Bonfire – Sie gehörte nie dazu - Krysten Ritter - E-Book

Bonfire – Sie gehörte nie dazu E-Book

Krysten Ritter

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Beschreibung

Die schrecklichen Ereignisse ihrer Jugend haben Abby Williams zehn Jahre lang verfolgt. Als Anwältin muss sie nun noch einmal in ihre Heimat zurückkehren, um in einem Umweltskandal zu ermitteln. Kaum hat Abby die Provinzstadt in Indiana betreten, wird sie von der Clique empfangen, die sie damals tyrannisiert hat. Der Einfluss der drei Frauen scheint mit den Jahren noch größer geworden zu sein. Aber Abby lässt sich heute nicht mehr einschüchtern. Bald erkennt sie, dass das verstörende Ritual der Clique namens Das Spiel noch immer existiert. Laufen die Fäden tatsächlich in einem Netzwerk der Grausamkeit und Korruption zusammen? Und wird Abby ihre Angst überwinden, um dem perfiden Spiel ein Ende zu setzen?

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Das Buch

Die schrecklichen Ereignisse ihrer Jugend haben Abby Williams zehn Jahre lang verfolgt. Als Anwältin muss sie nun noch einmal in ihre Heimat zurückkehren, um in einem Umweltskandal zu ermitteln. Kaum hat Abby die Provinzstadt in Indiana betreten, wird sie von der Clique empfangen, die sie damals tyrannisiert hat. Der Einfluss der drei Frauen scheint mit den Jahren noch größer geworden zu sein. Aber Abby lässt sich heute nicht mehr einschüchtern. Bald erkennt sie, dass das verstörende Ritual der Clique namens Das Spiel noch immer existiert. Laufen die Fäden tatsächlich in einem Netzwerk der Grausamkeit und Korruption zusammen? Und wird Abby ihre Angst überwinden, um dem perfiden Spiel ein Ende zu setzen?

»Ein herausragendes und fesselndes Buch.« Gillian Flynn, Autorin von Gone Girl

Die Autorin

Krysten Ritter, geboren 1981, ist eine Hollywood- und Serienschauspielerin, die man u. a. aus den Erfolgsserien Breaking Bad, Marvel‘s Jessica Jones, Apartment 23 sowie den Filmen Shopaholic und 27 Dresses kennt. Sie ist eine schillernde Persönlichkeit, die ausgefallene Rollen spielt, feministische Produzentin ist, in einer Indie-Rockband singt, wie Schneewittchen aussieht und mit Bonfire einen bemerkenswerten Thriller geschrieben hat.

KRYSTEN RITTER

BONFIRE

SIE

GEHÖRTE

NIE DAZU

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2017 by Krysten Ritter

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Bonfire

bei Crown Archetype, an imprint of The Crown Publishing Group,

a division of Penguin Random House LLC, New York

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München

Umschlagmotiv: © Kamonluck_S, Ihnatovich Maryia / Shutterstock

Autorenfoto: © Bailey Taylor

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-22440-0V002

www.diana-verlag.de

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PROLOG

Als Kaycee Mitchell und ihre Freundinnen während meines letzten High-School-Jahrs krank wurden, hatte mein Vater seine eigenen Theorien parat.

»Diese Mädchen sind schlechter Umgang für dich«, sagte er. »Die machen nichts als Ärger.« Er war davon überzeugt, dass sie jetzt einfach ihre Strafe erhielten und dass sie es verdient hatten.

Kaycee war die Erste. Das war nicht weiter verwunderlich. Sie hatte schon immer alles als Erste gemacht: ihre Jungfräulichkeit verloren, eine Zigarette geraucht, eine Party geschmissen.

Kaycee ging immer vor ihren Freundinnen her wie eine Wölfin, die ihr Rudel anführt. In der Cafeteria suchte sie den Tisch für alle aus. Wenn sie zu Mittag aß, taten die anderen es auch. Wenn sie lustlos in ihrem Essen rumstocherte oder auch nur eine Tüte Gummibärchen aß, taten die anderen es ihr nach.

Misha war die Frechste und Lauteste.

Aber Kaycee war die Anführerin.

Und als sie krank wurde, waren wir Mädchen aus der zwölften Klasse der Barrens High School nicht besorgt oder überrascht.

Wir waren eifersüchtig.

Das erste Mal passierte es im Debattierunterricht. Wir führten gespielte Wahlen durch, an denen sich alle beteiligen mussten. Kaycee schlug sich gut während der ersten drei Runden der Vorwahlen. Die Rolle der Politikerin kaufte man ihr leicht ab, sie war überzeugend und schlagfertig, eine talentierte Lügnerin. Ich bin mir nicht mal sicher, ob Kaycee selbst wusste, wann sie die Wahrheit sagte und wann nicht.

Sie stand vorne und hielt eine eingeübte Wahlrede, und plötzlich war es, als wären ihre Stimmbänder gekappt worden. Ihre Lippen bewegten sich weiter, aber der Ton war abgeschaltet. Kein Wort kam mehr raus.

Einen Moment lang dachte ich, dass mit mir was nicht stimmte.

Dann umklammerte sie das Rednerpult, und ihr Mund blieb offen stehen wie in einem stummen Schrei. Ich saß in der ersten Reihe – wo nie jemand sitzen wollte –, und sie war nur gut einen Meter von mir entfernt. Ich werde nie den Ausdruck in ihren Augen vergessen – sie hatten sich in dunkle Tunnel verwandelt.

Derrick Ellis rief irgendwas, doch Kaycee reagierte nicht darauf. Ich konnte ihre Zunge hinter ihren Zähnen sehen, auf der ein weißes Kaugummiklümpchen lag. Ein paar Leute lachten – sie hielten das Ganze offenbar für einen Witz –, aber ich habe nicht gelacht.

Als Kinder waren Kaycee und ich beste Freundinnen gewesen, und ich hatte erst ein einziges Mal erlebt, dass sie Angst hatte.

Ihre Hände begannen zu zittern, und da hörte das Lachen auf. Alle schwiegen. Eine ganze Weile war kein einziges Geräusch im Raum zu hören außer dem leisen Klackern ihres silbernen Rings gegen das Pult.

Dann wanderte das Zittern ihre Arme hinauf, die Augen verdrehten sich, sie stürzte und riss das Pult mit zu Boden.

Ich erinnere mich, dass ich aufsprang. Ich erinnere mich, dass Leute schrien. Ich erinnere mich, dass Mrs. Cunningham auf die Knie sank und Kaycees Kopf auf dem Schoß hielt und dass jemand rief, man solle aufpassen, dass sie nicht ihre Zunge verschluckte. Jemand rannte los, um die Krankenschwester zu holen. Irgendwer weinte, keine Ahnung, wer, ich erinnere mich nur noch an ein verzweifeltes Wimmern. Seltsamerweise war das Einzige, was mir zu tun einfiel, die Blätter einzusammeln, die runtergefallen waren, die Seiten zu ordnen und den Stapel sauber auf Kante zu klopfen.

Dann, ganz plötzlich, war es vorbei. Der Krampf löste sich wie eine zurückweichende Flut. Ihre Augen öffneten sich. Sie blinzelte und setzte sich auf. Sie wirkte leicht verwirrt, aber es schien ihr zu gefallen, uns alle um sich versammelt zu sehen. Als die Krankenschwester kam, war Kaycee schon wieder ganz normal. Sie meinte, es sei nur ein kleiner Schwächeanfall gewesen, sie habe noch nichts gegessen. Als die Schwester sie aus dem Raum führte, blickte sie die ganze Zeit über die Schulter zurück, wie um sich zu vergewissern, dass wir ihr alle nachschauten. Und das taten wir – natürlich taten wir das. Sie war jemand, dem man unwillkürlich nachschaute.

