Botin der Liebe - Barbara Cartland - E-Book

Botin der Liebe E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Diese Barbara Cartland Geschichte spielt im Greenwich Palast unter Elizabeth I. Die schöne Andora Bland, eine selbsterklärte 'Landmaus', kommt vom Gut ihres Vaters auf dem Lande um die Position einer Ehrenjungfrau am Hof der mächtigen Königin anzutreten. Eine Position, die, wie sie herausfindet, sowohl gefährlich als auch aufregend sein kann. Andora trifft im Palast einen gutaussehenden Gentleman und als sie durch einen Hochverräter in Gefahr gerät muss sie feststellen, daß ihr Gentleman auf dem Festland ebenso ein Pirat ist wie er es auf der hohen See war.

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Botin der Liebe

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2019

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

1

Die Kutsche fuhr langsam in den Hof vor dem Palast von Greenwich ein. Sie war ein altes Ungetüm, sperrig und über und über mit Staub und Dreckspritzern bedeckt. Offensichtlich hatte sie eine lange Fahrt hinter sich. Die eingespannten Pferde waren erschöpft, und der Kutscher schien nicht ganz sicher zu sein, wohin er das Gefährt nunmehr lenken sollte.

Eine Gruppe von Edelleuten, die im Sonnenschein spazieren gingen, trat beiseite, um die Kutsche vorbeizulassen. Im gleichen Augenblick war ein Krachen zu hören, das linke Hinterrad löste sich von der Kutschenachse, und knirschend und kreischend sank der Aufbau auf die Pflastersteine nieder.

Das alles geschah so schnell und unvermittelt, daß die anwesenden Herren in ihren farbenfrohen Jacken und mit den Federhüten ein paar Sekunden lang nur sprachlos dastanden. Dann rief einer von ihnen aus: »Mein Gott! Die Arche ist in London gestrandet!«

Er lachte laut und schadenfroh und deutete auf die zusammengebrochene Kutsche; im gleichen Augenblick erschien das Gesicht eines jungen Mädchens in einem der Kutschenfenster.

Sie schaute den Sprecher an, der den Kopf zurückgeworfen hatte und sich vor Lachen den Bauch hielt, musterte dann die anderen Höflinge, die ihn umgaben und sie mit offenem Mund anstarrten, und sagte knapp: »Befindet sich unter den Anwesenden vielleicht ein Gentleman, der einer Dame behilflich wäre?«

Das Gelächter erstarb, und der Edelmann, der so laut gelacht hatte, eilte herbei, um die Kutschentüre aufzuziehen.

»Vielen Dank, Sir«, sagte sie mit ironischem Unterton. »Und hättet Ihr vielleicht noch die Güte, einen Eurer Freunde zu bitten, dem Kutscher mit den Pferden zu helfen? Er ist schon alt und kann sie nur schwer halten.«

Die Pferde waren aber schon zu müde, um noch Schwierigkeiten zu machen. Sie hatten nur kurz gebockt, als sich die Kutsche auf dem Pflaster festsetzte, und der Kutscher hatte sie bereits wieder unter Kontrolle.

Nach einem kurzen Blick auf die Tiere antwortete ihr der Mann, der ihr die Tür geöffnet hatte: »Die Pferde werden keine Probleme bereiten.«

Sie legte ihre Finger in seine. Ihre Hand war klein, weich und warm, denn sie hatte ihre Handschuhe ausgezogen. Und plötzlich stellte er fest, daß die Augen, die zu ihm aufschauten, von einem klaren Blau waren und daß ihre gesunde Gesichtsfarbe erkennen ließ, daß sie vom Lande kommen mußte.

»Gestatten Sie, daß ich Sie aus der Kutsche heraushebe?« fragte er. »Es wird nicht einfach sein, ohne Trittbrett herauszugelangen.«

»Vielen Dank, aber ich bin kein Krüppel«, wies sie ihn zurück und sprang mit einer fast unbeschreiblichen Eleganz zu Boden.

Jetzt erst erkannte er, wie klein sie war. Ihr Kopf erreichte kaum seine Schulter; und er wurde sich halb bewußt, daß ihr Kleid altbacken wirkte und die Halskrause ein Muster aufwies, das vielleicht vor fünf Jahren aktuell gewesen sein mochte.

Sie dagegen sah, daß der Mann, der auf sie niederschaute, nach der neuesten Mode gekleidet war. Sein Wams war mit grünem Samt besetzt, seine schmale Halskrause war goldgesäumt, und seine Handschuhe waren mit dem gleichen Rosenmuster verziert wie seine Schuhe.

Er war nicht eleganter gekleidet als seine Freunde, doch er strahlte unbestreitbare Autorität aus, die sich mit einer scheinbar unerträglichen Arroganz paarte. Seinen Hut hatte er betont lässig über eines seiner spöttisch blickenden grauen Augen gezogen, und er sah mit der Andeutung eines zynischen Lächelns in den Mundwinkeln auf sie herab.

Sie fühlte, wie sich in ihr der angestaute Ärger über seine abfällige Art Luft machen wollte. »Ich danke Euch, Sir, für Eure Unterstützung«, sagte sie hochmütig. »Aber von jetzt an brauche ich weder Eure Hilfe noch Euren Spott.«

Nach ihren Worten herrschte kurz betretenes Schweigen. Sie fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, weil sie so unhöflich gewesen war und weil es ihrem Wesen eigentlich nicht entsprach, jemanden so anzugreifen. Aber irgendwie hatte er sie einfach wütend gemacht, nicht nur durch seine Worte, sondern einfach durch die Art, wie er dagestanden und sich an ihrem Unglück geweidet hatte.

Sie hörte, wie einer seiner Freunde kicherte und etwas hinter vorgehaltener Hand flüsterte; aber er, den sie angegriffen hatte, schien überhaupt nicht getroffen. Er zog mit einer großartigen Geste den Federhut und senkte ihn vor ihr, bis die Federn den Boden berührten.

