Boom Boom Babuschka - Moritz Matthies - E-Book

Boom Boom Babuschka E-Book

Moritz Matthies

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Beschreibung

»Die Smoothies bitte geschüttelt, nicht gerührt!« Irgendwie ist bei Ray und Rufus der Schwung raus: im Liebesleben, im Erdmännchen-Alltag und überhaupt. Rufus will seinen rosa Klettgurt gerade an den Nagel hängen, als Phil im Brandenburger Wald aufschlägt und den einen Satz sagt, den sie am liebsten hören: Montgomery hat sich gemeldet! Die Criminal Intelligence Officerin bei Interpol ist irritiert: Auf Sardinien, in Monaco und Madrid haben drei russische Oligarchen nacheinander Selbstmord begangen. Und nachweislich wurde keiner dieser Selbstmorde vom Kreml in Auftrag gegeben. Da stimmt was nicht. Um einen vierten Selbstmord in London zu verhindern, schickt Interpol seine besten Agenten. Die wilde Serienkillerjagd quer durch Europa ist ganz nach dem Geschmack von Phil & Friends.

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Seitenzahl: 315

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Irgendwie ist bei Ray und Rufus der Schwung raus: im Liebesleben, im Erdmännchen-Alltag und überhaupt. Rufus will seinen rosa Klettgurt gerade an den Nagel hängen, als Phil im Brandenburger Wald aufschlägt und den einen Satz sagt, den sie am liebsten hören: Montgomery hat sich gemeldet! Die Criminal Intelligence Officerin bei Interpol ist irritiert: Auf Sardinien, in Monaco und Madrid haben drei russische Oligarchen nacheinander Selbstmord begangen. Und nachweislich wurde keiner dieser Selbstmorde vom Kreml in Auftrag gegeben. Da stimmt was nicht. Um einen vierten Selbstmord in London zu verhindern, schickt Interpol seine besten Agenten. Die wilde Serienkillerjagd quer durch Europa ist ganz nach dem Geschmack von Phil & Friends.

Moritz Matthies

Boom Boom Babuschka

Band 3

Ein Erdmännchen-Krimi

1

Vorsichtig, wie um mich nicht zu wecken, löst sich Natalies Vorderbein von meiner Brust.

»Ich geh mal rüber«, flüstert sie.

Ist jedes Mal ein Stich ins Herz, wenn sie das sagt. Besonders, wenn sie es mitten in der Nacht sagt.

Wir liegen in der Schlafecke meiner Kammer, die ich mit einem Werbeshirt vom Fußball-Landesverband Brandenburg ausgepolstert habe, und lauschen in den Bau hinein. Außer dem Geräusch, das Pa von sich gibt, wenn er vom Halb- in den Tiefschlaf hinübergleitet, ist nichts zu hören. Klingt immer wie eine kaputte Waschmaschine, die versucht, Wasser zu ziehen. Ich weiß das, weil Phil mal so eine hatte, damals, als das losging mit uns. Lange her.

In letzter Zeit dauert es immer ganz schön lange, ehe hier Ruhe einkehrt. Juni. Da drehen die Männchen durch, wenn sie kein Weibchen abkriegen. Und umgekehrt. Also nicht nur meine hormonell übersteuerten Geschwister aus dem vierten Wurf, sondern der gesamte Wald. Selbst Shabby, mein dauermüder Waschbärkumpel, hat sich gestern die Kletten aus dem Fell gekratzt und hing auf den Steinen am Spaßbecken ab, als wartete er darauf, für einen Film gecastet zu werden.

Rufus hat gesagt, in ein paar Tagen sei Sommersonnenwende. Der längste Tag des Jahres. Wie das funktioniert, dass manche Tage länger sind als andere, verstehe ich zwar nicht, ist aber auch egal. Wichtig ist nur, dass dann die große Sommersonnenwendparty im Acapulco steigt, kurz: die SSW-Party. Die Iltisse und Dachse sind schon ganz wuschig deswegen. Als würden wir das jedes Jahr veranstalten. In Wahrheit ist es das erste Mal. Trotzdem tun alle so, als wären sie schon x-mal dabei gewesen.

Gestern hab ich gehört, wie sich drei Mauswiesel darüber unterhalten haben, wer von ihnen vergangenes Jahr am meisten abgelost hat. Sie waren offenbar der Überzeugung, auf der letzten SSW-Party hätte ein Dachsrodeo stattgefunden.

»Alter, ich war so scheiße, ich bin abgekracht, da war ich noch nicht mal richtig oben.«

»Und ich erst! Bin voll mit dem Kopf gegen die Bassbox geknallt, wisst ihr noch?«

»Mein Abgang war episch«, meinte das dritte Wiesel. »Peltz hat mich so hochgeschleudert, dass ich in der Slackline festhing und nicht mehr runterkam.«

Gewinner ist derjenige, der sich am meisten blamiert. Ist auch neu. Früher standen die Weibchen drauf, wenn man etwas besonders gut konnte. Also ich zum Beispiel. Bin das einzige Tier im gesamten Wald, das mit Rückwärtssalto durch den Wasserfall springen kann. Da sind mir die Herzen nur so zugeflogen. Heute stehen sie auf den, der am epischsten abkackt. Eddie, mein Waschbärfreund, der sich jedes Mal fast umbringt, wenn er durch den Wasserfall purzelt und auf die Steine kracht, erntet regelmäßig den meisten Applaus.

Ich schweife ab. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre – in denen es, wie gesagt, keine SSW-Party gab – alle denken, die Feier dieses Jahr müsse eine Art Mega-Tinder-Bierzelt-Karaoke-Event werden.

Natalie hat sich inzwischen vollständig von mir gelöst und ist gerade dabei, meine Kammer zu verlassen.

»Du kannst auch bleiben«, sage ich. Als wollte ich ihr die Mühe ersparen, so spät noch in ihre Kammer zu gehen.

»Passt schon«, erwidert sie.