Wir vergaßen den Vorfall. Oder taten zumindest so.

Und dann, drei Tage später, passierte es erneut.

1

Zwei Meilen hinter der Ausfahrt nach Barrens wird der State Highway 59 zur Plantation Road. Das alte Holzschild ist leicht zu übersehen, selbst in dieser farblosen Umgebung. Ich schaffe es jetzt schon seit Jahren, auf Fahrten von Chicago nach New York ohne Angst daran vorbeizufahren. Ich halte dann den Atem an, zähle bis fünf, atme aus – lasse Barrens hinter mir, ohne dass der Schatten der Vergangenheit aus dem Gebüsch kriecht und über mich herfällt.

Es ist ein Spiel, das ich als Kind gespielt habe. Wenn mir etwas Angst machte oder wenn ich im Dunkeln in den alten Schuppen im Garten gehen musste, habe ich den Atem angehalten. Und solange ich das tat, konnte mir niemand etwas anhaben, kein Axtmörder und kein Monster aus einem Horrorfilm. Ich hielt den Atem an und rannte so schnell ich konnte, bis ich mich im Haus in Sicherheit gebracht und die Tür hinter mir zugeschlagen hatte. Ich habe sogar Kaycee das Spiel beigebracht, als wir noch Kinder waren und uns noch nicht gehasst haben.

Es ist vielleicht etwas peinlich, aber ich mache das immer noch. Und das Verrückte ist, dass es funktioniert.

Meistens jedenfalls.

Allein, eingeschlossen auf der Toilette einer Tankstelle, schrubbe ich mir die Hände, bis die Haut rissig wird und Blut ins Waschbecken tropft. Es ist das dritte Mal, dass ich mir die Hände wasche, seit ich über die Grenze nach Indiana gefahren bin. In dem angelaufenen Spiegel über dem Becken sieht mein Gesicht bleich und angespannt aus. Die Erinnerungen, sie sind wieder da.

Das war keine gute Idee.

Ich öffne die Toilettentür und blinzle in die frühe Morgensonne, als ich in meinen Wagen steige.

An der Ausfahrt fahre ich an einem Hirschkadaver vorbei, über dem Fliegen summen. Der Kopf des Tiers ist noch erstaunlich intakt und sieht beinahe schön aus, das Maul zu einem letzten Seufzer geöffnet. Ich frage mich, ob der Hirsch von einem Auto angefahren oder von einer Kugel getroffen wurde. Normalerweise werden überfahrene Tiere ziemlich schnell fortgeschafft, in einen Räucherofen gehängt und zu Dörrfleisch verarbeitet. Mit siebzehn habe ich mal mit meinem alten Ford Echo einen Hirsch überfahren. Der war schneller weg, als ich abgeschleppt wurde. Aber diesen Hirsch hat aus irgendeinem Grund niemand angerührt.

Die Jagd ist eine beliebte Freizeitaktivität in Barrens – oder vielmehr die Freizeitaktivität schlechthin. Sie ist Teil der hiesigen Kultur – wenn man es denn so nennen kann. Die Jagdsaison beginnt offiziell erst im Winter, aber jedes Jahr schleichen Jugendliche schon im Herbst mit einem Sixpack, einem Scheinwerfer und dem Jagdgewehr ihres Vaters durch den Wald, um einen Bock zu schießen oder den Hirschkühen mit ihren Kälbern beim Äsen zuzusehen. Und nach ein paar Bieren feuern sie auf alles, was sich bewegt.

Mein Vater hat mich früher mit auf die Jagd genommen. Zur Festigung der Vater-Tochter-Bindung gehörte auch der regelmäßige Besuch beim Tierpräparator. Die Köpfe von Hirschen, Koyoten und Bären zieren als Trophäen die Wände meines Elternhauses. Die Fasane, die er aus der Luft holte, musste ich immer mit einem Fuß auf den Boden drücken, während er ihnen den Hals umdrehte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie er sich aufgeregt hat, als ich bitterlich um den ersten Hirsch geweint habe, den ich ihn hatte schießen sehen, wie er mich gezwungen hat, meine Hand auf den noch warmen Körper zu legen und zuzusehen, wie das Blut aus der Schusswunde drang. »Der Tod ist schön«, sagte er.

Meine Mutter war auch schön, bis der Knochenkrebs sein Werk verrichtete. Er fraß ihr das Haar vom Kopf und höhlte ihren Körper aus, bis er nur noch Haut und Knochen war. Als sie starb, sagte mein Vater zu mir, es sei ein Segen und wir sollten dankbar sein, dass der Herrgott sie zu sich genommen habe.

Ich biege von der Plantation Road auf die Route 205 ab, die irgendwann in die Main Street übergeht. Der Geruch von Kuhmist schlägt mir entgegen. Es ist Mitte Juni, das Schuljahr ist gerade zu Ende, aber es fühlt sich an wie Hochsommer. Die Felder liegen braun unter der Sonne. Nach einer weiteren Meile fahre ich an einem nagelneuen Schild vorbei: Willkommen in Barrens– 5027 Einwohner. Als ich das letzte Mal hier war, vor zehn Jahren, betrug die Einwohnerzahl gerade mal die Hälfte. Die Main Street ist zwar die Hauptstraße, aber wenn einem auf knapp fünfzehn Kilometern drei Autos entgegenkommen, ist das schon dichter Verkehr.

Ich zähle die Telefonmasten. Ich zähle die Krähen, die auf den Drähten hocken. Ich zähle die Silos am Horizont, die wie Finger aufragen. Ich verwandle alles in meinem Leben in Zahlen, in Buchhaltung. Seit zehn Jahren wohne ich jetzt in Chicago. Seit drei Jahren bin ich Rechtsanwältin. Nach einem halben Jahr selbstständiger Arbeit habe ich eine Stelle bei der Umweltschutzorganisation CEAW bekommen, dem Center for Environmental Advocacy Work.

Ich habe eine Zukunft, ein Leben, ich besitze eine helle Eigentumswohnung im Stadtteil Lincoln Park mit Bücherregalen bis an die Decke, in denen sich keine einzige Bibel findet. Ich treffe mich mit Freunden in Bars und Clubs und Kneipen in Downtown Chicago, wo die Cocktails Zutaten haben wie Flieder oder Eiweiß. Ich habe jetzt Freunde – und Liebhaber, wenn man sie so nennen will. So viele ich möchte, namenlos und ununterscheidbar. Sie gehen ein und aus in meinem Leben und teilen mit mir das Bett, wenn ich das will.

In den meisten Nächten werde ich inzwischen sogar nicht mehr von Albträumen heimgesucht.

Ich habe mir oft geschworen, nie wieder nach Hause zu fahren. Jetzt weiß ich es besser. Jedes Selbsthilfebuch der Welt sagt einem, dass man vor seiner Vergangenheit nicht davonlaufen kann.

Ich habe meine Wurzeln in Barrens. Wenn diese Wurzeln ein für alle Mal gekappt werden sollen, muss ich das selber tun.

