Böses Licht - Ursula Poznanski - E-Book
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Böses Licht E-Book

Ursula Poznanski

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Beschreibung

Mord im Burgtheater! Temporeiche und bühnenreife Höchstspannung von Ursula Poznanski: Im zweiten Wien-Krimi der SPIEGEL-Bestseller-Autorin steht Ermittlerin Fina Plank unfreiwillig auf der ganz großen Bühne  Die Inszenierung von Shakespeares Richard III am Wiener Burgtheater trieft förmlich von Theaterblut, daher fällt kaum jemandem aus dem Publikum die echte Leiche auf der Bühne auf: Ulrich Schreiber, altgedienter Garderobier, wird tot auf einem Thron sitzend von der Unterbühne ins Rampenlicht gefahren. Die Tat löst Entsetzen und Ratlosigkeit gleichermaßen aus: Schreiber war allseits beliebt, ein unauffälliger Mann ohne Feinde. Anders als das nächste Opfer, das weitaus bekannter ist …  Doch gleich darauf heißt es Aufbruch nach Salzburg, wo das Ensemble bei den Festspielen gastiert. Unnötig zu sagen, dass auch die junge Wiener Kommissarin Fina Plank die Reise nach Salzburg antreten muss. Verstörende Drohungen, hysterische KünstlerInnen und ein unliebsamer Kollege machen ihr zu schaffen - vor allem aber der Gedanke, dass der Fall mit der Festnahme des Mörders nicht gelöst sein wird ... Die Presse über Ursula Poznanskis Wien-Bestseller Stille blutet: »Fina, die einzige Frau im Polizeiteam, mochte ich sofort - genauso wie die Kaffeehaus-Besuche und den morbiden Plot. Düster wie die Verse Trakls, die sich durch dieses teuflisch gute Buch ziehen.« BRIGITTE

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Seitenzahl: 575

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Ursula Poznanski

Böses Licht

Kriminalroman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die Inszenierung von Shakespeares Richard III. am Wiener Burgtheater trieft förmlich von Theaterblut, daher fällt kaum jemandem aus dem Publikum die echte Leiche auf der Bühne auf: Ulrich Schreiber, altgedienter Garderobier, wird tot auf einem Thron sitzend von der Unterbühne ins Rampenlicht gefahren. Die Tat löst Entsetzen und Ratlosigkeit gleichermaßen aus: Schreiber war allseits beliebt, ein unauffälliger Mann ohne Feinde. Anders als das nächste Opfer, das weitaus bekannter ist … Doch gleich darauf heißt es Aufbruch nach Salzburg, wo das Ensemble bei den Festspielen gastiert. Unnötig zu sagen, dass auch die junge Wiener Kommissarin Fina Plank die Reise nach Salzburg antreten muss. Verstörende Drohungen, hysterische Künstlerinnen und Künstler und ein unliebsamer Kollege machen ihr zu schaffen – vor allem aber der Gedanke, dass der Fall mit der Festnahme des Mörders nicht gelöst sein wird …

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Zwischenblatt

12. Kapitel

13. Kapitel

Zwischenblatt

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Zwischenblatt

17. Kapitel

18. Kapitel

Zwischenblatt

19. Kapitel

20. Kapitel

Zwischenblatt

21. Kapitel

22. Kapitel

Zwischenblatt

23. Kapitel

24. Kapitel

Zwischenblatt

25. Kapitel

26. Kapitel

Zwischenblatt

27. Kapitel

Zwischenblatt

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Zwischenblatt

31. Kapitel

32. Kapitel

Zwischenblatt

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Zwischenblatt

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Zwischenblatt

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

Zwischenblatt

48. Kapitel

49. Kapitel

Zwischenblatt

50. Kapitel

Leseprobe »Stille blutet«

Prolog

Es war einer der Abende, an denen Jasper Freysam am liebsten auf Knien gerutscht wäre aus Dankbarkeit für seinen Beruf. Einer der Abende, an denen er mit Text und Rolle verschmolz, mit Shakespeares Worten, mit der Wucht des Dramas. An denen er sich gewissermaßen auflöste in Richard von Gloucester.

Gleich würde er tatsächlich auf Knien rutschen, kriechen würde er, bis Richmond ihm das Schwert erst in die Seite, dann in den Rücken stach und damit seinem Leben ein schmerzvolles Ende setzte.

Schon jetzt keuchte Jasper vor Schmerz, und nichts davon war gespielt. Für die Darstellung des fehlgebildeten Richard hatte er sich ein Hinken mit verdrehtem rechtem Fuß und eine verkrümmte Haltung des linken Unterarms antrainiert, die einzuhalten ab Ende des vierten Akts fast nicht mehr zu ertragen war.

Richards Qualen waren seine Qualen, Richards Verzweiflung seine eigene. Sie waren jetzt bereits im fünften Akt, das Ende war nah. Noch ein paar Sekunden lang gehörte Jasper die Bühne alleine, das Schlachtengetümmel bestand aus übergroßen Projektionen, aus Schatten, gegen die er sein Schwert schwang. Todesschreie und das metallische Klirren der Waffen drangen von allen Seiten aus den Lautsprechern.

Einen kurzen Moment lang schweiften seine Gedanken ab. Zu dem Tisch im Fabios, der nach der Vorstellung auf ihn wartete, zu der Flasche Brunello, die er dort immer bestellte. Zu Aurora, die er gleich wiedersehen würde.

Doch sofort kehrte sein Fokus zurück zu Richard, zu Shakespeare, zur Schlacht. Er stolperte rückwärts bis zu der hüfthohen Rinne an der rechten Bühnenseite, durch die die ganze Zeit über Kunstblut floss, tauchte eine Hand hinein und beschmierte sich Gesicht und Harnisch.

»Soll’n wir besiegt sein«, schrie er, »nun, so sei’s durch Männer, und nicht durch die Bastarde von Bretagnern.« Kurzes Innehalten. »Horcht! Ich höre Trommeln!«

Die dumpfen Schläge setzten ein, und zu ihrem Klang löste sich Samuel in der Rolle des Richmond langsam aus der Gasse, in der er auf seinen Auftritt gewartet hatte. Jasper breitete die Arme aus und vollführte kreisende Bewegungen mit seinem Schwert.

»Ich denk’, es sind sechs Richmonds hier im Feld. Fünf schlug ich schon an seiner Stelle tot!« Der Hebemechanismus der Unterbühne setzte sich mit kaum hörbarem Surren in Gang.

Samuel kam näher, einen abgeschlagenen Kopf in der linken, das Schwert in der rechten Hand. Mit einer nachlässigen Bewegung warf er den Kopf in die Blutrinne und schritt auf Jasper zu. Keuchend, ein Feldherr am Ende der Schlacht.

»Ein Pferd!«, schrie Jasper, die Stimme eine Mischung aus Angst und Überheblichkeit. »Ein Pferd! Mein Königreich für ein Pferd!«

Gleich würde langsam und bedrohlich der Thron auf der Bühne auftauchen, würde aus der Versenkung ins Scheinwerferlicht gehoben. Dieser Thron, für den Richard so gnadenlos gemordet hatte. Ein windschiefes, vergoldetes Gebilde, von dem Blut tropfte.

Samuel war nun fast da, Dreck und Blut im Gesicht. Er wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Hielt kurz inne. Dann stürzte Richmond sich mit einem Schrei auf Richard.

»Ein Pferd«, brüllte Jasper erneut die berühmten Worte. »Ein Pferd! Mein Königreich …«

Der Thron war nun auf Bühnenniveau angekommen, etwas rastete ein, die hohe Lehne warf, wie von der Inszenierung vorgesehen, einen Schatten auf Richard und Richmond.

Gleich würde Samuel zum tödlichen Stoß ausholen, würde dem mörderischen König ein ebensolches Ende bereiten, doch stattdessen senkte er den Arm mit der Waffe und starrte in Richtung Thron, dann zum Inspizientenpult. Ließ das Schwert fallen und legte sich eine Hand vor den Mund, bevor er loslief, an Jasper vorbei auf den Thron zu.

Auch Jasper wandte den Kopf. Später würde er sich fragen, ob es seiner inneren Verschränkung mit Richard zu verdanken war, dass es mehrere Sekunden dauerte, bis er begriff, was er sah.

Zuerst hätte er beinahe gelacht.

Sich dann über die Dummheit der Bühnenarbeiter geärgert.

Zuletzt an einen unprofessionellen Streich geglaubt, der seine strahlende Darbietung ins Lächerliche ziehen sollte.

Auf dem rost- und blutverkrusteten Thron saß jemand. Oder hing, genauer gesagt, halb über der rechten Armlehne. Der Kopf mit dem dünnen, graublonden Haar war auf die Brust gesunken, die ebenso blutbesudelt war wie Jaspers eigene.

Nur das Rot war dunkler.

Der Vorhang fiel.

1.

Das aus dem Theater strömende Publikum hatte sich zum großen Teil schon zerstreut, als Fina keuchend vor dem Haupteingang zum Stehen kam. Sie hatte die Strecke von ihrer Wohnung bis zum Universitätsring in einer Rekordzeit von unter zehn Minuten geschafft und fühlte, wie ein Tropfen Schweiß ihr vom Nacken aus über den Rücken lief.

Der Anruf ihres Chefs war gerade mal zwanzig Minuten her. »Ein Toter im Burgtheater«, hatte Sieghart erklärt. »Auf der Bühne, angeblich lag er da schon während der Vorstellung. Ahmed weiß Bescheid, er holt dich ab.«

»Muss er nicht, zu Fuß bin ich schneller.«

Das hatte sich als richtig erwiesen. Wie es aussah, war sie als Erste des Teams vor Ort. Allerdings parkten drei Polizeiautos an der Seitenfront des Theaters, und zwei uniformierte Polizistinnen standen am linken Eingang; eine hielt ein Funkgerät in der Hand.