Ich hasse getrennte Schlafzimmer!, möchte ich rufen. Aber das wäre uncool. Außerdem kann ich ihr schlecht vorwerfen, dass sie lieber in ihrer Kammer schläft. Im Winter haben wir noch ständig darüber geredet, ob wir einen Clan gründen sollen: monogame Beziehung, ein eigener Bau, eine größere Schlafkammer, das ganze Programm. Aber dann hat das irgendwann aufgehört, und jetzt ist es irgendwie kein Thema mehr. Wie ein abgestorbener Ast, der noch am Baum hängt, aber keine Blätter mehr trägt. Stattdessen haben wir seit einiger Zeit so ein Bruder-Schwester-Ding am Laufen. Ich meine, sind wir ja auch, Bruder und Schwester, klar, aber … Ach, was weiß ich.

»Sag es ruhig.«

Natalie. Die spürt immer sofort, wenn stimmungsmäßig was verrutscht.

Ich liebe dich! Nein, das sage ich natürlich nicht. Stimmungskiller.

»Ich find’s scheiße«, sage ich stattdessen, »dass wir in getrennten Kammern schlafen.«

»Verstehe ich.« Natalie bewegt sich nicht vom Fleck, halb drin, halb draußen. »Manchmal wünsche ich mir das auch«, sagt sie. »Manchmal wäre ich gerne eine Erdfrau, die sich nichts Schöneres vorstellen kann, als ihren Nachwuchs großzuziehen, die Schlafecken auszupolstern und ihrem Männchen ein gutes Weibchen zu sein. Und dann denk ich darüber nach, wie das wäre, stelle mir vor, wie es sich anfühlen würde. Und dann bekomme ich plötzlich keine Luft mehr. Hat nichts mit dir zu tun, Ray. Ich liebe dich auch. Aber am meisten liebe ich dich, wenn du mit diesen adrenalingeweiteten Augen von einem deiner Abenteuer zurückkommst, das du so eben überlebt hast.«

Was soll ich dazu sagen? Schließlich liebe ich mich selbst ja auch am meisten, wenn ich von einem meiner Abenteuer zurückkomme, die ich so eben überlebt habe. Trotzdem würde ich gerne einen Clan mit ihr gründen.

»Ich fürchte«, sagt Natalie, »als Hausfrau und Mutter würde ich keine gute Figur abgeben. Bin eben ein Bondgirl. Aber – und vielleicht tröstet dich das ja ein bisschen – am liebsten bin ich dein Bondgirl.«

Ich schlucke zweimal trocken, versuche, meine Einzelteile wieder zu etwas zusammenzufügen, das Ähnlichkeit mit einem Erdmännchen hat, und sage: »Und wie soll ich jetzt heute Nacht noch ein Auge zukriegen?«

»Ganz einfach«, haucht mein Bondgirl, »träum von mir.« Sagt sie und wackelt aus meiner Kammer.

 

Ich mach’s. Also, ich versuche es zumindest. Von Natalie träumen. Klappt. Logisch. Null. Sobald ich die Augen zumache und sie vor mir sehe, wälze ich mich hin und her und will nicht wahrhaben, dass sie schon wieder in ihre Kammer rübergegangen ist. Damit ich nicht anfange, mir selbst die Barthaare auszureißen, probiere ich es mit Meditation. Lege mich auf den Rücken, die Vorderbeine locker seitlich abgespreizt, und atme, voll bewusst so. Ein und aus. Ein. Und aus.

Wie das geht, hat Roxy mir erklärt. Nein, das ist kein Witz. Roxy, meine unterbelichtete Schwester und außerdem Frau unseres unterbelichteten Clanchefs Rocky sowie Mutter von Mister Unterbelichtet persönlich, nämlich Colin, hat die Achtsamkeitsmeditation für sich entdeckt. Also, eher nicht für sich selbst, sondern mehr so für Rocky. Schon wieder kein Witz. Rocky macht neuerdings Achtsamkeitsmeditation. Hat Roxy ihn zu verdonnert. Wie das gelaufen ist, kann sich jeder ausmalen. Ich erzähle es trotzdem mal.

»Entweder du machst das jetzt«, hat sie gesagt, »oder du kannst dir ein anderes Weibchen suchen.«

Und Rocky so: »Geil, wie viele darf ich denn?«

Der Hirni dachte natürlich, mit »anderes Weibchen« wäre zusätzliches Weibchen gemeint.

Roxy stemmte die Vorderbeine in die Hüfte. »So viele du willst. Geht mich ja dann nichts mehr an. Bin dann weg.«

»Wie – weg?«

»Na weg. Ich nehm die Kinder und verfatz mich!«

»Und wann kommst du wieder?«

»Na gar nicht.«

Da ist unser Clanchef mit einem Gefühl konfrontiert worden, das echt komplett neu für ihn war: Verlustangst. Kennt er sonst nicht. Er weiß nicht, wie das geht – Angst. Ist wie ein Programmierfehler.

Er hat Roxy angesehen, wie er sie noch nie angesehen hat. Plötzlich haben seine Augen geschielt. »Nee«, stammelte er, »also das läuft nicht.«

Seitdem macht unser Clanchef Meditation. Und was soll ich sagen: Es funktioniert. Morgens mault er nicht länger als Erstes die Jungtiere an, sondern hilft Minka, sich die Spangen ins Fell zu machen, und lackiert Mitzi die Krallen. Türkis, weil sie beide finden, dass ihr das am besten steht.

»Als Clanchef«, hat er mir neulich erklärt und väterlich eine Klaue auf meine Schulter gelegt, »musst du immer ein offenes Ohr für die Nöte und Sorgen deiner Familienmitglieder haben.«

Zur Erinnerung: Wir reden hier von Rocky, der in seinem gesamten Leben mit Problemen noch nie etwas anderes gemacht hat, als draufzuhauen. Ich habe nur deshalb nicht laut losgelacht, weil mir das unter Garantie eine Kopfnuss von ihm eingebracht hätte.