Main Street. Das Haus, das einmal die Kirche beherbergt hat – ein einstöckiger, fensterloser Betonbau, wo wir jeden Sonntag hingingen, bis mein Vater zu dem Schluss kam, dass der Pfarrer die Heilige Schrift zu lax auslegte und vor allem den Schwulen gegenüber zu tolerant war –, ist jetzt eine »White Castle«-Burgerbude. An dem Gebäude, in dem sich früher die Bibliothek befand, wohin meine Mutter mit mir gern zur Märchenstunde ging, prangt jetzt ein Schild mit der Aufschrift Johnny Chow’s Oriental Buffet. In meiner Jugendzeit gab es im ganzen Ort kein einziges Restaurant.

Aber vieles ist auch unverändert: Das Neonschild des Veteranenvereins VFW flackert immer noch, und Mel’s Pizza, wo ich manchmal nach der Schule mit dem Rad hingefahren bin, um mir ein Stück Pizza zu holen, liefert immer noch Teigwaren aus. Der »Jiffy Lube Pit Stop« ist noch da, auch »Jimmy’s Autoteile« und der runtergekommene Pornoladen, der früher Kaycee Mitchells Vater gehörte. Und ihm vielleicht immer noch gehört, was weiß ich. Aber das »Temptations« hat ein neues Dach und eine neue Leuchtreklame. Der Laden scheint also zu brummen.

Ich entdecke eine Krähe auf einem Telefonkabel über mir, eine zweite etwas weiter entfernt. Eine für Leid, zwei für Freud’…

Abseits der Main Street sieht nichts mehr so aus wie früher: nagelneue Reihenhäuser, ein Möbelhaus, ein italienisches Restaurant, das im Schaufenster eine Salatbar anpreist. Nichts wirkt vertraut, bis auf den Schrotthändler und das Drive-in-Kino gleich dahinter. Das Kino war der Schauplatz unzähliger Geburtstagspartys mit den Kindern aus der Sonntagsschule und auch eines deprimierenden Thanksgiving, kurz nach der Beerdigung meiner Mutter. Es war die Hauptattraktion im Ort, bis »Optimal Plastics« nach Barrens kam.

Noch mehr Krähen auf den Telefonkabeln. Drei, vier, fünf, sechs… sieben, eine Hex’ kocht Rüben. So viele Krähen.

Wieder hier zu sein schnürt mir die Brust und die Kehle zu. Ich umfasse das Lenkrad fester. An der ersten roten Ampel – an der einzigen Ampel von Barrens – hole ich tief Luft und schließe die Augen. Diesmal hab ich die Situation im Griff.

Der Typ hinter mir hupt ungeduldig. Die Ampel ist auf Grün gesprungen. Ich gebe ein bisschen zu viel Gas und schieße auf die Kreuzung. Als ich aus dem Augenwinkel ein vertrautes orangefarbenes Schild bemerke, setze ich, ohne nachzudenken, den Blinker und biege auf den Parkplatz des Donut Hole ein – das ebenso wie das Drive-in-Kino unverändert ist.

Ich schalte den Motor ab. Bleibe sitzen. Nach wenigen Sekunden ohne Klimaanlage wird es entsetzlich heiß im Auto. Draußen ist es bereits um diese frühe Zeit über fünfundzwanzig Grad warm, viel wärmer als in Chicago. Und furchtbar schwül. Ich kämpfe mich aus meiner Lederjacke und nehme meine Handtasche vom Beifahrersitz. Ich brauche einen Schluck Wasser.

Als ich gerade die Tür öffne, fährt ein blauer Subaru in die Parklücke neben mir. Er bremst so plötzlich, dass ich zusammenzucke. Der Fahrer hupt zweimal.

Ich steige aus, genervt darüber, wie dicht der Subaru neben mir geparkt hat, und in dem Moment sehe ich, dass die Fahrerin mich anlächelt und mir mit beiden Händen zuwinkt. Sie zeigt fragend auf das Donut Hole, und ich habe den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um mich zu entscheiden, ob ich wieder in mein Auto steigen, nach Chicago zurückfahren und die ganze Sache vergessen soll oder nicht. Aber plötzlich bin ich wie gelähmt. Irgendwann im Lauf meines Lebens hat mein Kampf-oder-Flucht-Instinkt sich in etwas verwandelt, das mir befiehlt: Halt still,mach dich unsichtbar, und warte, bis es vorbei ist.

Misha Dale. Blonder, dicker, immer noch schön auf ihre provinzielle Art. Sie lächelt. Früher hat mich ihr Lächeln bis in meine Träume verfolgt – etwa so, wie gründelnde Fische vom tiefen, dunklen Rachen eines Hais träumen.

Mit zwölf hat Misha ihre Freunde dazu angestachelt, mich mit Brötchen zu bewerfen, wenn ich durch die Cafeteria ging. Mit vierzehn hat sie den Oberschenkelknochen eines Tiers in meinen Spind gelegt und gesagt, es sei ein Knochen meiner Mutter, außerdem behauptete sie, ich würde Leichenteile in unserer Tiefkühltruhe aufbewahren, ein Gerücht, das sich unaufhaltsam verbreitete, sodass schließlich sogar Sheriff Kahn zu uns nach Hause kam, um die Sache zu überprüfen. Mit fünfzehn hat sie Geld gesammelt für die Behandlung meiner angeblichen Akne. Mit sechzehn hat sie eine Online-Petition gestartet, in der gefordert wurde, mich von der Schule zu werfen.

Eine Sadistin mit einem charmanten Lächeln. Misha, Cora Allen, Annie Baum und Kaycee Mitchell haben mich jahrelang gequält, sich an meinem Elend gelabt und frohlockt, als ich in der achten Klasse ein Röhrchen Ibuprofen geschluckt habe und eine Woche in der Psychiatrie verbringen musste – was mein Vater nie zur Kenntnis genommen hat und worüber wir nie gesprochen haben.

Nächstes Mal helf ich dir, hat Misha geflüstert, als ich schließlich wieder in die Schule kam.

Schreckliche Mädchen. Wahre Teufel.

Und doch habe ich sie beneidet.

»Also, ich glaub’s ja nicht. Ich habe gehört, dass du kommen wolltest.« Ihr Blick ist weicher geworden, aber das Lächeln ist dasselbe – durchtrieben und ein bisschen schief. »Und dein Auto! Du hast es zu was gebracht!« Sie umarmt mich kurz mit einem Arm. Sie riecht nach Zigaretten – Menthol – und nach dem schweren Parfüm, das sie früher schon immer benutzt hat, um den Geruch von Rauch zu überdecken. »Erkennst du mich denn nicht? Misha Jennings! Dale«, korrigiert sie sich kopfschüttelnd. »Früher Dale. Gott, ist das lange her.«

»Natürlich erkenne ich dich«, sage ich. Ich habe ganz weiche Knie. Sie hat gehört, dass ich kommen würde. Aber von wem?

»Kommst du mit rein?« Sie zeigt auf das Donut Hole. »Die haben seit letztem Jahr jede Menge neue Sorten. Alles dank Optimal, nehm ich an. Wir hatten hier ’ne kleine Bevölkerungsexplosion, zumindest für Indiana-Verhältnisse.«

Dass sie Optimal erwähnt, ist ein Köder – muss es sein. Aber ich gehe nicht darauf ein.

»Klar«, sage ich. »Ich komm mit.«

»Ich esse immer noch am liebsten die Gefüllten.« Auch ihre Stimme ist weicher geworden. Sie scheint sich ehrlich zu freuen, mich zu sehen. »Stehst du noch mit irgendjemandem von der alten Gruppe in Kontakt?«

Ich zögere, vermute eine Falle. Doch sie scheint meine Verwirrung nicht zu bemerken. Es gibt keine »alte Gruppe«. Zumindest keine, zu der ich mal gehört hätte. Ich schüttle nur den Kopf und folge ihr in den Laden. Sie reißt die Tür auf und geht vor mir rein.

