Boulevard - Die Jagd nach einem Mörder - Andreas Friese - E-Book

Boulevard - Die Jagd nach einem Mörder E-Book

Andreas Friese

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Beschreibung

Es ist die Story des Jahres. Jede Zeitung, jeder TV Sender und jede Radiostation des Landes ist auf der Suche nach dem Beelitz Mörder. Er ist einer der grausamsten Serienkiller Deutschlands. Anfang der 90ziger Jahre tötete und missbrauchte er auf bestialische Weise fünf Frauen und ein Baby und versuchte, zwei Kinder und eine weitere Frau brutal zu ermorden. Die Chefreporterin Tina und der Fotograf Ossi sind ihrer größten Titelstory ganz nahe, als sie plötzlich selber zu Gejagten werden.

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Seitenzahl: 270

Veröffentlichungsjahr: 2019

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ANDREAS FRIESE

BoulevardDie Jagd nach einem Mörder

Die Bestie von Beelitz

Buch

Es ist die Story des Jahres. Jede Zeitung, jeder TV Sender und jede Radiostation des Landes ist auf der Suche nach dem Beelitz Mörder.

Er ist einer der grausamsten Serienkiller Deutschlands. Anfang der 90ziger Jahre tötete und missbrauchte er auf bestialische Weise fünf Frauen und ein Baby und versuchte, zwei Kinder und eine weitere Frau brutal zu ermorden.

Die Chefreporterin Tina und der Fotograf Ossi sind ihrer größten Titelstory ganz nahe, als sie plötzlich selber zu Gejagten werden.

ANDREAS FRIESE

BoulevardDie Jagd nach einem Mörder

Die Bestie von Beelitz

Inspiriert durch eine wahre Geschichte.

Der Beelitz Mörder ist einer der grausamsten Serienkiller Deutschlands. Er tötete und missbrauchte auf bestialische Weise fünf Frauen und ein Baby und versuchte, zwei Kinder und eine weitere Frau brutal zu ermorden. An den Tatorten rund um die Brandenburger Stadt Beelitz wurden Damenunterwäsche und Röcke gefunden.

Daraufhin betitelte die Boulevardpresse ihn als den „Rosa Riesen“ oder die „Bestie von Beelitz“.

Veröffentlichung September 2019

Copyright © 2019 by Andreas Friese, www.friese.tv

Lektorat: Ursula Hahnenberg, Berlin

Umschlaggestaltung: Sarah Buhr, www.covermanufaktur.de

Bildmaterial: MicroOne (Zeitung) / Shutterstock.com

Verlag und Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Paperback:

ISBN: 978-3-7497-3161-9

eBook:

ISBN: 978-3-7497-3162-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dankean alle, die mich bei meinem Projektunterstützt haben.

Boulevard – Die Jagd nach einem Mörder

Fall 1: Die Bestie von Beelitz

Dienstag, 16.Juli.1991,10: 00 UHR

Tina saß in einem bordeauxroten Opel Omega und sah ungeduldig aus dem Fenster. In Hamburg waren alle Taxis gelb, aber hier in Berlin schien man nicht so viel Wert auf einheitliche Taxifarben zu legen. Hauptsache, ein gelbes Taxischild war auf dem Dach. Und das Taxameter suchte sie im Inneren vergebens.

Sie waren noch gar nicht richtig am Bahnhof Zoo losgefahren und schon textete sie der Taxifahrer mit einer ungebetenen Stadtführung zu. Tina nickte aus Höflichkeit, wenn sich ihre Blicke im Rückspiegel trafen. Das Auto umfuhr die Goldelse und quälte sich auf der Straße des 17.Juni in Richtung Brandenburger Tor durch den Berliner Stadtverkehr. Von Weitem konnte man einen roten Baukran sehen, der ein überdimensionales grünes Pferd durch die Luft fliegen ließ. Seit Tagen und Wochen kündigten die Zeitungen der Hauptstadt dieses Ereignis an. Menschenmassen drängten sich auf dem neu hergerichteten Pariser Platz, Fotografen und Kameraleute kämpften um die besten Plätze, um bei diesem Ereignis live dabei zu sein. Heute war es soweit, die frisch restaurierte Quadriga nahm ihren angestammten Platz auf dem Brandenburger Tor ein. Berlin hatte endlich sein Wahrzeichen zurück.

„Jetzt hamse ja Jott sei Dank in Bonn beschlossen, dass die Regierung wieder in die richtige Hauptstadt kommt. Nun wolln se ja den Reichstag och wieder schick machen. Na, dit wird en Chaos hier, wenn die da bauen. Ick hoffe, dann könn wa endlich wieder mit dem Auto durchs Brandenburger Tor fahren. Glob mir, sonst jeht hier ja nüscht mehr.“

Der Fahrer redete laut und ununterbrochen und merkte überhaupt nicht – jedenfalls schien es ihn nicht zu stören –, dass Tina in nachdenkliches Schweigen verfallen war.

Es war noch nicht mal ein Jahr her, dass Deutschland von den Siegermächten des zweiten Weltkriegs nach 45 Jahren die volle Souveränität zurückerhalten hatte. Besiegelt wurde das Ende der Nachkriegs- und Besatzungszeit am 12. September 1990 in Moskau mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag. Der Krieg war lange vorbei und endlich war Deutschland wieder einig Vaterland. So eine Zeit selbst mitzuerleben. Mensch, Tina, und du bist mitten drin, am Puls der Zeit. Hier in Berlin wird Geschichte geschrieben und du gehörst zu denen, die diese Geschichte aufschreiben werden!

