Böse Absichten - Keigo Higashino - E-Book

Böse Absichten E-Book

Keigo Higashino

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  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Der gefeierte Bestsellerautor Kunihiko Hidaka wird in seinem Haus brutal ermordet, kurz bevor er nach Kanada auswandern will. Seine Ehefrau und sein erfolgloser Kollege Osamu Nonoguchi finden die Leiche, aber beide haben wasserdichte Alibis und kein Motiv. So scheint es zumindest. Am Tatort erkennt Kommissar Kyochiro Kaga den besten Freund des Ermordeten wieder. Vor vielen Jahren unterrichteten er und Nonoguchi gemeinsam an einer öffentlichen Schule. Kaga ging in den Polizeidienst, während Nonoguchi den Lehrerberuf an den Nagel hängte, um sich mit mäßigem Erfolg dem Schreiben zu widmen. Im Laufe der Ermittlungen findet Kaga Hinweise, dass die Beziehung der beiden Schriftsteller alles andere als freundschaftlich war. Doch die eigentliche Frage ist nicht wer oder wie, sondern warum. Wenn Kaga kein Motiv für den Mord nachweisen kann, wird die Wahrheit nie ans Licht kommen. In einem brillanten Katz-und-Maus-Spiel kämpfen der Kommissar und der Killer um die Vergangenheit und den tatsächlichen Tathergang.

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Seitenzahl: 294

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BÖSE ABSICHTEN

KEIGO HIGASHINO

Kriminalroman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

IMPRESSUM

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Akui«.

© 2001 Keigo Higashino

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagillustration nach dem Originalumschlag von Ceara Elliot/Little Brown Book Group Limited und David Baldeosingh Rotstein

Foto mit Kirschblüten: Leungchopan/Shutterstock.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98027-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10802-6

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Ausgabe der Printausgabe.

DER MORDOSAMU NONOGUCHIS AUFZEICHNUNGEN

1

Es geschah am 16. April, es war ein Dienstag.

Um halb vier Uhr nachmittags verließ ich das Haus und machte mich auf den Weg zu Kunihiko Hidaka, der nur eine Haltestelle mit der Bahn entfernt wohnte. Von dort muss man zwar noch kurz mit dem Bus fahren, dennoch braucht man, wenn man den Fußweg hinzuzählt, alles in allem nur etwa zwanzig Minuten.

Für gewöhnlich besuchte ich Hidaka auch häufig ohne besonderen Grund, aber an diesem Tag hatte ich einen. Es war die letzte Gelegenheit, ihn zu sehen, bevor dies für längere Zeit nicht mehr möglich sein würde.

Sein Haus gehörte zu den besseren in einer erst kürzlich erschlossenen Wohngegend mit stattlichen Anwesen. Früher hatte sich dort ein Waldgebiet befunden, und viele Anwohner hatten den verbliebenen Baumbestand für ihre Gärten genutzt, sodass die Birken und Eichen hinter den Mauern dunkle Schatten auf die Straßen warfen. Sie waren nicht besonders schmal, aber dennoch alles Einbahnstraßen.

Es hatte mich nicht überrascht, als ich vor einigen Jahren erfuhr, dass Hidaka sich hier eingekauft hatte. Hier zu wohnen war für jeden, der in unserem Viertel aufgewachsen war, ein Traum.

Hidakas Haus war nicht gerade eine Villa, aber doch viel zu groß für ein kinderloses Ehepaar. Die besondere Form des Giebeldaches verlieh dem Gebäude ein japanisches Aussehen, aber die Erkerfenster, der Bogen über dem Eingang und die Blumenkästen vor den Fenstern im ersten Stock wirkten sehr westlich. Wahrscheinlich zeigte sich hierin der unterschiedliche Geschmack der Eheleute. Allerdings bewies die Backsteinmauer, dass die Vorstellungen der Ehefrau gesiegt hatten. Sie hatte einmal gesagt, sie würde gern im Stil einer alt-europäischen Burg wohnen.

Ich muss mich korrigieren. Nicht seine jetzige Frau hatte das gesagt, sondern seine frühere.

Ich ging die Mauer entlang, die nur die Längsseiten des Grundstücks bis zum Tor einrahmte, und klingelte. Ich wartete, aber es machte niemand auf. Das Auto stand nicht auf dem Parkplatz. Vermutlich waren die Hidakas unterwegs.

Als ich überlegte, wie ich mir die Zeit vertreiben sollte, fiel mir der Kirschbaum im Garten ein. Er trieb besonders prachtvolle Blüten, und bei meinem letzten Besuch vor etwa zehn Tagen hatten die Knospen sich etwa zu einem Drittel geöffnet. Wie sie wohl inzwischen aussahen?

Ich beschloss, in den Garten zu gehen, was man sich bei einem Freund ja durchaus herausnehmen kann. Der Weg zum Eingang verzweigte sich ungefähr in der Mitte, und ein Pfad führte zur Südseite des Hauses und in den Garten.

Viele Blüten waren bereits abgefallen, aber der Anblick lohnte sich noch immer. Ich bekam jedoch keine Gelegenheit, ihn näher zu betrachten, denn im Garten stand nach vorne gebeugt eine mir unbekannte Frau in Jeans und Pullover. Sie schien den Boden zu inspizieren. In der Hand hielt sie etwas Weißes aus Stoff.

»Entschuldigung?«, sprach ich sie an.

Erschrocken wandte sie sich um und richtete sich hastig auf.

»Oh, verzeihen Sie«, sagte sie und deutete auf den weißen Stoff in ihrer Hand. »Der Wind hat meinen Hut hier herüber geweht. Ich weiß, es ist niemand zu Hause.«

Sie war etwa Mitte dreißig. Ihr Gesicht mit den kleinen Augen, der kleinen Nase und dem kleinen Mund war unscheinbar und hatte eine ungesunde Farbe.