Im Donut Hole gibt es, wie der Name schon sagt, Donuts, außerdem fungiert es als eine Art Drogerie und beherbergt unser »Tourismusbüro«, bestehend aus einem Eckregal, gefüllt mit Prospekten zum Mitnehmen. Es gibt sogar eine kleine, inoffizielle Bücherei im Donut Hole: Wer ein Buch dalässt, darf sich eins mitnehmen. Der ganz spezielle Geruch von Lufterfrischer, verstaubten Reiseführern und frischen Backwaren katapultiert mich augenblicklich zurück in die Vergangenheit.

»Ist bestimmt toll, nach so langer Zeit wieder hier zu sein.« Misha geht an der Donut-Theke vorbei und steuert auf ein Regal mit Arzneimitteln zu, über dem ein handgeschriebenes Schild verkündet: Keine Apotheke– Kein Verkauf von verschreibungspflichtigen Medikamenten.

Misha schnappt sich einen Korb und legt ein Mittel gegen Sodbrennen, eine Flasche Babyshampoo, Körperlotion mit Fliederduft und eine Schachtel Kleenex hinein, lauter normale, harmlose Sachen, die so gar nicht zu dem boshaften Mädchen passen wollen, das mich jahrelang gepeinigt hat.

»Na ja, als toll würde ich es nicht unbedingt bezeichnen.« Es war ein Fehler würde es wohl eher treffen, vor allem jetzt, wo ich im Donut Hole vor Misha stehe. »Ich bin beruflich hier.«

Als sie nicht nachfragt, was ich mache, bin ich mir sicher, dass sie es weiß.

»Also, ich finde es toll, dass du wieder da bist«, sagt sie. Ihr Ton ist warm, aber ich werde mein ungutes Gefühl nicht los. Misha fand immer nur toll, womit sie andere piesacken konnte. »Dein Dad freut sich bestimmt wie ein Schneekönig. Er hat letzten Sommer unseren Zaun repariert, nachdem der Tornado hier durchgefegt ist. Der Zaun ist jetzt wieder tipptopp.«

Ich will nicht über meinen Vater reden. Erst recht nicht mit Misha. Ich räuspere mich. »Du hast also Jonah Jennings geheiratet?«, frage ich in einem höflichen Ton, von dem ich hoffe, dass sie ihn – zu Recht – als geheuchelt interpretiert.

Misha lacht nur. »Nein, seinen Bruder Peter.«

Die neue Misha ist unberechenbar. Es ist, als wären die Regeln der Vergangenheit neu geschrieben worden, als spielten wir ein Spiel, das ich noch nicht kenne. Alles, was ich über Peter Jennings weiß, habe ich während meiner College-Zeit in der Tribune gelesen – dass er verhaftet wurde, weil er mit Heroin gedealt hatte.

Misha sieht die Zeitschriften auf dem Ständer durch. »Ich war lange Zeit standhaft, aber er hat sich einfach nicht abwimmeln lassen.« Sie zögert für den Bruchteil einer Sekunde. »Wir haben eine Tochter, Kayla. Sie ist im Auto. Ich stelle sie dir vor, wenn wir rausgehen.«

Obwohl die Klimaanlage läuft, ist es im Donut Hole heiß wie in einem Brutkasten. Misha interessiert mich nicht. Mishas Tochter interessiert mich nicht. Trotzdem kann ich mir die Frage nicht verkneifen. »Macht das der Kleinen nichts aus, allein im heißen Auto?«

»Die schläft. Wenn ich sie wecke, schreit sie nur wie am Spieß. Eins sag ich dir. Zehn Jahre vergehen wie im Handumdrehen, und plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war.« Sie sieht mich mit schmalen Augen an, als hätte sie mir gerade ein Geheimnis anvertraut. »Ich arbeite übrigens jetzt an der High School, wusstest du das? Seit ein paar Jahren bin ich stellvertretende Direktorin.«

Das schockiert mich. Misha hat die Schule mindestens so sehr gehasst wie ich, wenn auch aus anderen Gründen. Im Unterricht war sie unaufmerksam, und die Hausaufgaben waren ihr lästig, weil sie sie davon abhielten, mit den Jungs vom Football-Team rumzumachen.

»Nein, das wusste ich nicht«, sage ich, obwohl ich sie viel lieber fragen würde: Wie hast du das denn geschafft? Andererseits ist die Barrens High eine winzige Schule mit einem Abschlussjahrgang von gerade mal sechzig Schülern und vermutlich keine Schule, die besonders begabte und engagierte Lehrer anzieht. »Glückwunsch.«

Sie macht eine wegwerfende Handbewegung, wirkt jedoch geschmeichelt – geschmeichelt und stolz. »Der Mensch denkt, und Gott lenkt. So sagt man doch, oder?«

Ich weiß nicht, ob sie scherzt. »Ich dachte, du hast es nicht so mit dem lieben Gott. In der High School hast du dich immer über die Jesus-Freaks lustig gemacht.«

Was natürlich nicht stimmt: Sie hat sich nur über mich lustig gemacht.

Mishas Lächeln verschwindet. »Da war ich auch noch jung. Wie wir alle.« Sie senkt das Kinn und beäugt mich durch ihre dick getuschten Wimpern. »Das ist alles Schnee von gestern. Übrigens bist du hier der große Star. Weil du es rausgeschafft hast.«

Das ist natürlich Blödsinn. Kann es nur sein. Sie hat mich gequält, sie hat meine Familie gequält, sie hat es genossen, mich zum Weinen zu bringen. Das habe ich mir nicht nur im Nachhinein eingebildet. Unmöglich. Einmal hat sie mir eine Rasierklinge ans Pult geklebt und einen Zettel dazugelegt: »Tu’s endlich.« Für mich ist das kein Schnee von gestern. Sie hat Gerüchte über mich verbreitet, mich gedemütigt, und warum? Ich hatte sowieso keine Freunde. Ich war für sie keine Bedrohung. Damals war ich eigentlich überhaupt niemand.

Und doch, als sie meinen Arm nimmt und mich zum Kühlschrank mit den Kaltgetränken führt, lasse ich es geschehen. »Ich könnte einen Eiskaffee gebrauchen. Du auch?«

»Nein«, sage ich. Ich öffne den Kühlschrank und halte mich am Griff fest, während ich die säuberlich aufgereihten Flaschen betrachte. Sechs Flaschen nebeneinander, drei Reihen tief. In der letzten Reihe steht nur eine. Die nehme ich. »Nur Wasser.«

In Wirklichkeit möchte ich sagen: Fass mich nicht an. Ich konnte dich noch nie ausstehen. Aber vielleicht ist das die Macht, die Misha über einen hat, wie die Hexe in Die kleine Meerjungfrau: Sie raubt einem die Stimme.