Hinter dem Brandenburger Tor wurde der Verkehr nicht besser. Der Taxifahrer bog rechts ab und soweit Tina seiner Berliner Schnauze entnehmen konnte, wollte er es wohl über den Potsdamer Platz versuchen. Platz war vielleicht ein wenig hochgegriffen. Es handelte sich um das teuerste Baugrundstück Deutschlands. Brachland, so weit Tina sehen konnte. Von dem ehemaligen Grenzstreifen, der Berlin hier in Mitte teilte, war nichts mehr zu sehen. Ein einzelnes freistehendes Haus, das Weinhaus Huth, und eine Magnetschwebebahn, wie aus einem Science-Fiction, durchbrachen die Einöde.

Der Taxifahrer drehte sich zu Tina um. „Na Kleene, um diese Zeit wärste mal besser mit de Bahn jefahren, aber wir sind gleich da. Kuck ma, dit hier uff de rechte Seite is der Tresor. Da jehen die jungen Leute alle abzappeln. Dit ist bestimmt och wat für dir.“ Er zeigte dabei auf eine alte Ruine in der Leipziger Straße 126.

Tina kannte den Club vom Hörensagen. In den Tresorräumen des alten Wertheimkaufhauses war im März Berlins erster Techno Club gegründet worden. Er war in nur wenigen Wochen zu den bekanntesten Techno Clubs der Welt aufgestiegen und die besten DJs aus allen Kontinenten machten hier die Nacht zum Tag.

Sie hatten es fast geschafft. Das Geschwafel des Taxifahrers ertrug Tina inzwischen auch nur noch schwer.

„Dit da is de Friedrichstraße. Nur noch 500 Meter und dann ham wat.“

Friedrichstraße, das klang irgendwie luxuriöser, als es gerade aussah. Die Hausfassaden waren grau und kaputt, hier und da stach ein neu renoviertes Haus heraus. Es waren die neuen Berlinfilialen der Firmen, die auch in Hamburg an der Binnenalster oder in Düsseldorf auf der KÖ groß vertreten waren. Hier wirkten sie seltsam deplatziert. Zur Schau standen teure Autos, Kleider oder Schmuck in den Schaufenstern, aber es waren nirgends Menschen zu sehen, die bummelten oder in Cafés saßen. Es gab nicht einmal ein Café, in das man sich hätte setzen können. Die einzige Möglichkeit für einen Snack war ein Imbiss in einem umgebauten Wohnwagen unter einem großen Bauschild mit der Aufschrift: Hier entsteht die Galerie Lafayette Berlin. Tina kannte das Lafayette in Paris. Als Kind war sie oft mit den Eltern dort gewesen, einfach nur so zum Shoppen. Aber das hier hatte nichts mit Paris zu tun. Es wirkte wie eine Filmkulisse, trist, einsam und trotz alledem mit einem Hauch von Aufbruchsstimmung. Und noch etwas war anders als in Münster oder Hamburg: Überall parkten Trabis und Wartburgs am Straßenrand. Aus einer Parklücke stieg eine dicke blaue Abgaswolke auf. Ein delphingrauer Trabant heulte auf und raste am Opel vorbei. Die ganze Stadt stank widerlich nach diesen Zweitaktern.

Scheinbar hatte sie diesen Gedanken laut ausgesprochen.

Der Taxifahrer drehte sich entzückt zur ihr um. „Junge Frau, det iss die berühmte Berliner Luft. Da jewöhnste dir dran. So jetzt sin wa och schon da.“ Er zeigte auf das Eckhaus. “Dit iss die Glinkastraße. Weste eijentlich das die Glinkastraße früher Kanonier Straße geheißen hat! Das hat den Honecker wohl nicht so jut jefallen und dann hamse die Straße och nach son Kommunisten benannt.“

Natürlich wusste Tina, dass die Straße zu DDR-Zeiten umbenannt worden war. Sie war informiert, denn sie überließ nie etwas dem Zufall. Falls irgendein Klugscheißer von Redaktionsleiter sie am ersten Tag mit solchen Fangfragen in die Ecke treiben wollte, konnte sie ihm in die Parade grätschen. Sie reichte dem Taxifahrer einen 20-DM-Schein und stieg aus dem Auto. Nachdenklich blickte sie eine graue DDR-Platte hoch. Das war also das Büro Neue Bundesländer von Europas größter Wochenzeitung.

Der Taxifahrer hievte den schweren Koffer aus dem Kofferraum und stellte ihn neben Tina. „Junge Frau, hochschleppen musste den aber allene, weste, weil ick darf hier nich parken.“

Tina lächelte den Taxifahrer an und sprach ganz leise: „Junger Mann, übrigens war Michael Iwanowitsch Glinka kein Kommunist, sondern ein Russischer Komponist. Vielleicht sagt Ihnen die Oper „Ein Leben für den Zaren“ etwas? Na, ich denke eher wohl nicht! Sehen Sie dahinten das Haus an der Ecke? Dort hat er bis 1857 gelebt und als die Straße 1951 umbenannt wurde, war Wilhelm Pieck, im Übrigen der einzige Staatspräsident der DDR, im Amt und nicht Erich Honecker.“ Eigentlich wollte sie ihm noch unter die Nase reiben, dass hier die Parteizentrale der DDR-Liberalen und der Ost-CDU ihren Sitz hatten, aber der Taxifahrer schaute sie böse an. Tina klopfte ihm auf die Schulter, nahm ihren Koffer und ließ ihn mit einem Lächeln am Straßenrand stehen.