Ich bezweifelte, dass der Wind stark genug war, um ihren Hut davonzuwehen.

»Sie haben so eingehend den Boden betrachtet. Was gibt es denn da zu sehen?«

»Der Rasen ist so schön, und ich habe mich gefragt, wie meine Nachbarn das hinbekommen.«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Das Haus gehört meinem Freund.«

Sie nickte. Offenbar wusste sie, dass ich nicht der Hausherr war.

»Also dann«, sagte sie, nickte kurz und ging an mir vorbei auf das Tor zu.

Nach etwa fünf Minuten hörte ich einen Wagen auf dem Parkplatz. Anscheinend kamen die Hidakas nach Hause.

Ich ging zum Eingang. Hidaka war gerade dabei, seinen dunkelblauen Saab zu parken. Er bemerkte mich und nickte mir zu. Auch Rie, die auf dem Beifahrersitz saß, grüßte lächelnd.

»Hallo! Wir wollten nur kurz etwas einkaufen, sind aber in einen Stau geraten«, sagte Hidaka beim Aussteigen. Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Wartest du schon lange?«

»Nein, gar nicht. Ich habe nur euren Kirschbaum bewundert.«

»Die Blüten fallen schon ab.«

»Aber es ist doch ein herrlicher Baum, nicht wahr?«

»Ja schon, wenn er blüht, aber ansonsten ist er eine Plage. Er steht so nah am Fenster von meinem Arbeitszimmer, dass ständig die Raupen reinkriechen.«

»Ach so. Aber jetzt wirst du ja eine Weile woanders arbeiten.«

»Was für eine Erleichterung, dieser Raupenhölle zu entkommen, das kann ich dir sagen. Komm rein. Wir haben extra die Tassen nicht verpackt, wir können also noch Kaffee trinken.«

Wir traten durch den Bogen über dem Eingang ins Haus.

Das Innere war fast leer. Selbst die Bilder waren von den Wänden verschwunden.

»Seid ihr schon fertig mit Packen?«, fragte ich.

»Ja, nur in meinem Arbeitszimmer noch nicht. Ansonsten hat die Umzugsfirma so gut wie alles erledigt.«

»Und wo schlaft ihr heute Nacht?«

»Ich habe ein Zimmer im Hotel Crown reserviert. Aber ich werde vielleicht doch hier übernachten.«

Wir betraten sein Arbeitszimmer. Der große, westlich eingerichtete Raum war leer bis auf den Schreibtisch, den Computer und ein kleines Bücherregal.

»Das Manuskript, das du bis morgen abliefern musst, bearbeitest du wohl noch hier?«

Hidaka nickte stirnrunzelnd.

»Es ist die letzte Folge der Reihe. Ich muss es heute Nacht noch faxen. Deshalb habe ich auch das Telefon noch nicht abgestellt.«

»Es ist für das Monatsheft vom Somei Verlag?«

»Stimmt.«

»Wie viele Seiten musst du noch?«

»Ungefähr dreißig. Das schaffe ich schon.«

Kurz darauf brachte Rie uns Kaffee.

»Wie wohl das Wetter in Vancouver ist? Wahrscheinlich kälter als hier?«, fragte ich die beiden.

»Die Stadt liegt ja auf einem völlig anderen Breitengrad. Es muss kälter sein.«

»Ich bin ganz froh, dass es im Sommer dort kühler ist. Es ist so ungesund, ständig die Klimaanlage laufen zu lassen«, sagte Rie.

»Noch schöner wäre es, wenn ich in einem kühlen Zimmer besser mit der Arbeit vorankäme, aber dem ist leider nicht so.« Hidaka grinste.

»Sie müssen uns auf alle Fälle besuchen, Herr Nonoguchi«, lud Rie mich ein. »Wir zeigen Ihnen dann die Sehenswürdigkeiten.«

»Gern. Ich komme bestimmt.«

»Sie sind jederzeit willkommen«, sagte Rie, bevor sie den Raum verließ.

Hidaka stand mit der Kaffeetasse in der Hand auf und schaute in den Garten.

»Ich bin froh, dass ich unseren Kirschbaum noch einmal in voller Blüte sehen konnte«, sagte er.

»Wenn er nächstes Jahr wieder so schön blüht, mache ich ein Foto und schicke es dir nach Kanada. Gibt es dort eigentlich auch Kirschbäume?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls nicht dort, wo wir wohnen.« Er trank von seinem Kaffee.

»Übrigens war da so eine seltsame Frau in eurem Garten.« Ich hatte gezögert, dann aber beschlossen, ihm von der Begegnung zu erzählen.

»Eine seltsame Frau?« Hidaka runzelte argwöhnisch die Stirn.

Ich beschrieb ihm die Frau und sah, wie seine Miene sich entspannte.

»Hatte sie ein rundes Gesicht – wie eine Kokeshi-Puppe?«

»Ja, genau, jetzt, wo du es sagst.« Ich musste über den treffenden Vergleich lachen.

