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Als ihre Welt auseinanderfällt, ist er der einzige, der sie hält ***Eine Workplace-Romance zum Verlieben*** ***Der mitreißende zweite Band der London-Hope-Reihe*** ***Wunderschön ausgestattet: Farbschnitt und Character Card in limitierter Auflage*** Alice läuft ständig allem hinterher - ihrem Job, ihrem Privatleben und vor allem sich selbst. In der Redaktion des London-Lens-Magazins türmen sich die Aufgaben, in der WG die unerledigten To-Dos. Doch je mehr sie sich anstrengt, desto mehr gerät alles außer Kontrolle. Während andere gefühlt mühelos durchs Leben gleiten, fragt sie sich: Was stimmt nicht mit mir? Und dann ist da Josh. Er bringt sie zum Lachen und sieht etwas in ihr, das sie selbst nicht erkennt. Genau das macht ihr Angst. Denn je näher er ihr kommt, desto lauter wird ihre innere Stimme, die ihr einflüstert, dass sie immer alles kaputt macht. Als dann der Verdacht aufkommt, dass Alice ADHS hat, gerät ihr Leben endgültig ins Wanken. Doch inmitten des Chaos begreift sie, dass sie nicht allein ist - denn Josh versteht sie besser, als sie je geahnt hätte ... Die Geschichte von Josh und Alice ist perfekt für dich, wenn du diese Tropes liebst: #He falls first #Good Guy #Workplace-Romance
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eBook: © 2025 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Grillparzerstraße 12, 81675 München
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ISBN 978-3-8338-9760-3
1. Auflage 2025
GuU 8-9760 05_2025_01
DIE BÜCHERMENSCHEN HINTER LARISSAS PROJEKT
Projektleitung: Viola Schmid
Lektorat: Carolin Steinert
Bildredaktion: Simone Hoffmann, Petra Ender
Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Anika Neudert
eBook-Herstellung: Liliana Hahn
BILDNACHWEIS
Coverabbildung: Creative Market
Illustrationen: GU/Kombinatrotweiss/Izabe.La
Fotos: iStockphoto.com, Adobe Stocka
Syndication: Bildagentur Image Professionals GmbH, Tumblingerstr. 32, 80337 München, www.imageprofessionals.com
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WARUM UNS DAS BUCH BEGEISTERT
So berührend und mitreißend – es macht einfach Mut, sich selbst anzunehmen und sich anderen zu öffnen!
Eva Dotterweich, Verlagsleitung
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
wie wunderbar, dass du dich für ein Buch von GU entschieden hast! In unserem Verlag dreht sich alles darum, dir mit gutem Rat dein Leben schöner, erfüllter und einfacher zu machen. Unsere Autorinnen und Autoren sind echte Expertinnen und Experten auf ihren Gebieten, die ihr Wissen mit viel Leidenschaft mit dir teilen. Und unsere erfahrenen Redakteurinnen und Redakteure stecken viel Liebe und Sorgfalt in jedes Buch, um dir ein Leseerlebnis zu bieten, das wirklich besonders ist. Qualität steht bei uns schon seit jeher an erster Stelle – jedes Buch ist von Büchermenschen für Buchbegeisterte gemacht, mit dem Ziel, dein neues Lieblingsbuch zu werden. Deine Meinung ist uns wichtig, und wir freuen uns sehr über dein Feedback und deine Empfehlungen – sei es im Freundeskreis oder online. Viel Spaß beim Lesen und Entdecken! P.S. Hier noch mehr GU-Bücher entdecken: www.gu.de
LARISSA SCHIRA
Was ich dir mit meinem Buch auf den Weg geben möchte
Manchmal fühlt es sich an, als wäre die Welt zu laut, zu schnell oder einfach nicht für Menschen gemacht, deren Gedanken in alle Richtungen gleichzeitig rasen. Doch genau das kann auch Stärke, Kreativität und Lebendigkeit bedeuten. Egal, wie bunt es in deinem Kopf ist: Du bist nicht falsch – du bist genau richtig, so wie du bist.
Besuche Larissa auf:
@larissa.schira.books
»Dann bekomme ich einfach nur ein Etikett? Etwas, das mich ... anders macht?«Mrs. White scheint sich die Antwort gut zu überlegen, denn es dauert einen Moment, bevor sie spricht.
»Ein Etikett kann schwer wirken, ja. Aber manchmal ist es auch erleichternd. Nicht, weil es Sie definiert, sondern weil es Ihnen zeigt, dass Sie nicht allein sind und dass es Strategien und Werkzeuge gibt, die speziell für Menschen mit solchen Besonderheiten entwickelt wurden.«Sie legt ihr Klemmbrett auf dem Tisch ab.
»Ich kann keine Diagnose stellen, aber wenn Sie mehr herausfinden wollen, gebe ich Ihnen gern die Kontaktdaten einer Kollegin.«Ich atme tief durch.
»Ich weiß nicht. Ich will nicht, dass mein Leben noch komplizierter wird.«Mrs. White nickt. »Das verstehe ich. Sie müssen nichts überstürzen. Egal, wie Sie sich entscheiden: Sie sind immer noch Sie selbst. Und das ist mehr als genug.«
Für alle, die in ihrer eigenen Welt leben und trotzdem nach ihrem Platz in dieser suchen.
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
ich freue mich von ganzem Herzen, dass ihr mein Buch in den Händen haltet. Bevor ihr in die Geschichte von Alice und Josh eintaucht und euch in den Straßen Londons verliert, ein wichtiger Hinweis: Es ist möglich, dass mein Buch Themen enthält, die euch beschäftigen. Deshalb findet ihr auf > eine Liste mit den sensiblen Themen. Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.
Die psychologischen Ratschläge in meinem Buch, die dazu dienen, meinen Charakteren das Leben zu erleichtern, wurden von meiner lieben Kollegin Pia Kabitszch sorgfältig geprüft. Pia ist Psychologin, Speakerin und Bestseller-Autorin. Danke für deine Unterstützung, liebe Pia!
Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen – passt gut auf euch auf!
Eure Larissa & euer GU-Team
Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig, meinen Fuß wegzuziehen, dann prallt der Blumentopf auf die Fliesen. Das Klirren lässt mich so zusammenzucken, dass mir noch ein weiterer aus den Armen rutscht. Verdammter Mist!
Seufzend betrachte ich die rotbraunen Scherben, die sich überall im Gang des Baumarktes verteilt haben. Der Anblick kommt mir seltsam vertraut vor. Vielleicht, weil es ein perfektes Abbild dessen ist, was in meinem Kopf vor sich geht. Splitter, überall zerstreut – und dazwischen ich, die von einem zum nächsten hüpft und nicht weiß, wo sie anfangen soll, um Ordnung in das Chaos zu bringen.
Aber das hier ist definitiv nicht der richtige Ort, um sich mit solchen Gedanken zu beschäftigen. Missmutig schüttele ich den Kopf. Hätte ich nur besser aufgepasst … Ob ich mir einfach schnell einen Besen aus der Nachbarabteilung holen und alles wegkehren kann, bevor es jemand bemerkt? Unschlüssig trete ich von einem Fuß auf den anderen und entscheide mich dann dagegen.