Wo, um Gottes willen, war sie hier gelandet? Unter Berliner Medienhaus hatte sie sich etwas anderes vorgestellt. Irgendwie mehr Glanz und Wichtigkeit. Im Treppenhaus gab es weder einen Empfang noch einen Fahrstuhl, nur unendlich viel DDR-Charme. Links neben ihr war eine Hinweistafel angebracht. Auf großen Messingschildern stand da, dass zwei Hamburger Nachrichtenmagazine in den ersten zwei Etagen ihre Berlin Büros hatten. Der komplette dritte Stock war von einem neuen privaten Nachrichtensender – News-TV – in Beschlag genommen worden. Darüber, in der vierten Etage, saß eine Bildagentur mit dem einfallslosen Namen Big Photo Berlin und zu guter Letzt, so konnte man es auf großen, roten |Lettern lesen: Star am Sonntag Redaktion Neue Bundesländer, 5.Etage.

Es fühlte sich einsam an, die Luft war kühl und roch nach kaltem Rauch. Da hörte Tina aus dem Treppenhaus lauter werdende Stimmen. Ein gutgelaunter Typ und eine Frau kamen die Treppen heruntergerannt. Sie schienen es eilig zu haben. Beide waren etwa Ende 20. Er war groß, gutaussehend, wirkt sportlich und hatte eine Kamera über der breiten Schulter hängen. Wahrscheinlich einer der Fotografen des Verlags und die Frau dann wohl eine Redakteurin. Die beiden eilten an Tina vorbei. Der Fotograf blieb zwei Meter hinter ihr schlagartig stehen, drehte sich um und musterte sie unverfroren von Kopf bis Fuß.

Er lächelte sie entwaffnend an. „Hi, kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein, j…ja,“ stotterte Tina. „Ich suche die Starredaktion, Neue Bundesländer.“

Hinter dem Fotografen riss die Reporterin die Tür wieder auf und verdrehte die Augen. „Oswald, wir kommen zu spät!“ „Ja, doch.“ Der Fotograf zeigte in Richtung Treppenhaus. „Fünfte Etage. Sorry, ich habe leider keine Zeit.“ Er zwinkerte ihr zu und rannte nach draußen.

Oh Gott, war das peinlich. Hätte nur noch gefehlt, dass ich rot anlaufe, dachte Tina. Da stand der erste gutaussehende Typ in Berlin vor ihr und sie stotterte sich gleich einen ab. Hoffentlich hatte er das nicht gemerkt.

Tina hievte ihren schweren Koffer Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Dann hatte sie es endlich geschafft. Sie stand vor einer Glastür, an der mit großen roten Buchstaben stand: Star am Sonntag Redaktion Neue Bundesländer.

Sie schaute in einen langen Flur. Die Stimmung war nicht gerade einladend, hier schien überhaupt niemand zu sein. Tina öffnete die Glastür und ging hinein. Es roch noch viel strenger nach kaltem Zigarettenrauch, auf dem Fußboden war eine schmuddelige blaue Teppichauslegeware ausgelegt, auf der vor den Türen der Büros große Stapel mit alten Zeitungen, wie Altpapier gebündelt, lagen. Das einzige, was auf journalistische Arbeit hinwies, waren große gerahmte Fotos an den Wänden. Es waren Bilder der Redaktionsfotografen, aufgehängt wie in einer Galerie. Tina schritt die Wand ab und war beeindruckt von der Qualität der Aufnahmen. Zu sehen waren Fotos, die unter anderem bei der Wiedervereinigungsfeier gemacht wurden. Der Bundeskanzler Helmuth Kohl streckte auf einem Bild freudestrahlend die Hand in die Luft, im Hintergrund Feuerwerk über dem Reichstag. Ein sehr beeindruckendes Schwarz-weiß-Foto zeigte Erich Honecker, wie er als gebrochener Mann, gefolgt von zwei russischen Soldaten, durch einen Wald in Beelitz-Heilstätten spazierte. Auf einem anderen Foto Katarina Witt. Sie stand mit ihrer Trainerin Jutta Müller in einer Eissporthalle, in ihren Händen hielt sie unzählige Medaillen. Dann folgten Fotos mit Menschen, die ihr gar nichts sagten. Ein Sigmund Jähn in Raumfahreruniform, Heinz Florian Oertel und Waldemar Cierpinski, Helga Hahnemann, Margot Ebert mit Heinz Quermann, Gojko Mitic mit freiem Oberkörper und Indianeroutfit. Tina hatte keine Ahnung, wer diese ganzen Ostprominenten waren. Sie wusste zwar, dass Sigmund Jähn der erste Deutsche im All gewesen war, aber die restlichen Promis sagten ihr rein gar nichts. Sie drehte sich noch einmal um. Dieser Gojko Mitic war vom Alter her nicht unbedingt ihre Zielgruppe, aber durchtrainiert, wie er war, war er schon recht lecker anzusehen.