»Sie heißt Niimi oder so und wohnt in der Nachbarschaft. Sie sieht jünger aus, aber sie muss über vierzig sein. Sie hat einen Sohn, der auf die Mittelschule geht. Ein dummer Bengel. Ihren Mann sieht man kaum. Wahrscheinlich arbeitet er irgendwo auswärts.«

»Du weißt ja ganz gut über sie Bescheid. Seid ihr befreundet?«

»Ich? Mit der? Um Himmels willen.« Er öffnete das Fenster und schloss die Fliegengitter. Eine warme Brise wehte den Geruch von frischem Grün ins Zimmer. »Ganz im Gegenteil. Ich glaube, sie hasst mich.«

»Sie hasst dich? Warum das denn?«

»Wegen ihrer Katze.«

»Was ist denn mit der Katze?«

»Sie ist vor Kurzem gestorben. Lag angeblich tot auf der Straße. Der Tierarzt hat gesagt, sie sei vergiftet worden.«

»Und was hast du damit zu tun?«

»Sie verdächtigt mich, ihre Katze mit einer vergifteten Frikadelle getötet zu haben.«

»Dich? Und warum?«

»Jetzt kommt der Clou.« Hidaka zog eine Zeitschrift aus dem letzten noch verbliebenen Regal, schlug sie auf und legte sie vor mich hin. »Lies das mal.«

Es war ein etwa halbseitiger Artikel mit dem Titel »Die Grenzen der Geduld«. Daneben ein Foto von Hidaka. Ich überflog den Text, in dem es darum ging, wie sehr die umherstreunende Katze seine Nerven strapazierte. Jeden Morgen finde er Katzenkot in seinem Garten, seine Motorhaube sei voller Tapsen, und seine Blumentöpfe seien zerwühlt. Er wisse, dass die weißbraune Nachbarskatze die Übeltäterin war, aber er sei machtlos. Überall habe er leere Plastikflaschen aufgereiht, um sie zu verscheuchen. Angeblich fürchteten sich Katzen vor der Reflektion. Doch ohne Erfolg. Täglich aufs Neue würden die Grenzen seiner Geduld auf die Probe gestellt – so die Kernaussage des Artikels.

»War die tote Katze denn weißbraun gefleckt?«

»Ja, war sie.«

»Aha.« Ich grinste. »Kein Wunder, dass du unter Verdacht stehst.«

»Vorige Woche kam Frau Niimi mit versteinerter Miene zu mir. Sie hat mir nicht direkt unterstellt, ihre Katze vergiftet zu haben, aber sie hat es unmissverständlich angedeutet. Rie hat ihr ordentlich Bescheid gegeben und sie rausgeschmissen. Aber dass sie noch immer in unserem Garten herumschnüffelt, heißt ja, dass sie mich weiter verdächtigt. Wahrscheinlich sucht sie nach vergifteten Frikadellen.«

»Ganz schön hartnäckig, die Dame.«

»Das ist typisch für solche Frauen.«

»Weiß sie denn nicht, dass ihr nach Kanada zieht?«

»Rie hat ihr gesagt, dass wir ab nächster Woche eine Zeit lang in Vancouver leben werden. Deshalb bräuchten wir ihre nervige Katze ja nur noch kurz zu erdulden. Man sieht es Rie nicht an, aber sie ist ziemlich handfest, wenn es darauf ankommt.« Hidaka lachte amüsiert.

»Aber sie hat doch Recht. Du hattest keinen Grund, die Katze zu töten.«

Seltsamerweise pflichtete Hidaka mir nicht sofort bei. Noch immer grinsend sah er aus dem Fenster, und nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, rückte er mit der Sprache heraus. »Ich habe es aber getan.«

»Was?«, fragte ich entgeistert. »Du hast was?«

Er stellte die Tasse auf dem Schreibtisch ab und griff nach Zigarette und Feuerzeug.

»Ich habe die Katze um die Ecke gebracht. Mit einer vergifteten Frikadelle. Es war viel einfacher als gedacht.«

Ob er mich auf den Arm nahm? Aber sein Lachen wirkte nicht scherzhaft.

»Und wie bist du an die vergiftete Frikadelle gekommen?«

»Kein Problem. Ich habe ein bisschen Rattengift und Katzenfutter gemischt und in den Garten gelegt. Ein so schlecht erzogenes Biest frisst doch alles.«

Hidaka steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und zog genussvoll daran. Der Rauch verflog mit dem Luftzug, der durch das Fliegengitter ins Zimmer wehte.

»Aber warum hast du das getan?«, fragte ich. Die Sache gefiel mir nicht.

»Ich habe dir doch erzählt, dass wir noch keinen Mieter gefunden haben.« Seine Miene wurde ernst.

»Ja, und?«

Die Hidakas hatten vor, ihr Haus während ihrer Abwesenheit zu vermieten.

»Was der Makler, der für uns sucht, beim letzten Mal gesagt hat, beunruhigt mich.«

»Was denn?«

»Die ganzen Plastikflaschen vor dem Haus würden den Eindruck erwecken, es gebe hier streunende Katzen. So ein Haus wolle natürlich niemand mieten.«

»Dann wäre es besser, sie wegzuräumen.«

»Aber das löst nicht das Grundproblem. Was, wenn Leute kommen, um sich das Haus anzusehen, und der Garten liegt voller Katzenscheiße? Solange wir hier sind, können wir sie wegmachen, aber ab morgen ist niemand mehr hier. Und dann stinkt es wie die Pest.«

»Also hast du die Katze getötet.«

»Als Eigentümer trage ich schließlich die Verantwortung. Aber das scheint diese Frau nicht zu begreifen.« Hidaka drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Weiß Rie davon?«

Mit einem schiefen Lächeln schüttelte er den Kopf.

»Natürlich nicht. Die meisten Frauen lieben Katzen. Sie würde mich für den Teufel halten, wenn ich ihr die Wahrheit sagen würde.«

Um eine passende Antwort verlegen, schwieg ich. Gerade im rechten Augenblick klingelte das Telefon. Hidaka nahm ab.

»Hallo? … Ah, ja, ich habe schon mit Ihrem Anruf gerechnet. … Ja, alles nach Plan. Haha, Sie haben mich durchschaut. Ich wollte gerade anfangen. … Ja, ich werde heute Nacht noch fertig. … Ja, ich schicke es, sobald ich so weit bin. … Nein, das Telefon ist ab morgen Vormittag abgeschaltet. Ich rufe Sie dann an. … Ja, aus dem Hotel. Also dann, auf Wiederhören.«

Er legte auf und stieß einen kleinen Seufzer aus.

»Dein Lektor?«, fragte ich.