Vorsichtig steige ich über die Scherben und mache mich stattdessen auf die Suche nach einem Mitarbeiter, um das Unglück zu beichten.
Innerlich fluche ich. Mann, warum muss ich mich immer in so unangenehme Situationen manövrieren?
Zu allem Überfluss bleibt meine Suche erfolglos. Alle Gänge sind leer. Bis auf die leise Popmusik aus den scheppernden Lautsprechern und das Zwitschern eines verirrten Vogels ist kein Geräusch zu hören. Wahrscheinlich haben zehn Minuten vor Ladenschluss schon fast alle Feierabend gemacht.
Die Töpfe und der Dünger in meinen Armen werden immer schwerer. Ich bin schon kurz davor, aufzugeben und doch auf meinen Besen-Plan zurückzukommen, als ich endlich jemanden bei den Schrauben entdecke.
Ich steuere auf den Mann in der orangefarbenen Jacke zu, der ein paar Packungen im Regal umsortiert. Sein Gesichtsausdruck verfinstert sich, als er mich näherkommen sieht. Doch dann setzt er ein professionelles Lächeln auf.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt er. Seine Tonlage lässt darauf schließen, dass er hofft, ich würde Nein sagen.
»Sorry, aber mir ist gerade ein paar Gänge weiter was runtergefallen und kaputtgegangen.«
Er grunzt. Sein Blick zuckt zu dem Piercing an meiner Lippe, wandert dann zu den Tattoos an meinen Armen und bleibt schließlich an den restlichen Gärtnerutensilien hängen, die ich immer noch mit mir herumtrage.
»Wundert mich nicht. Warum nimmst du dir keinen Wagen, wenn du so viel kaufen willst? Oder wenigstens einen Korb?«
Ich weiß genau, was hier läuft. Das ist wieder einer von denen, die mich wegen meines Styles sofort in eine Schublade stecken. Und die liegt genau zwischen der mit Randalierern und der mit Ladendieben.
Ich atme tief durch. Nicht provozieren lassen. »Ich wollte gar nicht so viel kaufen. Und ich kenn mich. Wenn ich einen Wagen nehme, lade ich den nur mit noch mehr Zeug voll, das ich eigentlich nicht brauche.«
Er starrt mich an, als hätte ich ihm erzählt, dass ich eine Ausstellungstoilette benutzt habe.
»Außerdem mach ich das immer so beim Einkaufen«, füge ich noch schnell hinzu. »Ich hab also Übung darin.«
»Merkt man ja.« Er macht ein abfälliges Geräusch. »Welcher Gang?«
Ich schlucke die scharfen Worte hinunter, die mir auf der Zunge liegen, denn was Typen wie ihn normalerweise am meisten ärgert, ist, wenn man ihnen mit der Freundlichkeit entgegentritt, die sie selbst nicht aufbringen können.
»Beim Dünger. Ich kann auch beim Aufkehren helfen – und ich bezahl die kaputten Töpfe natürlich«, antworte ich deswegen.
Seine Miene verfinstert sich nur weiter, und er winkt ab. »Nee. Versuch einfach, nicht noch mehr fallen zu lassen und geh zur Kasse, okay?«
Ich bin kurz davor, absichtlich noch einen Topf aus meinem Arm rutschen und ihm vor die Füße knallen zu lassen.
Warum lasse ich mich von ihm überhaupt so aus der Ruhe bringen? Vielleicht, weil ich weiß, dass er recht hat. Und das ärgert mich mehr, als ich zugeben will.
Dieser arrogante Mitarbeiter kennt mich nicht. Aber ich kenne mich leider nur zu gut. So gut, dass ich hätte wissen müssen, dass mir ein Missgeschick passiert, wenn ich mich nicht zusammenreiße und aufmerksamer durch den Baumarkt laufe.
Ich werfe dem Mitarbeiter einen finsteren Blick zu, bevor ich mich umdrehe und meine Einkäufe vorsichtig in Richtung Kasse balanciere.
Eine halbe Stunde später habe ich es ohne weitere Unfälle bis zur Wohnung geschafft und die Aussicht, gleich in Ruhe gärtnern zu können, lässt meine Finger vor Vorfreude kribbeln. Ich stelle die Tragetasche auf dem Boden ab und fummle den Schlüssel aus der Hosentasche. Als ich ihn gerade ins Schloss stecken will, schwingt die Tür jedoch auf.
Nathan steht mir gegenüber, mit einem so gleichgültigen Gesichtsausdruck, dass mein eigenes Lächeln bröckelt. Bemüht fröhlich strecke ich den Arm noch weiter aus und tue so, als würde ich seinen Bauchnabel aufsperren wollen. Doch selbst das entlockt ihm nicht mal ein Schmunzeln.
»Lass das«, brummt er.
»Sorry. Ist was?«
»Nö.« Er wendet sich ab. »Hab nur deinen Schlüssel gehört und dachte, ich mach dir lieber auf, bevor du beim Versuch aufzusperren wieder das Treppenhaus mit Cola flutest.«
Er schlurft den Flur hinunter zu seinem Zimmer.
»Keine Sorge, daraus hab ich gelernt. In Zukunft stell ich die Getränkekiste vorher ab«, rufe ich ihm hinterher und versuche, mich nicht von seiner Laune runterziehen zu lassen. Wahrscheinlich hat er wieder Stress mit seiner Freundin, weil er das ganze Wochenende ohne sie in irgendwelchen zwielichtigen Clubs verbracht hat.
Ich betrete die WG und sofort empfängt mich der Duft von karamellisierten Zwiebeln und orientalischen Gewürzen. Offenbar ist Linh heute mit Kochen dran. Die vietnamesischen Gerichte nach den Rezepten ihrer Großmutter sind meistens mein Highlight der Woche. Obwohl mein Magen knurrt und ich es kaum erwarten kann zu sehen, was sie heute gezaubert hat, schleppe ich zuerst meine Einkäufe in mein Zimmer.
Ich steige über den Wäschehaufen hinter der Tür und stelle die Tasche auf der letzten freien Ecke meines Schreibtisches ab. Dann mustere ich den Raum. Beim Anblick des Chaos muss ich mich beherrschen, um nicht in eine negative Gedankenspirale zu geraten. Das ist definitiv kein Ort zum Wohlfühlen. Da helfen auch die vielen Pflanzen und die farbenfrohe Deko nicht mehr.
Aber wo soll ich anfangen? Wäsche? Die Klamotten, die ich einmal getragen habe, aber noch nicht waschen will, türmen sich auf der Lehne meines Schreibtischstuhls. Aus dem Türspalt des Eichenholzschranks quillt der Ärmel eines Pullovers, den ich zwar gewaschen, aber zusammen mit den anderen sauberen Kleidungsstücken einfach hineingeworfen statt gefaltet und einsortiert habe.