Unser Clanchef hat sich also zu einer Art Achtsamkeits-Champion entwickelt, was unsere Clanchefin Roxy logisch voll stolz macht. Vielmehr gemacht hat. Anfangs. Da hat sie jedem, der es hören oder auch nicht hören wollte, erzählt, dass sie Rocky »erfolgreich domestiziert« habe und unser Clanchef ihr nunmehr »aus der Klaue« fresse. Die Begeisterung über ihre Leistung ist allerdings ziemlich bald abgeflaut, und in letzter Zeit höre ich sie manchmal Sätze sagen wie: »Wann gehst du eigentlich mal wieder was kaputt machen?« Oder: »Ich glaube, dein Sohn könnte einen Ringkampf vertragen.«

Warum ich das erzähle? Gute Frage. Ich schätze, ich hoffe einfach, dass es etwas Tröstliches hat, zu erkennen, dass es uns am Ende allen gleich geht. Dass das Leben für jeden ein Tanz auf der Slackline ist.

Um wenigstens irgendwas zu machen und mich nicht so hilflos zu fühlen, krabble ich aus meiner Ecke, hole den Mini-LED-Hasen, der neben dem Eingang zu meiner Kammer steht, und verkrieche mich wieder. Ich schalte ihn ein, und sofort glimmt meine Schlafecke an- und abschwellend in Grün und Blau und Rot und Grün und Blau und Rot und Grün und Blau und Rot und immer so weiter, und dann, endlich, fallen mir doch noch die Augen zu.

Vielleicht schlafe ich gar nicht richtig, sondern nur so halb irgendwie. Rufus sagt, dass es Tiere gibt, bei denen immer nur eine Hälfte des Gehirns schläft, Delfine, glaube ich. Der LED-Hase jedenfalls leuchtet irgendwie bis in meinen Traum hinein, und ich sehe alles an- und abschwellend in Grün und Blau und Rot. Glücklicherweise denke ich wenigstens im Traum nicht länger an Natalie, obwohl: Wenn mir auffällt, dass ich nicht länger an sie denke, denke ich dann nicht trotzdem an sie? Kompliziert.

Zu meinem Traum: Ich springe rückwärts durch den Wasserfall – es fühlt sich sogar wie ein Doppelsalto an, obwohl ich den in Wirklichkeit noch nie hingekriegt habe –, und während ich in der Luft stehe und die Welt sich in Zeitlupe um mich herumdreht, sehe ich meine Waschbärkumpel am Beckenrand, die Wildschweine auf der Wiese, Herrmann, Traudl und Hermine, die Pinguine, einfach alle. Natalie ist ebenfalls da, sie steht zwischen Grete und Roxy. War ja klar, dass die sich doch noch irgendwie in meinen Traum schleicht. Ich habe das breiteste Grinsen im Gesicht, das man sich vorstellen kann – Doppelsalto! –, klatsche ins Spaßbecken, das gar nicht so kalt ist wie sonst, eher so angenehm frisch, tauche unter, und das Wasser um mich herum leuchtet an- und abschwellend Grün und Blau und Rot, und ich bleibe einfach, wo ich bin, bei mir, im Wasser, schwerelos.

Während ich mich so durch unser Spaßbecken treiben lasse, schaue ich nach oben und sehe die anderen ganz verschwommen auf den Steinen stehen und ins Wasser glotzen, und ich denke, ja, Leute, ist voll krass hier, Unterwasserbeleuchtung! Ein bisschen genieße ich noch den Moment, dann entschließe ich mich aufzutauchen, aber nicht, weil mir die Luft ausgeht oder so, sondern eher, weil ich denke, ich sollte die anderen nicht so lange warten lassen. Ich durchstoße die Wasseroberfläche, und der gesamte Wald grunzt und zirpt und jault, und Natalie macht gar nichts, lächelt nur still in sich hinein, und ich weiß, sie liebt mich. Aber am meisten liebt sie dich, denke ich, wenn du von einem deiner Abenteuer zurückkommst, das du mal wieder um ein Haar nicht überlebt hättest.

Ich sehe Rufus ins Becken springen, woran man schon erkennt, dass das nur ein Traum sein kann, denn dass Rufus freiwillig in etwas hineinspringt, das ihn nass macht, ist noch nicht vorgekommen. Er schwimmt zu mir rüber und sieht dabei voll sportlich aus, krault wie ein Bezirksmeister – ganz klar ein Traum –, und als er bei mir ankommt, haut er mir voller Begeisterung eine Klaue auf die Schnauze, wie es sonst nur die Waschbären machen, und ruft: »Phil hat angerufen!«

Und ich so: »Cool, soll rüberkommen!«

Er schüttelt mich, das Wasser spritzt auf. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

Und ich nur: »Klar, sag ihm, er soll ’ne Badehose mitbringen.«

Nackte Menschen sind ja schon eine ziemliche Zumutung, ästhetisch gesehen.

Die Begeisterung ist inzwischen aus Rufus’ Gesicht gewichen. »Hörst du mich, Ray?«

Und ich denke: Was hat er denn?

Und dann wache ich auf, weil jemand an mir herumzerrt, als wollte er mich in unseren Bau schleppen, dabei bin ich doch schon drin in unserem Bau, und dann sehe ich Rufus über mir, wie er abwechselnd grün und blau und rot an- und wieder abschwillt.

»Ich dachte, du bist tot!«, ruft er.

»Du kannst jetzt aufhören«, erwidere ich.

»Entschuldige.« Rufus lässt mich los. »Du hast mit offenen Augen geschlafen. Gespenstisch.« Er rückt seinen Klettgurt zurecht, stellt fest, dass sein Minikompass abgegangen ist, hebt ihn auf und hakt ihn wieder ein. »Diese Karabinerhaken halten eindeutig nicht, was der Hersteller verspricht. Hätte ich nicht immer so viel um die Ohren, würde ich mit dem Gedanken spielen, denen eine geharnischte Beschwerdemail zu schreiben.«

Einen Moment sehen wir uns einfach nur an. Grün. Blau. Rot. Dann hab ich’s: »Phil hat angerufen?«

2

Rufus meint, es wäre noch Zeit, mich von Natalie zu verabschieden und geschmeidig meine Morgenrunde durch den Wald zu drehen, bevor Phil kommt. Das war seine Wortwahl: »geschmeidig«. Muss man erst mal draufkommen. Ich schätze, mein kleiner Bruder musste letzte Nacht nicht in seine Kammer zurück, sondern durfte bis Sonnenaufgang in Gretes Bauchfell auf Tauchstation gehen. Geschmeidig.