»Ja, Herr Yamabe. Ich bin wie immer zu spät dran mit der Manuskriptabgabe, aber diesmal ist er besonders aufgeregt. Klar, übermorgen bin ich nicht mehr in Japan. Er darf mich also nicht entkommen lassen.«

»Dann verabschiede ich mich lieber und halte dich nicht weiter von der Arbeit ab.« Ich erhob mich.

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Wir dachten, es sei nur ein Vertreter, aber da täuschten wir uns. Wir hörten, wie Rie den Korridor entlang kam, dann klopfte es.

»Was ist?«, fragte Hidaka.

Die Tür ging auf, und Rie spähte mit düsterem Blick ins Zimmer.

»Frau Fujio ist da«, sagte sie leise.

Hidakas Gesicht verdüsterte sich wie der Himmel vor einem Sturm.

»Miyako Fujio?«

»Ja. Sie möchte unbedingt noch heute mit dir sprechen.«

»Na, toll.« Hidaka biss sich auf die Lippen. »Wahrscheinlich hat sie rausbekommen, dass wir nach Kanada gehen.«

»Soll ich ihr sagen, sie soll später wiederkommen?«

»Ja.« Er überlegte kurz. »Oder nein, ich rede mit ihr, dann habe ich es hinter mir.«

»Wie du meinst.« Rie warf einen unsicheren Blick in meine Richtung.

»Ich wollte gerade gehen«, sagte ich.

»Entschuldigt«, sagte sie und zog die Tür hinter sich zu.

»Das hat mir gerade noch gefehlt.« Hidaka seufzte.

»Fujio wie Masaya Fujio?«

»Ja, seine Schwester Miyako.« Hidaka kratzte sich die Stirn. »Wenn sie nur Geld wollte, wäre es einfach, aber sie will, dass ich den ganzen Roman umschreibe. Wie soll das funktionieren?«

Schritte ertönten. Hidaka presste die Lippen zusammen. Rie entschuldigte sich, dass es im Flur so dunkel sei. Dann klopfte es. »Herein«, sagte Hidaka.

»Frau Fujio«, sagte Rie, während sie die Tür öffnete.

Hinter ihr stand eine Frau, ungefähr Ende zwanzig, mit langem Haar. Sie trug ein Kostüm, als käme sie frisch von der Uni zum ersten Vorstellungsgespräch. Für einen spontanen Besuch hatte sie große Mühe auf ihre Erscheinung verwendet.

»Also, ich gehe dann«, sagte ich zu Hidaka. Eigentlich wollte ich hinzufügen, dass ich ihn übermorgen zum Flughafen bringen würde, aber ich verkniff es mir. Vielleicht sollte Miyako Fujio nichts davon wissen.

Hidaka nickte stumm.

Rie brachte mich hinaus.

»Tut mir leid, dass es bei uns so unruhig zugeht.« Sie legte entschuldigend die Hände zusammen und kniff ein Auge zu. Weil sie so zierlich war, ließ die Geste sie wie ein junges Mädchen erscheinen. Kaum zu glauben, dass sie über dreißig war.

»Ich komme übermorgen noch mal vorbei und verabschiede mich«, sagte ich.

»Lassen Sie nur, Sie haben doch sicher zu tun.«

»Kein Problem.«

»Dann auf Wiedersehen«, sagte sie und sah mir nach, bis ich um die nächste Ecke bog.

2

Ich arbeitete, als es an der Tür klingelte. Meine Wohnung befand sich in einem vierstöckigen Mietshaus und unterschied sich sehr vom Domizil der Hidakas. Sie war in ein sechs Tatami großes kombiniertes Schlaf-und Arbeitszimmer und in einen Wohn-, Küchen- und Essbereich von acht Tatami unterteilt, also recht klein.

Ich hatte keine Gefährtin wie Rie und musste selbst aufmachen, wenn es klingelte.

Nach einem Blick durch den Spion öffnete ich die Tür. Es war Herr Oshima, mein Lektor vom Doji Verlag.

»Pünktlich wie immer«, sagte ich.

»Mein einziger Vorzug. Hier, was zum Naschen.« Er streckte mir eine hübsch verpackte Schachtel mit japanischen Süßigkeiten von einer berühmten Confiserie entgegen. Er wusste von meiner Vorliebe für Süßes.

»Nett, dass Sie extra vorbeikommen.«

»Ihre Wohnung liegt sowieso auf meinem Heimweg«, wehrte er ab.

Ich bat ihn in mein beengtes Wohnzimmer und bot ihm Tee an. Dann holte ich das Manuskript von meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer.

»Da ist es. Allerdings weiß ich nicht, wie es geworden ist.«

»Ich schaue es mir gleich mal an.«

Er stellte seinen Teebecher ab, griff hastig nach dem Manuskript und fing an zu lesen. Ich schlug eine Zeitung auf. Ich fühle mich immer unwohl, wenn jemand in meiner Gegenwart etwas von mir liest.

Als Oshima das Manuskript etwa zur Hälfte durch hatte, klingelte das schnurlose Telefon auf dem Tisch. Ich entschuldigte mich und stand auf.

»Nonoguchi«, meldete ich mich.

»Ich bin’s«, sagte Hidaka. Seine Stimme klang gedämpft.

»Wie ist es denn gelaufen?«, fragte ich. Ich hätte gerne gewusst, wie er mit Miyako Fujio verblieben war, aber er antwortete nicht, sondern holte nur kurz Luft. »Bist du beschäftigt?«, fragte er.

»Nicht direkt, aber mein Lektor ist gerade hier.«

»Verstehe. Wann seid ihr fertig?«

Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war kurz nach sechs.

»Es wird noch ein bisschen dauern. Worum geht es denn?«

»Das möchte ich nicht am Telefon besprechen. Ich brauche deinen Rat. Kannst du vorbeikommen?«

»Sicher.« Ich war drauf und dran, nach Miyako Fujio zu fragen, hielt mich aber zurück. Fast hätte ich vergessen, dass Oshima neben mir saß.