Ich stoße auf einen inneren Widerstand, als ich überlege, wo ich mit dem Aufräumen anfangen soll. Beim Stift- und Zettelchaos auf meinem Schreibtisch oder lieber damit, das Geschirr wegzuräumen … Was ist mit den leeren Flaschen neben dem Bett … und den ungelesenen Büchern, die sich auf meinem Nachttisch stapeln?
Überforderung macht sich in mir breit. Ich brauche eine Strategie. Am besten schaffe ich erst mal etwas Platz, um Dinge zwischenzulagern und zu sortieren. Zum Beispiel auf dem Schreibtisch. Die Tüte mit den Töpfen und dem Dünger steht im Weg. Wenn ich die erst mal ausräume und alles sinnvoll verstaue, habe ich es schon mal vermieden, neue Unordnung zu machen.
Neue Motivation überkommt mich. Ich entsperre mein Handy, verbinde es mit der Bluetooth-Box neben meinem Bett und starte meine Lieblingsplaylist – gerade laut genug, damit ich die Musik genießen kann, aber so leise, dass es die anderen in ihren Zimmern nicht stört.
Ich setze mich mit der Tasche aufs Bett und packe die Töpfe aus. Hoffentlich haben sie die richtige Größe. Ich drehe mich um und nehme vorsichtig eines der Gläschen vom Fensterbrett. Darin schwimmt ein Avocadokern, mit Zahnstochern durchbohrt, die verhindern, dass er an den Boden des Glases sinkt. Denn dort erstreckt sich bereits ein feines Wurzelgeflecht, während aus dem oberen Teil des Kerns ein beachtlicher Keim sprießt. Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen drehe ich das Gläschen zwischen den Fingern. Das ist genau der richtige Zeitpunkt, um die zarte Pflanze aus dem Wasser zu nehmen und in die Erde zu setzen. Der Topf, den ich dafür gekauft habe, ist gerade groß genug, um auf mein Fensterbrett zu passen – also perfekt. Allerdings sollte ich das Umtopfen nicht hier auf meinem Bett machen, wenn ich die nächsten Wochen nicht mit Erde in meinen Haaren aufwachen will.
Ich schiebe meinen Wäscheberg und die Flaschen zur Seite und lege eine ausgebreitete Mülltüte als Unterlage zum Gärtnern auf den Parkettboden. Dann ziehe ich den noch verschlossenen Beutel Erde unter meinem Schreibtisch hervor, reiße ihn auf und beginne, die Töpfe zu füllen.
Sofort steigt meine Laune noch weiter. Das Pflanzen lässt meine Gedanken so leise werden, dass ich sie über meine Lieblingssongs hinweg kaum noch hören kann. Leise summe ich die Melodien mit.
Taylor Swifts beruhigende Stimme wird von Yungbluds rockigen Klängen abgelöst, bevor Olivia Rodrigo eine herzzerreißende Ballade über ihre gescheiterte Beziehung anstimmt. Ich ertrage nur ein paar Takte des Lieds. Dann wird mein Herz so schwer, dass ich trotz der Erde an meinen Fingern mein Handy vom Bett ziehe und den Song überspringe.
Ein Klopfen an der Zimmertür erklingt und lässt mich zusammenzucken.
»Ja?«, rufe ich und schalte die Musik noch leiser.
Die Tür schwingt auf, und Linh stürmt herein. Mit zusammengezogenen Brauen schaut sie auf mich herunter.
Warum haben denn heute alle so schlechte Laune?
»Was ist los?«, frage ich vorsichtig.
»Das fragst du noch?« Sie schnaubt und deutet auf meinen Schreibtisch. »Hast du dich hier mal umgesehen?«
Sofort überkommt mich Scham. Ich schlucke. »Lässt sich leider nicht vermeiden. Ich wo…«
»Jaja, spar dir die Ausreden.« Sie fährt sich mit der Hand durch ihr langes, dunkles Haar und schüttelt den Kopf. »Ach Alice, ich glaub dir ja, dass du dich drum kümmern willst, den Haushalt besser auf die Reihe zu kriegen. Aber irgendwann musst du eben auch mal anfangen. Nur Reden und sich wünschen, dass es besser wird, hilft nicht. Im Moment bleibt wieder alles an mir und den anderen hängen.« Zielstrebig geht sie zu meinem Schreibtisch.
Ich springe auf. »Was machst du da?«
Linh greift nach einem der Teller und wirft mir über die Schulter einen vorwurfsvollen Blick zu, der mich sofort an meine Mutter erinnert.
»Ich wollte gerade das Abendessen anrichten, aber im Schrank ist kein einziger Teller mehr … und in der Schublade nur noch eine Gabel. Ich dachte mir schon, dass sich das alles hier stapelt.«
Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Wie erstarrt stehe ich da und beobachte, wie sie die benutzten Teller und das Besteck von meinem Schreibtisch nimmt und die beiden Schüsseln vom Boden daraufstellt.
»Das musst du nicht machen. Ich spül das schnell ab.« Ich will ihr den Stapel aus der Hand nehmen, doch sie schüttelt vehement den Kopf.
»Nein. Wenn du das die ganze letzte Woche nicht gemacht hast, kannst du dir das jetzt auch sparen. Wir wollen essen. Ich mach das lieber selbst, dann weiß ich wenigstens, dass es erledigt ist.«
Ihre Worte fühlen sich an wie kleine Nadelstiche. Sie ist enttäuscht. Sie findet mich unzuverlässig. Und ich verstehe sogar sehr gut, wie sie zu diesem Schluss gekommen ist. Aber so bin ich nicht.
Ich muss mir unbedingt wieder mehr Mühe geben …
»Kann ich bei was anderem helfen?«, frage ich daher.
»Jetzt nicht. Mach einfach weiter dein …« Sie stockt, als ihr Blick auf mein Chaos am Boden fällt. »… was treibst du da überhaupt?«
»Aufräumen.«
Linh runzelt die Stirn und sieht mich mit demselben Bist-du-bekloppt-Blick an wie der Typ im Baumarkt vorhin.
»Wenn ich aufräume, verteile ich dabei normalerweise nicht überall Erde in meinem Zimmer.«
Erst jetzt dämmert mir, wie bescheuert das für sie klingen muss.
»Ich wollte Platz auf meinem Schreibtisch schaffen. Da stand die Tüte mit den Töpfen und als ich überlegt habe, wo ich die hinpacke, hatte ich die Idee, sie glei…«
Sie hebt die Teller ein Stück höher und schüttelt abwehrend den Kopf. »Ich will’s gar nicht so genau wissen. Essen gibt’s in fünfzehn Minuten – wenn ich abgespült habe, okay?«
Ich trete von einem Bein auf das andere. Soll ich ablehnen? Ich kann unmöglich neben ihr sitzen und ihr aufwendig gekochtes Essen genießen, ohne dabei von meinem schlechten Gewissen zerfressen zu werden. Ich würde mich fühlen wie ein Parasit. Aber wäre es nicht auch unhöflich, das Essen auszuschlagen, das sie extra gekocht hat?