Phil also hat geschrieben, dass er erst um neun Uhr dreißig kommt. Ich kann mir zwar unter neun Uhr dreißig nicht mehr vorstellen als unter der arthritischen Psoriasis, die Pa angeblich hat, aber wenn Rufus sagt, bis dahin dauert es noch zwei Stunden und dass zwei Stunden geschmeidig reichen, um meine Morgenrunde zu drehen, dann wird es schon stimmen.

Ich laufe also ganz geschmeidig aus der Savanne heraus und in den Wald hinein und mache das, was ich auf meiner Morgenrunde immer als Erstes mache, denn: Egal, wie es mir vorher geht, hinterher geht’s mir garantiert besser. Ich laufe rüber zum Fuß des großen Hügels und klettere die Stufen zur Keilerschanze hinauf. Die Keilerschanze, um das kurz zu klären, war mal die Ruine einer Verteidigungsanlage von vor drei Millionen Jahren oder so. Jedenfalls stammt sie aus einer Zeit, als die Menschen noch keine Handys und keine Tablets hatten und also selber noch Tiere waren. Und in dieser ehemaligen Ruine leben die Wildschweine.

Ganz am Anfang, als wir aus dem Zoo in Berlin fliehen mussten und hier im Wald aufgeschlagen sind, hab ich um die Keilerschanze noch einen Bogen gemacht. Denn die Wildschweine, allen voran Keiler Herrmann und sein Sohn Fritz, haben uns nicht gerade mit offenen Hufen empfangen. Deutscher Wald den deutschen Tieren, hieß es da, und dass solche wie wir, also Tiere mit Migrationshintergrund, den anderen Tieren ihren Lebensraum streitig machen würden. Als würde irgendeins von den Waldtieren freiwillig in die Savanne ziehen. Die ist übrigens nicht wirklich eine Savanne, sondern sieht nur ein bisschen so aus. Tatsächlich haben wir unseren Bau auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz der NVA angelegt. Außer uns traut sich auf den keiner rauf, weil hier noch großflächig nicht explodierte Munition herumliegt. Und die Einzigen, die die riechen können, sind wir, ein Haufen Berliner Erdmännchen.

Hätte die Evolution sich auch nicht träumen lassen, dass sie uns mit der Fähigkeit ausstattet, in der Savanne Würmer zu riechen, die drei Klauen tief in der Erde stecken, und dass ausgerechnet diese Fähigkeit uns dann mal das Überleben im Brandenburger Wald sichern würde. Rufus meint, die Menschen nennen das Ironie des Schicksals.

Zurück zu Keiler Fritz und seiner Rotte: Die Wildschweine haben dann versucht, uns mit wohldosierter Gewalt von der freiwilligen Remigration zu überzeugen, indem sie die Biber zwangen, den Bach umzuleiten und die Savanne zu fluten. Hätte auch beinahe funktioniert – sofern man unter Remigration Tod durch Ertrinken versteht. Im letzten Moment allerdings ist das Wasser in eine unterirdische Bunkeranlage abgelaufen und hat bei der Gelegenheit einen russischen Panzer freigespült.

Und jetzt komme ich zum Anfang der Geschichte zurück. Ich hab ja gesagt, dass die Keilerschanze eine »ehemalige« Ruine ist. Da denkt man automatisch: Hä, wie soll ’n das gehen? Was Ruine bedeutet, ist ja klar, aber was bitte ist eine »ehemalige« Ruine? Gibt ja auch keine ehemaligen Rentner. Nach Rente kommt Tod. Isso.

Hier die Erklärung: Der T-72, den es bei der Überschwemmungsaktion freigespült hat, war zwar nicht mehr fahrtüchtig, aber es steckte noch genau eine Granate im Rohr. Und die hat Mister Unterbelichtet persönlich – richtig, ich erwähnte Colin bereits – abgeschossen. Und so aus der Ruine eine Art Restruine gemacht. Später haben wir dann in einer gemeinsamen Aktion die Restruine wieder zu einer normalen Ruine aufgebaut, aber was dabei herauskommt, wenn die Peilo-Erdmännchen aus dem vierten Wurf zusammen mit den Kamikaze-Waschbären versuchen, etwas aufzubauen, kann man sich ja vorstellen.

Für die Wildschweine war die Geschichte logisch ein Schock. Aus Erdmännchensicht allerdings ein heilsamer. Wildschweine haben nämlich im Brandenburger Wald keine natürlichen Feinde, weshalb sie immer gedacht haben, ihnen kann sowieso keiner was. Und dann – bäm! – legen ein paar Erdmännchen ihre schöne Ruine in Schutt und Asche. Positiv ausgedrückt könnte man sagen: Eine einzige Granate hat die Kräfteverhältnisse im Wald in eine gesunde Balance gebracht.

Wie tief das Trauma nachwirkt, kann man daran sehen, dass die einzigen Tiere, die keine natürlichen Feinde haben, den Eingang ihrer Restruine seit diesem Tag von zwei Überläufern bewachen lassen. Womit wir bei dem Grund wären, aus dem ich gerade die alten Stufen zur Schanze emporkraxle. Überläufer sind Wildschweinteenager, und wie Teenager so sind, haben die auf alles Mögliche Bock, nur auf eins nicht, nämlich, genau: Wache zu schieben. Deshalb passiert jede Nacht dasselbe: Die Wache schiebenden Überläufer quatschen dämlich, furzen um die Wette, dissen sich, reißen Machosprüche über die Bachen, die in einer so völlig anderen Liga spielen, dass die Jungs nicht einmal davon träumen dürfen, eine von ihnen jemals zu bespringen, und schlafen bei Morgengrauen ein.

Ich bin oben angekommen. Und da liegen sie, die beiden Überläufer, schnarchen und träumen von ihren künftigen Königreichen. Ich könnte auf Ursula, dem Breitmaulnashorn aus dem Berliner Zoo und dem Lebewesen mit dem dicksten Hintern der Welt, in die Schanze einreiten – die beiden würden trotzdem nichts mitkriegen.