Ich sehe ihr zu, wie sie einen Becher mit Eiskaffee füllt. Während ich krampfhaft nach einem Vorwand suche, um mich zu verdrücken – Tschüss, ich wünsche dir ein langweiliges Leben und hoffe, dass wir uns nie wiedersehen –, sagt sie plötzlich: »Brent fragt übrigens manchmal nach dir, weißt du das?«

Ich erstarre. »Brent O’Connell?«

»Wer sonst? Er ist jetzt ein hohes Tier bei Optimal. Regionalleiter Vertrieb. Ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten und hat sich hochgearbeitet.«

Brent stammt aus einer der wohlhabendsten Familien der Stadt, was in Barrens bedeutet: Basketballkorb über dem Garagentor, Swimmingpool im Garten, ein eigenes Zimmer für jedes Kind. Brents Vater trug eine Krawatte zur Arbeit, und seine Mutter sah aus wie Carol Brady: blond, breites Lächeln, immer wie aus dem Ei gepellt. Brent hat gleich nach der High School eine Stelle bei Optimal bekommen. Während die anderen Jungs sich ihr Taschengeld verdienten, indem sie nach der Schule in der Tankstelle oder im Supermarkt jobbten oder auf einer Farm den Stall ausmisteten, machte Brent ein Praktikum bei Optimal.

»Er ist immer noch Single. Eine Schande, oder?« Sie rührt ihren Kaffee ganz langsam um, als würde sie ein chemisches Experiment durchführen und als könnte die falsche Mischung aus Kaffee und Sahne den ganzen Laden in die Luft jagen. Ein Zuckerwürfel. Rühren. Zwei Zuckerwürfel. Rühren. Drei. Dann, unvermittelt: »Er war immer in dich verknallt, wusstest du das?«

»Brent ist mit Kaycee zusammen«, sage ich hastig. Keine Ahnung, wo das Präsens herkommt. Kaum fünf Minuten in der Stadt, und schon hat mich die Vergangenheit eingeholt. »Ich meine, war.«

»Er war mit Kaycee zusammen, aber in dich verknallt. Das wussten alle.«

Brent O’Connell war einer der beliebtesten Jungs an der Schule. Was sie sagt, ergibt keinen Sinn.

Das heißt …

Da war dieser Kuss, am Abend nach der Abschlussfeier. Ein erster Kuss, der fast genauso war, wie ich es mir immer erträumt hatte. Es war ein ungewöhnlich warmer Junitag gewesen. Man hätte fast baden gehen können. Der Geruch von Rauch lag in der Luft. Brent trat aus dem Schatten der Bäume und hob eine Hand zum Schutz gegen den Strahl meiner Taschenlampe. Wie oft war ich abends durch den Wald hinter unserem Haus zum Stausee gegangen in der Hoffnung, ihm über den Weg zu laufen, in der Hoffnung, er würde Notiz von mir nehmen?

Es war so perfekt, dass ich mich später oft fragte, ob ich mir das nicht alles nur ausgedacht hatte. So wie ich mir als kleines Kind Sonya ausgedacht hatte, ein dunkelhaariges, langbeiniges Mädchen, das in unserem Haus auf dem Dachboden wohnte und mit mir Spiele spielte im Austausch gegen Blätter, Zweige und Äste, die ich ihr von draußen mitbrachte. Sonya sei einmal eine Fee gewesen, erklärte ich meiner Mutter, als sie haufenweise modriges Laub und tote Insekten auf dem Dachboden fand. So wie die Spiele, die ich mir nach dem Tod meiner Mutter ausdachte. Nicht auf die Ritzen zwischen den Gehwegplatten treten, natürlich, aber auch andere Spiele. Wenn ich die Luft anhalten konnte, bis fünf Autos vorbeigefahren waren … Wenn ich bis zum Grund des Stausees tauchen und einen Finger in den Schlamm stecken konnte … Wenn eine gerade Anzahl an Krähen auf dem Telefonmast saß, egal wie viele, außer zehn.

Misha verschließt ihren Eiskaffeebecher mit einem Deckel, dessen Rand sie mit dem Daumen sorgfältig rundherum andrückt. »Wieso eigentlich?«, fragt sie – so beiläufig, so zuckersüß, dass ich es beinahe gar nicht mitkriege.

»Wie bitte?« Einen Moment lang verstehe ich es tatsächlich nicht.

Sie blickt auf. Ihre Augen sind so blau wie der Sommerhimmel. »Wieso war Brent so von dir angetan, was meinst du?«

Ich umklammere meine Wasserflasche so fest, dass das Plastik unter meinen Fingern nachgibt. »Ich … Ich weiß nicht«, stammle ich. Dann: »Das war er doch gar nicht.«

Sie lächelt immer noch. »Vielleicht wegen der langen, langen Haare.«

Unvermittelt streckt sie eine Hand aus und berührt meinen Pferdeschwanz. Als ich unwillkürlich zurückweiche, lacht sie, als wäre sie plötzlich verlegen.

»Vielleicht war das der Grund für all die Gemeinheiten, vielleicht wollte Kaycee deswegen immer, dass wir dich ärgern«, sagt Misha. »Die war echt durchgeknallt.«

»Sie war deine beste Freundin«, erinnere ich sie. Ich habe Mühe, dem Gespräch zu folgen, mich aus dem Sumpf der Erinnerung zu ziehen.

»Deine auch, zumindest eine Zeit lang«, erwidert sie. »Du weißt doch, wie es war. Sie hat mir eine Heidenangst eingejagt.«

Kann das stimmen? Wenn ich an die Zeit damals denke, sehe ich immer als Erstes Mishas Gesicht vor mir, ihre schiefen Zähne und diese großen blauen Augen, den genüsslichen Blick, wenn sie mich weinen sah. Misha war die Gemeine, der Pitbull, sie traf die Entscheidungen. Cora und Annie waren Mitläuferinnen: Sie sind hinter Misha und Kaycee hergedackelt wie kleine Mädchen, die ihre großen Schwestern anhimmelten.

Kaycee war die Hübsche, die von allen bewundert wurde. Niemand konnte Kaycee jemals etwas abschlagen. Kaycee war die Sonne. Es blieb einem gar nichts anderes übrig, als sich in den Orbit um das Zentralgestirn einzufügen.

Jetzt, zehn Jahre älter und seit zehn Jahren ohne ihre beste Freundin, scheint Misha recht entspannt zu sein.

»Brent wird sich freuen, dass du wieder da bist, auch wenn ihr jetzt auf entgegengesetzten Seiten steht«, sagt Misha. »Na ja«, fügt sie hinzu, als sie mein Gesicht sieht, »stimmt doch, oder? Ihr seid hier, um Optimal dichtzumachen.«

»Wir sind hier, um uns zu vergewissern, dass das Wasser sauber ist«, sage ich. »Nicht mehr und nicht weniger. Wir sind nicht gegen Optimal.« Für die Einwohner von Barrens wird das allerdings keinen Unterschied machen.

»Aber du gehörst zu dieser Umweltorganisation.«

»Ich arbeite für CEAW, allerdings«, sage ich. »Das hat sich ja schnell rumgesprochen.«

Misha beugt sich ein bisschen vor. »Gallagher behauptet, die stellen uns das Wasser ab.«

Ich schüttle den Kopf. »Gallagher bringt da ein bisschen was durcheinander. Von Wasserabstellen kann zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht die Rede sein. Im Moment sind wir nur hier, um das Abwassersystem zu überprüfen.« Im Jurastudium lernt man vor allem eins: zu reden, ohne viel zu sagen.

Misha lacht. »Und ich dachte schon, du wärst eine knallharte Anwältin. Dabei bist du offensichtlich bloß Klempnerin!« Sie schüttelt den Kopf. »Aber ich bin froh, das zu hören. Du ahnst ja gar nicht, was für ein Segen Optimal für unsere Stadt ist. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde Barrens vom Erdboden verschwinden.«

»Daran kann ich mich erinnern«, sage ich. »Glaub’s mir.«

Plötzlich wirkt sie gequält, sie runzelt die Stirn und presst die Lippen zusammen. Einen Moment lang hat es den Anschein, als suche sie verzweifelt nach Worten.