Ein ungutes Gefühl vertrieb den schönen Gedanken. Tina schrieb zwar keine Show-Geschichten, aber sie wusste, dass in der Ostredaktion schnell mal jeder alles machte. Und dann erspähte sie doch noch ein Foto mit einer Sängerin, die sie gut kannte. Es war Tamara Danz mit ihrer blonden Mähne, die Frontfrau der Rockband Silly, singend auf einer Bühne. Vor Jahren hatte Manu, ihre beste Freundin, ihr das Album Mont Klamott geschenkt. Das war eine Band, deren Musik sie durchaus mochte.

Während Tina in Gedanken versunken den Flur entlang ging, vernahm sie plötzlich ein Gespräch, das aus einem der Büros zu hören war. Es klang wie eine lautstarke Debatte am Telefon. Auf einem Schild an der Tür zu diesem Zimmer stand in schwarzen Buchstaben „Redaktionsleiter Lothar Hundertmark.“

Lothar hatte sie beim Einstellungsgespräch in Hamburg kennengelernt. Er war Ende 50, trug einen viel zu langen Schnauzer und war immer recht old-fashioned gekleidet. Er war bis zur Wende stellvertretender Chefredakteur Politik bei einer Hessischen Tageszeitung mit Außensitz in Bonn gewesen und war hier der Redaktionsleiter und der Spezialist für die Stasiaufarbeitung. Er kannte so ziemlich alle wichtigen Politiker in den neuen und alten Bundesländern persönlich. Lotte – Lothars Spitzname – war einer von denen, die den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder genauso wie den sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, Samstagabend zum Redaktionsschluss jederzeit zu Hause anrufen könnten.

Tina klopfte an die Tür, niemand antwortete. Sie klopfte ein zweites Mal. Da auch jetzt niemand reagierte, öffnete sie die Tür einen kleinen Spalt und schaute hinein. Ihr kam eine dicke, blaue Wolke Rauch entgegen. Am anderen Ende des Büros saß Lothar Hundertmark. Er war durch den Smog kaum zu sehen. Das Fenster war geschlossen und während er telefonierte, paffte er genüsslich immer wieder an seiner Zigarre. Als er Tina bemerkte, legte er sie beiseite, hielt mit der freien Hand die Sprechmuschel am Telefonhörer zu und winkte Tina mit einem freundlichen Blick an sich heran. „Hallo, Christina, du bist ja schon da. Ich habe dich erst heute Nachmittag erwartet. Dein Büro ist zwei Zimmer weiter. Ich komme gleich mal rüber.“ Dann machte er eine Geste, die signalisieren sollte, dass er gerade ein wichtiges Gespräch führte. Tina lächelte und beim Rausgehen rief ihr Lothar hinterher: „Kannst du mal bitte Kaffee kochen! Ebi kommt heute erst nachmittags.“

Na, das war doch ein toller Anfang. Jetzt stand sie alleine mit dem Koffer unterm Arm in der größten Zeitungsredaktion Europas, hatte keine Ahnung, wer Ebi war und ihr erster Job als Chefreporterin in Berlin war, Kaffee zu kochen. In ihrer Fantasie hatte sie sich das irgendwie anders vorgestellt. Sie hatte ein großes Redaktionsbüro vor Augen gehabt, gefüllt mit Reportern, die an Computern saßen und wild durcheinander telefonierten, und Redakteure, die an Tafeln standen, an denen Fotos von großen Storys geheftet waren, über die sie debattierten. Ein großer Raum, den sie betrat, in dem es ruhig wurde und jemand sagte: „Schaut mal alle her, darf ich euch vorstellen, das ist Christina von Kottwitz, unsere neue Chefreporterin für die neuen Bundesländer.“ Tja, erste Erkenntnis. Berlin war nicht Hamburg und Berlin war halt jottweedee, halt janz weit draußen.

Auf dem Weg in ihr neues Büro machte Tina in der Küche halt, füllte die Kaffeemaschine mit frischem Wasser und legte eine Filtertüte ein. Den Kaffee musste sie ziemlich lange suchen. Irgendjemand hatte ihn, warum auch immer, zusammen mit der Kaffeesahne in den Kühlschrank gestellt.

Dann drückte sie die Starttaste der Kaffeemaschine, ging zwei Zimmer weiter und öffnete die Tür zu ihrem ersten eigenen Büro.

An der Decke flackerte das Licht einer kalten Neonlampe. Der Raum war klein und ungemütlich, die Wände waren mit weißer Raufaser-Tapete tapeziert. Außer einem Tisch, einem Stuhl und einem hellen Büroschrank war nichts in diesem Raum. Das sah im Hamburger Verlagshaus alles etwas schicker aus. Aber es war ihr Büro, ihr erstes eigenes Büro und das erfüllte Tina mit Stolz. Sie ließ sich auf den Bürostuhl fallen, nahm die Hände in den Nacken, schloss die Augen und drehte eine Runde auf dem Stuhl. Jetzt konnte es losgehen. Berlin, ich bin da. Lass mich die großen Titelstorys schreiben.

Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht und Tina öffnete die Augen. Vor ihr auf dem Tisch lag ein handgeschriebener Brief.

Liebe Christina,

herzlich willkommen in Berlin. Leider kann ich dich nicht persönlich empfangen, weil ich einen Arzttermin habe. Aber wir werden uns heute Nachmittag kennenlernen. Ich habe dir deine Visitenkarten, Blöcke und Stifte hingelegt. Im Lauf des Tages wird ein Monteur vorbeikommen und dein Telefon anschließen. Du kannst gern so lange meins im Sekretariat benutzen.

Marko, Conny und Lars sind auf Termin. Wir treffen uns alle um 15.00 Uhr zur Konferenz im großen Raum.

Ach so, mach mal bitte die Kaffeemaschine an. Lothar mag den Kaffee gern etwas kräftiger, bitte anderthalb Teelöffel Kaffeepulver auf eine Tasse.

Liebe Grüße

Ebi

Das erste Rätsel war damit gelöst. Ebi war wohl die Redaktionssekretärin. Neben den Brief hatte sie eine Vase mit einem kleinen Strauß wohlriechender Sommerblumen gestellt. Tina sog den Duft der Blüten und die Botschaft, dass sie willkommen war, mit Freude ein. Dann riss sie das kleine Päckchen mit den Visitenkarten auf. In großen, roten Buchstaben war das Logo vom Star eingeprägt und daneben stand in tief geprägter Schrift: Chefreporterin Christina von Kottwitz. Chefreporterin. Das fühlte sich gut und wichtig an. Tina lächelte vor sich hin. Ihren ersten Job hatte sie ja auch schon bestens erledigt, Kaffee kochen.

Hier gab es zwar kein Reporter-Großraumbüro, dafür schien es übersichtlich und familiär in der Redaktion zuzugehen. Alle duzten sich und Ebi schien nicht nur die Sekretärin, sondern auch der gute Geist in der Redaktion zu sein.

Tina spürte eine tiefe Zufriedenheit, legte ihren Kopf in den Nacken, drehte erneut eine Runde auf dem Bürostuhl und kehrte im Geiste an den Tag zurück, als sie ihre journalistische Karriere begann.

Tina studierte im zweiten Semester. Sie war auf der Suche nach einem Studentenjob und hatte dem Lokalchef des Münsteraner Tagesblatt eine Geschichte angeboten. Das Telefonat war kurz und ihr Gesprächspartner wirkte gereizt und sehr uninteressiert. Hier meldeten sich ständig zumeist untalentierte Studenten, in der Hoffnung auf einen Praktikumsplatz. Tina verstand es jedoch, Menschen von ihren Ideen zu überzeugen. In den Händen hielt sie eine Story über einen alten Geigenbauer, mit der Vorstellung, das sei die Eintrittskarte in das Verlagshaus.

Bei einem Spaziergang war ihr die kleine Werkstatt aufgefallen. In dem verschmutzten Schaufenster lagen zwei alte Geigen, die das Interesse bei Tina erweckten. Beim Öffnen der Ladentür ertönte der schrille Ton einer Glocke, die am Türrahmen befestigt war, und aus dem hinteren Teil der Werkstatt humpelte ein alter Mann mit einer dicken Lederschürze zur ihr an den Tresen.

„Und?“, kam es unfreundlich aus ihm heraus.

Tina betrachtete den Alten. Sie hatte auf einmal Zweifel, ob es richtig gewesen war, hier reinzukommen oder ob sie besser wieder gehen sollte. Sie schaute in ein griesgrämiges, verbittertes Gesicht, das mit tiefen Furchen durchzogen war. „Und, was wollen Sie? Ich habe nicht ewig Zeit“, brubbelte er Tina erneut an. Wahrscheinlich hatte dieser Mensch überhaupt nur Kunden, weil es im Umkreis von hunderten Kilometern keinen anderen Geigenbauer gab, dachte Tina. „Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, sich mit mir ein wenig zu unterhalten. Ich würde gerne eine kleine Geschichte für eine Zeitung über Ihre Arbeit schreiben.“

Mit den Worten, er sei kein Märchenerzähler und wenn die Dame keine Geige zum Reparieren hätte, möge sie doch schleunigst von dannen ziehen, wollte der Geigenbauer Tina wieder hinauswerfen.

Dieser Griesgram war eine harte Nuss. Ihr Kommilitone Beethoven hatte Tina mal erzählt, dass sein Cello aus italienischer Fichte geschnitzt war. Nach kurzer Überlegung setzte sie ihr einziges Geigenwissen auf eine Karte, und bevor der Alte sie wieder anmeckern konnte, fragte sie: „Mir ist aufgefallen, dass die wertvollen Geigen in Ihrem Schaufenster aus alter italienischer Fichte gebaut sind.“

Der Mund des Geigenbauers verzog sich zu einem Lächeln. „Oh, Sie sind vom Fach?“

„Ein sehr guter Freund von mir studiert Musik und spielt selbst auf einem alten kostbaren Cello.“

Irgendwie gefiel dem Alten diese hübsche, blonde Frau auf einmal und obwohl es sonst gar nicht seine Art war, bat er sie in seine Werkstatt.