»Ich stehe zu Euren Diensten, wann immer Ihr meiner bedürft.«

Sie drehte sich zornig um und wandte sich dem Kutscher zu.

 »Ich werde dafür sorgen, daß man dir Hilfe aus den Ställen schickt«, sagte sie.

»Danke vielmals, Miss Andora«, antwortete der Kutscher. »Die armen Tiere werden keine große Arbeit machen. Die schlafen ein, wo ich sie hinstelle.«

»Wir haben sie sehr gefordert«, sagte Andora. »Und wir müssen dankbar sein, daß die Kutsche bis hierher gehalten hat. Glaubst du, daß du sie reparieren kannst, Barker?«

»Das hoffe ich«, antwortete er. »Das hoffe ich stark.«

»Darf ich Euch einige meiner Kutschenbauer zur Unterstützung anbieten?« fragte eine Stimme neben ihr.

Andora wandte sich um und stellte fest, daß der aufdringliche Edelmann sich keinen Zentimeter wegbewegt hatte. Immer noch lag dieses gehässige Lächeln auf seinen Lippen, und in den Augen blitzte es höhnisch. Fast wollte sie ihm wütend erwidern, daß sie auf seine Hilfe verzichten könne, aber dann fiel ihr ein, daß sie in diesem riesigen Palast keine Menschenseele kannte. Sie wußte nicht einmal, durch welche Tür sie das Gebäude betreten sollte.

Als hätte er ihr Zögern bemerkt und ihre Gedanken gelesen, sagte er: »Vielleicht sollte ich mich zuerst einmal vorstellen. Mein Name ist Hengist Wake, zu Euren Diensten. Und Eurer?«

»Ich bin Andora Bland«, antwortete sie. »Ich bin nach London gekommen, weil ich Ihrer Majestät dienen soll.«

»Noch eine Ehrenjungfrau!« rief er aus. »Es werden täglich mehr und jede ist hübscher als die vorangegangene. Ein Universum der Schönheit, das Paradies und die Hölle zugleich für jeden schlichten und ehrlichen Mann.«

Andora wandte den Kopf ab, als legte sie keinen Wert auf die Unterhaltung mit ihm, sondern wollte lieber dafür sorgen, daß ihre Kutsche beiseite geschafft wurde und die Pferde in die Ställe kamen.

Sie hörte einen kurzen Befehl, und wie von Zauberhand erschienen Bedienstete. Die Pferde wurden ausgespannt, dem alten Kutscher wurde vom Bock geholfen, und ihre Koffer und Kisten wurden weggetragen. Nur die Kutsche selbst blieb zurück, im Sonnenschein auf dem Pflaster liegend wie ein Betrunkener.

»Darf ich Euch begleiten, Miss Bland?«

Sie richtete sich ein wenig auf, spürte, wieviel Kraft sie das kostete, und wurde sich plötzlich bewußt, daß sie nach der langen und anstrengenden Fahrt ebenfalls erschöpft war.

»Ich möchte Eure Freundlichkeit nicht weiter ausnutzen, Sir«, antwortete sie.

Er lächelte sie nachsichtig an wie ein aufsässiges, störrisches Kind, ein Kind, das man zu dem zwingen muß, was von ihm erwartet wird.

»Kommt«, sagte er gebieterisch. »Die Tür, die Ihr sucht, befindet sich links von uns. Wenn Ihr durch den Haupteingang eintretet, ist der Weg zu den Gemächern der Königin wesentlich weiter.«

Gehorsam, so als bliebe ihr ohnehin keine andere Wahl, überquerte Andora an seiner Seite den sonnenbeschienenen Hof. Dankbar stellte sie fest, daß seine Freunde sie allein gehen ließen, aber sie hörte verhaltenes Gelächter hinter sich. Sie vermutete, daß ihre Erscheinung ein komisches Bild bot, das die Männer ebenso zum Lachen reizte wie vorhin an der Kutsche ihren Begleiter.

Plötzlich bekam sie Angst. Warum war sie hergekommen? Hatte sie das Land und das Heim verlassen, das sie liebte, nur um hier als Tölpel und Witzfigur dazustehen?

Sie wünschte, sie wäre wieder in dem Ziegelhaus inmitten des Parks und könnte beobachten, wie die Hirsche unter den alten Bäumen weideten. Wie hatte sie nur so dumm sein können, all das, was sie liebte, zurückzulassen?

»Habt Ihr eine weite Reise hinter Euch?«

Die Frage riß sie aus ihren Gedanken.

»Ja, sehr weit.«

Sie war entschlossen, ihm nicht mehr als das Nötigste zu verraten.

»Ihr heißt Bland. Steht Ihr in irgendeiner Beziehung zu Sir Robert Bland?«

»Er ist mein Vater.«

»Tatsächlich! Ich fühle mich geehrt, seine Tochter kennenlernen zu dürfen. Alle Welt weiß, wie treu und tapfer er für Ihre Majestät gekämpft hat.«

»Ich werde meinem Vater von Euren freundlichen Worten berichten, wenn ich ihm schreibe«, antwortete Andora etwas steif.

»Und so haben wir endlich wieder jemanden aus der Familie Bland am Hof!« bemerkte die Stimme neben ihr.

Bestimmt machte er sich über sie lustig, weil sie im Vergleich mit ihrem Vater und seinen ehrenvollen Taten so klein und unbedeutend war.

Ein Mann näherte sich und blieb vor ihnen stehen.

»Sir Hengist«, sagte er, »Lord Essex wünscht Euch zu sehen.«

»Sagt dem Lord, daß ich in Kürze bei ihm sein werde«, antwortete Sir Hengist.