»Seltsame Inszenierung, aber Freysam war großartig«, hörte Fina eine Frau mit grauer Aufsteckfrisur sagen, die am Arm eines ebenfalls Grauhaarigen an ihr vorbeistöckelte.

»Begriffen habe ich das Ende nicht«, antwortete der, dann waren sie außer Hörweite. Fina ging auf die beiden Polizistinnen zu und zog ihren Ausweis hervor. »Fina Plank, Mordgruppe zwei. Ist die Spurensicherung schon drin?«

Die Polizistin mit dem Funkgerät musterte erst den Ausweis, dann Finas Gestalt. »Ja, seit fünf Minuten. Die meinen aber, sie werden wahrscheinlich länger brauchen, und so lange sollen alle anderen von der Bühne wegbleiben.« Sie ging einen Schritt zur Seite und öffnete damit Fina den Blick ins Foyer, wo drei weitere Kollegen darauf achteten, dass das verbliebene Publikum zügig das Haus verließ. Was kaum jemandem aufzufallen schien, wenn man von einer rothaarigen Frau absah, die, in bunte Wallegewänder gehüllt, lautstark mit einem Polizisten diskutierte.

»… weiß genau, dass da etwas nicht stimmt. Ich muss zu ihm, lassen Sie mich, bitte.«

Fina, immer noch ihren Ausweis in der Hand, wandte sich an den ihr am nächsten stehenden Kollegen. »Wie komme ich am besten zur Bühne?«

Sie hatte nicht leise genug gesprochen, die Frau wandte sich zu ihr um. »Das kann ich Ihnen zeigen, ich muss auch dahin. Aber die«, sie vollführte eine verächtliche Kopfbewegung in Richtung des Uniformierten, »wollen mich nicht durchlassen. Typisch Polizei, alles stumpfsinnige Beamte.«

Den letzten Satz hatte sie vertraulich leise in Finas Richtung gesprochen. Mit grimmigem Lächeln hielt die ihr den Ausweis unter die Nase. »Diese stumpfsinnige Beamtin hier würde gerne wissen, wieso Sie so dringend auf die Bühne wollen. Sie waren im Publikum, richtig?«

Wenn der Frau ihr Sprung ins Fettnäpfchen peinlich war, ließ sie es sich nicht anmerken. »War ich. Ich bin bisher in jeder der Vorstellungen gewesen. Deshalb weiß ich auch, dass heute etwas passiert sein muss. Wenn am Ende der Thron hochfährt, sitzt sonst nie jemand darauf. Außerdem ist der Vorhang zu früh gefallen. Jaspers Todesszene war noch nicht zu Ende, und Samuel hatte noch seinen Schlussmonolog vor sich.« Sie bedachte Fina mit einem so verachtungsvollen Blick, als wäre sie schuld an all dem.

Die Frau gab eine anstrengende Zeugin ab, aber möglicherweise auch eine nützliche. »Sie sind in jeder Vorstellung?«

»Ja. Wenn Jasper spielt.«

Fina gab einem der Polizisten einen Wink. »Nehmen Sie bitte die Daten der Dame auf, vielleicht wollen wir später mit ihr sprechen.«

»Was heißt hier vielleicht?«, empörte sich die Frau, aber Fina hatte ihr bereits den Rücken zugewandt. »Und achten Sie darauf, dass sie dann geht.«

 

Drei Minuten später traf Ahmed ein. »Tut mir leid«, sagte er, »ich wäre schneller hier gewesen, aber ich war seit Wochen zum ersten Mal wieder bei meinen Eltern.« Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war der Besuch kein Honiglecken gewesen. »Da kann man nicht einfach gehen«, fuhr er mit schief gezogenem Mund fort. »Weil: Respekt. So wichtig, weißt du? Wichtiger als irgendein Mord an irgendeinem Fremden.«

Fina tätschelte ihm die Schulter, wofür sie ziemlich hoch greifen musste. Das musste sie mit ihren knapp ein Meter sechzig oft. »Bin froh, dass du da bist. Lass uns Georg und seine Leute suchen, bevor …« Sie brach ab und seufzte hörbar, denn eben hielt draußen ein vertrauter Wagen, die Scheinwerfer strahlten bis ins Foyer, bevor sie erloschen. Eine Autotür wurde zugeknallt. Oliver war eingetroffen, hoffentlich mit Manfred an seiner Seite.

»Komm, beeilen wir uns, vielleicht ist die Spurensicherung schon fertig«, sagte sie, doch da marschierte Oliver bereits auf sie zu. Schwarze Lederjacke und wie immer die Sonnenbrille ins Haar geschoben. Auch nachts.

»Was macht ihr denn noch hier? Warum seid ihr nicht bei der Arbeit? Zigarettenpause? Kaffeekränzchen?« Er drückte sich an ihnen vorbei und ließ sich von einem Uniformierten den Weg zur Bühne erklären.

Fina stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann wollen wir mal«, sagte sie laut genug, dass auch Manfred es hören konnte, der eilig angehumpelt kam. Er hatte sich vor zwei Wochen ein Band im Knöchel gezerrt, und die Schmerzen wurden eher schlimmer als besser, wie er dem Team jeden Tag versicherte.

Deshalb war er wohl auch nicht schnell genug, um der Frau von vorhin zu entgehen, die ihm bunt in den Weg wallte und sofort auf ihn einzureden begann. Ihr Anblick ließ Fina an eine Wahrsagerin denken. Sie wäre nicht erstaunt gewesen, wenn sie aus ihren Gewändern eine Glaskugel hervorgeholt hätte.

Stattdessen hielt sie einen dünnen Stapel Papier in den Händen, den sie aus ihrer Umhängetasche gezogen haben musste. Hatte sie Dokumente mit ins Theater gebracht?

Nein, es waren Fotos, stellte Fina mit einem letzten Blick fest. In Hochglanz und Größe A4. Das oberste zeigte bildfüllend ein Gesicht, das sogar Fina erkannte, obwohl sie mit Theater nichts am Hut hatte. Aber Jasper Freysams Berühmtheit ging dank seiner Filme nicht nur über die Bühne, sondern auch weit über die Landesgrenzen hinaus.

Fina schloss zu Ahmed auf. Bei der Rothaarigen brauchte Manfred ihre Hilfe nicht, als alter Hase war er geübt darin, Schaulustige abzuwimmeln.

 

Der Tote saß noch an Ort und Stelle, eine schmächtige Gestalt in einem hellgrauen Arbeitsmantel, dessen Brustbereich von Blut getränkt war. Ahmed und Fina hatten sich an den Rand der Seitenbühne gestellt, in die Gasse, über die die Auftritte stattfanden.

Bis auf das Opfer, das auf dem Thron mehr hing als saß, und die weiß verhüllten Spurensicherer, die ihrer Arbeit nachgingen, befand sich niemand auf der Spielfläche. Von den Seitenbühnen hingegen war aufgeregtes Stimmengewirr zu hören.

Eine Frau schluchzte, etwas fiel polternd zu Boden, ein Handy klingelte. Eine tiefe Männerstimme schien immer die gleichen Worte zu wiederholen, von denen Fina aber nur eines, nämlich »niemand« verstehen konnte.

Es würde eine lange Nacht werden, das stand jetzt bereits fest, und sie sollten im Interesse aller so schnell wie möglich mit den Befragungen beginnen. Nur hätte Fina zuvor gerne noch eine erste Einschätzung von Georg Matejka bekommen, dem Spurensicherer, der ihre Anwesenheit bisher leider noch nicht bemerkt hatte.

Sie war froh, dass er hier war, sonst wäre Ahmed der einzige Lichtblick gewesen. Während Oliver auch in solchen Situationen keine Gelegenheit ausließ, den Alphawolf zu mimen, und Manfred hauptsächlich darauf bedacht war, sich nicht zu überarbeiten, war Georg das verlässlich ruhige Auge des Sturms. Respektvoll und kompetent. Zu schade, dass sie nicht zur gleichen Gruppe gehörten und nie ein Büro teilen würden.

Er hatte sie noch nicht bemerkt, er war völlig auf das konzentriert, was auf dem Display seiner Kamera zu sehen war. Auch die anderen aus dem Team waren beschäftigt: Eine Kollegin zupfte eben mit einer Pinzette etwas vom linken Hosenbein des Toten und ließ es in ein Plastikröhrchen fallen.

Ahmed nahm Fina am Ellenbogen. »Die Schauspieler stehen dort hinten. Oliver hat schon losgelegt, wir sollten auch.«

Sie warf einen letzten, intensiven Blick auf das Szenario. Die Fotos würden ihr zwar später alles im Detail zeigen, aber eine zweite Gelegenheit für einen ersten Eindruck bekam sie dadurch nicht.

Wie fremd diese Welt ihr war, sie hatte noch nie eine so große Theaterbühne betreten. Konnte sich auch nicht erinnern, wann sie das letzte Mal eine Vorstellung besucht hatte. Vor zehn Jahren, mit der Schule? Ja, wahrscheinlich.

Aus der Nähe betrachtet, wirkte nichts hier magisch, sondern eher schmutzig. Davon, dass dieser Eindruck nicht täuschte, zeugten die ehemals weißen Overalls der Spurensicherer. Die waren jetzt grau vom Bühnenstaub. Rot vom Theaterblut.