»Wie wär’s um acht?«

»In Ordnung.«

»Also, ich erwarte dich«, sagte er und legte auf.

Oshima machte Anstalten, sich vom Sofa zu erheben. »Wenn Sie etwas zu erledigen haben, gehe ich«, sagte er.

»Nein, nein, schon gut.« Ich bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. »Ich bin erst um acht verabredet. Wir haben Zeit, lesen Sie nur in aller Ruhe.«

»Na dann.« Er wandte sich erneut meinem Manuskript zu.

Auch ich widmete mich wieder der Zeitung, aber der Gedanke an Hidaka ließ mich nicht los. Wahrscheinlich ging es um Miyako Fujio. Etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen.

Hidaka war Autor eines Romans mit dem Titel Verbotene Jagdgründe, in dem es um das Leben eines Holzschnittkünstlers ging. Angeblich war die Geschichte fiktiv, aber in Wirklichkeit gab es ein reales Vorbild für die Hauptfigur: Masaya Fujio, den Bruder von Miyako.

Er war mit Hidaka und mir zur Schule gegangen. Und Hidaka hatte das offenbar in seinem Roman verarbeitet. Das Problem war, dass er darin Dinge schilderte, die für Fujio nicht gerade rühmlich waren. So detailliert und unverschleiert hatte Hidaka sich über Fujios zahlreiche Eskapaden ausgelassen, dass trotz geänderter Namen und Schauplätze niemand das Werk für fiktiv halten konnte. Auch der Teil, in dem Masaya Fujio von einer Prostituierten erstochen wurde, entsprach der Wirklichkeit.

Das Buch wurde in relativ kurzer Zeit ein Bestseller. Doch für jeden, der Masaya Fujio gekannt hatte, war leicht zu erkennen, dass er als Vorlage für die Hauptfigur gedient hatte. Es dauerte nicht lange, bis auch die Familie Fujio Wind davon bekam.

Der Vater war bereits verstorben, aber Masayas Mutter und Schwester protestierten. Es sei eindeutig, dass die Hauptfigur in dem Roman ihrem Sohn und Bruder nachempfunden sei. Niemals jedoch hätten sie ihre Einwilligung zu einem solchen Machwerk gegeben. Außerdem verletze das Buch die Privatsphäre Masaya Fujios und beschädige seinen Ruf. Sie forderten, dass es aus dem Verkehr gezogen und völlig umgeschrieben werden solle.

Hidaka zufolge ging es den Frauen dabei nicht um Geld. Ob ihre Forderung nach einer Umarbeitung ernst gemeint war oder nur ein Schachzug, blieb allerdings unklar.

Aus seinem Ton am Telefon zu schließen, war das Gespräch mit Miyako Fujio nicht gut verlaufen. Aber warum rief er ausgerechnet mich an? Hatte es Komplikationen gegeben? Wie konnte ich ihm helfen?

Während ich diesen Gedanken nachhing, beendete Oshima seine Lektüre.

»Sieht gut aus«, sagte er. »Ihre Geschichte hat etwas, das zu Herzen geht. Sie gefällt mir.«

»Dann bin ich ja beruhigt.« Erleichtert nippte ich an meinem Tee. Oshima war ein sympathischer junger Mann und kein Schmeichler.

Normalerweise hätten wir nun über kommende Projekte gesprochen, aber ich war mit Hidaka verabredet. Ich schaute auf die Uhr. Halb sieben.

»Haben Sie noch Zeit?«, erkundigte sich Oshima.

»Ja. Wollen wir noch um die Ecke etwas essen und dabei weiterreden?«

»Gern, ich muss sowieso noch zu Abend essen.« Oshima packte das Manuskript in seine Aktentasche. Er wurde nächstes Jahr dreißig, war aber noch ledig.

Das Imbissrestaurant lag ein paar Minuten zu Fuß von meiner Wohnung entfernt. Wir aßen einen überbackenen Auflauf und unterhielten uns. Ich erwähnte, dass ich gleich mit Hidaka verabredet sei. Oshima wirkte überrascht.

»Ach, Sie kennen ihn?«

»Ja, wir waren auf der gleichen Schule. Außerdem waren unsere Eltern Nachbarn. Unser Viertel liegt nicht weit von hier. Allerdings hat man jetzt alle alten Häuser abgerissen und Apartmentblocks gebaut.«

»Also waren Sie Sandkastenfreunde.«

»So ungefähr. Wir stehen auch jetzt noch in Verbindung.«

»Wirklich?« Oshima wirkte beeindruckt. »Das wusste ich nicht.« Er sah mich erwartungsvoll an.

»Übrigens habe ich es Hidaka zu verdanken, dass ich für Ihren Verlag schreibe.«

»Ach, wirklich?«

»Ihr Verleger hatte Hidaka um ein Manuskript gebeten. Aber er sagte, er schreibe keine Kinderbücher, und hat stattdessen mich empfohlen. Dafür bin ich ihm sehr verpflichtet.«

»So war das also. Allerdings wäre ein Kinderbuch von Hidaka recht interessant. Und Sie, Herr Nonoguchi, hätten Sie keine Lust, mal etwas für Erwachsene zu schreiben?«

»Ja, schon. Wenn sich eine Gelegenheit ergäbe.« Ich meinte es ernst.

Gegen halb acht verließen wir das Restaurant und gingen zu Fuß zur Haltestelle. Wir fuhren in verschiedene Richtungen, und ich verabschiedete mich von Oshima auf dem Bahnsteig. Unmittelbar darauf kam meine Bahn.

Es war Punkt acht, als ich bei Hidaka eintraf. Als ich am Tor stand, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass das Haus in völligem Dunkel lag. Nicht einmal die Lampe über dem Eingang brannte.