Andora warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er war also ein Knappe, dachte sie, offenbar ein wichtiger Mann am Hofe. Aber das machte ihn auch nicht sympathischer. Sie hörte immer noch den Spott in seiner Stimme, als er ihre Kutsche als Arche bezeichnet hatte. Ohne daß sie ihn anzublicken brauchte, wußte sie, daß um seine Mundwinkel ein ironisches Lächeln spielte.

»Ich möchte Euch keinesfalls von etwas Wichtigerem abhalten, Sir«, erklärte sie hastig.

»Kann es etwas Wichtigeres geben, als eine schöne Dame zu begleiten?« fragte er.

Sie spürte, daß er sich wieder über sie lustig machte. Die Tür, welche er ihr gezeigt hatte, war noch ein ganzes Stück entfernt, und bei jedem Schritt spürte sie schmerzlich, wie lächerlich sie aussah, verglichen mit der eindrucksvollen Gestalt an ihrer Seite.

Auf dem Hof befanden sich noch andere Frauen, und sie wußte nur zu genau, wie schäbig ihr Kleid wirken mußte. Und dabei war sie so stolz auf ihr Gewand gewesen, bevor sie ihr Heim verlassen hatte. Die Sachen waren extra angefertigt worden, und der ganze Haushalt hatte dabei mitgeholfen. Bis spät in die Nacht hatte man die Spitzen an die Seide und den Samt angenäht und kleine Motive eingestickt, die, wie sie jetzt mit einem Anflug von Verzweiflung feststellen mußte, vollkommen unmodern waren.

Sie brauchte nur einen kurzen Blick auf die eleganten Damen zu werfen, die ihre schweren Röcke hoben, damit sie nicht auf dem Pflaster schleiften, um zu wissen, daß alles, was sie in ihren Koffern mitgebracht hatte, hinterwäldlerisch und keinesfalls mehr aktuell war. Und wieder wäre sie am liebsten umgekehrt und heimgelaufen. Aber nicht einmal das war möglich: Sie mußte mindestens warten, bis ihre Kutsche repariert war.

»Hier ist die Tür«, hörte sie Sir Hengist sagen. »Wenn Ihr die rechte Treppe hinaufsteigt und den Gang bis zum Ende geht, steht Ihr direkt vor den Gemächern der Königin.«

»Ich danke Euch.«

Andora überlegte sich kurz, ob sie ihm ihre Hand reichen sollte oder ob es genügte, wenn sie vor ihm knickste. Sie entschied sich für einen Knicks, den er wiederum mit einer formvollendeten Verbeugung beantwortete.

»Ich hoffe, Ihr werdet hier sehr glücklich, Miss Andora«, sagte er.

»Das hoffe ich auch«, antwortete sie leise. »Aber ich bezweifle es.«

»Warum?« fragte er neugierig.

Sie antwortete ihm, obwohl sie das Gefühl hatte, daß es besser gewesen wäre, so schnell wie möglich in den Palast zu gehen.

 »Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Ich weiß nicht, wie es am Hof zugeht, und ich verstehe nicht, wie sich die Menschen benehmen.«

»Ihr dürft sie nicht alle nach meinem schlechten Beispiel beurteilen«, erklärte Sir Hengist, und wieder hörte sie die Heiterkeit in seiner Stimme.

Nur ihr Stolz verbot es ihr zu weinen. Sie hob ihr Kinn und war plötzlich wieder wütend auf ihn.

»Lacht Ihr immer über das Unglück anderer Menschen?« fragte sie ihn wütend.

»Immer«, antwortete er, »über meines übrigens auch.«

Er verbeugte sich wieder und drehte sich dann um.

Sie blieb stehen und starrte ihm nach, unsicher, ob sie bedauern sollte, daß er sie jetzt allein ließ, oder ob sie froh darüber sein sollte, weil sie ihn nicht mochte.

Langsam stieg sie die Treppe hoch. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, daß sie die Tochter ihres Vaters war Miss Andora Bland von Willow Park. In der Grafschaft Hertfordshire hatte das etwas zu bedeuten, hier aber, da war sie sich sicher, hatte noch niemand jemals von ihr gehört. Aber wenigstens kannte man ihren Vater. Sogar Sir Hengist Wake hatte mit einem Anflug von Ehrfurcht von ihm gesprochen; dafür sollte sie ihm eigentlich sein Gelächter und seine Ironie verzeihen.

Zögernd ging sie die Galerie entlang. Durch die Fenster konnte sie auf den Fluß blicken, der sein silbernes Band durch die grünen Wiesen zog. Die Segel vieler eleganter Schiffe waren darauf zu sehen. Sie wäre gerne stehengeblieben und hätte sich an dem Bild erfreut, doch sie spürte, daß dies nicht der geeignete Zeitpunkt zum Träumen war.

Man hatte ihr nachdrücklich befohlen, an den Hof zu kommen.

 »Schickt Eure Tochter, sobald es Euch möglich ist«, hatte die Königin ihrem Vater geschrieben.

Weil das Schreiben in so drängendem Tonfall gehalten war, hatte Andora angenommen, der Königin mangele es an Ehrenjungfrauen. Aber Sir Hengist hatte ihr erklärt, daß täglich neue Mädchen einträfen. Warum also hatte sie sich so beeilen müssen?

Ihr Vater war hocherfreut gewesen, daß die Königin seine Tochter an den Hof beordert hatte.

»Also erinnert man sich doch noch an mich«, hatte er gesagt. »Ich hatte schon befürchtet, Ihre Majestät hätte mich vergessen, seit meine Krankheit es mir verbietet, weiter meiner Königin zu dienen. Doch sie vergißt niemanden. Sie erinnert sich an alles. Eine Frau, wie es in der englischen Geschichte noch keine gegeben hat. Merk dir das gut, Andora: Sie ist eine Frau ohnegleichen.«

»Ja, Vater, ich werde es nicht vergessen«, hatte Andora gehorsam geantwortet.