Gerade, als Fina sich abwenden wollte, blickte Georg doch noch zu ihnen herüber, entdeckte sie und winkte einmal nachlässig in ihre Richtung. »Zehn Minuten«, rief er. »Weigel ist schon fertig.«

Von der hochgewachsenen Gestalt des Gerichtsmediziners war zwar weit und breit nichts zu sehen, aber er würde sich schon noch bei ihnen melden. Priorität hatten jetzt die Augenzeugen, und Ahmed war bereits auf dem Weg zu ihnen, er steuerte auf einen Mann zu, der auf einem der Requisitenstühle saß. Sein Gesicht war dreck- und blutverkrustet, Hose und Stiefel ebenfalls. Der Rest war erstaunlich sauber, was wohl daran lag, dass er Teile seines Kostüms bereits abgelegt hatte. Neben ihm auf dem Boden lag eine Brustplatte, die aus der Nähe eher aus Plastik als aus Metall zu sein schien.

»Jasper Freysam«, murmelte Ahmed, während sie sich dem Schauspieler näherten. »Wow. Hätte ich auch nie gedacht, dass ich dem einmal persönlich begegnen würde.«

Fina kannte das markante Gesicht, so wie fast jeder im Land es kannte, wenn er nicht in völliger Abgeschiedenheit von der Welt lebte. Jetzt allerdings wirkte dieses berühmte Gesicht fahl und um gut zehn Jahre gealtert. Freysams Blick war zu Boden gerichtet, seine Finger zupften unablässig an der Hose des Kostüms.

»Herr Freysam?« Sie streckte dem Schauspieler die Hand entgegen. »Mein Name ist Fina Plank, ich gehöre zur Mordgruppe zwei des LKA, und das ist mein Kollege Ahmed Kayali.«

Freysam nickte stumm. Warf einen langen Blick in Richtung Bühne, obwohl die Kulissen ihm die Sicht auf den Toten versperren mussten.

»Jasper, brauchst du etwas?« Ein zweiter Mann war herangetreten und legte dem Schauspieler eine Hand auf die Schulter. »Mein Gott, du stehst unter Schock, du zitterst ja. Der Arzt sieht gleich nach dir.«

»Nicht nötig.« Freysam hob den Kopf und straffte den Rücken. »Ich bin okay. Ich möchte jetzt direkt mit der Polizei sprechen, hoffentlich kann ich nützlich sein.«

Tolle Stimme, dachte Fina und fragte sich gleichzeitig, ob die Betroffenheit, die aus jedem der Worte sprach, echt war. Oder gut gespielt.

Ahmed war einen Schritt vorgetreten. »Sie waren heute Abend einer der Schauspieler im Stück, nicht wahr?«, fragte er, und Fina sah sofort, dass er damit alle eventuellen Sympathien bei Freysam verspielt hatte.

»Ja, wenn Sie so wollen.« Seine Erschütterung war nach wie vor unverkennbar, nun allerdings begleitet von pikiert gehobenen Augenbrauen. »Das Stück heißt Richard der Dritte, und ich war Richard.« Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, war jeder Anflug von Arroganz aus seinem Blick verschwunden. »Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Schock gewesen ist. Dabei habe ich das Ausmaß der Katastrophe gar nicht gleich begriffen, in der Inszenierung trieft ja alles vor Blut.« Er breitete die Arme ein Stück aus, wie um Fina und Ahmed einen besseren Blick auf sein beflecktes Kostüm zu gewähren. Eine Sekunde lang hielt er die Position, dann sank er in sich zusammen. »Mein Gott, der arme Uli. Der hat doch nie jemandem etwas angetan. Ein unglaublich lieber Mensch, wissen Sie?«

Fina zog ihren zerdrückten Notizblock aus der Tasche. Sie hatte den Eindruck, als würde Ahmed seinen unglücklichen Start bereuen und gerne ihr die Führung des Gesprächs überlassen. Umso besser. An Olivers Seite kam sie ohnehin nie zu Wort.

Der zweite Mann, der hinter dem Schauspieler stand, hatte immer noch seine Hand auf dessen Schulter. Als müsse er verhindern, dass Freysam vom Sitz rutschte. Oder dass er etwas Falsches sagte.

»Herr Freysam«, begann sie, »sind Sie sicher, was die Identität des Toten angeht?«

»Natürlich.« Er trank einen Schluck Wasser. »Uli ist mein Garderobier, wenn ich an der Burg spiele. Seit Jahren, ach, was sage ich, seit Jahrzehnten. ich weiß gar nicht mehr, wie lange genau. Und ich begreife nicht, warum … irgendjemand ihn …« Er brach ab und blinzelte nach oben, in Richtung Schnürboden. Wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich habe ihn so gern gehabt. Alle haben ihn gemocht, da können Sie fragen, wen Sie wollen. Deshalb … war es vielleicht ein Unfall?« Er legte sich die gefalteten Hände vor den Mund. »Mein Gott. Bei der letzten Vorstellung, vor drei Tagen, haben wir in der Garderobe noch seinen Geburtstag gefeiert, und er hat sich so sehr gefreut.«

»Wie hieß der Mann denn mit vollem Namen?«, erkundigte sich Ahmed.

»Ulrich.« Die Antwort kam nicht von Freysam, sondern von dem Mann hinter ihm, der endlich seine Hand von der Schulter des Schauspielers genommen hatte. »Ulrich Schreiber. Dreiundsechzig Jahre alt, seit fast vier Jahrzehnten in der Garderobe des Burgtheaters beschäftigt. Er war eine Institution hier, wissen Sie?«

Ahmed musterte den Mann einige Sekunden lang schweigend. »Und Sie sind?«

»Norbert Golestani. Der Chefinspizient.«

Inspizient?, auf Finas fragenden Blick hin fuhr der Mann fort. »Ich bin dafür zuständig, dass alle Abläufe während der Vorstellung reibungslos ineinandergreifen. Mein Platz ist am Inspizientenpult, von dort aus gebe ich die Zeichen für Technik, Licht und Auftritte. Mache die Durchrufe durchs Haus und bin dafür verantwortlich, dass zur richtigen Zeit die richtigen Dinge passieren.« Er strich sich durchs ergrauende Haar. »Natürlich stehe ich Ihnen für alle Fragen sehr gerne zur Verfügung.«

In Finas Sichtfeld tauchte eine schmutzig weiße Gestalt auf. Georg, der sich die Kapuze des Overalls vom Kopf zog. Sein Haar klebte teils verschwitzt am Kopf, teils stand es in merkwürdigen Winkeln ab. Mit seinen wachen Augen und dem verschmierten Overall ließ sein Anblick Fina wieder einmal an einen Künstler denken. Er nickte ihr zu. »Wenn ihr so weit seid – gehört die Bühne euch.«

Fina und Ahmed wechselten einen Blick. »Herr Freysam, bleiben Sie bitte im Haus, wir möchten gern noch einmal mit Ihnen sprechen«, sagte Fina. »Alle anderen Mitwirkenden sollen bitte auch warten.« Sie sah sich schnell um. Oliver war mit einem Mann in dunklem Anzug beschäftigt, dessen Gesicht ihr ebenfalls aus den Medien bekannt vorkam. Der Direktor? Gut möglich. Er hatte beide Hände in den Hosentaschen und schüttelte unentwegt den Kopf, während er sprach. Als hoffte er, dadurch das Geschehene rückgängig machen zu können. Von Manfred war weit und breit nichts zu sehen.

Hinter Georg betraten sie die Bühne, die tatsächlich aussah, als hätte hier eine Schlacht getobt. Das lag nicht nur am großzügigen Einsatz von Theaterblut, das über den Bühnenboden verteilt war, sondern auch an den verstreuten Körperteilen, die täuschend echt aussahen. Ein abgerissener Arm, ein beinloser Torso, ein Kopf.

Inmitten dieses Chaos wirkte der Tote geradezu unspektakulär. Erst jetzt, als sie näher an ihn herantrat, war erkennbar, wie schmächtig er gewesen war. Man hatte ihn mittlerweile auf den Boden gelegt und einen provisorischen Sichtschutz um ihn herum aufgebaut. Fina ging neben ihm in die Hocke.

Dünne Arme, schmale Handgelenke, fast wie die einer Frau. Sie griff vorsichtig nach seiner rechten Hand.

Nicht mehr warm, aber beweglich. »Er muss wirklich erst knapp vor Ende der Vorstellung getötet worden sein«, sagte sie, mehr zu sich selbst.

»Das sagt auch Weigel.« Georg war neben sie getreten, immer noch den Fotoapparat in der Hand. »Er sagt, Schreiber ist vermutlich schon ein paar Minuten nach seinem Tod auf die Bühne hochgefahren worden. Er wurde erstochen, womit, ist noch unklar, aber es waren zwei Stöße: einer in den Rücken und einer von vorne, zwischen dritte und vierte Rippe. Sagt Weigel.« Georg blickte zu Boden, schien erst jetzt zu merken, dass er in einer Lache Kunstblut stand, und trat einen Schritt nach hinten.

Kunstblut. Fina richtete sich wieder auf, sah auch Ahmed den Bühnenboden betrachten. Sie hätte geschworen, dass er dasselbe dachte wie sie, noch bevor er es aussprach. »Alle Kostüme der heutigen Vorstellung müssen sichergestellt werden. Niemandem wären echte Blutflecke aufgefallen, wir müssen die Sachen überprüfen, bevor sie in die Reinigung gehen.«

»Sehr richtig.« Georg öffnete den Reißverschluss seines Overalls bis auf Nabelhöhe. »Bisher hat Weigel keine Abwehrverletzungen finden können, also hat Schreiber den Täter wohl gekannt. Naheliegend eigentlich, Fremde kommen gar nicht bis hierher.«

Ahmed blickte sich um. »Ich würde gerne noch mit Weigel sprechen. Wo steckt er?«

»Irgendwo auf dem Herrensologang. Einem der Schauspieler ist übel geworden, und Weigel war schneller zur Stelle als der Theaterarzt.«

»Herrensolo?«, wiederholte Ahmed fragend.