Dennoch drückte ich die Klingel, aber – ich hatte es schon halb erwartet – nichts rührte sich.

Anfangs glaubte ich noch, ich hätte ihn missverstanden. Hidaka hatte am Telefon zwar gesagt, ich solle um acht Uhr kommen, aber vielleicht hatte er gar nicht sein Haus gemeint.

Ich ging den Weg zurück. An einem kleinen Park dort gibt es ein Telefonhäuschen. Ich zückte mein Portemonnaie und ging hinein. Nachdem ich die Nummer vom Hotel Crown herausgesucht hatte, rief ich dort an und fragte nach Hidaka. Ich wurde sofort verbunden. Rie war am Apparat.

»Ich bin’s, Nonoguchi. Ist Hidaka da?«

»Nein, er muss noch im Haus sein. Er hat ja noch zu arbeiten.«

»Aber er scheint nicht da zu sein.« Ich erzählte ihr, dass im Haus kein Licht brannte, und niemand aufmachte.

»Das ist seltsam. Er wollte doch erst ganz spät ins Hotel kommen.«

»Vielleicht ist er nur kurz rausgegangen?«

»Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Rie. Sie schwieg einen Moment und schien zu überlegen. »Gut, ich komme«, sagte sie dann. »Ich bin in ungefähr vierzig Minuten dort. Wo sind Sie jetzt?«

Nachdem ich es ihr erklärt hatte, sagte ich, ich würde die Zeit in einem Café in der Nähe überbrücken und legte auf.

Anschließend ging ich wieder zu Hidakas Haus. Noch immer war alles dunkel. Etwas Sorge bereitete mir, dass der Saab auf seinem Platz stand.

Das Café führte Spezialitäten und gehörte zu Hidakas Lieblingsplätzen. Er ging dorthin, wenn er etwas Abwechslung brauchte. Auch ich war schon mehrmals dort gewesen, und der Wirt erkannte mich. Er fragte nach Hidaka. Ich sagte, ich sei mit ihm verabredet, aber bei ihm zu Hause sei niemand.

Wir unterhielten uns ungefähr eine halbe Stunde über Baseball. Dann zahlte ich und machte mich erneut auf den Weg zur Hidakas Haus.

In dem Moment, als ich dort ankam, stieg Rie aus dem Taxi. Ich rief sie, und sie lächelte. Doch beim Anblick des Hauses verdüsterte sich ihre Miene.

»Es ist wirklich alles dunkel«, sagte sie.

»Anscheinend ist er noch nicht zurück.«

»Aber er hatte gar nicht vor auszugehen.«

Während sie sich der Haustür näherte, kramte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Ich folgte ihr.

Die Tür war abgeschlossen. Sie öffnete sie, ging ins Haus und schaltete alle Lichter ein. Die Luft war kühl. Es schien niemand da zu sein.

Rie ging durch den Flur und griff nach dem Türknauf von Hidakas Arbeitszimmer. Es war abgeschlossen.

»Schließt er immer ab, wenn er weggeht?«, fragte ich.

Kopfschüttelnd zog sie den Schlüssel hervor. »In letzter Zeit eigentlich kaum.«

Sie schloss auf und öffnete die Tür. Auch hier war das Licht ausgeschaltet, aber es war nicht ganz dunkel. Der Computer war eingeschaltet, und der Monitor strahlte ein bleiches Licht ab. Rie tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Die Beleuchtung flammte auf.

Hidaka lag in der Mitte des Zimmers. Seine Füße zeigten in unsere Richtung.

Rie wollte zu ihm stürzen, blieb jedoch mitten in der Bewegung wie angewurzelt stehen und schlug die Hände vor den Mund. Kein Laut kam über ihre Lippen.

Vorsichtig trat ich näher heran. Hidaka lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, sodass man seine linke Gesichtshälfte sah. Seine Augen standen halb offen. Die Augen eines Toten.

»Er ist tot«, sagte ich.

Rie sank auf die Knie und schluchzte.

3

Rie und ich warteten im Wohnzimmer, während die Polizei den Tatort untersuchte. Eigentlich konnte man gar nicht von einem Wohnzimmer sprechen, es gab ja keine Möbel mehr. Rie ließ sich auf einem Karton mit Zeitschriften nieder, und ich lief nervös auf und ab. Hin und wieder steckte ich den Kopf in den Flur, um nachzuschauen, wie weit die Ermittlungen gediehen waren. Rie weinte ununterbrochen. Nach meiner Armbanduhr war es halb elf Uhr.

Es klopfte, und die Tür ging auf. Kommissar Sakoda, ein ruhiger Mann um die fünfzig, betrat den Raum. Er war es gewesen, der uns gebeten hatte, hier zu warten. Offenbar leitete er die Untersuchung.

»Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«, fragte er mich nach einen kurzem Blick auf Rie.

»Ja, selbstverständlich«, sagte ich.

»Mit mir können Sie auch sprechen«, sagte Rie und wischte sich mit einem Taschentuch die Augen. Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie geweint hatte, aber sie klang bestimmt. Ich erinnerte mich, dass Hidaka am Nachmittag gesagt hatte, sie sei ziemlich handfest, wenn es darauf ankam.

»Es dauert nicht lange.«

Kommissar Sakoda fragte uns, was passiert war, bevor wir die Leiche gefunden hatten. Bei meiner Aussage erwähnte ich auch Miyako Fujio.