Manchmal machte sie die scheinbar grenzenlose Bewunderung ihres Vaters für die Königin nervös oder vielleicht eifersüchtig.

»Warum spricht Vater so oft von der Königin, Mutter?« hatte sie schon als Kind gefragt.

»Dein Vater hat für die Königin gekämpft und ihr gedient, bis ihn seine Krankheit dazu zwang, sich vom Hof zurückzuziehen«, hatte ihre Mutter erklärt. »Wir sind alle gehorsame Untertanen Ihrer Majestät, Andora.«

»Ja, ja, natürlich«, hatte Andora erwidert, »aber Vater spricht so oft von ihr. Wenn man ihm zuhört, kommt es einem vor, als sei sie ... beinahe übermenschlich.«

»Vielleicht ist sie das sogar«, hatte ihre Mutter mit einem Lächeln gesagt, und dann hatte sie ihre Arme um Andora gelegt und sie geküßt. »Zerbrich dir nicht den Kopf über solche Dinge. Geh in den Garten spielen. Wenn dein Vater so gern von den alten Zeiten spricht, dann sollten wir es ihm nicht übelnehmen. Er ist im Grunde seines Herzens ein Soldat geblieben. Er stand früher immer im Zentrum des Geschehens und war es gewohnt, mit den Löwen von England zu brüllen. Ich fürchte, er findet uns kleine Landmäuse etwas langweilig.«

»Kleine Landmäuse!«

Die Worte ihrer Mutter klangen Andora noch im Ohr. Genau das war sie, dachte sie mit einem kleinen Lächeln - eine kleine Landmaus, die sich in die große Welt gewagt hatte.

Fast widerwillig hob sie ihre Hand, um an die Tür am Ende des Ganges zu klopfen. Mäuse sollten in ihrem eigenen Bau bleiben, dachte sie, und nicht den Kopf in die Löwengrube stecken.

Ein Diener öffnete die Tür. Er hörte ihren Namen ohne jede Regung. Erst als sie erklärte, sie sei eine neue Ehrenjungfrau für Ihre Majestät, führte er sie einen weiteren Gang hinunter zu Mrs. Blanche Party, der Hofdame, die zuständig war für die Betreuung der Ehrenjungfrauen Ihrer Majestät.

Mrs. Party saß im Salon ihrer Wohnung. Sie war alt und im Dienst der Königin ergraut. Ein freundliches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, als Andora vor ihr knickste.

 »Ich bin erleichtert, Euch zu sehen, mein Kind«, sagte sie. »Man hat uns berichtet, daß die Straßen nach den letzten Regenfällen unter Wasser stehen. Wir befürchteten schon fast, Eure Ankunft würde sich verzögern.«

»Bisweilen war es kaum möglich, die Furten zu überqueren, Madam«, bestätigte Andora, »aber es ist uns trotz allem gelungen. Erst bei unserer Ankunft in Greenwich verlor unsere Kutsche ein Rad.«

»Wie schrecklich!« Mrs. Parry klatschte erschrocken in die Hände. »Wenn das früher geschehen wäre, hättet Ihr stundenlang am Wegesrand warten müssen.«

»Nein, Madam, in diesem Fall wäre ich den Rest der Strecke auf einem der Zugpferde geritten. Es wäre vielleicht eine unkonventionelle Art des Reisens gewesen, aber zumindest wäre ich rechtzeitig gekommen«, erklärte ihr Andora.

Mrs. Parry lächelte.

»Ich sehe, Ihr seid eine selbständige junge Dame«, meinte sie. »Kümmert sich jemand um Euer Gepäck und vor allem um Eure Kutsche?«

»Ein Gentleman, der den Unfall beobachtete, versprach, mir zu helfen«, bestätigte Andora.

»Hat er Euch seinen Namen verraten?«

»Ja. Es handelt sich um Sir Hengist Wake.«

Sie bemerkte die Überraschung auf Mrs. Parrys Gesicht. Es nahm einen Ausdruck an, den Andora nicht richtig einzuordnen wußte, bis die Hofdame sagte: »Dann seid ganz beruhigt. Alles wird erledigt. Sir Hengists Wort hat einiges Gewicht hier am Hof.«

Mrs. Parrys Tonfall verriet Andora, daß sie nicht allzu viel von Sir Hengist hielt.

»Und jetzt werde ich Euch zur Königin bringen«, sagte die alte Dame abschließend. »Sie wollte sofort von Eurer Ankunft informiert werden.«

Sie führte sie aus ihrem Zimmer und durch endlos lange, gewundene Gänge. Andora wünschte, sie hätte ihre Hände waschen und sich ein wenig zurechtmachen können, bevor sie Ihrer Majestät gegenübertrat, aber sie war zu schüchtern, um Mrs. Parry darum zu bitten. Stattdessen fragte sie sich, warum Ihre Majestät sie so dringend zu sprechen wünschte.

Mrs. Parry öffnete die Tür zu einem kleinen Raum. Es handelte sich offensichtlich um ein Vorzimmer, in dem sich niemand befand, außer einer Zofe, die einen Knicks machte und verschwand.

Eine zweite Tür führte in ein weiteres Zimmer, und Mrs. Parry steuerte zielsicher darauf zu.

Aber noch bevor sie den Raum durchquert hatte, wurde die Tür geöffnet, und eine laute Stimme schallte dahinter hervor: »Bei Gott! Wie lange soll ich denn noch auf die Nachricht warten? Der Bote sollte schon seit mehr als einer Stunde hier sein. Bin ich denn nun Königin von England, oder bin ich es nicht? Wurde jemals eine Dame von ihren Dienern schlechter behandelt als ich? Hat man schon jemals mehr Nichtsnutze auf einem Haufen gesehen als in meinem Palast? Bringt mir den Boten, oder ich schwöre, daß er die nächsten paar Jahre im Turm verbringen darf!«

Ein Page kam herausgelaufen. Er war bleich, und seine Hände zitterten. Er drängte sich an Mrs. Parry vorbei, lief durch das Zimmer und war zur anderen Tür hinaus, fast bevor Andora begriffen hatte, was da vor sich ging.