»Der Gang, auf dem sich die Sologarderoben befinden. Die für die männlichen Schauspieler.«

Am Bühnenrand sah Fina den Inspizienten auftauchen, Norbert Golestani, und neben ihm zwei Männer, die einen Aluminiumsarg trugen. Golestani kam näher, blieb aber in gut fünf Metern Entfernung zu dem abgeschirmten Toten stehen. »Können Sie … also, ist es so weit? Die Herren dort sagen, sie sollen Uli in die Gerichtsmedizin bringen.«

Georg nickte, Fina ebenfalls. Sie machten Platz für den Sarg und dessen Träger, stellten sich neben den besudelten Thron. Fina betrachtete die schmalen Spalten zu ihren Füßen, dort, wo die Stellfläche des Throns sich passgenau in den Bühnenboden eingefügt hatte.

»Herr Golestani?«

»Ja?« Er kam näher, mied dabei den Blick auf den toten Ulrich Schreiber, der eben in den Sarg gehoben wurde.

»Wo steht dieser Thron, bevor er auf der Bühne auftaucht?«

»In der Versenkung. Also, auf der Unterbühne.«

»Dann sollten wir uns dort einmal umsehen.«

2.

David hielt die Beine an den Fußgelenken fest, und sehr weit hinten in seinem Bewusstsein machte sich Erstaunen darüber breit, wie schwer sie waren. Sie gehörten dem Mann, der vor ihm auf dem Garderobensofa lag. Ralph Behrend, der in seiner Rolle als Lord Hastings schon im dritten Akt hingerichtet worden war, im wahren Leben aber nur halb bewusstlos unter Schock stand. Oder jedenfalls so tat, bei Behrend konnte man das nie wissen.

»Am besten, Sie legen seine Beine auf Ihren Schultern ab, dann strömt das Blut schneller zurück zum Gehirn«, schlug der hagere Mann vor, der angeblich Arzt war. Rechtsmediziner.

Folgsam hob David Behrends Beine, immer noch in den zum Kostüm gehörenden Stiefeln, weiter an, ging ein Stück in die Knie und platzierte die pummelig kurzen Waden des Schauspielers auf seinen Schultern. Hielt sie weiterhin mit beiden Händen fest und wartete darauf, dass Behrends blasses Gesicht wieder Farbe annahm.

Der Arzt nahm ein Blutdruckmessgerät aus seinem Koffer, legte die Manschette um Behrends Oberarm und pumpte sie auf. »Kaum erhöht«, murmelte er kurz darauf. »Nehmen Sie regelmäßig Medikamente?«

Der Schauspieler leckte sich über die Lippen und zuckte andeutungsweise mit den Schultern. »Globuli. Gegen das Lampenfieber.«

Bestens, er war wieder ansprechbar. David warf dem Arzt einen fragenden Blick zu, doch der beachtete ihn nicht, also würden Behrends Beine wohl bis auf Weiteres Davids Hauptaufgabe bleiben. Dabei wäre er gerne noch einmal auf die Hinterbühne gehuscht, oder in die Kantine. Aurora hatte angekündigt, dass sie gegen Ende der Vorstellung ins Theater käme, weil ein großer Teil des Teams, das im Sommer an der Produktion von Dantons Tod in Salzburg beteiligt war, gemeinsam essen gehen wollte.

David würde auch da nur das Mädchen für alles sein, aber der Regisseur hatte ihn eingeladen, sich der Runde anzuschließen, damit er dabei war, wenn sich alle kennenlernten. Was jetzt hinfällig war, das Essen würde natürlich nicht mehr stattfinden. Aber Aurora war vermutlich trotzdem im Haus, und er wollte …

Hinter ihm sprang die Tür auf, und David drehte sich reflexartig um.

Ein groß gewachsener Mann in Lederjacke, mit ins Haar geschobener Sonnenbrille war eingetreten und betrachtete das Szenario mit gerunzelter Stirn. »Professor Weigel, da sind Sie ja. Was machen Sie denn hier, Erste Hilfe leisten? Ich dachte, Sie sind nur für die Toten zuständig.«

Der Hagere war also wirklich Rechtsmediziner. David verlagerte sein Gewicht vom rechten Fuß auf den linken. Er fühlte sich fehl am Platz. Den Garderobier hatte er nur flüchtig gekannt und auch seinen Leichnam nicht selbst zu Gesicht bekommen. Sollte er nicht trotzdem schockierter sein? Was war er für ein Mensch, wenn die Frage, ob Aurora noch in der Kantine saß, ihn mehr beschäftigte?

Schon als der Vorhang frühzeitig gefallen und allgemeines Chaos ausgebrochen war, hatte er bloß nach ihr Ausschau gehalten; war von hektisch Umherlaufenden angerempelt worden. Und dann war Behrend direkt neben ihm zusammengeklappt.

Immerhin hatte er geistesgegenwärtig reagiert und sich zum ersten Mal seit fünf Jahren auf seine Erfahrung als Freiwilliger beim Roten Kreuz besonnen. Auch wenn David von Anfang an den Verdacht gehabt hatte, dass Behrends Zusammenbruch nicht ganz echt war. Sogar für einen Schauspieler war sein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ungewöhnlich hoch, und diesmal hätte mäkeliges Gemotze kaum genügt, um sie ihm zu verschaffen.

Jedenfalls hatte David ihn in die stabile Seitenlage gebracht und nach einem Arzt gerufen. Bei jeder Vorstellung musste einer anwesend sein, doch wer auch immer heute Dienst hatte, war offenbar anderswo beschäftigt gewesen.

Gemeinsam mit einem Bühnenarbeiter hatte David Behrend in seine Garderobe getragen. War bei ihm geblieben, bis nach endlos langer Zeit dieser Professor Weigel aufgetaucht war und die Dinge in die Hand genommen hatte.

»Mit dem Toten war ich fertig«, sagte er jetzt, zu dem Lederjackenmann gewandt, »aber der Kollege, der für die Lebenden zuständig wäre, war leider nicht auffindbar.« Er wandte sich an David. »Oder die Kollegin?«

»Tut mir leid, weiß ich nicht.« Auf ein Zeichen von Weigel legte er Behrends Beine endlich auf dem Sofa ab. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, würde ich jetzt …«

»Einen Moment noch.« Der Lederjackenmann hielt ihn an der Tür zurück. »Ihren Namen bitte.«

Er blieb stehen, widerwillig. »David von Lauenburg.«

Der Mann blinzelte irritiert. »Von? Adelstitel sind doch längst abgeschafft. Oder kommen Sie aus Deutschland? Hört sich fast so an.«

»Ja. Aus der Nähe von Münster.«

»Ah.« Es war schwer zu sagen, ob es nüchterne Kenntnisnahme oder Verachtung war, die der Lederjackenmann in diese eine Silbe legte. »Und in welcher Funktion sind Sie hier?«

»Ich bin Regieassistent. Es ist meine erste Saison am Burgtheater.« David beschloss, sich nicht länger wie einen unmündigen Schüler behandeln zu lassen. »Und Sie sind?«

Sein Gegenüber hob die linke Augenbraue. Ließ sich Zeit, bis er antwortete. »Polizei. Major Oliver Homburg, Mordgruppe zwei des LKA Wien.«

Major. David fand es höchst schräg, dass die Dienstgrade der österreichischen Polizei aus dem Vokabular des Militärs entliehen waren.

»Sie waren während der Vorstellung im Haus? Hinter der Bühne?«, fragte Homburg.

»Ja. Die meiste Zeit schon. Zwischendurch war ich auch in der Kantine, aber …«

»Dann werden wir uns mit Ihnen unterhalten müssen«, schnitt Homburg ihm das Wort ab. »Meinetwegen auch in der Kantine.« Damit drehte er David den Rücken zu und streckte Behrend die Hand entgegen. »Geht es Ihnen besser?«

»Es geht mir ganz entsetzlich«, sagte der Schauspieler, doch mehr hörte David nicht mehr, er war bereits draußen auf dem Gang und zog die Tür hinter sich zu.

Im Haus waren Schock und Trauer nun spürbar. Vor Garderobe eins standen zwei Frauen und hielten einander im Arm, eine weinte. Da und dort hatten sich Grüppchen gebildet, man unterhielt sich mit gedämpfter Stimme und ernstem Gesicht. Bühnenarbeiter, Requisiteure, Technik, Maske.

David war noch nicht allzu lange am Haus, aber auch er wusste, dass Ulrich Schreiber eine Legende gewesen war. Ein freundlicher Mann, der älter wirkte, als er war, und der wie auf Knopfdruck Theateranekdoten aus vier Jahrzehnten zum Besten geben konnte. Der die Wünsche und Eigenheiten der Schauspieler kannte. Den mit manchen von ihnen etwas wie Freundschaft verband.

Ein netter Kerl. Vielleicht stellte sich doch alles als tragischer Unfall heraus.

Als David in Richtung Bühne abbog, stieß er beinahe mit zwei Männern zusammen. Im ersten Moment dachte er, dass sie ein Requisit trugen oder ein Bauteil für die Kulisse. Aber es war ein Metallsarg. Der Anblick dieses nüchternen Gegenstands verlieh dem Geschehenen plötzlich reales Gewicht, mehr als die aufgeregten Stimmen hinter der Bühne oder Behrends Zusammenbruch.

David wich zurück und ließ die Träger passieren. Sie steuerten auf den Sichtschutz zu, neben dem eine gestikulierende Gestalt im weißen Overall auf zwei Leute einredete: eine kleine, stämmige Frau mit schulterlangem, dunklem Haar und einen südländisch wirkenden Mann, der mit verschränkten Armen dastand und immer wieder nickte.

