal, ich räume also ein bisschen auf, und dann gehe ich nach oben und lasse mir eine Badewanne einlaufen. Mein Sonntagsritual, wenn sie ein Spiel gucken gehen. Ein schönes warmes Bad und ein intimes Viertelstündchen mit dem abnehmbaren Duschkopf.«

»Steph!«

»Was?«

»Wenn dich eines der Kinder hört!«

»Du bist so was von verklemmt. Die sind nicht so ahnungslos, wie du denkst, die sehen das heute alles im Internet. Du würdest staunen.«

»Und wenn schon.«

Stephanie beugt sich an Tina vorbei und tippt die Asche ins Waschbecken.

»Machst du das wirklich jedes Mal, wenn sie zu einem Jets-Spiel gehen?«

»Ich bete jeden Abend, dass es die Jets in die Play-offs schaffen. Oder dass Vinny sich Jahreskarten für die Mets besorgt.«

Tina zwingt sich ein Lachen ab. Stephanie guckt zu viel Reality-TV, ihre Witze klingen einstudiert.

»Na, ich gehe also ins Bad und sehe Vinnys Barthaare im Waschbecken. Richtig fest mit Rasierschaum am Rand kleben. So ein Ring schwarzer und weißer Härchen. Und ich denke: Wirst auch langsam alt, Vincenzo, wegen der weißen Haare, und auf einmal macht es bei mir klick. T, ich kann dir gar nicht sagen, wie angepisst ich war. Normalerweise würde ich einfach den Hahn aufdrehen und sie wegwaschen, aber ich war total sauer. Ich hab einen Streifen auf den Spiegel geschmiert, damit ihm klar ist, dass ich’s mitgekriegt habe, wenn er heimkommt.«

Stephanie hält inne, zieht wieder.

»Das heißt, er hat nach dem Rasieren vergessen, sauber zu machen.«

»Genau.«

Stephanie nickt, als ob ihre Logik sich für Tina von selbst verstehen müsste.

»Okay. Das ist eklig, aber …«

Stephanie lächelt, weil sie ein kleines Geheimnis auf der Zunge hat. Das sie loswerden möchte. Tina kennt das Muster. Sie beschreibt mit der Hand ein paar kleine Kreise, damit die Geschichte weitergeht.

»Und?«

»Und deshalb habe ich Tommy Valenti gefickt.«

Tina schließt die Badezimmertür.

»Du hast was?«

»Tommy Valenti gefickt. Zweimal. Das heißt, einmal haben wir gefickt, und das andere Mal habe ich ihm auf dem Parkplatz der Mall einen geblasen.«

»Du willst mich veräppeln.«

»Gar nicht.«

Tina glaubt ihr nicht.

»Du willst mir erzählen, du hättest mit Tommy Valenti geschlafen …«

»Gefickt.«

»– weil Vinny vergessen hat, seinen Rasierschaum wegzuspülen, bevor er zum Jets-Spiel gegangen ist? Stehe ich auf dem Schlauch oder was?«

Stephanie zieht wieder ausgiebig an ihrer Zigarette und zuckt mit gespielter Ungläubigkeit die Achseln. »Wer rasiert sich für ein Footballspiel?«

»Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst.«

»Tina, beantworte mir eine Frage.«

»Okay.«

»Wer rasiert sich für ein Footballspiel?«

»Ich habe keine Ahnung, was das heißen soll.«

»Na, ich schon.«

»Du spinnst ja. Vinny rasiert sich vor einem Footballspiel, und das heißt, er betrügt dich.«

»Er betrügt mich mal wieder. Allerdings, genau das heißt es.«

»Da komm ich nicht mit.«

»Nur weil Bobby wahrscheinlich nie fremdgegangen ist.«

Tina bleibt an dem Wort wahrscheinlich hängen. Sie sieht Stephanie an, die ein Bein über das andere geschlagen hat und den hellrosa Nagellack an dem Fuß inspiziert. Beim Blick auf Stephanies Taille, den entblößten sonnengebräunten, straffen Hautstreifen zwischen grauer Trainingshose und weißem Tanktop, wird Tina von Abscheu geschüttelt. Ihr fällt ein, wie Stephanie in ihrem Beisein immer mit Bobby flirtete, seine Brust oder seinen Arm berührte, vor allem wenn sie wusste, dass Vinny fremdging. Ihr fällt ein, dass Bobby die Zuwendung genoss.