Sie hörte, wie eine andere Stimme drinnen etwas erklärte, und dann kam die Antwort, laut und ungeduldig: »Mrs. Parry also. Bitte sie herein. Vielleicht hat sie mir etwas Angenehmes mitzuteilen. Vielleicht wurde ausnahmsweise etwas nicht verlegt, vergessen oder verloren, wie es sonst in diesem Palast üblich zu sein scheint.«

Mrs. Parry verschwand eilfertig hinter der Tür.

»Majestät«, hörte Andora sie sagen, »Miss Andora Bland ist aus Hertfordshire eingetroffen. Ihr habt nach ihr verlangt, wie Ihr Euch erinnern werdet.«

»Natürlich erinnere ich mich daran, daß ich nach ihr verlangt habe«, kam die Antwort. »Haltet Ihr mich etwa für senil? Ich habe das Mädel erwartet, und ich finde, sie hat sich ganz schön Zeit gelassen. Laßt sie mich sehen. Oder ist sie vielleicht seit ihrer Ankunft im Palast schon wieder verlorengegangen?«

»Nein, Majestät, sie ist hier.«

»Dann bringt sie herein, bringt sie herein! Worauf wartet Ihr denn noch?«

Andora wartete gar nicht erst, bis man sie rief. Sie trat durch die Tür und stand in einem großen Raum mit einer sternenübersäten vergoldeten Decke. Ein riesiges, vierpfostiges Himmelbett beherrschte das ganze Zimmer. Auf einem mit Silber beschlagenen Tischchen waren Toilettenrequisiten aufgebaut, und danebenstand, in ein wunderschönes, mit Stecknadeln zusammengeheftetes Kleid gehüllt, die Königin.

Andora wußte nicht, was sie eigentlich erwartet hatte, aber auf jeden Fall nicht diese lebhafte Frau, die jetzt vor ihr stand, Vater hatte ihr oft von Elizabeths Schönheit vorgeschwärmt, Andora hatte deshalb gewußt, daß sie schön sein mußte; doch hatte nicht damit gerechnet, daß sie alt sei.

Aber auch wenn sie jetzt zugeben mußte, daß die Königin nicht mehr jung war, so kam ihr das dennoch wie ein Irrtum vor. Denn Elizabeth lächelte sie an, und in diesem Augenblick spürte Andora, daß sie dem schönsten Menschen in ihrem ganzen Leben gegenüberstand.

»Willkommen, Andora Bland!« begrüßte die Königin sie, und während Andora zu einem tiefen Knicks in die Knie sank, streckte Ihre Majestät ihre feine, langfingrige Hand in einer freundschaftlichen Geste aus, die das junge Mädchen auf immer zu ihrer Sklavin machte.

»Willkommen an meinem Hof«, fuhr sie fort. »Steht, auf und laßt Euch ansehen.«

Andora küßte die weiße Hand mit den schweren Ringen und erhob sich wieder. Die Königin war klein, aber Andora war noch kleiner, und als sie zu ihr aufsah, hatte sie das Gefühl, als überrage Ihre Majestät sie und jeden anderen Menschen bei weitem.

In ihrem roten Haar funkelten Juwelen, und die große Halskrause um ihren Hals akzentuierte das weiße, ausgeprägte Gesicht. Doch all das bildete nur den Rahmen für die Augen der Königin - diese strahlenden, lebhaften Augen, die jedes Gefühl widerzuspiegeln schienen.

»Wir haben Euch schon vor Tagen erwartet«, meinte die Königin anklagend. »Was hat Euch nur so lange auf gehalten? Ich schrieb Eurem Vater vor einem Monat oder waren es gar zwei Monate, daß ich Euch brauche.«

»Die Straßen waren unpassierbar, als Euer Brief uns erreichte«, antwortete Andora. »Außerdem brauchte ich neue Kleider, die Eurem Hof angemessen waren. Aber inzwischen glaube ich, daß all das Nähen reine Zeitverschwendung war.«

»Zeitverschwendung? Wie das?« fragte Elizabeth irritiert.

Sie sprach kraftvoll, und Andora fand, daß ihre Mutter den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, als sie sagte, Elizabeth könne brüllen wie eine Löwin.

»Wir ... ich bin nur ... eine kleine Landmaus, Majestät«, stammelte Andora.

Elizabeth warf den Kopf zurück und lachte. Es war ein volles, lautes Lachen, das im Raum widerzuhallen schien.

 »Eine Landmaus!« wiederholte sie. »Das ist wirklich gut und sehr ehrlich von Euch, Miss Bland. Nur wenige Menschen sagen die Wahrheit. Ihr gefallt mir immer besser. Aber die Tochter Eures Vaters darf sich an meinem Hof keinesfalls unwohl fühlen.« Sie wandte sich Mrs. Parry zu. »Gebt Lady Scudamore Bescheid, daß das Kind neue Kleider bekommt, die unserem Hof angemessen sind. Ich werde die Rechnung übernehmen. Das ist nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was Sir Robert für mich getan hat.«

»Das ist äußerst großzügig von Euch, Majestät«, sagte Mrs. Parry. »Ich werde Eure Instruktionen an die Lady weitergeben.«

Sie warf Andora einen langen Blick zu, während sie das sagte, als wollte sie das Mädchen auffordern, sich zu bedanken, aber Andora starrte die Königin nur mit weiten Augen an.

»Nun, was denkt Ihr?« fragte Elisabeth.