David wandte sich ab und querte die Seitenbühne. Nirgendwo eine Spur von Auroras weißblonder Mähne, die ihre Trägerin in jedem Raum aufleuchten ließ wie einen Sonnenstrahl.

Er lief die Treppen hinunter in Richtung Kantine, und dort saß sie. Nicht alleine, leider, sondern zusammen mit Pierre Kasseletz und einer Frau, die David nicht kannte.

Als er näher kam, blickte Aurora auf und hob eine Hand. Griff nach seiner und zog ihn auf den letzten freien Stuhl. »David! Setz dich her! Mein Gott, ich kann überhaupt nicht glauben, was passiert ist. Warst du dabei? Hast du es gesehen?«

Immer noch hielt sie seine Hand, und trotz der schrecklichen Geschehnisse des Abends stieg eine Welle von Glück in ihm hoch. »Ich war in der Nähe, aber … es war totales Chaos. Der arme Mann. Unbegreiflich.«

»Du hast mit der Polizei gesprochen, nicht wahr?«, schaltete Pierre sich ein. »Weiß man schon Genaueres?«

»Nein.« David versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass die geweiteten Augen und der vorgebeugte Oberkörper seines Gegenübers echtem Mitgefühl geschuldet waren, nicht bloßer Sensationsgier. Er mochte Pierre, ebenso wie er auch Goran mochte, seinen Lebensgefährten. Aber Pierre war eine Mensch gewordene Buschtrommel. Er wusste alles und erzählte alles weiter, wobei er gerne effektvolle Schnörkel dazudichtete.

»Wenn ihr Details hören wollt, fragt ihr den Falschen«, erklärte David. »Der Horizont versperrt einem von der Seite her den Blick auf die halbe Bühne.«

»Horizont?«, warf die junge Frau ein, die er nicht kannte.

»Ja, der Rundhorizont. Ist Teil des Bühnenbilds, eine riesige Leinwand, auf die Projektionen und Lichteffekte gespielt werden. Jedenfalls habe ich den Thron nicht hochfahren sehen. Den Vorhang fallen schon, und dann war der Teufel los. Samuel ist sofort zu Schreiber gestürzt, Freysam hat nach dem Arzt geschrien, irgendwann ist Behrend auf die Bühne gerannt, und kaum war er wieder zurück, ist er umgekippt.« Davids Kehle war trocken, er räusperte sich, und Aurora schob ihm ihr Glas hin. Er trank einen Schluck, setzte es genau da an, wo Spuren ihrer Lippen zu erkennen waren.

»Danach habe ich mich eigentlich nur noch um Behrend gekümmert«, fuhr er fort. »Dem ist der Kreislauf ex gegangen, wir mussten ihn praktisch in die Garderobe tragen. Dort hat ihn später der Gerichtsmediziner versorgt.«

Pierre lehnte sich zurück und blickte sich in der Kantine um. Hielt wohl Ausschau nach jemandem, der näher am Zentrum des Geschehens gewesen war. »Samuel war vorhin kurz hier, der hat fast geheult.«

»Kein Wunder, er hat als Erster gesehen, was los ist«, meinte David. »Der Thron fährt direkt neben Richmond hoch, das heißt, Samuel war höchstens vier Schritte entfernt.«

»Hm.« Pierre drehte sein Glas zwischen den Händen. »Erschreckt hat er sich ganz bestimmt, aber wenn ihm die Tränen kommen, dann aus anderen Gründen.« Er legte eine effektvolle Pause ein. »Ich glaube, er hat Angst, dass sie sich ihn ganz besonders vorknöpfen werden. Ihr wisst schon, wegen seiner Vorstrafe.«

Nein, das wusste David nicht. »Welche Vorstrafe?«

»Ist ewig her. Sex mit Minderjährigen. Das hat ihn damals die große Karriere gekostet, die im Ausland. Ein paar Jahre lang war er weg vom Fenster, hat nicht einmal Sprecherjobs gekriegt. Ich habe gehört, er hat in der Provinz Requisite gemacht, Stellwerk, war sogar Busfahrer für Tourneen, um sich über Wasser zu halten. Muss eine schauderhafte Zeit für ihn gewesen sein.« Pierres Ton nach zu schließen, hielt sein Mitleid sich in Grenzen. »Wenn es mal eine Akte über dich gibt, stehst du bei Ereignissen wie heute ganz oben auf der Verdächtigenliste. Samuel macht sich ins Hemd, wenn er Polizei nur sieht.«

Minderjährige. So hatte David Samuel Sievert nicht eingeschätzt. Andererseits war es voreilig, einer solchen Erzählung einfach zu vertrauen. Vor allem, wenn sie von Pierre kam. »Falls das stimmt, muss er im Gefängnis gewesen sein.«

»Bewährung, glaube ich.«

»Und er hat trotzdem wieder einen Fuß auf den Boden bekommen?« Die Frau neben Aurora, die sich bisher nicht vorgestellt hatte, verzog ungläubig das Gesicht.

»Er hat noch mal ganz von unten begonnen, und natürlich hat er überall erzählt, dass er nichts geahnt hat. Dass er dumm war, ahnungslos und so weiter.« Betont unschuldig klapperte Pierre mit den Lidern. Bambiartig. »Er hatte Glück, dass damals noch keine Rede von MeToo war. Und er war sehr geschickt, was die Medien angeht. Hat es geschafft, sie auf seine Seite zu ziehen, weil er gewissermaßen im Büßerhemd vor ihnen gekrochen ist.«

»Muss vor Twitter gewesen sein«, bemerkte die Frau.

»Definitiv. Aber wenn ich ehrlich bin, ist mir das gerade egal.« Pierres rundliches Gesicht war ernst geworden, erstmals war darin echte Betroffenheit zu sehen. »Uli Schreiber«, murmelte er. »Ausgerechnet. So ein netter alter Knabe. Er war ja eher für die großen Namen zuständig, aber die paarmal, die er mich ins Kostüm gesteckt hat, waren immer großer Spaß. Der konnte einem das Lampenfieber nehmen wie kein Zweiter.«

Ein paar Sekunden schwieg er, bevor er in einer schwungvollen Geste sein Glas hob, in dem sich nur noch eine Ahnung von Rotwein befand. »Auf Uli!« Er strich sich eine hellbraune Strähne hinters Ohr. »Du warst ein Schatz, und wer dich auf dem Gewissen hat, soll in der Hölle brennen.« Er hob das leere Glas an die Lippen, zuckte mit den Schultern und setzte es wieder ab. »Warum eigentlich nicht Freysam, der arrogante Hurensohn? Da würden mir ein paar Leute einfallen, denen er tot lieber wäre als lebendig.«

»Ach komm«, warf Aurora ein. Sie hatte die ganze Zeit über schweigend zugehört und nervös mit ihren Haaren gespielt. »Er ist kein übler Kerl. Er hat mir angeboten, mit mir an meinem Monolog zu arbeiten.«

»Ha!«, rief Pierre, senkte aber sofort die Stimme, als sich ihm von den Tischen rundum die Köpfe zuwandten. »Herzchen, sag bitte nicht, dass du zu naiv bist, um zu begreifen, was er damit meint.«

Etwas in Davids Innerem dehnte sich, als wäre da eine Sehne in seiner Brust, die zu reißen drohte. Hatte Freysam tatsächlich ein Auge auf Aurora geworfen? Damit würde er sich doch nur lächerlich machen, sie war zweiundzwanzig, und er? Sechsundfünfzig, siebenundfünfzig?

Aber er war eine Berühmtheit. Ein Gesicht, das jeder kannte, und dieses Gesicht sah immer noch gut aus. Jemand wie er konnte Auroras Karriere den entscheidenden Schub versetzen, wenn er wollte.

War sie für einen solchen Deal zu haben?

Schwer zu sagen, denn mehr als ein angedeutetes Schulterzucken war Pierres Bemerkung ihr nicht wert. Für ein paar Sekunden trat Schweigen ein. Bis David einen Gedanken aussprach, der ihn beschäftigte, seit er an diesem Tisch saß. »Glaubt ihr, wir kennen den, der Uli getötet hat?«

»Das wäre für mich eine gruselige Vorstellung«, murmelte Aurora. »Dass ich mit diesem Menschen plaudere, lache, ihn vielleicht umarme …« Sie verstummte.

»Die Wahrscheinlichkeit ist groß«, stellte Pierre in sachlichem Ton fest. »Ich wüsste nämlich nicht, wie jemand von außerhalb das hätte hinbekommen sollen. Der Durchgang vom Publikumsbereich zum Bühnenbereich ist abgesperrt, und am Bühneneingang muss jeder beim Portier vorbei. Wir doch auch, immer.«

»Ist trotzdem machbar«, sagte Aurora und wies auf die Frau, die neben ihr saß. »Sonst wäre Ricarda kaum hier, oder? Nachdem sie mit mir zusammen gekommen ist, hat niemand groß nachgefragt. Was glaubst du, wie viele hausfremde Leute tagsüber ein und aus spazieren? Lieferanten, Handwerker …« Sie rückte den Anhänger an ihrem Halskettchen zurecht. Ein silberner Vogel mit ausgebreiteten Schwingen und Saphiraugen. »Man müsste sich nur irgendwo im Haus verstecken.«

Ricarda also. David streckte ihr die Hand entgegen. »Ich weiß nicht, wie viel Aurora schon über mich erzählt hat. Ich bin David.«

»Hallo.« Ihr Gesicht blieb ernst. »Freut mich.«

»Ricarda ist Fotografin«, erklärte Aurora. »Wir hatten ein tolles Shooting vorhin, und ich dachte, ich nehme sie zu unserem Abendessen mit, so zum Ausklang. Stattdessen sitzt sie jetzt an einem Tatort fest. Tut mir echt leid und …«

Sie unterbrach sich mitten im Satz, denn die Kantinentür sprang auf, und im Eingang stand Freysam. Immer noch im Kostüm, immer noch voller Bühnenblut und sichtlich erschöpft, wirkte er mehr denn je, als hätte er eben eine Schlacht geschlagen. Er blickte sich um, entdeckte Aurora und steuerte auf ihren Tisch zu.