„Richtig, die eine Geige da draußen ist aus italienischer Fichte, aber die andere ist aus Tiroler Ahorn. Komm’ se mal rein. Was wollen se denn wissen? Aber nur wenn es nicht ewig dauert!“

Dann gingen die beiden nach hinten in eine uralte Werkstatt. Die orangefarbene untergehende Sonne fiel durch ein altes, kleines Fenster in den Raum, feiner Holzstaub spiegelte sich im Lichtkegel in der Luft. Es roch nach Leim, frisch gesägtem Holz und überall lagen oder hingen Geigen, Cellos und Bratschen herum. Es fühlte sich wie eine Zeitreise in eine andere Epoche an. Der Meister humpelte zu einem alten Holzschrank und griff nach einer Flasche Whiskey. Dabei klopfte er mit einem Lächeln auf sein Holzbein.

„Und das ist deutsche Fichte.“

So böse er noch vor zehn Minuten gewesen war, so freundlich war er auf einmal. Er fragte Tina erst gar nicht, er drückte ihr das Glas in die Hand und während er es mit dem guten schottischen Whiskey füllte, fing er an zu plaudern. Er erzählte von seiner Familie, die seit über 200 Jahren den Beruf des Geigenbauers vom Vater zum Sohn immer weitergegeben hatte. Er sprach liebevoll, fast zärtlich, von Geigen und dem richtigen Holz, von Klanghölzern, die man radikal sägen müsste, damit die Jahresringe gut in der Resonanzdecke standen und so den Druck des Steges über Jahrzehnte und Jahrhunderte ohne Deformation aushalten konnten. Was auch immer das bedeuten sollte, Tina notierte es erst einmal. Der Geigenbauer geriet immer mehr ins Schwärmen und Tina konnte gar nicht so schnell mitschreiben, wie ihr die Fakten von Hölzern, Biegetechniken, dem richtigen Leim, das spezielle Werkzeug und so weiter um die Ohren flogen. Schnell war ihr kleiner Block mit viel Wissen und tausend Fakten gefüllt, aber es war noch lange keine spannende Geschichte in Sicht, es sei denn, sie wollte ein Handbuch für die Geigenbauer-Zeitung schreiben.

War es vielleicht doch zu blauäugig gewesen, aufs Geratewohl in die Werkstatt zu gehen und zu hoffen, hier eine spannende Story für ihren Einstieg ins Journalistenleben zu finden? Nach dem dritten Glas Whiskey fing die Werkstatt leicht an zu schwanken, die Konzentration ließ nach und ihre Stimmung sackte immer tiefer. Als dann auch noch der alte Geigenmeister mit einer Violine aus dem Büro kam, um ihr etwas vorzuspielen, war der Zeitpunkt gekommen, die Segel zu streichen. Sie erwischte sich dabei, wie sie das Wort „langweilig“ auf ihren Block schrieb.

Jedoch, gerade in dem Moment, als sie sich erhob, um zu gehen, vernahm sie einen Namen, der sie schlagartig aus ihrer Trance riss. „Entschuldigung, haben Sie gerade Mozart gesagt?“

„Ja doch, hören Sie nicht zu?“

Tina schaute den Alten irritiert an. Sie hatte wirklich nicht mehr zugehört und fragte wie eine Schülerin, die im Unterricht geschlafen hatte, mit einem leichten Stottern in der Stimme: „Das ist Mozarts Violine?“

„Na aber, wenn ich Ihnen das sage, mein Kind.“

Tina zog die Augenbrauen hoch. „Herr Pätzold, wenn das stimmt, wäre diese Geige Millionen Wert und Sie haben die hier einfach so in der Werkstatt herumliegen. Außerdem, wie soll sie hierhergekommen sein? Scherzen Sie mit mir?“

Die Stimme des Meisters wurde ganz leise. Er drehte die Geige um und zeigte auf fünf kaum zu erkennende Buchstaben auf der Rückseite. „Ich habe die Geige von meinem Vater geerbt und der wiederum von seinem. Seit genau 200 Jahren ist sie in Familienbesitz. Schauen Sie selbst!“

Tina musste sich sehr anstrengen, weil die Buchstaben nur ein paar Millimeter klein waren. Dort stand „JCWTM“ „Und?“, fragte Tina ungläubig.

„Mensch Kind, Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart“, antwortete der Meister mit erhobener Brust.

„Herr Pätzold, Sie nehmen mich jetzt auf den Arm!“

Während sie den Satz noch nicht beendet hatte, merkte Tina, wie die Stimmung anfing zu kippen. Ohne Pause und in besänftigendem Ton sprach sie schnell weiter: „Glauben Sie mir, nichts möchte ich lieber tun, als Ihnen zu glauben, dass die Geige echt ist. Können Sie das irgendwie belegen?“

Mit einem Nicken forderte er Tina auf, ihm in sein Büro zu folgen. In der Ecke stand ein alter geöffneter Tresor. Hier musste er vorhin das Instrument herausgeholt haben. Eingeschränkt durch sein Holzbein bückte sich der Geigenbaumeister schwerfällig, um einen alten Brief aus dem Safe zu holen. Er reichte ihn Tina. Es war so etwas wie ein Zertifikat, datiert auf 1963. Sie überflog das Schreiben. Da stand schwarz auf weiß, dass die Geige echt war, beglaubigt mit einem amtlichen Stempel und Unterschrift. Reichte das? Tina musste erst einmal ihre Gedanken sortieren. Die Alternative war, den Geigenbaumeister mit der Echtheit des Instruments zu zitieren und sein Zertifikat als Beleg hinzufügen. Was ja nicht gelogen war und den vorgefundenen Tatsachen entsprach. Jetzt musste sie schnell eine Entscheidung treffen.