Fieberhaft suche ich nach einer Möglichkeit, mich angemessen für die Umstände, die ich ihr und den anderen gerade mache, zu entschuldigen. Doch alles, was mir einfällt, sind leere Worte.
»Ich überleg mir was, um das alles wieder gutzumachen. Versprochen«, sage ich, doch sie erwidert nichts und verlässt wortlos mein Zimmer.
Ich ziehe den Regler für die Hintergrundunschärfe etwas weiter nach oben. Die bunten Häuser Notting Hills verschwimmen, während die Katze und die Mauer im Vordergrund noch mehr herausstechen. Zufrieden betrachte ich das Foto auf meinem Tablet und nehme einen Schluck aus der dampfenden Kaffeetasse neben mir. Jetzt nur noch die Farbtemperatur anpassen, damit der Sonnenaufgang noch besser wirkt …
In dem Moment, in dem ich den Touchpen ansetze, klingelt mein Handy.
Die Vibration lässt es auf dem Holztisch tanzen und erzeugt ein so durchdringendes Geräusch, dass ich zusammenzucke. Als ich es hektisch vom Tisch reiße, stoße ich beinahe die Kaffeetasse um und knalle mit dem Knie gegen das Tischbein.
Peinlich berührt sehe ich mich im Café um. Doch die anderen Besucher haben es entweder nicht bemerkt oder sind zu höflich, um sich ihren Ärger über die Lärmbelästigung anmerken zu lassen.
Schnell wische ich über den grünen Hörer auf dem Display und nehme das Handy ans Ohr.
»Ja?«
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich gar nicht geschaut habe, wer mich überhaupt anruft.
»Josh?« Die Stimme ist allerdings unverkennbar.
»Mrs Dawson, was steht an?«
Es raschelt im Hintergrund. »Guten Morgen erst einmal. So viel Zeit muss sein.«
Meine Wangen werden heiß. Gut, dass sie mich nicht sehen kann. »Äh ja, natürlich … guten Morgen.«
Ihr Lachen beruhigt mich. Sie scheint mir meine Unhöflichkeit nicht übel zu nehmen.
»Hast du in den nächsten Tagen ein bisschen Zeit? Wir gestalten die London Lens-Website gerade neu und haben beschlossen, dass wir gern ein paar aktuelle Fotos für einen virtuellen Rundgang durch die Redaktion hätten.«
»Kein Problem, die kann ich machen. Sie müssen mir nur sagen, wann Sie aufgeräumt und geputzt haben.«
»Wir sollten mein Büro vielleicht auslassen.« Mrs Dawsons helles Lachen dringt erneut in mein Ohr und lässt mich ebenfalls schmunzeln. »Wie wäre es mit übermorgen? Oder ist das zu kurzfristig?«
»Nee, klingt super. Dann komm ich gegen elf vorbei.«
»Wie schön, dann laufen wir uns auch mal wieder über den Weg. Es muss Monate her sein, dass wir uns gesehen haben.«
»Vier, um genau zu sein.«
Wahnsinn, wie die Zeit vergangen ist. Als Teilzeitkraft bin ich nur selten in der Redaktion. Vor allem dann nicht, wenn gerade von der London Lens nur wenige neue Bilder gebraucht werden und ich mir anderweitig mehr Gelegenheits-Fotojobs suchen muss.
Ich freue mich darauf, im Büro vorbeizuschauen. Auch wenn ich es liebe, von zu Hause zu arbeiten und meinem eigenen Rhythmus zu folgen, ohne dass jemand meine Produktivität kontrolliert, ist diese Arbeitsweise manchmal etwas einsam. Die Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion sind zudem alle unglaublich nett. Über das köstliche Essen in der Cafeteria und die Billardturniere in der Mittagspause darf ich gar nicht erst nachdenken, wenn ich nicht in Wehmut verfallen will.
»Dann wird es wirklich Zeit. Ich spül dir auch eine Tasse ab. Bis dann, Josh.«
Ich muss lachen. »Alles klar. Schönen Tag noch.« Ich lege auf – doch meine Gedanken bleiben bei dem Telefonat und der neuen Aufgabe hängen. In meinem Kopf taucht die Redaktion auf und ich durchstreife jeden Raum, vom Konferenzsaal bis zum Fitnessraum, auf der Suche nach dem perfekten Winkel für die Fotos.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als die junge blonde Bedienung mich mit einem Räuspern zurück ins Hier und Jetzt katapultiert.
»Passt noch alles bei dir?«, fragt sie. Keine Ahnung, wie lange sie schon neben meinem Tisch steht. Vielleicht hat sie schon ein paarmal versucht, auf sich aufmerksam zu machen.
»Sorry. Ja, alles bestens.« Zur Bestätigung hebe ich meine Tasse an, die immer noch fast voll ist, mittlerweile allerdings nicht mehr dampft.
Sie nickt und zieht wieder ab.
Ich nehme einen Schluck und verziehe unwillkürlich den Mund. Kalter Kaffee ist echt kein Genuss. Hätte ich mir doch mal lieber einen neuen bestellt …
Ich stelle die Tasse ab, entsperre mein Tablet und starre auf den Bildschirm. Was wollte ich noch mal machen? Meine Konzentration verliert sich zwischen der Melodie der Hintergrundmusik, deren Takt ich mit dem Stift mitklopfe, und den Gesprächen der beiden älteren Damen am Nachbartisch. Die mit der riesigen Brille erzählt der anderen gerade von ihrem eitrigen, eingewachsenen Zehennagel … Na super.
Ich streiche mir über die Nasenwurzel. Verdammt, reiß dich zusammen. So schwer ist das doch nicht.
Es war klar, dass das Telefonat mich rausbringt, aber das muss ich nicht einfach so hinnehmen. Ich kann meine Kopfhörer aufsetzen und …
Ein Gedanke schießt wie ein Blitz durch meinen Kopf. Natürlich. Ich darf es nicht schon wieder vergessen.
Schnell beuge ich mich zu meinem Rucksack und ziehe die kleine Dose mit den Pillen hervor. Ich lasse den Deckel aufploppen, schiebe mir eine der Tabletten in den Mund und spüle sie mit dem kalten Kaffee hinunter. Dann werfe ich die Dose zurück in den Rucksack und krame meine Kopfhörer hervor.
Obwohl ich keine Musik anschalte, helfen sie mir, die Geräusche im Café fernzuhalten und langsam zurück in meinen Arbeitsflow zu finden.
Als ich abends hinter dem kleinen, umzäunten Fußballplatz abbiege, sehe ich schon von Weitem Leo vor der Tür des roten Ziegelsteingebäudes stehen, in dem ich wohne.
Er dreht sich in meine Richtung, und ein freches Grinsen breitet sich auf seinen Lippen aus. Seine dunklen Locken sind dank des Windes noch zerzauster als sonst, und ich kann nicht anders, als ebenfalls dämlich zu grinsen. Dabei weiß ich nicht mal genau, warum sein Anblick mir sofort ein Lachen entlockt.