»Ich brauche etwas zu trinken«, stieß er hervor. »Holt mir jemand etwas? Ihr wisst ja gar nicht, wie furchtbar das war. Dieser Anblick wird mich nie mehr loslassen, nie mehr. Kann jemand mir etwas zu trinken holen?«

David war schon dabei, aufzustehen, doch Pierre kam ihm zuvor. »Ich brauche auch Nachschub«, sagte er und verdrehte kurz die Augen, so, dass Freysam es sehen konnte. Dann verschwand er in Richtung Theke.

Sofort ließ Freysam sich auf den frei gewordenen Stuhl fallen und griff wie Hilfe suchend nach Auroras Hand. »Mein Gott. Wenn ihr das gesehen hättet. Es ist so entsetzlich. Uli war der liebenswürdigste Mensch hier.«

Davids Blick war starr auf Freysams blutverschmierte Hand gerichtet, mit der er die von Aurora umschloss. Sein Daumen strich sanft über ihren Handrücken, immer wieder.

Sie würde sie gleich wegziehen, sobald die Höflichkeit es erlaubte. Ganz bestimmt.

Doch das tat sie nicht.

3.

Das hier ist der Bauch des Theaters, dachte Fina, als sie die Unterbühne erreichten. Kabel, Stahlträger, Hebel und andere Bedienelemente hätten den Eindruck nüchterner Technik vermittelt, wäre da nicht dieser überdimensionale Puppenkopf gewesen, der ihnen aus dem Halbdunkel entgegenstarrte. Ein Kindergesicht, ungefähr so hoch wie Ahmed groß – und natürlich getränkt in das offenbar unvermeidliche Theaterblut. Ein Auge fehlte, aus der blicklosen Höhle ragte ein Schwert, der Mund war aufgerissen wie zu einem Schrei.

»Von hier aus fährt der Thron nach oben, wenn vom Inspizientenpult das Zeichen kommt«, erklärte Golestani. »Aber das wird natürlich längst nicht mehr per Hand gemacht, der Hub wird über ein zentrales Panel gesteuert. Das heißt, es muss niemand direkt dabeistehen.«

Finas Blick hing an dem verstörenden Puppenkopf. »Hatte Herr Schreiber etwas hier zu erledigen? Was tut jemand, der für Kostüme zuständig ist, in diesem Bereich?«

Golestani überlegte einige Sekunden lang. »Manchmal gibt es schnelle Umzüge«, sagte er dann. »Wenn ein Schauspieler von der Bühne abgeht und kurz darauf in neuem Kostüm wieder auftreten soll, kann die Zeit zu knapp sein, um in die Garderobe zu gehen. Dann wartet der zuständige Garderobier an Ort und Stelle, allerdings passiert das eher auf der Seiten- als auf der Unterbühne. Und bei dieser Inszenierung eigentlich gar nicht.«

Über ihnen waren eilige Schritte zu hören. Knarzen, Poltern, gedämpfte Stimmen, die Anweisungen riefen. Wurde oben aufgeräumt, alles für die morgige Vorstellung vorbereitet? Konnte es die überhaupt geben? »Wie lange steht der Thron auf seiner Position, bevor er nach oben fährt?«, fragte Fina. »Und wann befindet sich zum letzten Mal jemand in seiner Nähe?«

Wieder überlegte Golestani. »Wenn Ihre Frage darauf abzielt, wie viel Zeit man hätte, um einen Toten dort abzulegen – fünfzehn Minuten, schätze ich. Ihn ungesehen hierherzuschaffen ist aber praktisch unmöglich, das heißt …«

Dass Ulrich Schreiber wohl selbst zur Unterbühne hinabgestiegen und hier getötet worden war, setzte Fina den begonnenen Satz in Gedanken fort. Vermutlich war die Tatortgruppe bereits zum gleichen Ergebnis gekommen; auf jeden Fall hatten Georg und seine Leute hier reichlich Spuren gesichert. Das weiße Fingerabdruckpulver klebte großzügig an Hebeln, Handläufen und Metallträgern.

Fünfzehn Minuten. »Hätte man Hilfeschreie auf der Bühne gehört?«, erkundigte sie sich. »Oder ein Streitgespräch?«

»Kaum.« Golestani schüttelte den Kopf. »Das Stück ist dann fast zu Ende, und in der letzten Szene tobt eine Schlacht. Dazu spielen wir Kampflärm ein – Schwertklirren, Pferdegewieher und Schreie.«

Also der perfekte Zeitpunkt. Ein echter Schrei hätte sich ganz natürlich in die Geräuschkulisse eingefügt. Schien, als hätte der Täter Talent für Timing.

»Der Kopf dort«, Ahmed deutete auf das gequälte Puppengesicht, »der wird ebenfalls von hier auf die Bühne gehoben? In der Prinzenszene, vermute ich?«

Es gelang Fina nur mit Mühe, ihr Erstaunen zu verbergen. Ahmed war so vertraut mit Shakespeare, dass er die einzelnen Szenen kannte? Offensichtlich, ja, denn Golestani nickte.

»Genau. Im vierten Akt, wenn die beiden Kinder ermordet werden. Danach räumen die Bühnenarbeiter den Kopf nach hinten und stellen den Thron auf die Plattform.«

Sie würden schnellstmöglich mit den Arbeitern reden müssen; wenn jemand rund um die Tatzeit etwas Ungewöhnliches bemerkt hatte, dann sie. Fina blickte sich noch einmal um, doch was zu sehen gewesen war, hatten sie gesehen. Zeit, wieder nach oben zu gehen.

Ahmed hingegen schien noch nicht fertig zu sein. Er ging die paar Schritte bis zu der Stelle, an der der monströse Kopf geparkt war, und beäugte ihn von oben bis unten. Bückte sich ein Stück und hielt inne. »Fina? Komm doch mal her.«

»Ja? Stimmt etwas nicht?«

Er deutete in den geöffneten Mund des Puppenkopfs. »Ich glaube, da drin liegt etwas.«

Sie kniff die Augen zusammen. Ja, sie sah es auch, ganz hinten. Sie zückte ihr Handy und aktivierte die Taschenlampenfunktion. Der Gegenstand schimmerte metallisch matt im Lichtstrahl.

»Volltreffer«, stellte sie fest, behielt das Telefon in der Hand und rief Georg an.

 

»Skandal, dass wir das übersehen haben.« Georgs düster umwölkter Blick war auf das lange Messer im Spurensicherungsbeutel gerichtet. Auf den ersten Blick schien es sauber zu sein – gewissermaßen das einzige Requisit im Bühnenbereich, das nicht vor Blut triefte.

Allerdings machte es auch nicht den Eindruck, als gehörte es zum Stück. Eher in die Kantinenküche. »Würde es zum Verletzungsmuster passen?«, wollte Fina wissen.

»Auf den ersten Blick würde ich Ja sagen, aber das solltet ihr euch von Weigel bestätigen lassen.« In unübersehbarer Frustration schüttelte Georg den Kopf. »Ich schicke gleich noch mal zwei Leute hier runter. Diesmal achte ich selbst darauf, dass uns nichts mehr entgeht.« Er wandte sich um und verschwand wieder nach oben, undeutlich vor sich hin murmelnd.

Ahmed und Fina folgten ihm kurz darauf, nur um auf Oliver zu stoßen, der mitten auf der Hauptbühne stand und sich mit einer Frau in einem blau schillernden Kostüm unterhielt, etwa Mitte dreißig und zu hundert Prozent Olivers Beuteschema. Es war unverkennbar, allein seine Körperhaltung sprach Bände.

Als er Fina und Ahmed kommen sah, wandte er ihnen fast demonstrativ den Rücken zu. »Lass gut sein«, sagte Ahmed, der Finas instinktive Angriffshaltung bemerkt haben musste.

»Ja, klar, wir arbeiten, und er schäkert rum.«

»Er befragt eine Zeugin, Fina. Wo steckt eigentlich Manfred?«

»Keine Ahnung.« Sie drehte sich um die eigene Achse. Der Vorhang war immer noch geschlossen, der Blick auf den Zuschauerraum versperrt. »Kompliment übrigens zu deinem Fachwissen, was englische Dramen angeht. Die Prinzenszene? Wow.«

»Ich hatte einmal eine Freundin, die mich ständig ins Theater geschleppt hat. Wenn du willst, kann ich dir auch ein paar Brecht-Zitate um die Ohren hauen.«

»Später.« Fina steuerte auf einen uniformierten Polizisten zu. Er stand mit verschränkten Armen am Rand der Seitenbühne, die sich merklich geleert hatte. »Ich suche meinen Kollegen, Manfred Burgstaller. Mittelgroß, gut genährt, freundliche Hängebacken, hinkt. War er hier?«

Der Mann überlegte. »Glaube nicht. Aber ein paar Zeugen warten noch in den Garderoben und der Kantine.«

»Okay.« Fina sah sich nach Golestani um, den sie als ortskundigen Begleiter nicht so schnell aus den Augen hätten lassen sollen. Die Requisiteurin, die sich an seiner Stelle anbot, leitete sie nicht auf dem kürzesten Weg zu den Garderoben, dessen war Fina sich sicher. Stattdessen nutzte sie die Zeit, um alle ihre Erinnerungen an Ulrich Schreiber loszuwerden – zweifellos in der Hoffnung, im Gegenzug Insiderdetails zur Tat zu erhalten. »Drei Tage ist es erst her, dass wir auf Uli angestoßen haben. Bei der letzten Richard-Vorstellung. So eine schöne Feier war das, es hat Torte gegeben und Sekt, ein paar Schauspieler haben sogar für ihn gesungen.«

Finas Schweigen und Ahmeds höfliche Nichtantworten frustrierten sie sichtlich. »Ist ja fast, als würden Sie mich verdächtigen!«, sagte sie zum Schluss, doch auch darauf bekam sie keine Reaktion, die als Erzählung taugte. Nur ein Lächeln von Ahmed. »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie stehen auf unserer Liste ganz hinten.«

 

Warum eigentlich, fragte sich Fina, als sie an die erste Tür im Herrensologang klopften. Die Frau war von der Requisite gewesen. Sie hatte sicher auch mit den Bühnenmessern zu tun, und ihre Neugier konnte durchaus andere Gründe haben als reine Lust an der Sensation.