Was tun? Der Stern hatte genau das nicht getan und sich so mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern die wohl größte Blamage in der deutschen Journalisten Geschichte eingefangen.

„Mädel, bist du noch da?“ Mit diesen Worten riss der Geigenbauer Tina aus ihren Gedanken. „Die Fakten sprechen eindeutig für die Echtheit der Mozart-Geige.“

Und mit einem Lächeln im Gesicht fragte sie den Geigenbauer: „Darf ich Sie damit in meiner Reportage zitieren?“

Das war sie, ihre erste Story. Das Münsteraner Tagesblatt veröffentlichte die Geschichte auf Seite eins unter der dick gedruckten Überschrift „Wertvolle Mozart-Geige in Münster aufgetaucht.“ Darunter ein verwackeltes und leicht unscharfes Foto mit Meister Pätzold und der Geige. Daneben ein kleineres Foto mit den eingeritzten Initialen „JCWTM“.

Eigentlich wollte die Redaktion vor der Veröffentlichung noch ein vernünftiges Bild von Pätzold machen lassen. Aber der Sturkopf ließ weder einen Fotografen noch einen anderen Redakteur in seine Werkstatt. Ohne es zu ahnen, vergoldete der Geigenbauer damit Tinas Story. Da es keiner Zeitung der Republik gelang, auch nur irgendein vernünftiges Wort mit dem Geigenbauer zu wechseln, kauften sie Tina die Story inklusive Fotos für viel Geld zum Nachdruck ab. Und das taten insgesamt 14 Zeitungen und zwei Fernsehsender. Auch der Star am Sonntag meldete sich und bot alleine dreitausend Mark für die Veröffentlichungsrechte. Ihre erste Geschichte war somit ein echter Kracher, der ihr die Tür in die Welt des Journalismus öffnete. Und es gab noch einen anderen positiven Nebeneffekt. Ihr Sparbuch wies ein dickes Plus aus und sie konnte sich einen großen Traum erfüllen. Tina stand auf schnelle Autos und kaufte sich von ihrem ersten selbstverdienten Geld einen gebrauchten und tiefer gelegten Golf GTI, mit einer 160-PS-Maschine unter der Haube. Das war bestimmt keine vernünftige Entscheidung, aber eine, die viel Spaß und den einen oder anderen Punkt in Flensburg mit sich brachte.

Tina liebte diese Art von Journalismus. In den nächsten Monaten war sie viel in Kleingartensparten, bei Feuerwehren, Eröffnungen von Autohäusern oder Baumärkten, zu hundertsten Geburtstagen und Sportfesten unterwegs. Sie lernte viele Menschen, Charaktere und Lebensläufe kennen. Sie mochte es, den Menschen zuzuhören und hatte das feine Gespür, um aus oft unscheinbaren Dingen interessante Reportagen und Berichte zu schreiben. Ehe sie es sich versah, verwandelte sich die Studentin in eine Vollblutjournalistin.

Es war die Geigenbauer-Geschichte, die rein zufällig auch Lothar Hundertmark vom Star am Sonntag auf den Tisch bekam. Ihm gefiel der Boulevardstil. Genau so eine junge Kollegin suchte er für die Redaktion der neuen Bundesländer in Berlin. Eine Woche später saß Tina in Hamburg und unterzeichnete ihren ersten Arbeitsvertrag als Chefreporterin, ohne jemals eine Journalistenschule besucht zu haben. Das war viel Vorschuss mit hohen Erwartungen, die man in sie setzte und Tina wusste, wenn sie diese nicht erfüllte, war ihre Chefreporterkarriere genauso schnell beendet, wie sie begonnen hatte.

„Tina, Christina, Christinaaa“, rief eine laute Stimme.

Tina sah zur Tür.

Lotte stand dort, schmunzelnd, fast schon belustigt. „Sorry, wenn ich dich geweckt habe. In fünf Minuten ist Konferenz.“

Rückblick:Dienstag, 24. Oktober 1989(16 Tage vor dem Mauerfall)

Waldtraut saß am Küchentisch und blätterte in der Volksstimme. Wenn man in diesen Tagen der Bezirksparteizeitung noch irgendetwas glauben konnte, dann das Wetter. Purer Sonnenschein und über 25 Grad Höchsttemperaturen waren zu erwarten. Es sprach alles für einen traumhaften Herbsttag.

Horst nahm seine Brotbüchse und gab Waldtraut einen liebevollen Kuss. Es war schön, die beiden Turteltauben so zu sehen. Trotz ihrer jeweils 51 Lenze und der über dreißigjährigen Ehe waren sie immer noch ein verliebtes Paar. Horst musste gleich zur Frühschicht ins Stahlwerk und seine Waldtraut war heute mit ihm zusammen aufgestanden, um ihrem Liebsten einen frischen Kaffee zu kochen und ihm das Frühstück zu machen.