Dann nimmt sie meine Hand. Sie kommt näher, so nah, dass ich die Poren in ihrem Gesicht sehen kann.

»Du weißt doch, dass das alles nur Spaß war damals, oder? Was wir mit dir gemacht haben. Was wir gesagt haben.«

Vermutlich deutet sie mein Schweigen als ein Ja. Sie drückt meine Hand. »Eine Zeit lang hatte ich Angst davor, dass du zurückkommen könntest. Ich dachte, du würdest zurückkommen wegen …« Sie bricht ab, und ich spüre einen kalten Hauch im Nacken, so als hätte sich jemand vorgebeugt, um mir etwas zuzuflüstern.

Kaycee. Ich bin mir sicher, dass sie Kaycee sagen wollte.

»Weswegen?«, frage ich betont beiläufig, während ich einen Ständer mit billigen Sonnenbrillen drehe und zusehe, wie das Sonnenlicht in den polarisierten Gläsern gedämpft wird.

Sie lächelt schmallippig. »Um dich zu rächen«, sagt sie einfach. Sie hält die Tür auf, und diesmal lässt sie mich vorausgehen.

Mishas Tochter strampelt in ihrem Kindersitz. Kaum erblickt sie Misha, fängt sie an zu schreien. Erst jetzt merke ich, dass ich die Luft angehalten habe, und ich atme tief aus, während Misha die Kleine losschnallt.

»Das ist Kayla«, sagt sie, das schreiende Kind auf dem Arm.

»Sie ist süß«, sage ich, und es stimmt. Sie hat Mishas Augen. Ihr auffallend dichtes Haar ist so blond, dass es fast weiß ist.

»Ja, nicht wahr? Gott sei Dank hat sie nicht Peters Gesichtsfarbe geerbt. Rothaut nennen sie ihn auf der Arbeit.« Misha wippt Kayla auf der Hüfte, um sie zu beruhigen. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Peter Jennings – kräftiger Unterkiefer, dämlicher Blick – Kaylas Vater ist. Aber so ist das meistens mit kleinen Kindern: Die hässlichen Seiten ihrer Eltern kommen erst später bei ihnen durch. »Durch dich und deinen wichtigen Job in Chicago wird Barrens im ganzen Land bekannt.« Es ist halb Kompliment und halb Warnung. Subtext: Komm uns nicht in die Quere.

»Du musst mal zum Abendessen vorbeikommen. Bitte. Wohnst du bei deinem Vater? Ich hab immer noch eure Telefonnummer.« Sie dreht sich um und schnallt Kayla wieder in ihrem Kindersitz an. »Und sag Bescheid, falls du irgendwas brauchst. Egal was.«

Sie steigt ins Auto, ehe ich sagen kann, danke, mach dir keine Umstände. Außerdem würde ich um nichts in der Welt wieder bei meinem Vater einziehen. Kaum ist sie weg, ist es, als hätte eine Hand meine Stimmbänder losgelassen.

Ich werde nie etwas von dir brauchen.

Ich werde dich nie um etwas bitten.

Ich konnte dich noch nie ausstehen.

Aber es ist zu spät. Sie ist fort, und zurück bleibt nichts als ein dünner Abgasschleier in der Luft, der alles leicht verzerrt, bis auch er verschwunden ist.

2

In der zwölften Klasse wurden Misha und Kaycee krank. Ihre Hände zitterten – es war eins der ersten Symptome. Als Nächstes ging es bei Cora Allen und Annie Baum los. Sie verloren ständig das Gleichgewicht, sogar dann, wenn sie einfach still dastanden. Sie vergaßen, wo unser Klassenzimmer war oder wo es zur Turnhalle ging. Irgendwann war es, als würden alle in Barrens krank, als würde die ganze Stadt gemeinsam den Verstand verlieren.

Und was steckte dahinter? Ein Scherz. Ein alberner Streich. Einfach, weil es ihnen Spaß machte. Weil sie nach Aufmerksamkeit gierten.

Ein paar Monate lang waren sie berühmt, zumindest im südlichen Indiana. Arme, vernachlässigte Mädchen aus der Provinz. Die Mütter von Misha und Cora kamen im örtlichen Fernsehen, und kurz bevor Kaycee abgehauen ist, war sogar die Rede von Interviews mit den großen Medien. Jemand von der Chicago Tribune versuchte, die rätselhafte Krankheit mit anderen Fällen von Umweltverschmutzung durch Fabriken in Verbindung zu bringen. Aber als rauskam, dass die Mädchen das alles nur inszeniert hatten, war die Geschichte ziemlich schnell vergessen, und niemand schien ihnen irgendwas übel zu nehmen, jedenfalls nicht lange. Sie wollten nur ein bisschen Aufmerksamkeit, hieß es in den Zeitungen.

Aber ich hatte ihnen geglaubt. Und irgendwie hab ich nie aufgehört zu glauben, dass die Krankheit echt war – was dazu führte, dass mir das Thema Umweltschutz zur Herzensangelegenheit wurde und ich unsere Organisation auf die ursprüngliche Beschwerde aufmerksam machte, die mich beschäftigte wie ein lästiger Nietnagel.

Als ich nach Chicago gezogen bin, habe ich, sobald ich es mir leisten konnte, alle meine alten Kleider weggeworfen und mich nach der Mode gerichtet, die die Schaufensterpuppen auf der Magnificent Mile trugen. Ich habe den Akzent des Mittleren Westens abgelegt und allen erzählt, ich stammte aus einem Vorort von New York. Sonntags vormittags schlief ich meinen Rausch aus, und gebetet hab ich nur noch für freie Fahrt, wenn ich mal im Stau steckte. Und irgendwann hab ich aufgehört, zu Hause anzurufen.

Ich habe mein Bestes getan, um Barrens hinter mir zu lassen.

Doch je mehr ich es versuchte, desto mehr zerrten halbtote Erinnerungen an mir, desto stärker wurde das Gefühl, irgendetwas nicht getan oder erledigt zu haben. Etwas nicht verstanden zu haben.

Manchmal, wenn ich nach einem feuchtfröhlichen Abend nach Hause kam, gab ich mich Erinnerungen an Kaycee hin, an die Nachmittage, als wir mit Steinen nach den riesigen Pilzen im Wald warfen, die uns als Zielscheiben dienten, an meinen Hund Chestnut und an die rätselhafte Krankheit, die unsere Kleinstadt heimgesucht hatte.

Vielleicht wollte ich glauben, dass es eine Erklärung gab, einen Grund für das, was Kaycee getan hatte.

Oder vielleicht wollte ich ihr einfach glauben, weil ich nach all den Jahren immer noch nicht verstehen konnte, warum sie mich derart reingelegt hatte.

Egal, wie oft ich mir schwor, damit aufzuhören, zerbrach ich mir immer und immer wieder den Kopf über dieselben Fragen. Warum? Fast alles andere konnte ich abschütteln, aber diese Frage verfolgte mich. Warum? Kaycee, Misha, der Streich. Warum? Manchmal vergingen ein, zwei Monate. Manchmal nur ein paar Wochen. Dann verbrachte ich Stunden damit, über Optimal zu recherchieren, die mageren Meldungen zu durchforsten, die in Barrens als Nachrichten durchgingen. Das meiste davon war Eigenwerbung von Optimal, Berichte über die Segnungen, die die Firma der Stadt bescherte – neue Häuser, ein neues Gemeindezentrum, ein neuer Fonds für Stipendien. Jahre der Recherche, in denen ich nicht das Geringste zu Tage förderte.