Die Garderobentür wurde geöffnet, und wieder blickte Fina in ein bekanntes Gesicht. Eines von denen, die ihre Faszination nicht aus besonderer Symmetrie schöpften, sondern eher aus dem Gegenteil. Die große Nase war ein wenig schief, das Kinn sprang vor, eine Augenbraue stand geringfügig höher als die andere.

»Sie haben sich schon umgezogen«, war das Erste, das Fina sagte.

»Ja. Und mein Kostüm den Herrschaften von der Spurensicherung übergeben.« Er ging einen Schritt zur Seite, um sie eintreten zu lassen, und als sie sich vorstellten, reichte er beiden die Hand. »Mein Name ist Samuel Sievert. Es ist so furchtbar, was passiert ist.«

»Ja.« Fina setzte sich auf den angebotenen Platz. »War Ulrich Schreiber auch bei Ihnen fürs Kostüm zuständig?«

Sievert schüttelte erst den Kopf, dann nickte er. »Manchmal schon, das letzte Mal ist aber schon einige Zeit her.«

Noch bevor Fina ihre nächste Frage stellen konnte, hob Sievert die Hand. »Bitte. Mir ist klar, dass Sie meine Geschichte kennen und die Probleme, die ich mit dem Gesetz hatte. Aber die Sache ist so lange her. Ich war damals einfach ahnungslos und bin wie ein dummer Junge in die Katastrophe geschlittert.«

Die Katastrophe? Fina tauschte einen Blick mit Ahmed, der ebenso wenig wie sie zu wissen schien, worum es ging. Sievert zog aus der kurzen Interaktion offenbar seine eigenen Schlüsse. »Natürlich fällt Ihr erster Verdacht jetzt auf mich. Aber das war doch eine völlig andere Geschichte damals! Und wie gesagt, es ist ewig her. Wirklich … Sie wissen ja gar nicht …«

»Vollkommen richtig«, unterbrach ihn Fina. »Wir wissen gar nicht, wovon Sie reden. Wären Sie so freundlich, uns aufzuklären?«

Es war nicht zu übersehen, dass ihr Einwurf Sievert aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Vermutlich war er die ganze Zeit seit dem Auftauchen des Toten damit beschäftigt gewesen, sich Worte der Verteidigung zurechtzulegen; stattdessen musste er nun einen Sachverhalt erklären, der ihm sichtlich unangenehm war.

Er griff nach der rot eingefassten Brille, die auf dem Tisch lag, setzte sie auf, nahm sie wieder ab. »Ich wurde vor vielen Jahren einmal verurteilt wegen … Sex mit Minderjährigen. Sie können die Akten sicher jederzeit einsehen. Das Mädchen hat wie zwanzig ausgesehen, aber es war erst fünfzehn, und ich war zu dumm, um nach einem Ausweis zu fragen.« Er verzog die Lippen zu einem schmerzlichen Lächeln. »Tut man ja eher selten in romantischen Situationen.«

Romantisch. Fina verbiss sich einen spitzen Kommentar. »Davon wussten wir nichts. Aber gut, dass Sie es gleich ansprechen. Wie lange ist das her?«

»Neunzehn Jahre. Ich war damals Anfang dreißig, frisch getrennt und … na ja, umtriebig. Nach der Vorstellung warten immer reihenweise Mädchen am Bühnenausgang, weil sie Autogramme wollen. Und manche …« Er schloss die Augen. »Es beginnt als gemeinsamer Drink und endet im Bett, und es passiert ständig. Mir allerdings nicht mehr.«

Eine unbehagliche Pause entstand, die Sievert nicht lange ertrug. »Ich weiß schon, welches Licht das auf mich wirft«, sagte er betont würdevoll.

»Hatte Ulrich Schreiber denn etwas mit der Sache zu tun?«, fragte Ahmed. Mittlerweile kannte Fina ihn zu gut, als dass die mühsam unterdrückte Missbilligung in seiner Stimme ihr entgangen wäre.

»Uli? Nein, natürlich nicht. Aber ich habe ihm leidgetan. Ist schon Pech, dass es ausgerechnet dich erwischt, hat er gesagt. Ich könnte dir von allen, die jetzt so moralisch tun, Geschichten erzählen, bei denen dir übel werden würde.«

»Und?«, fragte Ahmed. »Hat er?«

»Was?«

»Ihnen diese Geschichten erzählt.«

»Nein. Er war durch und durch anständig, der Uli. Dem konnte man alles anvertrauen, er hat geschwiegen wie ein …«

Sievert bremste sich ein, doch das unausgesprochene Wort »Grab« hallte dennoch durch Finas Kopf.

»… wie ein echter Gentleman.« Er atmete hörbar aus.

»Wenn das so ist, wieso sollte dann unser erster Verdacht auf Sie fallen, Herr Sievert?« Wieder folgte eine Pause auf Ahmeds Frage, die Fina nutzte, um die Fotos zu betrachten, die am Rand des Schminkspiegels klemmten. Sievert in diversen Kostümen, auf diversen Events. Nirgendwo Bilder von Kindern oder einer Frau.

»Nun, weil ich schon einmal auf Bewährung verurteilt worden bin. Läuft das denn nicht so? Dass Sie Ihr Hauptaugenmerk auf Menschen richten, über die es bereits eine Akte gibt?«

Ahmed öffnete den Mund zu einer Antwort, schien es sich dann aber anders zu überlegen. »Herr Sievert, zu dem Zeitpunkt, als der Thron von der Unterbühne nach oben gefahren wurde, wo waren Sie da?«

»Drei Schritte entfernt.« Die Augen des Schauspielers glänzten verdächtig, er wischte sich hastig übers Gesicht. »Ich stehe auf der Bühne, wenn der Thron auftaucht. Es ist der letzte Kampf zwischen Richard und Richmond, danach kommt noch ein Monolog, und die Vorstellung ist vorbei.« Er schluckte und versuchte, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. »Ich habe zuerst gar nicht kapiert, was ich sehe, dabei kenne ich Uli seit Jahren. Als der Vorhang gefallen ist, bin ich hingerannt und habe versucht, ihm zu helfen, aber …« Sievert brach ab, als müsse er sich erst fangen, bevor er weitersprechen konnte. »Uli war so etwas wie der gute Onkel für uns alle. Aber am besten hat ihn wohl Jasper Freysam gekannt. Er hat ihn praktisch als Privateigentum beansprucht, jedes Mal, wenn er hier gespielt hat.« Aus dem letzten Satz meinte Fina etwas wie Verbitterung herauszuhören. Als wäre Schreiber nicht das Einzige, was Freysam für sich beanspruchte.

Überhaupt wirkte Sievert nun anders als zu Beginn, beinahe verschlossen. Als würde er seine Offenheit von vorhin bereuen, sein Geständnis, das ihm keinerlei Bonuspunkte bei ihnen eingebracht hatte.

Fina stand auf, Ahmed tat es ihr nach. »Gut, Herr Sievert. Für den Moment ist das genug. Aber wir werden Sie bestimmt noch einmal sprechen müssen.«

»Sie haben mich gar nicht gefragt, ob ich vor meinem letzten Auftritt genug Zeit für die Tat gehabt hätte.«

Ahmed lächelte. »Das können wir uns selbst ausrechnen.«

4.

Irgendwann hatte Aurora doch noch ihre Hand aus Freysams Griff gezogen, und zwar als die zwei Polizisten die Kantine betreten hatten. Einer war der Typ, der David in Behrends Garderobe vernommen hatte. Der Major. Nun stand er da, schob wieder die Sonnenbrille im Haar zurecht und sah sich suchend um. Der andere war auf den ersten freien Stuhl geplumpst und rieb sich den Fußknöchel.

David fühlte sich von Minute zu Minute elender. Erst jetzt kam die Erkenntnis, was da eigentlich passiert war, auch gefühlsmäßig bei ihm an. Während er auf der Seitenbühne gestanden hatte, das Textbuch in der Hand, war ein paar Meter unter ihm ein Mensch ums Leben gekommen. Gewaltsam und ohne dass jemand von ihnen etwas davon mitbekommen hatte.

Die, die auf die Bühne gerannt waren, kaum dass der Vorhang gefallen war, hatten von viel Blut gesprochen, also war Schreiber wohl erstochen worden? Oder erschlagen? Denn einen Schuss, überlegte David, hätte er hören müssen.

Er wünschte, er hätte grünes Licht bekommen, nach Hause zu gehen. Wo er sich in das knarzende Bett in seiner winzigen Wohnung legen und sich die Decke bis zum Haaransatz ziehen würde.