Vielleicht sind es die vielen Erinnerungen an mit Salz gefüllte Zuckerstreuer, ganze Packungen Mentos in Cola und unsere Zahnpastastreiche an Halloween, die in meinem Kopf für immer mit ihm verknüpft sind.
»Bist du zu Hause rausgeflogen oder was machst du schon hier?«, rufe ich ihm zu.
Er kommt mir ein paar Schritte entgegen und begrüßt mich, indem er seine Schulter kräftig gegen meine stößt und mir auf den Rücken klopft. »Ich habe dich nur vermisst.«
Ich krame in der Hosentasche nach meinem Hausschlüssel. »Und jetzt mal ohne Scheiß?«
»Ich hatte Angst, dass du unser Treffen vergisst, wenn ich dir nicht ein bisschen in den Arsch trete.«
Im ersten Moment will ich protestieren. Doch bevor ich den Mund öffnen kann, realisiere ich, dass seine Befürchtung gar nicht so unwahrscheinlich war.
Ich werfe einen Blick auf mein Handy.
»Aktuell sieht es so aus, als wären wir immerhin pünktlich.«
»Wenn wir schon losgehen würden, hättest du recht. Aber du kommst gerade erst nach Hause und musst dich bestimmt noch umziehen.« Leo mustert meine Jeans, deren untere Hälfte dreckig geworden sein muss, als ich mich für einen besseren Winkel beim Fotografieren der Straßen und Häuser in Notting Hill hingekniet habe.
Seufzend öffne ich die Tür und halte sie auf, damit er hinter mir in den Hausflur schlüpfen kann. Sie fällt hinter ihm scheppernd ins Schloss. Er folgt mir in den dritten Stock und im Gegensatz zu mir streift er sich nicht die Schuhe von den Füßen, als er meine kleine Bude betritt.
Ich stelle den tonnenschweren Rucksack mit Kameraequipment ab und ziehe mir die Jacke von den Schultern.
»Ich zieh mir nur schnell was ohne Matschflecken an, dann können wir los.«
»Okay, aber beeil dich. Wenn wir nicht rechtzeitig da sind, haben wir das Geld in den Wind geschossen. Wir können nicht später anfangen.«
Seine Worte versetzen mir einen kleinen Stich. Glaubt er wirklich, ich würde es jetzt noch schaffen, ihn hängen zu lassen?
»Was denkst du denn, was ich sonst vorhabe? Noch schnell die Wäsche machen und nebenbei ein Drei-Gänge-Menü kochen?«
»Bei dir weiß man nie so genau«, antwortet er.
Ich spare mir eine Erwiderung und verschwinde im Bad. Ich schaffe es, mich in Rekordtempo umzuziehen und stehe so schnell wieder vor Leo, dass er offensichtlich beeindruckt ist.
Gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Zum Glück müssen wir nicht die Tube nehmen. Ich quetsche mich in Leos uralten Dacia und kann mir einen spitzen Kommentar nicht verkneifen, als ich eine zerbeulte Dose und eine alte McDonalds-Tüte unter meinem Hintern hervorziehe. Damit sind wir wieder quitt und trällern die Fahrt über die Songs von Leos Mix-CD mit. Es ist immer dasselbe, denn die Schrottkarre hat nur ein CD-Fach und keine Anschlussmöglichkeit für Handys. Mittlerweile kann ich daher jeden Song in- und auswendig. Vielleicht finde ich mal die Zeit, einen neuen Mix für Leo zusammenzustellen – aber natürlich nicht ohne ein paar richtig peinliche Songs zwischendurch.
Nach zwanzig Minuten Fahrt erreichen wir unser Ziel. Leo wirft mich an einer Ecke raus, um noch in Ruhe nach einem Parkplatz zu suchen. Leider weiß ich nicht genau, wo ich hinmuss.
Ich will gerade die Straße hinunterlaufen und die hellbraunen Backsteinhäuser genauer inspizieren, als jemand nach mir ruft.
»Josh, hier drüben!«
Ich drehe mich um und entdecke Ellie auf der anderen Straßenseite unter einem gläsernen Vordach. Bei ihrem Anblick friere ich sofort. Sie trägt nur eine dünne Strumpfhose unter ihrem kurzen, karierten Rock und ihre Jacke sieht aus, als wäre sie eher für laue Sommernächte an der Cote d´Azur als für windige Apriltage in London gemacht.
»Ist dir nicht kalt?«, frage ich, als ich sie zur Begrüßung umarme.
»Und wie. Ich konnte ja nicht wissen, dass die mich hier draußen stehen lassen, bis die Gruppe vollständig ist.«
»Willst du meine Jacke? Die ist definitiv wärmer als deine – auch wenn sie nicht besonders schick ist.« Während ich das sage, sehe ich an mir hinunter. Die matschgrüne, mehrschichtige Funktionsjacke benutze ich normalerweise nur für längere Outdoor-Fototouren. Keine Ahnung, was mich in der Eile dazu gebracht hat, gerade nach ihr zu greifen.
Ellie schüttelt den Kopf, wobei ihr hellbrauner Bob ihr um die Ohren weht, und tritt von einem Fuß auf den anderen.
»Danke, ich friere lieber als auszusehen wie ein halb verdautes Salatblatt.«
Ich lache auf. »Hey, die Jacke geht super als Tarnmantel durch. Wer weiß, ob wir den da drinnen brauchen.« Ich deute auf die Werbung, die an der Wand zwischen mir und der Eingangstür prangt.
Das Bild ist in tiefem Schwarz gehalten, durchzogen von einem unheimlichen Nebelschleier, dazwischen die Straßen des viktorianischen Londons. Darüber prangt der dick gedruckte Schriftzug Mystery Quests – Londons finest Escape Rooms.
»Warst du schon mal in einem Escape Room?«, fragt Ellie.
»Nicht im Real Life. Dafür habe ich vermutlich sämtliche Online-Escape-Games durchgespielt, die es auf dieser Welt gibt.«
Sie sieht überrascht aus. »Dann wird es auf jeden Fall Zeit. Genauso wie für Leo endlich aufzukreuzen. Wo bleibt er denn?«
Wie auf Kommando biegt unser Freund um die Gebäudeecke. »Du hast mich gerufen?«
»Es stimmt wohl, was man sagt … wenn man vom Teufel spricht …« Ellie rollt mit den Augen, grinst dabei aber.
»Nee, wenn dann bin ich eher so was wie ein Dschinn. Ich bin erschienen, um euch mit meiner enormen Weisheit auszuhelfen, sonst kommt ihr ja nie wieder aus diesem Raum raus.«
Ellie verzieht das Gesicht. »Dazu hätte ich aber an deiner … Flasche rubbeln müssen. Und das werde ich garantiert nie tun.«
Ich breche in schallendes Gelächter aus. »Oh, bitte hört auf, so zu reden. Das halte ich sonst nicht aus.« Ich schüttle den Kopf, als wolle ich Bilder verdrängen. Gleichzeitig bin ich froh, dass wir uns heute verabredet haben. Nach so einem langen Tag gibt es kaum etwas Erfrischenderes, als mit den beiden zusammen zu lachen. Selbst darauf, dass wir uns gleich vermutlich richtig blamieren werden, wenn wir versuchen, die Rätsel zu lösen, freue ich mich. Egal was wir gemeinsam unternehmen, Ellie und Leo schaffen es immer, mich auf andere Gedanken zu bringen und ein wenig Last von meinen Schultern zu nehmen.