»Ich habe eben gedacht«, gestand Andora, »daß ich zum ersten Mal verstehe, warum Vater und so viele andere Männer bereit waren, für Euch in den Tod zu gehen.«

Elizabeth streckte die Hand aus und legte sie ihr auf die Schulter.

»Danke, mein Kind«, sagte sie. »Doch im Augenblick brauche ich Menschen, die für mich leben, nicht für mich sterben.«

Sie sprach mit tiefem Ernst, aber einen Augenblick später wandte sie sich ab und betrachtete sich in dem großen, ovalen Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen, der auf dem Toilettentisch stand.

 »Was sagt Ihr, Mrs. Parry?« fragte sie die Hofdame. »Wird mir dieses neue Kleid stehen? Glaubt Ihr, er wird mich bewundern?«

»Ich glaube, Majestät, daß Lord Essex alles bewundert, was Ihr tragt. Er sieht die Frau, nicht die Kleider.«

»Unsinn! Unsinn!« widersprach die Königin, obwohl ihr das Kompliment offensichtlich gefiel. »Die Kleidung ist für jede Frau wichtig, wie dieses Kind eben so richtig erkannt hat. Wenn ich tragen würde, was sie jetzt trägt, wer würde mich dann noch eines einzigen Blickes würdigen? Glaubt Ihr wirklich, ihre Herzen würden immer noch zu klopfen beginnen und ihr Atem schneller gehen, wenn ich erscheine? Nein! Ich bin kein Dummkopf, und ich weiß, wie ich auf sie wirken kann. Damit schärfe ich ihre Klingen, ermutige ich sie, noch tapferer für mich zu kämpfen, treibe ich sie an, mir die Beute gekaperter Schiffe oder die Leichen unserer Feinde zu bringen.«

Andora war fasziniert. Sie hatte sich nicht vorstellen können, daß es eine solche Frau überhaupt gab. Die Königin war wie Quecksilber und zugleich von einer unantastbaren Würde. Der Klang ihrer Stimme, jede Bewegung ihrer schönen Hände zeugten von einem Reichtum, einer Grazie und einer Lebendigkeit, die sie unvergleichbar mit allem und jedem machten, was Andora je begegnet war.

Plötzlich klopfte es an der Tür.

Elizabeth wandte sich vom Spiegel ab.

 »Der Bote«, sagte sie. »Endlich!«

Ein Page betrat den Raum und ließ sich vor Elizabeth auf einem Knie nieder, um ihr auf einem goldenen Tablett einen Brief zu überbringen. Elizabeth ergriff das Papier. Während sie die Botschaft las, verfinsterte sich ihr Gesicht. Andora schien es als beobachte sie, wie ein Sturm über dem Meer aufzog.

»Das ist also die Antwort«, zischte die Königin. »Ruft Lord Burleigh. Sagt ihm, er soll sich unverzüglich hier einfinden. Gebt Sir Francis Walsingham Bescheid, daß ich seiner Anwesenheit bedarf. Und zwar schnell! Schnell! Schnell!« fügte sie hinzu, als der Page einen Augenblick zögerte, bevor er sich erhob.

Sie hob unvermittelt in einer verzweifelten Geste die Arme.

 »Bei allen Himmeln! Diese ewigen Verzögerungen und Schlampereien treiben mich noch zum Wahnsinn«, rief sie. »Nichts wird so gemacht, wie ich es gerne hätte. Immer muß ich warten, warten, warten! Dabei habe ich so wenig Zeit, und es gibt so viel zu tun!«

Sie hielt inne und atmete tief durch.

»Mein Vater gab mir eine Botschaft für Euch mit, Majestät«, sagte Andora sanft.

»Eine Botschaft?« fragte die Königin. »Und wie lautet sie?«

»Er sagte«, antwortete Andora, »überall im Lande glaube man, daß das nächste Jahr, 1688, von entscheidender Bedeutung für England sei, daß große Ereignisse bevorstünden, die es zu einem Jahr der Wunder machen würden. Er bat mich, Euch dies mitzuteilen: Ihr sollt Mut fassen, denn solche Prophezeiungen werden, wenn sie sich erst in den Herzen der Menschen festgesetzt haben, unausweichlich wahr.«

Die Königin schwieg.

»Ich habe das schon einmal gehört«, sagte sie schließlich. »Natürlich würde es mir gefallen, wenn sich diese Prophezeiungen erfüllen. Aber Gott hilft denen, die sich selbst helfen, und Gott weiß, daß ich diese Idioten, von denen ich umgeben bin, mit aller Kraft antreiben muß, sonst werden wir uns schon bald unter dem spanischen Stiefel wiederfinden.«

»Majestät«, setzte Mrs. Parry an, aber eine einfache Handbewegung gebot ihr zu schweigen.

»Geht«, sagte Elizabeth. »Ich habe keine Zeit mehr für müßiges Geschwätz. Lord Burleigh wird jeden Augenblick hier eintreffen. Wir haben Dinge zu besprechen, die Ihr beide nicht verstehen würdet. Mrs. Parry, sorgt dafür, daß das Kind etwas zum Anziehen bekommt. Ich möchte, daß es unverzüglich seinen Dienst antritt.«

»Wie Majestät befehlen«, bestätigte Mrs. Parry.

Sie und Andora ließen sich kurz auf ein Knie nieder, dann verschwanden sie rückwärts durch die Tür ins Vorzimmer. Andora hatte das Gefühl, von einem Wirbelsturm gestreift worden zu sein, als sie in Mrs. Parrys Gemächer zurückgekehrt waren.

»Ihre Majestät ist äußerst großzügig zu Euch«, erklärte Mrs. Parry. »Ich habe noch nie erlebt, daß eine Ehrenjungfrau ihren Dienst antritt, bevor sie in all ihre Aufgaben eingewiesen wurde.«

»Wenn Ihr mir erklärt, was ich zu tun habe, werde ich mich bemühen, alles so schnell wie möglich zu lernen«, sagte Andora.