Bis ich vor einem halben Jahr schließlich auf etwas stieß.

Die hundertzwanzig Hektar Land, die Wyatt Gallagher sein Eigen nennt, sind gänzlich von einem windschiefen Lattenzaun eingefasst. Die Dürre hat ihre Spuren hinterlassen. Was grün war, ist jetzt braun, und eine feine Staubschicht trübt meine Windschutzscheibe. Als ich in die Einfahrt einbiege, schlagen in einiger Entfernung mehrere angekettete Jagdhunde an. Ich wusste, dass unsere Organisation für uns Anwälte Räumlichkeiten angemietet hat, aber ich hatte keine Ahnung, dass wir auf Gallaghers Farm untergebracht werden würden. Andererseits ist es auch nicht verwunderlich, schließlich war Gallagher einer der Ersten, die sich über den Stausee beschwert haben.

Wenn man bedenkt, dass Gallagher kein Handy besitzt und seine Internetverbindung mehr als wackelig ist, ist es ein Wunder, dass seine Beschwerde es jemals über die Stadtgrenzen hinaus geschafft hat.

Als ich seinen Text im Internet gelesen hatte, rief ich sofort das Protokoll der letzten Gemeinderatssitzung auf, um nachzulesen, was Gallagher genau ins Feld geführt hatte. Nicht nur er hatte eine Beschwerde vorgebracht, sondern mehrere andere Familien hatten sich seiner Klage angeschlossen. Während ich über dem Protokoll brütete, kam ich mir vor wie Alice, die in das Kaninchenloch purzelt: Plötzlich stolperte ich über jede Menge alte Beschwerden, vergessene Berichte von Dutzenden Bürgern von Barrens, all die alten Fälle, die Gallagher gesammelt und zu einem wütenden Pamphlet gebündelt hatte. Allein nach dem Durcharbeiten des Protokolls hatte ich vier Seiten handgeschriebener Notizen.

Und zum ersten Mal seit zehn Jahren, vielleicht sogar zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass die ganze Welt zur Ruhe gekommen war. So als wäre alles ganz still geworden, weil plötzlich die Verheißung einer Antwort in der Luft lag.

Ich verschaffte Gallagher einen Kontakt mit der für Indiana zuständigen Abteilung von CEAW. Aber die Kollegen in Indiana waren vollauf beschäftigt mit Verhandlungen über einen Gesetzesentwurf zur Produktion von sauberer Energie, der eigentlich schon zwei Jahre zuvor hätte verabschiedet werden sollen. Sie brauchten personelle Unterstützung.

Und jetzt bin ich also hier.

Ich parke auf dem Rasen neben der frisch gestrichenen Scheune, die nur daran als unser Hauptquartier zu erkennen ist, dass Joseph Carters zerbeulter Camaro mit dem typischen CoeXisT-Aufkleber davorsteht. Es stehen noch ein paar weitere Wagen da, die mir bekannt sind, und aucheinige, die ich nicht kenne – Estelle Barry, eine der Seniorpartnerinnen, hatte angekündigt, dass wir ein paar Praktikanten der Loyola-Universität in Chicago bekommen würden.

Ich stopfe die leere Wasserflasche in zwei alte Tankstellen-Pappbecher und werfe alles zusammen in den Fußraum des Beifahrersitzes.

»Williams. Du bist spät dran«, begrüßt mich Joe, als ich die riesige, luftige Scheune betrete, wo meine Kollegen bereits Klapptische, Aktenschränke und jede Menge Computer aufgebaut haben, die alle an einem einzigen Stromkabel hängen. Der Boden der Scheune aus verzogenen Holzdielen ist mit billigem Teppich ausgelegt und mit einem Gewirr von Kabeln bedeckt.

»Es ist zwei nach neun, Mann.«

Joe und ich wurden zur selben Zeit im Illinois-Büro der Organisation eingestellt. Er ist so ziemlich mein bester Freund, auch wenn ich mir eher die Hand abhacken würde, als das ihm gegenüber zuzugeben. Wir waren beide Neulinge. Wir haben zahllose lange Abende im Büro verbracht, in scheußlichem Neonlicht Nasi-Goreng aus dem China-Imbiss gegessen, blass vor Erschöpfung. Wir haben unsere ersten drei Weihnachtsfeste als Anwälte zusammen gefeiert. Ich hatte immer das Gefühl, dass Joe ebenso wie ich kein besonders enges Verhältnis zu seiner Familie hat, und ich weiß noch, wie verblüfft und sogar ein bisschen eifersüchtig ich war, als er letztes Jahr verkündete, dass er sich ein paar Tage freinehmen würde, um mit seiner Familie Urlaub in Florida zu machen.

»Du siehst aus, als wärst du grade aus dem Bett gefallen. Steht dir gut«, sagt Joe. Er führt mich zu einem langen Klapptisch im hinteren Teil der Scheune. »Erinnert mich an Studentenzeiten.«

»Es erinnert dich ans letzte Wochenende«, erwidere ich, und er sieht mich an, als wüsste er nicht, wovon ich rede. Er wechselt die Liebhaber wie die Unterhemden. Einfach so. »Du bist ja gut drauf.«

»Die Landluft scheint mir zu bekommen«, sagt er und breitet die Arme aus, als hätte er noch nie ein so weites Land gesehen. Er ist erstaunlich munter so früh am Morgen, und das nach der langen Fahrt von Indianapolis hierher. Joe weigert sich, in einem der wenigen Motels oder einer Pension in Barrens zu übernachten, mit dem Argument, dass ein schwuler Schwarzer in etwa so gut nach Barrens passt wie ein Dildo auf einen Abendbrottisch. Stattdessen hat er sich entschieden, jeden Tag zwischen Barrens und Indianapolis hin- und herzufahren.

»Oder das Wasser in Barrens«, sage ich, worüber er lachen muss. Er ist nicht der Einzige, der aufgekratzt wirkt. Es ist die neue Aufgabe, das neue Team. Alle sind voller Energie. Auch wenn die pickeligen Jurastudenten immer etwas arg blauäugig sind. Sie glauben noch, wir könnten die Welt von jeder Ölpest, jedem verseuchten Stausee und jedem Gasleck befreien.

»Hallo Leute«, sagt Joe in die Runde, »vor euch steht Abby Williams. Die Frau, die euch seit Wochen mit E-Mails zumüllt.«

Unser Team ist ziemlich bescheiden: ein frischgebackener Anwalt und ein paar erwartungsvoll dreinblickende Jura-Studenten. Eine der jungen Frauen sieht aus, als ginge sie noch zur Schule. So ist CEAW – gearbeitet wird immer mit einem Minimalbudget. Für eine gute Sache zu kämpfen macht sich selten bezahlt.

»Ich glaube, die korrekte Bezeichnung lautet briefen«, sage ich zu Joe.

Er übergeht meine Bemerkung. »Abby«, sagt er zu den anderen, »leitet mit mir zusammen das Team, wie ihr alle wisst. Aber eigentlich ist sie der Grund, warum wir überhaupt hier sind. Wenn euch das hier also in ein paar Tagen alles zum Hals raushängt, beschwert euch bei ihr.« Er klimpert mit den Wimpern, als ich die Augen verdrehe.