»Um welche Uhrzeit hatte Herr Hidaka Sie angerufen?«

»Gegen sechs, glaube ich.«

»Hat Herr Hidaka zu diesem Zeitpunkt etwas über Frau Fujio gesagt?«

»Nein, er sagte nur, dass er mit mir reden wollte.«

»Es hätte also auch um etwas anderes gehen können?«

»Durchaus.«

»Haben Sie eine Idee?«

»Nein.«

Der Kommissar nickte und wandte sich an Rie. »Wann ist diese Frau Fujio wieder gegangen?«

»Kurz nach fünf, glaube ich.«

»Haben Sie anschließend noch mit Ihrem Mann gesprochen?«

»Ja, ein wenig.«

»Welchen Eindruck machte er auf Sie?«

»Er wirkte bedrückt, das Gespräch mit Frau Fujio war nicht gut verlaufen. Aber er sagte, man müsse sich keine Sorgen machen.«

»Anschließend haben Sie das Haus verlassen und sind ins Hotel gefahren, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sie hatten also vor, zwei Nächte im Hotel Crown zu verbringen und übermorgen nach Kanada abzureisen? Aber Ihr Mann hatte noch zu arbeiten und blieb deshalb hier.« Der Kommissar warf einen Blick auf seinen Notizblock und sah wieder auf. »Wer wusste davon?«

»Ich und …« Rie blickte in meine Richtung.

»Natürlich wusste ich es. Außerdem muss auch jemand vom Verlag Somei davon gewusst haben.« Ich erklärte, dass Hidaka noch am selben Abend ein Manuskript an den Verlag hatte schicken wollen. »Aber das grenzt die Verdächtigen nicht ein, oder?«

»Nein, ich weiß, ich sammle nur Hinweise.« Kommissar Sakoda lächelte ein wenig.

Er fragte Rie, ob sie in letzter Zeit jemand Verdächtiges in der Nähe des Hauses beobachtet hätte. Nein, niemanden. Die Frau, die ich am Nachmittag im Garten gesehen hatte, fiel mir ein. Ich überlegte, ob ich etwas sagen sollte, schwieg aber dann doch. Es wäre absurd, jemanden zu ermorden, um den Tod einer Katze zu rächen.

Als die Befragung beendet war, sagte der Kommissar, einer seiner Männer würde mich nach Hause bringen. Ich wäre lieber bei Rie geblieben, aber anscheinend hatte man bereits ihre Eltern benachrichtigt, und diese würden sie bald abholen.

Als der Schock über den Fund von Hidakas Leiche allmählich nachließ, überkam mich große Müdigkeit. Allein der Gedanke, jetzt mit der Bahn nach Hause fahren zu müssen, raubte mir jede Kraft. Also nahm ich das Angebot des Kommissars an.

Noch immer wimmelte es im Flur von Polizisten. Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen, aber ich konnte nicht hineinsehen. Wahrscheinlich hatte man die Leiche bereits abtransportiert.

Ein junger Polizist in Uniform sprach mich an. Er begleitete mich zu einem am Tor geparkten Streifenwagen. Ich dachte daran, dass ich, seit ich einmal wegen Überschreitens der Geschwindigkeit angehalten worden war, keinem Polizeiwagen mehr so nah war.

Neben dem Wagen stand ein Mann. Bei der Beleuchtung konnte ich sein Gesicht nicht erkennen.

»Lange nicht gesehen, Herr Nonoguchi«, sagte er.

»Kennen wir uns?« Ich blieb stehen und versuchte, mich zu erinnern.

Der Mann trat aus dem Schatten und kam näher. Augenbrauen und Augen standen nah beieinander. Er kam mir bekannt vor, dann fiel es mir ein.

»Ah, ja, Sie sind es.«

»Erinnern Sie sich an mich?«

»Ja, jetzt weiß ich. Herr Kaga, nicht wahr?«

»Ja, genau der.« Der Mann verbeugte sich höflich.

Auch ich neigte den Kopf. Dann musterte ich ihn erneut. Ich hatte ihn mindestens zehn Jahre nicht gesehen. Er wirkte furchtlos und sah insgesamt besser aus als früher. »Ich hatte gehört, dass Sie zur Polizei gegangen sind, aber dass wir uns jetzt hier wiederbegegnen.«

»Ich bin auch überrascht. Zuerst dachte ich, es würde sich um eine zufällige Namensgleichheit handeln, aber die Schreibweise hat mich überzeugt.«

»Ja, Nonoguchi ist nicht gerade ein häufiger Name. Was für ein Zufall.« Ich schüttelte den Kopf.

»Wir reden im Auto weiter. Ich bringe Sie im Streifenwagen nach Hause. Hoffentlich ist Ihnen das nicht unangenehm.« Er öffnete die Hintertür. Der uniformierte Polizist fuhr.

Kaga hatte nach seinem Lehrerexamen an der Schule angefangen, an der ich damals Sozialkunde unterrichtete. Wie die meisten jungen Kollegen stürzte er sich mit Feuereifer in die Arbeit. Er war sportlich, sein Spezialgebiet war Kendo – das Fechten mit dem Bambusschwert. Also übernahm er die Kendo-AG an der Schule. Sein Engagement hatte damals großen Eindruck gemacht.

Aus gewissen Gründen schied er nach nur zwei Jahren aus dem Schuldienst aus, auch wenn ihn meiner Ansicht nach an den Vorfällen keine Schuld traf. Aber vielleicht war er einfach nicht für den Beruf des Lehrers geschaffen.

»An welcher Schule arbeiten Sie jetzt, Herr Nonoguchi?«, fragte Kommissar Kaga während der Fahrt.

»Bis vor Kurzem habe ich in einer Mittelschule in meiner Heimatstadt gearbeitet. Aber im März habe ich ganz aufgehört.«

Kommissar Kaga wirkte überrascht.

»Ach? Und was machen Sie jetzt?«

»Nichts Großartiges, ich schreibe Kinderbücher.«

»Aha.« Er nickte. »Daher kennen Sie wohl auch Kunihiko Hidaka?«

»Nein, die Sache liegt etwas anders.«

Ich erzählte ihm, dass Hidaka und ich uns schon seit unserer Kindheit kannten und ich meine jetzige Tätigkeit seinen guten Beziehungen verdankte. Kaga hörte nickend zu. Ich hatte das alles bereits Kommissar Sakoda erzählt, aber wahrscheinlich hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, es weiterzugeben.