Er hatte keine Lust, Aurora dabei zu beobachten, wie sie wiederum Freysam beobachtete, der sich zu dem Sonnenbrillenpolizisten gesellt und ihn in ein Gespräch verwickelt hatte. Ohne große Gesten wie sonst, sondern mit leicht gebeugten Schultern und hängenden Armen stand er da. Wie ein Büßer vor dem Gang aufs Schafott. Vielleicht war das schon seine Interpretation des Danton, des todgeweihten Revolutionärs, als der er in Salzburg demnächst den Kopf verlieren würde, zwölf Mal.

Nachdem Freysam wieder abgezogen war, hatten Aurora, Pierre und Ricarda das Thema gewechselt. Sie sprachen nun über ihre Erfahrungen mit dem Tod nahestehender Menschen – eine Konversation, der David sich nicht anschließen wollte. Weder hatte er eine tote Mutter wie Aurora noch einen toten Bruder wie Pierre, und was Ricarda über die ermordete Ex-Freundin eines ihrer früheren Dates erzählte, war vermutlich erfunden.

Am besten, er ging jetzt einfach, ohne groß Erlaubnis einzuholen. Auf eigene Verantwortung, befragt hatten sie ihn schließlich schon, nicht wahr? Doch in dem Moment, als er sich von seinem Stuhl erhob, betrat Lore die Kantine, Lore Gebauer, die heute die Margaret gespielt hatte. Die Königin, deren gesamte Familie von Richard ermordet wurde.

Sie sah müde aus, ihr Gesicht glänzte von der Reinigungsmilch, mit der sie die Bühnenschminke entfernt haben musste; auf privates Make-up hatte sie verzichtet. Unwillkürlich zog David den Kopf zwischen die Schultern. Trotz ihrer schmalen Gestalt, dank derer man sie von hinten für einen dreizehnjährigen Jungen halten konnte, fand David sie einschüchternd. Bei den Proben hatte sie ihm mehr Respekt eingeflößt als jeder andere im Ensemble, weil sie nie den Eindruck erweckte, irgendjemandem gefallen oder sympathisch sein zu wollen. Sie war von grausamer Direktheit, das hatte auch er mehrmals am eigenen Leib erfahren. Lore zufolge war er ein nach Lob heischendes Schoßhündchen. Auf wessen Schoß er es sich bequem gemacht haben sollte, hatte sie nicht näher ausgeführt.

»David!« Sie hatte ihn entdeckt, winkte ihn zu sich. »Marie sitzt noch in der Garderobe und ist völlig verstört. Der Arzt soll ihr etwas zur Beruhigung hochbringen, kümmerst du dich bitte? Jetzt?« Damit wandte sie ihm schon wieder den Rücken zu und trat zu dem fülligen Polizisten, der immer noch mit seinem Fußgelenk beschäftigt war. »Sie sind von der Polizei, nicht wahr? Ich würde gerne eine Beobachtung zu Protokoll geben.«

Der Mann richtete sich auf und deutete auf den Stuhl gegenüber. »Wir sind dabei, alle Mitwirkenden des heutigen Abends zu befragen, aber wenn Sie es eilig haben – bitte.«

Wie zu erwarten gewesen war, blieb Lore stehen. »Sie sind dabei? Ich sehe hier gar niemanden, den Sie befragen. Wie machen Sie das denn, telepathisch?«

Das Gesicht des Polizisten ließ David an ein erstauntes Robbenbaby denken; er hätte zu gern dessen Antwort gehört, doch Lore hatte ihn bereits wieder im Visier. »Worauf wartest du? Marie! Arzt! Beruhigungsmittel! Was davon hast du nicht kapiert?«

Er würde sich auf keine Diskussion einlassen. Ohne ein Wort verließ er die Kantine, fand Golestani auf der Hinterbühne und erfuhr von ihm, dass heute eine Ärztin Dienst hatte.

Diese wiederum fand er im Zuschauerraum, wo sie in ein Gespräch mit dem Gerichtsmediziner vertieft war.

»Wir bräuchten Ihre Hilfe bei einer der Schauspielerinnen«, sagte er. »Sie ist sehr … aufgewühlt, und ein Beruhigungsmittel wäre hilfreich.«

Die Ärztin schien den Weg zu kennen, sie lief voran, und David folgte ihr mit ein paar Schritten Abstand. Schoßhündchen, dachte er. Sie mussten zweimal klopfen, bis aus dem Inneren ein zaghaftes »Herein« zu hören war.

Marie, noch im Kostüm, lag auf der Couch, ihr Gesicht so weiß wie ihr Kleid. David hatte am Rande wahrgenommen, dass sie mit ein paar anderen auf die Bühne gelaufen war, während er mit Behrend zu tun gehabt hatte. Der Eindruck des Toten auf seinem Thron schien sie nachhaltig verstört zu haben.

Die Ärztin setzte sich auf einen Stuhl neben die Couch, und David schloss die Tür von außen.

Als er in die Kantine zurückkam, waren Aurora, Pierre und diese Ricarda verschwunden. Einen kurzen, schmerzhaften Augenblick lang war David davon überzeugt, dass sie nur darauf gewartet hatten, bis er den Raum verließ, um sich aus dem Staub zu machen. Dass sie die erste Gelegenheit genutzt hatten, um ihn loszuwerden.

Was natürlich Unsinn war. Er musste an seinem Selbstbewusstsein arbeiten, das hatten ihm seine Lehrer wiederholt eingebläut. Wer Regie führen will, muss sich durchsetzen können. Wer gegen die Egos von Schauspielern ankommen möchte, muss selbst eines haben.

Ein Ego. Das besaß er durchaus, was er schon deshalb wusste, weil es sich ständig wund anfühlte. Er unterdrückte das Bedürfnis, Lore die Erledigung ihres Auftrags zu verkünden – sie sprach ohnehin noch mit dem Robbenbaby –, und steuerte auf den Sonnenbrillenbullen zu. »Kann ich Ihnen noch irgendwie helfen? Ich würde sonst gerne nach Hause gehen.«

Ein missbilligender Blick. »Wer waren Sie noch mal? Der Regieassistent, nicht? Der Graf?«

David fühlte, wie er rot wurde. »Kein Graf, aber ja, ich bin …«

»Schon gut. Ihre Kontaktdaten bekommen wir über das Personalbüro, Sie können gerne gehen, heute brauchen wir Sie nicht mehr.«

Erleichtert machte David sich auf den Weg. Verließ das Theater durch den Bühneneingang und blieb stehen, kaum dass er draußen war. Atmete tief durch. Wenn er jetzt zu Fuß nach Hause ging, würde er anschließend vielleicht schlafen können. Nachtluft. Stadtluft voller Lichter und Geräusche. So verheißungsvoll, aber leider war Wien bisher nicht sehr freundlich zu ihm gewesen. Auch nach mehr als einem halben Jahr fühlte er sich noch wie ein Fremdkörper. Begriff Anspielungen nicht, stand bei Insiderwitzen auf dem Schlauch, und wenn jemand richtig breites Wienerisch sprach, verstand er kein Wort.

Vor ihm lag der Ring, trotz der späten Stunde immer noch dicht befahren. Doch es waren nicht die Scheinwerfer der Autos, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen, es waren zwei viel kleinere Lichter zu seiner Rechten. Orangefarbene Zigarettenglut.

»… werde dir sicher nicht im Weg stehen«, hörte David eine gedämpfte Stimme sagen. Eine, die er gut kannte, auch wenn er nur den Umriss des Mannes im Schatten des Theatereingangs sah. Sievert, den man wohl auch schon hatte gehen lassen.

Der Zweite, der rauchend unter dem Torbogen stand, war ziemlich sicher Freysam. Was er antwortete, war zwar nicht zu verstehen, klang aber unwillig.

»Dann eben morgen«, sagte der Mann, den David für Sievert hielt, und wandte ihm im nächsten Augenblick den Kopf zu. Zwei Sekunden lang rührte er sich nicht, dann warf er seine Zigarette auf den Boden und ging auf David zu.

Damit waren alle Zweifel beseitigt; es war wirklich Samuel, der ihn wohl gleich fragen würde, warum zum Teufel er hier stand und fremde Gespräche belauschte. Er legte sich seine Erklärung zurecht – dass das überhaupt nicht seine Absicht gewesen war und er nur einen Moment innehalten wollte, nach dem Wahnsinn des heutigen Abends.

Doch Sievert warf alle seine angstvollen Fantasien mit einem freundlichen Ruf über den Haufen. »Hey, Lauenburg!«

Von Lauenburg, wollte David reflexartig korrigieren, so, wie sein Vater es immer tat, doch er biss sich noch rechtzeitig auf die Zunge. »Samuel, hallo. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Du auch?«

»Gewissermaßen. Wir warten noch auf Rombach, der muss gleich da sein. Er wollte uns wenigstens noch auf ein Glas treffen, nachdem das gemeinsame Essen ausgefallen ist.«

Pius Rombach. Der Mann, der in Salzburg Dantons Tod inszenieren würde. Davids Bedürfnis, den Heimweg einzuschlagen, bekam neue Dringlichkeit.

Er hatte ihn und das restliche Regieteam bisher zweimal getroffen, und bei diesen Begegnungen hatte Rombach ihm etwa so viel Interesse entgegengebracht wie der Tischplatte, auf der er seinen Kaffee abstellte. David hatte für heute genug. Rombachs Dampfwalzenenergie war das Letzte, was er brauchte.

Doch leider schien er ihr nicht entgehen zu können, denn Sievert hob bereits die Hand. »Pius!«, rief er und winkte. »Hier!« Und, zu David gewandt: »Bin ganz froh darüber, noch nicht nach Hause zu müssen. Ich werde sowieso nicht schlafen können.«