Ich tanze also heran – hallali, hallala, Phil ist bald da –, mit Drehung und doppeltem Seitschritt und allem, schiebe mich über den Vorplatz, postiere mich direkt neben einem der aufgestellten Ohren, salutiere, indem ich meine Klaue an die Stirn führe, hole tief Luft und brülle: »Die Russen!«

Doch, doch, das macht schon Spaß, sich das reinzuziehen. Irgendwie will dieser Prank einfach nicht langweilig werden, auch wenn immer dasselbe passiert: Die beiden Überläufer sind schneller auf den Beinen, als ein Mauswiesel seinen Kopf einziehen kann, explodieren förmlich, stellen ihre Schwänze auf, klappern markerschütternd mit den Hauern und haben keine Ahnung, was los ist, während das Adrenalin ihnen die Augen aus dem Kopf drückt und ihnen den Befehl gibt, sofort irgendwas zu töten.

Aber da ist nichts. Vorplatz leer. Nur ein paar ahnungslose Bucheckern tummeln sich vor den Stufen.

Jetzt macht es natürlich wenig Sinn, harmlose Bucheckern zu töten, insbesondere, da sich Wildschweine die Dinger eigentlich gerne reinziehen. Ein Wildschwein ist allerdings ein Wildschwein, und wenn es den Befehl kriegt, etwas zu töten, dann macht es das. Die beiden Überläufer rennen also los, brüllen auf die Bucheckern ein, die froh sein können, keinen Geruchssinn zu besitzen, zertreten sie und fegen sie mit maximalem Getöse vom Vorplatz.

Man würde es nicht glauben, wenn man die Überläufer dabei beobachtet, wie sie Jagd auf diese höchst aggressiven Bucheckern machen, aber Rufus meint, dass ausgerechnet diese besondere Art der Beklopptheit den Wildschweinen womöglich das Überleben gesichert hat, also geschichtlich gesehen. Wildschweine haben nämlich schon vor hundert Jahren oder so existiert, als es noch Dinosaurier gab und an uns Erdmännchen oder auch Menschen noch gar nicht zu denken war. Ihre Devise: erst töten, dann fragen. Scheint sich als ziemlich effektive Überlebensstrategie erwiesen zu haben. Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr kommt man zu dem Schluss: Die Evolution ist voll der Freak, Alter. Ich meine, wie bist du drauf, wenn du denkst: Hey, ihr da, Wildschweine, ich hab ’ne Hammer-Idee. Ich mache euch auf ’ne ganz besondere Weise bekloppt, dann kommt ihr besser durch als die anderen.

Die beiden Überläufer grunzen noch ein bisschen in Basslage in den Wald hinein und reiben ihre Schulterblätter gegeneinander. Gut gemacht.

Ich warte, bis ihre Schwänze wieder nach unten zeigen, dann krabble ich aus meiner Mulde, stelle mich auf die Hinterbeine und rufe: »Danke, Freunde!«

Gleichzeitig drehen sich ihre massigen Schädel. Im nächsten Moment werde ich aus vier Schweinsaugen angestarrt, die gerade erst ihren Weg zurück in ihre Köpfe gefunden haben. Das heißt, streng genommen sind es nur drei. Das vierte Auge sucht noch nach der richtigen Richtung, offenbar ist beim Zurückploppen irgendwas schiefgelaufen.

»Das habt ihr toll gemacht«, sage ich und applaudiere, »wirklich. Die Bucheckern sahen echt gefährlich aus. Wer weiß, was die noch alles angerichtet hätten.«

Inzwischen hat auch das vierte Auge kapiert, wo es hinsehen muss. Und was muss es sehen, das vierte Auge? Genau wie die anderen drei? Richtig, das nervtötende Erdmännchen, das wie jeden Morgen neben dem Eingang zur Keilerschanze steht.

»Damit du klar siehst, Ray«, sagt ausgerechnet der Überläufer, dem jetzt doch wieder das eine Auge verrutscht, »irgendwann bist du fällig.«

»Und dann passiert was?«

»Dann machen wir Hackfleisch aus dir.«

Gut möglich, dass er recht hat. Schließlich ist es ihre Dummheit, die ihnen das Überleben sichert. Ich bilde mir wer weiß was darauf ein, schlauer zu sein als sie. Aber genau das könnte eines Tages meinen Untergang besiegeln. Todesursache: Hochmut.

»Kann sein«, sage ich.

Das scheint ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, jedenfalls sagt er erst mal nichts mehr. Vielleicht nimmt es auch einfach seine gesamte Konzentration in Anspruch, sein Auge wieder auf Linie zu bringen.

»Warum machst ’n das?«, fragt sein Kumpel jetzt. »Ich mein, du riskierst hier jeden Morgen dein Leben. Ich würd dich umbringen – selbst wenn ich’s gar nicht wollte.«

Ich weiß, denke ich. Die pure Arroganz. Nicht zu entschuldigen.

»Weil’s Spaß macht?« Ich drehe die Innenseiten meiner Klauen nach oben. »Anders kann ich’s mir echt nicht erklären. Aber, Freunde, ich bringe frohe Kunde. In nächster Zeit habt ihr erst mal Ruhe vor mir.«

Die beiden wackeln heran, und bis sie bei mir sind, haben sie vergessen, dass sie mich eben noch töten wollten. Wenn sie nicht gerade voll unter Adrenalin stehen, sind wir nämlich cool miteinander.

»Musst du wieder ’n Fall lösen?«, fragt der eine.

Der andere ist immer noch damit beschäftigt, sein entlaufenes Auge einzufangen. Wenn ich das noch länger mit ansehen muss, krieg ich ein schlechtes Gewissen. Na ja, vielleicht auch nicht.

Lässig ziehe ich mir einen Zweig aus dem Ohr. »Sieht ganz so aus.«

3

Wenn ich den Ray, der gerade so lässig auf dem großen Stein am Spaßbecken hockt und flext, dass er mal wieder in die weite Welt ziehen und einen neuen Fall lösen muss, mit dem zerknitterten, um Zuneigung winselnden Erdmännchen von letzter Nacht vergleiche, bin ich kurz davor, jeden Respekt vor mir selbst zu verlieren. Es ist beschämend, wie einfach ich gestrickt bin. Fast könnte man mich für einen Menschen halten. Wenn Natalie mir sagt, dass sie lieber in ihrer Kammer schlafen möchte, schrumpft mein Ego auf die Größe einer Erdnuss zusammen. Kaum aber schreibt Phil eine WhatsApp, bläht sich dasselbe Ego auf die Größe eines Straußeneis auf.