»Zuerst werde ich Euch Eure Kammer zeigen«, lächelte Mrs. Parry. »Wenn Sir Hengist sein Versprechen eingelöst hat, müßte sich Euer Gepäck bereits dort befinden. Und dann müssen wir Euch sofort neu einkleiden, wie es Ihre Majestät befohlen hat.«

»Das ist so ... unglaublich großzügig von ihr«, stammelte Andora.

»Sie wird ihre Gründe dafür haben«, antwortete Mrs. Parry.

»Ihre Gründe?« wollte Andora wissen.

»Ihre Majestät tut nichts ohne Grund«, erklärte Mrs. Parry. »Im Augenblick wird vom Hof große Sparsamkeit erwartet.«

Sie bemerkte Andoras Überraschung und erläuterte ihr: »Ihre Majestät hat eine Armee und eine Flotte zu unterhalten. Ihre Ausgaben sind kaum noch zu decken. Und dennoch besteht sie darauf, daß alles pünktlich bezahlt wird, vor allem, wenn es sich um die Löhne derer handelt, die ihr dienen.«

»Aber dann möchte ich nicht, daß Ihre Majestät meinetwegen noch mehr Geld ausgibt«, sagte Andora.

»Wie ich Euch bereits erklärt habe«, widersprach Mrs. Party, »tut Ihre Majestät nichts ohne triftigen Grund. Ihr könnt versichert sein, daß Ihr auf die eine oder andere Weise für diese Kleider bezahlen werdet.«

Ihre Worte klangen zynisch, aber Mrs. Parry lächelte freundlich und milde, während sie sie aussprach.

Andora fühlte sich noch ein bißchen mehr irritiert, noch ein bißchen unsicherer, und so folgte sie Mrs. Parry wortlos den Gang hinunter zu dem Raum, den man für sie reserviert hatte.

Er war vollständig und bequem eingerichtet. Von dem Fenster aus konnte man über einen der vielen Innenhöfe des Palastes blicken. Wie Mrs. Parry es vorhergesagt hatte, befand sich Andoras Gepäck bereits oben, und eine Zofe in einer einfachen Tracht war damit beschäftigt, die Koffer auszupacken.

»Dies ist Grace, die sich um Euch kümmern wird«, stellte Mrs. Parry sie vor. »Sie kommt ebenfalls vom Land und findet das Leben am Hof bisweilen sehr kompliziert und gefährlich.«

»Da haben wir bestimmt viel gemeinsam«, erwiderte Andora lächelnd.

»Und jetzt lasse ich Euch allein«, verabschiedete sich Mrs. Parry. »Zieht Euch schnell um, damit Ihr bereit seid, wenn Ihre Majestät nach Euch verlangt. Ihr werdet während des Dinners Euren ersten Dienst haben. Eine halbe Stunde zuvor komme ich und werde versuchen, Euch zu erklären, was Ihr zu tun habt.«

»Ich werde bereit sein«, versprach Andora.

Sie fragte sich verzweifelt, was sie tragen sollte, welches ihrer neuen Kleider wohl am wenigsten verraten würde, daß sie vom Land kam. Sie dachte an das Kleid der Königin, und ihr war bewußt, wie lächerlich sie aussehen würde neben dem Glanz jenes weißen Satinkleides, das mit Tausenden von Perlen verziert war, neben der Halskrause, die aus feinsten Spitzen geklöppelt war, und dem diamantenübersäten Haar. Sogar Mrs. Parry hatte in ihrem nachtblauen Samtkleid wunderschön ausgesehen; ihr Hals war durch keinen Kragen geschützt, stattdessen hatte sie ein Saphirhalsband getragen.

»Ein merkwürdiger Ort, Grace«, sagte Andora zu ihrer Zofe.

Sie fühlte sich verlorener und einsamer als je zuvor in ihrem ganzen Leben.

»Das ist es wahrlich, Miss«, bestätigte Grace. »Und ein böser Ort dazu. Es gibt viele Tage, an denen ich bedauere, hierhergekommen zu sein.«

»Böse?« fragte Andora.

»Jawohl, böse. Überall findet man Schlechtigkeit und Sünde«, antwortete Grace, »unter den Armen ebenso wie unter den Reichen, unter den Edelleuten ebenso wie unter den einfachen Menschen, die ihnen dienen.«

Grace sprach mit so viel leidenschaftlicher Überzeugung, daß Andora sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, obwohl die Worte ihr Angst einjagten. Sie durchquerte das Zimmer, um das Fenster zu öffnen. Als sie dort angekommen war, bemerkte sie, daß der kleine Innenhof als Garten angelegt war.

Ein Springbrunnen sprudelte in der Mitte, und rund herum leuchteten farbenprächtige Blumenbeete. Am anderen Ende befand sich ein Tor, das in einen weiteren Garten oder vielleicht in einen Park führte. Während sie sich noch an dem Anblick erfreute, öffnete sich das Tor, und zwei Männer kamen in den Garten spaziert. Der eine war hochgewachsen, jung und außerordentlich gut aussehend, den anderen kannte sie bereits. Es war Sir Hengist Wake.

Die beiden Männer unterhielten sich, während sie auf den Brunnen zu schlenderten. Dann warfen sie plötzlich beide den Kopf zurück und lachten. Sir Hengist sagte noch etwas, und das Gelächter wurde noch lauter. Es drang sogar durch das geschlossene Fenster, und Andora ahnte - nein, sie wußte es -, daß die beiden über sie sprachen.