Ich folge Leo zur Tür. Doch bevor er die Hand an den Griff legen kann, schwingt sie bereits nach innen auf.
Ich trete zur Seite, um der Gruppe Platz zu machen, die uns entgegenkommt.
»Was treibst du denn hier, Flummi?«
Ich reiße den Kopf herum. Beim Klang dieses furchtbaren Spitznamens bekomme ich sofort Gänsehaut… und zwar keine der guten Sorte.
Connor löst sich aus der Gruppe seiner Freunde und bleibt vor mir stehen. Mein Bruder sieht schon wieder aus, als würde er als Casual-Chic-Model von einem Fotoshooting kommen. Ein fröhliches Lächeln umspielt seine schmalen Lippen. Doch ich kann es nicht erwidern.
»Wie oft hab ich dich schon gebeten, mich nicht mehr so zu nennen?«
Er schlägt sich die Hand gegen die Stirn. »Ah, Mist, sorry. Ist einfach so tief drin. Ich vergesse das immer.«
Ich kann nicht einschätzen, ob er seine Entschuldigung ernst meint oder sich insgeheim nur über mich lustig macht.
»Schon okay«, murmle ich.
»Hey Leo, hi Ellie.« Connor begrüßt meine Freunde mit einem Nicken.
Leo scheint sich zu freuen, ihn zu sehen. »In welchem Raum wart ihr?«
»Jack the Ripper. War nicht ohne, aber irgendwie haben wir es trotzdem so schnell hinbekommen, dass wir jetzt auf Platz 3 der Monatsbestenliste stehen.«
»Cool, Glückwunsch.« Ich presse die Lippen aufeinander.
Einer von Connors Freunden klopft ihm von hinten auf die Schulter. »Irgendwie? Nicht so bescheiden. Das lag nur an deiner krassen Strategie. Ohne die würden wir jetzt noch da drin feststecken.«
Natürlich. Connor, der geniale Stratege. Derjenige, der immer einen kühlen Kopf bewahrt und alle rettet. Mein Magen zieht sich zusammen.
Connor kratzt sich im Nacken und sieht zwischen mir und Leo hin und her.
»Und ihr? Welchen Raum probiert ihr aus?«
»Dreimal darfst du raten«, erwidere ich kühler als beabsichtigt.
»Oh. Na dann viel Erfolg.« Er wendet sich zum Gehen, dreht sich aber im letzten Moment noch mal zu mir um. »Und denk dran … immer auf die Details achten. Sonst kommst du nicht weit.«
Seine Worte hallen in meinem Kopf wider, und ich starre ihm hinterher, während er mit seinen Freunden abzieht. Ich weiß, dass ihr Lachen nicht mir gilt. Trotzdem fühlt es sich an, als würde er mich damit nur bloßstellen wollen. Auf die Details achten.
»Josh, alles okay? Kommst du?«
Ich drehe mich zu Ellie um, die im Türrahmen steht. Ihr besorgter Blick frisst sich direkt in mein Herz.
Mühevoll schüttle ich das unangenehme Gefühl ab. Von einem solchen Zwischenfall werde ich mir nicht den Abend versauen lassen. Ich atme tief durch und setze eine fröhlichere Miene auf.
»Alles gut. Komme schon.«
Ich folge ihr und Leo hinein und zu den Schließfächern, wo wir unsere Jacken und Taschen verstauen. Dann werden wir von einem großen, kostümierten Guide in Empfang genommen. Er trägt ein altmodisches Detektiv-Outfit, das unter anderem aus einem langen braunen Mantel besteht. In seinem Mund steckt eine Pfeife. Er führt uns in einen Vorraum, wo wir uns an einen runden Tisch setzen.
»Herzlich willkommen, Detectives. Wie Sie sicher wissen, treibt derzeit ein kaltblütiger Mörder in den Straßen Londons sein Unwesen …« Er beginnt mit ausladenden Gesten, die Vorgeschichte für das Escape Game zu erzählen und die Regeln zu erklären.
Hinter ihm hängt eine digitale Anzeigentafel, die im Dämmerlicht des Vorraums besonders grell leuchtet. Darauf wechseln sich Symbole, die die Regeln erklären, mit dem monatlichen Leaderboard ab. Ich erstarre, als ich es überfliege.
Er hat keinen Mist erzählt. Auf Platz 3 prangt in Großbuchstaben CONNORS CREW.
Wow, was für ein kreativer und überhaupt nicht egozentrischer Gruppenname.
Mein Herz klopft immer fester, je länger ich auf die Anzeigentafel starre. Nervös trommle ich mit den Fingerkuppen auf den Tisch.
Ob wir es schaffen können, ihn zu überholen? Wahrscheinlich nicht. Hätte ich mich nur besser vorbereitet und Strategien gelesen, wie man in solchen Escape Rooms am besten vorgeht, worauf man achten muss …
»So weit alles klar?«
Leo und Ellie nicken. Mist! Was hat der Guide erzählt? Ich kann schlecht zugeben, dass ich die letzten Minuten überhaupt nicht zugehört habe …
»Na, dann bringe ich Sie jetzt in Ihr Büro«, sagt der Typ im Kostüm und steht auf.
Wir laufen hinter ihm her durch einen schmalen, dunklen Flur, von dem mehrere Türen abgehen. Er bleibt erst an der hintersten stehen.
»Die Zeit läuft los, sobald Sie den Raum betreten. Viel Erfolg, Detectives!«
Er beugt sich vor und fügt deutlich weniger theatralisch hinzu: »Und keine Sorge – natürlich ist die Tür nicht wirklich abgesperrt. Wenn ihr aufs Klo müsst oder etwas sein sollte, könnt ihr jederzeit einfach raus. Allerdings läuft eure Zeit weiter, also überlegt euch gut, ob ihr unterbrechen wollt.«
»Okay. Startklar?«, frage ich Leo und Ellie.
»Wird schon schiefgehen«, antwortet Leo und öffnet die Tür. Etwas piept.
Ich betrete den Raum, der in noch schummrigeres Licht getaucht ist als der Flur. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Was ich jedoch sofort erkenne, ist, dass es hier ziemlich eng ist. Der Raum ist gerade groß genug für vier oder fünf Menschen. Oben an der Wand befindet sich eine Anzeige mit roten Ziffern, die von 60 Minuten runterzählt. Alles andere sieht aus, als würden wir nachts im Vorgarten eines alten viktorianischen Hauses in London stehen. Uns gegenüber befindet sich eine weitere Tür, daneben hängt ein Schild mit Hausnummer und Name einer Detektei. Ich lasse den Blick über die Wände, den Boden und die halbhohe Mauer wandern, die den Vorgarten begrenzt.