Ich kenne die einzelnen Team-Mitglieder nur von den briefmarkengroßen Porträtfotos, die Estelle Barry uns gegeben hat. Der frischgebackene Anwalt heißt Raj und hat seinen Abschluss in Harvard gemacht. Den jungen Praktikanten verpasse ich insgeheim sofort Spitznamen: Die kesse junge Kalifornierin in dem geblümten T-Shirt wird zu Flora, der bärtige Hipster in einem Flanellhemd, das allzu maßgeschneidert wirkt, um authentisch zu sein, zu Portland. Praktikanten sind wie One-Night-Stands: Man kann versuchen, sich ihre Namen zu merken, aber der Aufwand lohnt sich selten.

Flora springt auf. Sie will beweisen, dass sie ihre Hausaufgaben gemacht hat. »Bisher haben wir die Protokolle sämtlicher Bürgerversammlungen der letzten fünf Jahre durchgesehen, also aus der Zeit, bevor sie digitalisiert wurden«, sagt sie. »Mehrere Familien haben sich, …«, sie sieht in ihre Notizen, und ihre Miene verfinstert sich, »… schon vor drei Jahren beschwert.« Sie schiebt sich die Haare hinter die Ohren. »Wir werden uns diese Beschwerden eine nach der anderen vornehmen«, fügt sie hinzu und setzt sich wieder.

»Und heute? Wen haben wir außer Gallagher?« Gallagher ist einer der größten Grundbesitzer in und um Barrens, seine Farm gab es schon, bevor ich geboren wurde, und er benutzt das Wasser aus dem Stausee für die Bewässerung seiner Felder. Den Aufzeichnungen zufolge, die Joe geschickt hat, ist er seit der Dürre, die jetzt schon zwei Jahre anhält, mehr denn je auf den Stausee angewiesen. Als er ganze Soja- und Maisfelder verlor, regte sich in ihm der Verdacht, dass mit dem Wasser etwas nicht stimmt – ein Verdacht, der von mehreren Nachbarn bestätigt wurde, die über eigenartigen Geruch, Hautausschlag und Kopfschmerzen klagen.

»Ein halbes Dutzend Leute hat die Beschwerde unterschrieben, die er dem Stadtrat vorgelegt hat. Von einer Familie namens Dawes und einem gewissen Stephen Iocco können wir wahrscheinlich am ehesten erwarten, dass sie mit uns zusammenarbeiten.«

»Ein halbes Dutzend Unterschriften? Die Richter lachen uns aus«, sagt Joe. Er untertreibt. Die Richter werfen uns raus.

Flora zuckte verlegen die Schultern. »Optimal ist der größte Arbeitgeber in Barrens«, sagt sie. »Es wird nicht leicht werden, Leute auf unsere Seite zu bekommen.«

»Barrens ist eine Firmenstadt«, sage ich und muss an Mishas Worte denken: Ihr steht jetzt auf entgegengesetzten Seiten. Ich fürchte, die meisten Einwohner des Städtchens stehen auf der anderen Seite. »Das wird unser größtes Problem werden.«

Alle nicken, aber sie sind ahnungslose Großstädter.

Während meiner Jugend lag morgens immer eine Art Plastikasche in der Luft. Jedes Mal, wenn wir Luft holten, atmeten wir Chemikalien von Optimal ein, und abends zauberte der chemische Smog die herrlichsten pink- und orangefarbenen Sonnenuntergänge an den Himmel. Unsere Ohren dröhnten vom permanenten Baulärm, den Optimal verursachte. Gebäude wurden eingerüstet, neue Lagerhallen wurden errichtet, neue Produktionsgebäude, neue Schornsteine. Ich aß zu Mittag in einer von Optimal gestifteten Cafeteria, fuhr nach der Schule in einem von Optimal bezahlten Bus nach Hause und nahm an von Optimal gesponsorten Tanzbällen, Kuchenbasaren und Grillpartys teil. Mein Vater hatte recht: Es gab etwas, das größer war als wir, jemanden, der uns beobachtete, der sogar die Farbe des Himmels und die Konsistenz der Luft bestimmte, die wir atmeten. Die erste Produktionsstätte wurde errichtet, als ich noch ein Kind war, aber ich erinnere mich gut daran. Ich bin immer wieder am Stausee herumgeschlichen, um auf der Baustelle zu spielen. Ich habe meinen Namen in den rostigen Schlamm um die Abwasserrohre geschrieben, wenn es bei uns zu Hause so übel stank, dass ich kaum noch Luft bekam.

»Eine Firmenstadt«, wiederholt Joe. »Wie putzig.«

»Wann kommen denn die Techniker von ETL?«, will Raj wissen. Er klingt etwas genervt. Die Firma Environmental Testing Laboratories ist darauf spezialisiert, Trinkwasser zu testen, mit besonderem Augenmerk auf Kontaminierung durch Schwermetalle. Leider ist es eines der wenigen vertrauenswürdigen Labors im Mittelwesten und kann sich vor Arbeit kaum retten.

»Nächste Woche«, sagt Joe. »Aber die Resultate von den Wasserproben werden wir wohl erst im Juli bekommen.«

»Wenn wir Glück haben«, sage ich. »Wo können wir noch ansetzen? Gibt es eine Zunahme von Krebsfällen?«

»In den letzten Jahren? Nein.« Nur Leute mit unserem Job können enttäuscht darüber sein, dass Krebs sich nicht schneller ausbreitet.

»Optimal ist vor zwanzig Jahren nach Barrens gekommen«, bemerke ich.

»So weit sollen wir zurückgehen? Dafür haben wir nicht genug Leute. Und du weißt doch, wie die Krankenhäuser sind. Man läuft ständig gegen Wände. Die Hälfte der Unterlagen unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht.«

»Es geht um Daten. Selbst wenn sie später nicht gerichtsverwertbar sind, lohnt sich die Mühe. Wir sollten zumindest mit den hier ansässigen Ärzten reden.« So ist unsere Arbeit – ein einziges Geduldspiel. Als ich Joe kennenlernte, war sein erster Kommentar, dass die Plastikflasche, aus der ich gerade trank, eine einzige Umweltsauerei sei, woraufhin ich ihn als Arsch bezeichnete. Seitdem sind wir Freunde.

Ich hake nach. »Was ist mit den alten Fällen, die ich euch geschickt hab? Gibt es da was zu holen?«

»Meinen Sie den Fall Mitchell?«, fragt Flora. Gut gelaunt natürlich.

»Die Mitchells, die Dales, die Baums und die Allens waren die Ersten, die geklagt haben«, meldet sich Portland zu Wort. Er will sich erste Fleißkärtchen verdienen. »Die hatten alle Töchter, die im Teenageralter richtig krank geworden sind. Zuckungen, Sehstörungen, Ohnmachtsanfälle. Die haben eine Zivilklage angestrengt, als es schlimmer wurde.«

»Genau. Und dann haben sie die Klage fallenlassen.« Joe wirft den Stapel Papiere wieder auf seinen Schreibtisch. »Es war ein einziger Schwindel. Ein paar junge Mädchen, die dachten, sie könnten durch Schmerzensgeldzahlungen der Firma reich werden.« Er sieht mich an: »Stimmt’s, Abby?«

Ein kleiner Seitenhieb in meine Richtung.

»So hieß es damals jedenfalls.« Ich muss daran denken, wie Kaycee im Kunstunterricht vergeblich versuchte, ihren Bleistift aufzuheben. Ich denke an ihre Freundinnen, die in den Fluren zuckten wie Insekten. »Die vier haben viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Eine von ihnen ist hinterher aus der Stadt weggegangen. Die Familien der anderen haben ihre Klagen zurückgezogen. Ich stamme ursprünglich aus Barrens«, erkläre ich denjenigen, die mich mit großen Augen ansehen, und betone das ursprünglich,