»Und was macht ihr dann da so – wenn ihr ’n Fall habt?«

Es ist eine Baummarderdame, die mich das fragt. Blöderweise kann ich mir ihren Namen nicht merken. Aber sie hat ein sehr hübsches, sehr spitzes Näschen und war neulich schon mal plötzlich da, wo ich auch war. Und im Moment sieht sie mich auf eine Weise an, dass bei meinem straußeneigroßen Ego gleich die Schale platzt und Batmännchen herausspaziert.

»In erster Linie ermitteln. Unsere Arbeit fängt da an, wo Phil nicht mehr weiterkommt.« Ich nage geschmeidig den Deckflügel eines Goldlaufkäfers ab, als ich das sage. Zur Info: Die Deckflügel von Goldlaufkäfern fangen das Licht ein wie sonst nur die Zahnverblendungen von West-Coast-Rappern. Blinker, blinker. »Ist natürlich risky«, füge ich überflüssigerweise hinzu. »Beim letzten Mal haben sie uns mit Phil zusammen in einen Leichensack geschnürt, ein Gewicht drangehängt und ins Meer geworfen.«

»Oh, mein Gott! War das nicht krass gefährlich?«

Diesmal fragt nicht die Baummarderdame, sondern eine Hermelinlady. Gleich fliegt mir die Schädeldecke weg.

»Logisch«, bestätige ich und drehe den abgekauten Deckflügel zwischen den Krallen. Noch mehr blinker, blinker. »Man muss schon in der Lage sein, in Extremsituationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Sonst machst du es in diesem Job nicht lange.«

Kurz ist es sehr still, weil alle sich vorstellen, wie Rufus und ich in einem Leichensack mit Stein dran ins Meer geworfen werden.

Die Geschichte stimmt sogar. Also, zur Hälfte. Die sehr bösen Buben eines mexikanischen Drogenkartells haben Phil und Rufus und mich in einen Leichensack gesteckt, ihn mit Panzertape umwickelt und uns an der Côte d’Azur von einer Klippe geschubst. Das ist die Hälfte, die stimmt. Was dagegen eher so in die Witzecke gehört, ist die Behauptung, dass ich dabei einen kühlen Kopf bewahrt hätte. Tatsächlich hab ich mich derart eingepinkelt, dass wir beinahe abgesoffen wären, bevor der erste Tropfen Meerwasser in den Sack gelangt war.

»War das da, wo ihr am Ende mit Harry Styles dieses krasse Konzert gegeben habt?«

Ich spreize eine Kralle ab und ziele in ihre Richtung. »Ganz genau da.«

Noch so etwas, das eher in die Witzecke gehört. Denn Harry Styles hat zwar auf der Hochzeit gesungen, auf der sich das alles zugetragen hat, aber dass wir mit ihm zusammen ein Konzert gegeben hätten, kann man nicht behaupten. Es gibt allerdings ein Selfie, das Phil von sich und Harry gemacht hat: hinter ihnen die Bühne und hinter der Bühne das Meer. Und auf den Schultern von Harry Styles sitzen zwei zuckersüß posende Erdmännchen – na logisch, Rufus und ich. Und ich habe exakt die adrenalingeweiteten Augen, die ich offenbar immer habe, wenn ich mal wieder knapp dem Tod entgangen bin. Rufus hat das Foto als Bildschirmschoner auf seinem iPhone mini, weshalb es im ganzen Wald inzwischen kaum noch ein Tier gibt, das die Aufnahme nicht kennt.

Mein kleiner Bruder und ich sind ja für unsere Agententätigkeit lange belächelt worden. So richtig ernst genommen hat das kaum einer. Bis zu diesem Foto. Es ist der Beweis, dass Rufus und ich tatsächlich Teil der großen weiten Welt sind, ganz oben. Auf den Schultern von Harry Styles nämlich, und höher geht ja eigentlich nicht. Sogar Gelbhalsmaus Spanner hängt neuerdings an meinem feinen Schnäuzchen, wenn ich von unserer Heldenreise berichte. Lieber Harry Styles: Du hast mein Leben verändert.

»Riecht er wirklich so … Na ja, du weißt schon.«

»Sexuell, meinst du?«

Die Hermelinlady kichert dezent in ihre Pfote.

Ich weiß nicht, wo sie das herhaben, aber sämtliche Weibchen im Wald sind der felsenfesten Überzeugung, Harry Styles müsse nach zuckertriefender Wassermelone riechen. Schleck, schleck, SCHLEEEEEECK! In Wirklichkeit erinnere ich mich bei Harry vor allem an Lampenfieberschweiß und künstliches Kokos-Haargel. Aber das sage ich natürlich nicht. Bin ja kein Spielverderber.

Ich strecke meine Nase in die Luft, als würde ich einem Geruch nachspüren. »Wahn-sinn.« In Erinnerung an Harrys vermeintlichen Duft schließe ich die Augen. »Als würde der Saft direkt aus der Melone herauslaufen.«

Ich blinzle so ein bisschen und sehe, wie ungefähr die Hälfte der Weibchen – und auch ganz schön viele Männchen – die Augen geschlossen haben. Abigail und Alina, meine Waschbärfreundinnen, sind logisch in erster Reihe mit dabei. Manche geben Fauch-, Gurgel- oder Grunzgeräusche von sich, eine Hermelindame wälzt sich verzückt auf dem Rücken.

»Watermelonsugar hiiiiigh!«, flötet Alina in einer Stimmlage, die Waschbärinnen eigentlich gar nicht draufhaben.

Von weiter hinten ruft ein Wieselgirl: »Du sagst es, Baby!«

Im nächsten Moment fällt ein Eichhörnchen vom Baum und klatscht lustvoll in einen Mooshaufen.

Ich hätte eigentlich nichts dagegen gehabt, noch ein bisschen von meinem Leben als Special Agent zu berichten. Aber so ist das: Sobald der Name Harry Styles fällt, kannst du jedes andere Thema in die Tonne treten.