»Haben Sie schon geschrieben, als Sie noch unterrichteten?«

»Ja. Aber nur ein paar Kurzgeschichten im Jahr. Irgendwann beschloss ich, ein richtiger Schriftsteller zu werden, und kündigte an der Schule.«

»Das war sicher keine leichte Entscheidung.« Kaga wirkte beeindruckt. Wahrscheinlich dachte er an seine eigenen Erfahrungen. Auch ihm war klar, dass es etwas anderes war, mit über vierzig den Beruf zu wechseln, als mit Mitte zwanzig.

»Was waren das für Romane, die Hidaka schrieb?«

Ich sah ihn an. »Sagen Sie bloß, Sie haben noch nie von Kunihiko Hidaka gehört?«

»Doch, den Namen kenne ich, aber ich habe noch nie etwas von ihm gelesen. In letzter Zeit lese ich nicht mehr viel.«

»Zu beschäftigt wahrscheinlich.«

»Nein, zu faul. Eigentlich sollte ich zwei oder drei Bücher im Monat lesen.« Er legte eine Hand an den Kopf. Zwei oder drei Bücher im Monat – das war meine Devise an der Schule gewesen. Aber ich wusste nicht, ob Kaga darauf anspielte.

Ich erklärte ihm in wenigen Worten Hidakas schriftstellerischen Werdegang und seine Bedeutung. Zuerst kam sein Debüt vor ungefähr zehn Jahren. Dann gewann er Preise und stieg zum Bestsellerautor auf. Sein Werk umfasste sowohl ernste Literatur als auch Unterhaltungsliteratur.

»Hat er etwas geschrieben, das mich interessieren könnte?«, fragte Kaga. »Kriminalromane?«

»Nicht viele, aber es gibt welche«, antwortete ich.

»Können Sie mir einen Titel nennen?«

Ich empfahl ihm den Roman Meeresleuchten. Ich hatte ihn schon vor längerer Zeit gelesen und erinnerte mich nicht mehr genau an den Inhalt, aber es kam definitiv ein Mord darin vor.

»Wissen Sie, warum Herr Hidaka vorhatte, nach Kanada zu ziehen?«

»Dafür gab es verschiedene Gründe, aber ich glaube, er war einfach erschöpft. Er hat schon seit ein paar Jahren davon gesprochen, ins Ausland zu gehen, um dem hiesigen Literaturbetrieb zu entkommen und ein bisschen in den Tag hineinleben zu können. Vancouver scheint Rie besonders gefallen zu haben.«

»Rie ist seine Frau, nicht wahr? Sie wirkt noch sehr jung.«

»Sie haben erst vor einem Monat geheiratet. Seine zweite Ehe.«

»Hat er sich von seiner ersten Frau scheiden lassen?«

»Nein, sie ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Schon vor fünf Jahren.«

Während wir redeten, traf mich die Erkenntnis, dass Hidaka nicht mehr auf dieser Welt war, wie ein Schlag. Worüber hatte er nur mit mir sprechen wollen? Ich fragte mich, ob ich seinen Tod hätte verhindern können, wenn ich diesen unwichtigen Termin mit Oshima gleich abgebrochen hätte und früher bei ihm gewesen wäre. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, dennoch empfand ich Reue.

»Anscheinend hatte er Ärger mit einem gewissen Fujio, weil er ihn in einem seiner Romane porträtiert hatte«, sagte Kaga. »Könnte er noch in andere Schwierigkeiten verwickelt gewesensein? Wegen seiner Romane oder auch in seinem Privatleben?«

»Davon weiß ich nichts.« Mir fiel ein, dass dies eine Befragung war. Der Gedanke machte mir den Polizeibeamten, der stumm am Steuer saß, etwas unheimlich.

»Kennen Sie übrigens«, Kaga schlug sein Notizbuch auf, »eine gewisse Namiko Nishizaki?«

»Wie?«

»Außerdem habe ich noch die Namen Tetsuji Osano und Hajime Nakame.«

»Ach, ja, jetzt verstehe ich.« Ich nickte. » Das sind Charaktere aus seinem Fortsetzungsroman Die Tore aus Eis.«

»Anscheinend hat Herr Hidaka bis kurz vor seinem Tod daran gearbeitet.«

»Ja, übrigens war sein Computer noch eingeschaltet.«

»Und das Dokument, an dem er arbeitete, war geöffnet.«

»Aha«, sagte ich. Plötzlich fiel mir etwas ein. »Wie weit war er denn mit der Geschichte?«

»Wie weit?«

»Wie viele Seiten hatte er geschrieben?«

Ich erzählte Kaga, dass Hidaka mir gesagt hatte, er habe noch dreißig Seiten vor sich.

»Ich kann das nicht gut schätzen, aber es waren auf alle Fälle nicht nur ein oder zwei Seiten«, sagte er.

»Vielleicht könnte man den Todeszeitpunkt anhand der geschriebenen Seiten ermitteln. Als ich das Haus verließ, hatte er kaum angefangen.«

»Daran hatten wir auch schon gedacht. Allerdings schreibt ein Autor ja nicht immer in der gleichen Geschwindigkeit.«

»Stimmt, aber zumindest könnte man von seiner Höchstgeschwindigkeit ausgehen.«

»Wie schnell schrieb Hidaka? Was meinen Sie?«

»Mir hat er einmal gesagt, er schriebe etwa vier Seiten in einer Stunde.«

»Dann konnte er, auch wenn er sich beeilte, höchstens sechs Seiten zustande bringen?«

»Glaube ich auch.«

Kommissar Kaga schwieg. Er schien zu rechnen.

»Spricht etwas dagegen?«