Schlampe, denkt sie, dann schämt sie sich dafür.

»Weiß es Vinny?«

Stephanie blickt auf.

»Gott, nein.«

»Ist Tommy Valenti nicht verheiratet?«

»O Mann, Tina. Urteil schon gefällt, oder was?«

»Hä? Ich hab nur gefragt. Darf ich nicht fragen? Dann eben nicht.«

»Ja, Tommy ist verheiratet, aber er sagt, seine Frau … sie haben eine Vereinbarung. Sie geht auch fremd. Sie führen eine offene Ehe.«

»Glaubst du ihm das?«

»Keine Ahnung. Und weißt du was? Es ist mir schnuppe.«

»Jesus, also echt, Jesus! Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»T, Vinny geht schon seit Jahren fremd. Seit Jahren. Schon als er noch an der Börse war, ich schwör’s.«

»Ich weiß, aber ich dachte, du hättest gesagt, das hätte so ziemlich aufgehört. Seitdem er nicht mehr in der City arbeitet.«

»Ja, dachte ich. Aber ich habe mich anscheinend geirrt.«

Stephanies höhnische Miene wird weich. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, und ihre Unterlippe fängt an zu zittern. Tina kennt diese Verwandlung von wütend und trotzig zu verletzt und untröstlich. Nach Stephanies Stimmungsschwankungen kann man die Uhr stellen.

»Was mich fertigmacht, ist, dass ich sie vor mir sehe. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie regelrecht vor mir. Eine kleine Hure im Jets-Trikot, die ihm bei einer Parkplatzparty hinten im Wagen den Schwanz lutscht. Meine Jungs kennen sie. Scheiße, Tina, sie denken wahrscheinlich an sie, wenn sie sich einen runterholen. Wie krank ist das denn?«

»Ziemlich krank«, sagt Tina nüchtern.

Die nächste Schmuddelepisode in der extrem abwechslungsarmen Saga von Stephanies und Vinnys Ehe. In ungefähr einem Monat wird Vinny einen kleinen Seitensprung beichten und Besserung geloben. Das Gelöbnis wird von einem Geschenk begleitet sein: einem Pelzmantel oder Diamantohrringen. Nach einer Frist unbestimmter Länge, in der Stephanie zur Strafe ihre eigene Affäre weiterführt und Vinny allgemein das Leben zur Hölle macht, wird ein zweites Geschenk überreicht. Dieses Geschenk bewirkt die Beendigung von Stephanies Techtelmechtel aus Rachsucht sowie die einstweilige Wiederherstellung des Eheglücks in der Familie DeVosso für eine Bannfrist, deren Dauer im Wesentlichen davon abhängt, wie lange Vinny seinen Schwanz in der Hose behalten kann beziehungsweise wie lange er vor Stephanie die Tatsache verbergen kann, dass er seinen Schwanz nicht in der Hose behält. Die Glücksphase ist für Tina das Schlimmste, weil dann von ihr verlangt ist, dass sie sich Stephanies drastische Beschreibungen ihres reaktivierten Liebeslebens mit Vinny anhört.

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Originaltitel: Small Mercies

Originalverlag: Viking, Penguin Random House, New York

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

1. Auflage

Copyright © 2015 by Edward Joyce

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

2016 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Layout: DVA/Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Goudy Modern

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln, unter Verwendung des amerikanischen Originalumschlags von Brianna Harden mit einem Foto von David Chalk

ISBN 978-3-641-15822-4V001

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