Sofort höre ich Connors Stimme wieder in meinem Kopf. Du musst auf die Details achten.
Nur: Davon gibt es so viele. Und im Gegensatz zu den Online-Escape-Rooms kann ich mich hier nicht von einem zum anderen klicken, sodass die, die ich gerade nicht betrachte, ausgeblendet werden. Hier weiß ich nicht, wo ich zuerst hinsehen soll. Auf die mit Kreide auf die Mauer gemalten Zahlen, die fehlenden Steine in der Mauer, die ein seltsames Muster ergeben, oder das Schloss am Briefkasten …
Kurz entschlossen steuere ich auf die Haustür zu und drücke die Klinke nach unten.
»Als ob die einfach offen ist. Lass uns erst mal …« Leo verstummt, als das Türschloss klackert und ich die Tür problemlos aufschiebe.
»Okay, vergiss es. Was sollen wir tun, Chef?«, fügt er hinzu und lacht.
»Mal sehen …« Ich betrete den Raum dahinter, der nur vom Schein elektronischer Kerzen erhellt wird. Es ist unverkennbar das angekündigte Detektivbüro des neunzehnten Jahrhunderts. Der Holzschreibtisch und die Bilder an der Wand haben ihren ganz eigenen Charme.
Die Atmosphäre zieht mich sofort in den Bann. Doch die Tatsache, dass es hier noch mehr zu entdecken gibt, steigert gleichzeitig meine innere Unruhe. Unschlüssig stehe ich da, während Leo und Ellie sich direkt daran machen, Tassen und Bücher aus dem Regal oder Gegenstände vom Schreibtisch in die Hand zu nehmen und von oben bis unten zu betrachten.
»Habt ihr einen Plan, was ihr da tut?«
»Nicht wirklich«, antwortet Ellie. »Erst mal alles auschecken.«
Auf das Risiko hin, mich zu blamieren, frage ich: »Wonach suchen wir überhaupt?«
»Hm. Ich würde sagen, wir versuchen zuerst, das Schloss vom Briefkasten zu öffnen.«
Strategie, denke ich. Wir brauchen vor allem eine Strategie.
»Wie wäre es, wenn wir uns aufteilen? Einer schaut sich das Schloss an, einer checkt den anderen Raum aus und einer diesen hier?«
»Klingt sinnvoll«, sagt Ellie. »Ich will mir die Mauer da drüben genauer ansehen.« Mit federnden Schritten hüpft sie zurück in den Vorgarten.
»Dann schau ich mal, ob man das Schloss irgendwie knacken kann.« Mit diesen Worten geht Leo ebenfalls zurück in den Garten-Raum.
Ich bleibe allein im Büro zurück und drehe mich um die eigene Achse, auf der Suche nach einem Ausgangspunkt. Mein Blick bleibt am Schreibtisch hängen. Mit dem sollte ich starten.
Ich durchforste die gestapelten Akten, in der Hoffnung, dort auf etwas zu stoßen, das mir die Story erklärt, die ich gerade verpasst habe. Doch da ist nichts. Nur Postkarten, Karteieinträge, Briefe … Ich überfliege die Zeilen, nichts bleibt hängen.
»Wir brauchen einen kleinen Schlüssel!«, ruft Leo von drüben.
Schlüssel. Okay. Wo könnte der versteckt sein?
Am Rand des Schreibtischs steht ein uraltes Telefon mit Wählscheibe, dicken Kabeln … und einem hölzernen Kasten darunter. Das Ding wäre doch perfekt, um etwas darin zu verstecken …
Ich hebe den Hörer ab. Nichts passiert. Die Wählscheibe lässt sich nicht runternehmen und einen Hebel zum Öffnen des Kästchens suche ich ebenfalls vergeblich. Also muss ich wohl irgendwie anders rankommen. Details. Vielleicht über das Loch, durch das das Kabel reingeht?
Ich knie mich vor das Telefon und beginne, es auseinanderzubauen. Immer wieder höre ich Leo und Ellie währenddessen im Nebenraum kichern.
Meine Aufgabe gestaltet sich kniffliger als gedacht. Schließlich lässt sich die Wählscheibe jedoch lösen – und damit auch die obere Hälfte des Kastens aufklappen.
Zu meiner Überraschung befinden sich darin aber nur noch mehr Kabel. Eines davon führt unter den Tisch. Ich beuge mich hinunter. Es endet in einer gut getarnten Steckdose …
Mit einem Mal beschleicht mich das Gefühl, dass es eine ziemlich bescheuerte Idee war, den Kasten auseinanderzubauen. Schnell stecke ich alles notdürftig wieder zusammen. Die Wählscheibe kriege ich allerdings nicht mehr fest.
Plötzlich ertönen Schritte hinter mir und ich fahre herum.
»Wir finden drüben keinen Schlüssel«, sagt Ellie. »Hast du was Hilfreiches entdeckt?«
»Leider nein.«
»Verdammt! Es sind schon zehn Minuten vergangen.« Ellie flucht leise. »Vielleicht sollten wir uns mal den ersten Tipp abholen?«
Tipp? Es gibt Tipps?
»Äh … klar, mach ruhig«, sage ich, in Erwartung, dass sie den Spielraum verlässt und zum Guide nach draußen geht. Doch zu meinem Erstaunen tritt sie neben mich.
»Wie war das noch gleich … 999?« Sie greift nach dem Telefonhörer und steckt den Finger ins Loch der Wählscheibe.
Hitze schießt mir in den Kopf.
»Oh, die ist ziemlich locker«, murmelt Ellie, während sie versucht, die Nummer zu wählen – vergeblich. »Hm. Die Leitung ist tot.« Sie sieht mich fragend an. »Hab ich was falsch gemacht?«
»Nein, nein, auf keinen Fall«, sage ich viel zu schnell. »Ich meine … sah alles richtig aus.«
»Hm.« Sie streicht sich übers Kinn. »Leo, kommst du mal?«
Natürlich kommt er ihrer Bitte nach und steht nur Sekunden später zwischen Ellie und mir.
»Hat der Typ noch irgendwas zu den Tipps gesagt? Gibt es die erst ab einer bestimmten Zeit? Oder war die Nummer nicht 999?«
»Ihr stellt euch bestimmt nur zu doof an«, erwidert Leo und probiert es selbst noch mal.
Ich halte die Luft an. Doch nichts tut sich.
»Ich glaube, die Wählscheibe funktioniert nicht.« Er mustert das Telefon genauer. »Soll ich versuchen, es zu reparieren?«
Ellie schüttelt vehement den Kopf. »Auf keinen Fall. Du hast doch gehört, was der Guide gesagt hat. Regel Nummer eins: Nirgendwo draufklettern, nichts auseinanderbauen. Erst recht nicht das Telefon.«
Mich überkommt der dringende Wunsch, einfach nach draußen zu rennen und nach Hause zu fahren. Doch ich beherrsche mich und versuche, meinen rasenden Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen.