»Und was hat es mit diesem Interpol auf sich?«

Die Marderdame. Lässt nicht locker. Miriam? Ich glaube, sie heißt Miriam. Und offenbar ist sie mehr an mir und meinem Agentenleben interessiert als am Geruch von Harry Styles. Alter, die weiß, wie man mich kriegt.

Ich erkläre es ihr: dass wir, seit wir wieder mit Phil zusammenarbeiten, im Auftrag von Interpol unterwegs sind. Hat sich so ergeben. Aber bitte: Das sollte unter uns bleiben. Selbst bei Interpol, das eigentlich die Polizeiarbeit verschiedener Länder koordiniert, weiß praktisch niemand, dass Phil & Friends undercover für den eigenen Laden unterwegs sind.

Die Marderdame spitzt ihr spitzes Näschen noch ein bisschen mehr. »Dann sind eure Missionen also doppelt geheim.«

Missionen. Doppelt geheim. Wenn die so weitermacht, fange ich gleich selbst an, mich auf dem Rücken zu wälzen.

»Könnte man sagen«, erwidere ich.

»Und wo geht es diesmal hin?«, fragt Miriam. Falls sie wirklich Miriam heißt.

»Hm?«, mache ich.

»Euer neuer Fall.«

Unser neuer Fall. Tja. Wenn ich mich so reden höre, scheint es ein großes Ding zu sein, bedeutend. Tatsächlich hab ich keine Ahnung, wo es diesmal hingeht. Oder ob es überhaupt irgendwo hingeht. In seiner WhatsApp hat Phil nur geschrieben, dass er um neun Uhr dreißig im Wald aufschlägt. Nach allem, was wir wissen, könnte er uns mit einem Set von diesen Pokemon-Karten überraschen, die Chantal, Cindi und Celina so lit finden.

»Die Details erfahren wir erst von unserer Criminal Intelligence Officerin«, erwidere ich. »Alles andere wäre zu riskant.«

»Ist das diese Montgomery?«

Inzwischen ist Miriams Näschen so spitz, dass man Kirschen damit entsteinen könnte. Und offenbar hat sie mir früher schon mal zugehört. Echtes Interesse. Sollte ich mir Autogrammkarten machen lassen?

»Auch diese Info ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber« – ich lehne mich in ihre Richtung – »ja.«

Ihr scharfes Näschen kommt meinem so nah, dass unsere Barthaare gleich Engtanz miteinander machen.

Sie wartet, so drei Atemzüge ungefähr, dann haucht sie: »Klingt aufregend.«

Ich schaffe es gerade so, nicht rückwärts ins Spaßbecken zu kippen, klammere mich an der Steinkante fest und suche verzweifelt nach der coolsten Antwort – ach, scheiß drauf, irgendeiner Antwort – und suche und suche und suche, und dann höre ich jemanden rufen: »Ach, hier bist du! Hätte ich mir ja gleich denken können.«

Rufus, das Genie aus dem ersten Wurf. Und Wahlfamilienvater von Gideon und Gaylord, Gretes Nachwuchs. Er tritt aus dem Wald auf die Lichtung, schiebt seine Hüfte vor wie ein Hausmeister und ruckelt seinen rosa Klettgurt zurecht. Wo ich ihn so dastehen sehe, fällt mir auf, dass er, seit Grete ihn wieder regelmäßig in der Mulde schlafen lässt, körpermittig ganz schön zugelegt hat. Gut, dass sein Klettgurt verstellbar ist.

»Hey«, grüße ich lässig. »Was geht, Bro?«

»Du gehst«, erwidert mein Bruder, »und zwar subito. Wir werden erwartet. Bro.«

»Hast du nicht gesagt, Phil kommst erst um neun Uhr dreißig.«

»Ist er auch. Seitdem stehen wir an der Savanne und warten darauf, dass Mister 007 uns die Ehre erweist, zu erscheinen.«

»Na dann …« Ich stehe auf. »Sorry, Miriam«, sage ich, »aber du siehst ja: Die Pflicht ruft.«

Hab ich das wirklich gerade gesagt? Die Pflicht ruft? Ich hab sie echt nicht mehr alle.

Lasziv legt Miriam ihren Kopf zur Seite. Und verzieht ihr Gesicht zu etwas, das nicht vollständig glücklich aussieht. Lautlos formt sie ein Wort. Weg da? Magma? Als könnte ich Lippen lesen.

Fragend ziehe ich das schwarze Fell um meine Augen Richtung Ohren. Sieht jedes Mal arschcool aus.

»Magda«, sagt sie, und der Zauber ist verflogen. »Miriam ist meine kleine Schwester.«

4

Alter! Phil zu sehen, zieht mir jedes Mal voll den Stecker. Als hätte ich plötzlich ein Loch, wo alles rausfließt, das mich sonst so beschäftigt: maulende Geschwister, Partyvorbereitungen, hormonell übersteuerte Wildschweine, Freundinnen, die zum Schlafen in ihre Kammer gehen. Alltag. Tschüss, Alltag. Verfatz dich, Alltag. RIP, Alltag!

Ich will jetzt nicht wieder darüber philosophieren, dass man ist, was man ist, und dass ich meine Bestimmung gefunden habe, als Phil mich gefunden hat. Auf jeden Fall ist es so, dass ich jedes Mal, wenn wir uns wiedersehen, am liebsten seine Wade umklammern und nie wieder loslassen möchte. Geht logisch nicht, denn wir sind Ermittler, Partner, Interpol, das ganz große Ding. Da ist Coolness oberstes Gebot.

»Phil«, lässig hebe ich eine Klaue, »was geht?«

Das »Bro« kann ich mir gerade noch verkneifen.

Da steht er, mein Partner, über ihm ein Himmel, als hätte jemand einfach nur eimerweise blaue Farbe ausgekippt, klatsch, hier, Blau, nichts als Blau, schmier, schmier, alles voll.

Er sieht mich an, sieht Rufus an, lässt seinen Blick über die Savanne schweifen, rüber zum T-72, zurück zu uns. Dann fängt er an zu schmunzeln. Als könnte er selbst nicht glauben, dass es wieder losgehen soll.