Es war erst 5.20 Uhr, als sich Horst auf den Weg machte. Er fuhr mit dem Rad zu den Garagen. Dort stand ihr gutes Stück, ein roter Lada, den sie nach einer sechzehnjährigen Wartezeit im Frühjahr endlich kaufen hatten können. Gewöhnlich fuhr Horst mit dem Rad ins Kombinat, aber heute nahm er das Auto, weil sie sich am Nachmittag in ihrem kleinen Paradies, dem Garten in Deetz treffen wollten.

Waldtraut hatte ihren Haushaltstag und musste eigentlich nicht zur Arbeit im Konsum des Stahlwerkes. Aber sie quälte mal wieder ein schlechtes Gewissen. Ihre Brigadeleiterin, Genossin Paul, war diese Woche zur Parteischulung in Potsdam und Bärbel, ihre Kollegin, mit dem Mann und den Kindern nicht vom Balaton-Urlaub zurückgekehrt. Die Kollegen munkelten, dass sie über die ungarische Grenze in den Westen abgehauen waren.

Dienstag war Liefertag im Konsum und ihre beste Freundin Ingrid war ganz allein und hätte das Geschäft während des Entladens des LKW schließen müssen. Meistens ging das recht schnell, es gab aber Wochen, da kam so viel Ware, dass der Konsum trotz voller Besetzung mehrere Stunden wegen Warenannahme schließen musste. Aber diese Tage waren doch sehr selten. Waldtraut war eine vorbildliche DDR-Bürgerin und da sie Ingrid mit der ganzen Schlepperei nicht allein lassen wollte, nahm sie um halb acht den völlig überfüllten Bus und fuhr ins Stahlwerk.

Der Konsum stand mitten auf dem Werksgelände gleich neben dem Friseur und der Werksfleischerei. Die alte Baracke, in der die Geschäfte untergebracht waren, war inzwischen mächtig in die Jahre gekommen. Die Außenwände bestanden aus grauem Rauputz, der schon an einigen Stellen abbröckelte, und das Dach war unendlich oft mit Dachpappe geflickt worden.

Vor den großen leeren Schaufenstern des Konsums saßen ein paar Stahlwerker in schmutzigen Blaumännern auf einer alten Holzbank. Zu einer gemütlichen Zigarette gab es Bockwurst mit Toast und mit Eiersalat belegte Brötchen zum Frühstück. Die lange Schlange vor dem Konsum war schon von Weitem zu sehen und ein paar gut gelaunte Arbeiter kamen Waldtraut mit zwei Kästen Berliner Pilsner entgegen.

Ach herrje, die Ware schien schon da zu sein und der Verkauf bereits voll im Gange. Hoffentlich hatte Ingrid ihr ein paar Kästen Bier zurückgestellt. Berliner Pilsner war schon seit Monaten nicht mehr geliefert worden. Das passte wirklich gut, Horst konnte das Bier später mit dem Auto mitnehmen und beim Fleischer gegen gutes Grillfleisch fürs Wochenende eintauschen.

Im Konsum angekommen, half Waldtraut, die nicht enden wollende Schlange abzuarbeiten. Die Berliner-Pilsner-Lieferung hatte sich wie ein Lauffeuer im Kombinat herumgesprochen und das halbe Werk stand gierig vor dem Laden. Das war jedes Mal ein Gedrängel und Geschubse. Obwohl jeder Kunde nur einen Kasten Bier bekam, war bereits nach einer guten halben Stunde die letzte Flasche verkauft. Es reichte auch dieses Mal nicht für alle Kunden. Die Wut und der Zorn der Enttäuschten prasselte, so wie sonst auch, auf die armen Verkäuferinnen nieder.

„Ihr braucht euch gar nicht zu wundern, wenn hier alle in den Westen abhauen.“

„Hauptsache für die Parteibonzen ist genug da!“

Mit solchen und schlimmeren Worten wurden die Frauen jedes Mal beschimpft. Seit der großen Demo in Berlin am 7. Oktober, dem Tag der Republik und den Montagsdemos in Leipzig, Dresden und Plauen, wurden die Menschen immer mutiger und nahmen kein Blatt mehr vor den Mund. Sie ließen sich nicht mehr „von denen da oben“ einschüchtern. Aber was konnten die Verkäuferinnen dafür?

Nach dem das gute Berliner ausverkauft war, dauerte es nur ein paar Minuten, bis der Konsum wieder leer war. Waldtraut hängte ihre weiße Schürze an den Haken und setzte sich mit Ingrid auf die Stufen vor dem Laden. Ingrid bot ihr eine DUETT an.

„Seit wann rauchst du so teure Zigaretten? Hast du im Lotto gewonnen?“, fragte Waldtraut.

„Ne, die sind vom Bierfahrer.“ Kurze Pause. „Vom LKW gefallen!“

Beide lachten und rauchten genüsslich ihre Zigaretten. Waldtraut schaute auf die Uhr und sprang auf.

„Ich muss los. Mein Bus fährt in acht Minuten. Ruf mal bitte meinen Horschti an, der soll das Bier mitnehmen. Der hat die 376.“

“Na klar, mache ich doch gerne. Fährst du zum Garten raus?“

„Ja, wir wollen das Wetter ausnutzen und das Laub noch vor dem ersten Frost wegharken. Wir sehen uns morgen.“