Sie war sich dessen vollkommen sicher, so sicher, als verstünde sie jedes Wort, das dort unten gesprochen wurde. Und während sie Sir Hengist betrachtete, dessen ganzer Leib vor Lachen bebte, wie er seinen Kopf zurückwarf und die Augen halb geschlossen hatte, erkannte sie, daß sie ihn haßte. Ihr Haß war so stark und leidenschaftlich, daß sie ihn, wenn sie es nur gekonnt hätte, am liebsten umgebracht hätte, nur weil er sich über sie lustig gemacht hatte.

Die Königin tanzte - sie schwebte durch den Raum wie eine Feder, lag in den Armen des großen, gutaussehenden jungen Mannes, den Andora in dem Garten unter ihrem Fenster gesehen hatte.

Sie kannte bereits seinen Namen - es war der Graf von Essex. Er war gut gelaunt, immer voll sprühender Einfälle, und seine Schönheit, sein dunkelbraunes Haar und seine geschmeidigen Hände hatten die Königin, wie Andora von den anderen Ehrenjungfrauen erfahren hatte, ganz und gar in ihren Bann geschlagen.

»Er ist der angenehmste Mensch am ganzen Hof«, hatte ihr Lady Mary Howard begeistert erzählt. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, wir lieben ihn alle!«

»Laßt das bloß nicht die Königin hören«, wandte Lady Elizabeth Southwell, ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen, ein, und der schnelle Blick, den sie über ihre Schulter warf, verriet Andora, daß ihre Worte, so leicht dahingesagt sie auch sein mochten, durchaus ernst gemeint waren.

Andora hatte schon viele der Ehrenjungfrauen vor dem Essen kennengelernt. Sechs von ihnen hatten heute abend Dienst, und alle waren sie jung, außerordentlich attraktiv und auf Geheiß der Königin in weiß oder silbern schimmernde Gewänder gekleidet. Ihre Halskrausen umrahmten die Haare, die mit Juwelen geschmückt waren. Alle trugen wertvolles Geschmeide und an den Hüften ein Kettchen mit Fächer und einem Duftkissen.

Wenn Lady Mary Howard nicht so außerordentlich freundlich zu ihr gewesen wäre, hätte sich Andora vollkommen fehl am Platze und wie eine Landpomeranze gefühlt.

»Ich werde Euch ein Kleid von mir leihen, bis Eure fertig sind«, hatte ihr Lady Mary spontan vorgeschlagen. »Wir sind ungefähr gleich groß, auch wenn Eure Taille ein bißchen schmaler zu sein scheint als meine.«

Sie hatte aus ihrer Garderobe ein weißes Seidenkleid mitgebracht, das mit Silberfäden durchwirkt und mit kleinen Perlen besetzt war. Andora stockte vor Bewunderung der Atem.

»Es ist leider nicht mehr ganz neu«, sagte Lady Mary leichthin. »Ich habe noch ein Samtkleid, das erst letzte Woche fertiggenäht wurde, aber die Röcke sind sehr steif und nicht leicht zu tragen. Ich dachte mir, daß Ihr Euch in diesem hier wahrscheinlich wohlerfühlen werdet.«

Sie hatte recht. Andora hatte Mühe, sich in einem Reifrock zubewegen, und Röcke, die sie anheben mußte, um ihre Schuhe zu zeigen, bereiteten ihr Schwierigkeiten. Aber der silberumrandete Kragen betonte unauffällig ihre helle Haut und ihr blondes Haar; und als sie angezogen und bereit war, zum Empfangssaal hinunterzugehen, wo das Essen stattfinden sollte, bemerkte sie voller Stolz, daß die Blicke der anderen voll Bewunderung waren und ihre Komplimente von Herzen kamen.

Weil sie ein Einzelkind war, fühlte sie sich im Umgang mit Gleichaltrigen oft unsicher, aber bei all diesem Geplauder und der Fröhlichkeit, die unter den Ehrenjungfrauen Ihrer Majestät herrschte, verlor sie schnell jede Schüchternheit. Sie erfuhr bald den ganzen Hoftratsch und wurde gewarnt, daß die älteren Adligen am Hofe einem neuen Gesicht immer erst mißtrauisch begegneten, während die jüngeren Höflinge gerne bereit waren, jedem Neuankömmling einen Streich zu spielen.

»Zum Glück befindet sich Lord Leicester zur Zeit in Holland«, sagte Elizabeth Southwell. »Wenn er hier am Hof wäre, würde er Euch jagen wie ein Kaninchen. Und Ihr wäret zu Tode verängstigt, weil Ihr Euch nicht unhöflich verhalten wolltet, zugleich aber vor Ihrer Majestät verbergen müßtet, daß er überhaupt nur einen Blick in Eure Richtung geworfen hat.«

»Lord Leicester spielt inzwischen doch kaum mehr eine Rolle«, rief Eleanor Russell aus. »Ebenso wie der arme Sir Walter Raleigh. Es gibt zur Zeit nur einen am Hof, der Euch auf keinen Fall zulächeln sollte, nur einen Menschen, dessen Blick nicht auf Euch fallen sollte, wenn es bei Tisch etwas zu lachen gibt; und das ist...«

»Der Graf von Essex!« riefen alle im Chor.

»Wollt Ihr damit sagen, die Königin sei eifersüchtig?« fragte Andora verwundert.

»Natürlich ist sie das«, antwortete Elizabeth Southwell. »Wenn sich Ihre Majestät jemanden erwählt hat, dann heißt es für alle anderen: Hände weg!«

»Er ist viel zu jung für sie«, meinte Lady Howard mißbilligend.

Andora fühlte sich befremdet und etwas verwirrt. Bis jetzt hatte sie sich die Königin als gottähnliche Gestalt vorgestellt, als ein durchgeistigtes Wesen, von dem ihr Vater und alle anderen Männer nur mit Bewunderung und Ergebenheit sprachen. Jetzt entdeckte sie, daß Gloriana, wie sie auch genannt wurde, eine Frau mit durchaus menschlichen Eigenschaften war.