Er sieht gut aus, finde ich. Smart und irgendwie gesünder als sonst. Könnte am Himmel liegen, diesem Blau, das einem seine gute Laune praktisch ins Gesicht schreit. Aber er riecht auch gut, ein neues Aftershave. Teuer. Bergamotte, Pampelmuse und ein hübscher Strauß Citrusaromen. So riecht ein Neuanfang.

Vor unserem letzten Auftrag war Phil noch voll depressiv drauf, da hat gar nichts an ihm geschmunzelt, und gerochen hat er nach Hängeschultern. Womit wir wieder beim Thema Alltag wären. Hat ihn fertiggemacht damals, sein fucking Alltag. Und warum? Weil er nicht wahrhaben wollte, dass er eben kein Bürohengst ist, sondern ein Wildpferd. Der Vergleich ist irgendwie lame, wie mir auffällt. Ich schätze, was ich sagen will, ist: Der Mann braucht das Abenteuer. Genau wie ich. Ist ihm praktisch eingeschrieben. Und seit er das akzeptiert hat, geht es ihm anscheinend besser. Aber ich greife vor. Noch hat er gar nichts gesagt, ich weiß also gar nicht, ob wir überhaupt …

In dem Moment schwebt seine Schultertasche herab und landet sanft neben uns im Gras. Den Deckel hat er bereits zurückgeschlagen. Ich brauche meinen Kopf gar nicht über den Rand zu strecken, um den Geruch sämtlicher Abenteuer in der Nase zu haben, die wir jemals miteinander erlebt haben. Steckt alles in dieser Tasche.

Ich sehe zu ihm auf. »Wir haben einen neuen Fall?«

Wieder schmunzelt er. Oder immer noch. Ich weiß gar nicht, ob er zwischendurch aufgehört hat. Bisschen bescheuert sieht das schon aus.

»Weiß ich noch nicht«, sagt er.

Spannend, denke ich, schwinge mich über den Rand und stelle fest, dass Rufus bereits in der Tasche sitzt. Und ebenfalls grinst. Offenbar gibt es hier zwei Erdmännchen, die es mit ihrem nächsten Auftrag ganz schön eilig haben. Die Tasche löst sich vom Boden, wir schweben hinauf.

»Also was?«, frage ich. »Wir machen einen Sonntagsausflug und gehen in den Stadtpark, Tauben füttern?«

»Könnten wir«, quatscht Rufus dazwischen, »wenn heute nicht Dienstag wäre.«

Ich gehe nicht darauf ein. Sollten wir wirklich einen neuen Fall haben, dann – das lehrt die Erfahrung – wird mir Rufus in den kommenden Tagen noch so oft auf meine Erdmänncheneier gehen, dass ich nicht jetzt schon damit anfangen sollte, ihm neue Ohrlöcher zu stechen.

Phil wirft einen Blick in die Tasche. Inzwischen befinden wir uns auf dem Weg zu seinem Wagen. Schon wieder wird geschmunzelt. Langsam wirkt es grenzdebil. Als hätte mein Partner statt Kaffee eine Holy Shit von Archi gefrühstückt.

Und dann weiß ich es. »Montgomery hat sich gemeldet.«

»Was nicht heißt, dass wir einen neuen Fall haben«, erwidert Phil.

»Das letzte Mal hatten wir einen.«

»Sie hat nur gesagt, dass sie mich sehen will. Und dass ich meine Hilfssheriffs mitbringen soll. Und weil ich nicht wüsste, wen außer euch sie damit meinen könnte …«

»Hilfssheriffs?«, sage ich. »So hat sie uns genannt?«

Rufus lässt ein Vorderbein über den Rand der Tasche baumeln. »Das wird an späterer Stelle noch zu besprechen sein.« Er friemelt an der Naht herum. »Ich überlege schon länger, ob es nicht an der Zeit ist, mit Montgomery ein klärendes Gespräch über unseren Status bei Interpol zu führen.«

»Du glaubst, die geben euch bei Interpol einen offiziellen Status?«, fragt Phil.

Kann Rufus logisch knicken, weiß er selber. Aber so schnell gibt er sich nicht geschlagen. Schon gar nicht, wenn er glaubt, dass er im Recht ist. Und er glaubt immer, dass er im Recht ist.

»Genau darüber wird zu sprechen sein.«

»Freue mich schon«, sagt Phil.

Und schmunzelt.

»Was ist das denn?«, fragt Rufus und rümpft sein Näschen.

Wir sind auf dem Forstweg angelangt, auf dem Phil normalerweise sein Auto parkt. Allerdings kann ich seinen farblosen Skoda nirgends ausmachen. Stattdessen steht ein anderes Auto da, ebenfalls farblos, allerdings metallic. Farblos metallic. Und wenn Phils Skoda, wie Rufus meint, einer Zucchini gleicht, dann gehört dieses Auto ganz klar in die Kategorie Aubergine.

»Wir brauchten was Größeres«, erklärt Phil. »Wegen dem Hund. Ihr werdet staunen, wie viel Platz der hinten hat. Ein Raumwunder.«

»Citroën Berlingo«, nuschelt Rufus.

»Und?«, frage ich.

»Drei-Zylinder-Motor«, orakelt Rufus. »Vom Regen in die Traufe.«

»Ist das was Schlechtes?«

»Motoren mit ungrader Zylinderzahl? Gott hat sich das nicht ausgedacht. Ist wider die Natur. Kein Wunder, wenn Phil sich als Mann nicht vollwertig fühlt.«

Typisch, denke ich: Kaum lässt Grete ihn wieder bei sich schlafen, kommt sich mein Bruder vor wie Gottes persönliches Geschenk an die Tierwelt. Auf der anderen Seite: Sollte ich mich nicht darüber freuen, dass Grete sein Ego boostert? Gelegenheiten, Rufus wieder auf Normalmaß zu stutzen, wird es noch genug geben.

»Vielleicht ist er ja wirklich ein Raumwunder«, gebe ich zu bedenken.

Phil lässt die Heckklappe aufschwingen. Im nächsten Moment sehen Rufus und ich einander an, als würde im Kofferraum ein Savannenadler auf uns warten. In der gewohnten Übersprungshandlung haut sich mein kleiner Bruder eine Klaue aufs Ohr.