Scheiße. Warum kann ich nicht einmal zuhören? Es wäre so wichtig gewesen. Nicht nur, dass wir ohne Tipps wahrscheinlich keine Chance haben, Connor zu schlagen … Ich habe auch noch gegen die Regeln verstoßen und etwas kaputt gemacht. Ob ich es sagen soll? Aber ich will nicht schon wieder derjenige sein, durch dessen Verpeiltheit ein schöner Abend zerstört wird.
»Okay… na ja, egal. Lasst uns lieber weitersuchen, anstatt unsere Zeit zu verschwenden«, sagt Ellie und Leo stimmt zu. Die beiden ziehen wieder ab.
Doch ich kann mich auf nichts anderes mehr konzentrieren als darauf, wie sehr ich mich für meinen Fehler schäme.
Als mein Wecker zum dritten Mal klingelt, schwinge ich seufzend die Beine aus dem Bett. Der Boden fühlt sich seltsam an. Mein Kopf ist allerdings noch so vernebelt, dass ich erst nach unten schauen muss, um zu begreifen, was komisch ist. Meine nackten Füße stehen auf einem kleinen Erdhaufen.
»Was für ein genialer Start in den Tag«, murmle ich und verfluche mich selbst dafür, dass ich das Zeug nicht gestern Abend noch weggeräumt habe.
Ich klopfe mir die Erde von den Fußsohlen, tappe auf Zehenspitzen ins Bad und stelle mich unter die Dusche.
Das heiße Wasser, das an mir hinunterrinnt, weckt neue Energie in mir. Ich trockne mich ab, föhne mir die Haare und husche, gehüllt in ein Handtuch, zurück in mein Zimmer.
Jetzt räume ich aber wirklich auf. Sonst verteile ich die Erde noch in der ganzen Wohnung.
Nachdem ich in eine weite Jeans und ein enges schwarzes Shirt geschlüpft bin, mache ich mich also daran, die Erde aufzukehren und die Tüten auf dem Boden zusammenzuräumen. Das geht schneller und einfacher als erwartet. Doch als ich die Küche betrete, um den Staubsauger aus der Abstellkammer neben dem Kühlschrank zu holen, bleibt mein Blick an der Ofenuhr hängen. Ich erstarre. Verdammt, warum ist es denn schon so spät? In fünf Minuten müsste ich in der Redaktion sein! Dann beginnt das wöchentliche Meeting …
Ich lasse den Staubsauger Staubsauger sein, stürme in den Flur und schlüpfe in irgendwelche Schuhe. Zum Glück steht mein Rucksack bereits parat, weil ich ihn gestern gar nicht erst ausgepackt habe.
In Rekordzeit hetze ich zur Tube, fahre fünf Stationen und verzichte dann auf das Umsteigen für die letzte Station. Das würde nur unnötig lange dauern. Stattdessen laufe ich die Straße hinunter, vorbei an den riesigen Bürogebäuden und zahlreichen Menschen, die es ebenso eilig zu haben scheinen wie ich.
Als ich schließlich das Redaktionsgebäude erreiche und auf die Tür zustürme, renne ich fast eine ältere Dame um. Ich rufe eine Entschuldigung in ihre Richtung, doch sie schüttelt nur missbilligend den Kopf.
Der Aufzug hat noch nie so lange gebraucht, um in den fünfzehnten Stock zu fahren. Nervös tippe ich mit der Fußspitze auf den Boden und starre unablässig auf die Anzeige, als könnte ich sie dadurch beschwören, die Zahlen schneller zu ändern.
»Mach schon«, murmle ich.
Endlich gleiten die Türen auf. Ich lasse das Foyer mit dem großen goldenen London Lens-Schild hinter mir und haste den Flur hinunter. Keine Ahnung, wie spät es inzwischen ist. Hoffentlich komme ich noch rechtzeitig, um wenigstens die wichtigsten Punkte mitzubekommen.
Ohne abzubremsen, reiße ich die Tür vom Meetingraum auf und stolpere hinein. Alle zwanzig meiner Kolleginnen und Kollegen reißen den Kopf herum. In ihren Blicken liegt eine Mischung aus Erschrecken und Tadel.
Sanjay, der gerade vor der Beamerleinwand steht, runzelt die Stirn. Alles, was die Stille im Raum durchbricht, ist mein keuchender Atem.
Sofort halte ich die Luft an, mache einen Schritt zurück und schließe leise die Tür hinter mir. Mann, wie unangenehm.
»Guten Morgen, Alice«, ruft Mrs Dawson vom Kopfende des Tisches, und ich glaube, einen kleinen Vorwurf aus ihrer Stimme zu hören. Den kann ich ihr nicht mal übel nehmen.
Als Redaktionsleitung der London Lens ist sie wie immer top gestyled. Sie trägt ein hellblaues Kostüm, der dunkle Knoten auf ihrem Kopf ist akkurat mit zwei Nadeln zurückgesteckt und ihr Make-up sitzt perfekt. Wie schafft sie es nur, sich jeden Tag so früh am Morgen schon derart herauszuputzen? Ich bekomme es nicht mal ohne großes Styling hin, pünktlich in der Redaktion zu sein …
»Sorry. Ignoriert mich einfach, macht weiter«, sage ich und schleiche zum nächstbesten freien Platz am langen Konferenztisch. Zum Glück räuspert sich Sanjay direkt und fährt mit der Vorstellung seines Artikels fort. Langsam wenden sich alle wieder der Präsentation zu.
Als ich eine Stunde später den Konferenzraum verlasse, ist mein peinliches Reinplatzen zum Glück fast vergessen. Ich schwebe förmlich den Flur hinunter zu meinem Büro und kann es kaum erwarten, mich an den Schreibtisch zu setzen und den PC hochzufahren. Mrs Dawson war so angetan von meinem letzten Artikel, dass sie ihn ohne weitere Anmerkungen direkt freigegeben hat. Ich bin dankbar, dass sie nie nachtragend ist, sondern hauptsächlich auf das Ergebnis achtet und jeden von uns mit seinen Ecken und Kanten akzeptiert. Auch wenn ich mir manchmal sicher bin, dass es sie bei mir mehr Kraft kostet als bei den anderen, sich nicht an meinen unzähligen Ecken zu stoßen …
»Machst du deinen Artikel gleich fertig?«, fragt Alex und hält mir die Tür zu unserem Büro auf.
»Klar. Vielleicht kriegen wir ihn dann nächste Woche sogar noch unter.«
»Das wäre natürlich super. Wäre schade, wenn er bis zur Ausgabe in zwei Wochen liegen bleiben müsste. Kommt aber wahrscheinlich sehr darauf an, ob Josh noch Zeit für die Fotos findet.«
»Für seine Lieblingskollegin bestimmt. Ich werde ihm direkt schreiben.«
Alex geht lachend zu seinem Platz, und ich klappe meinen Laptop auf. Automatisch öffnet sich das Worddokument mit dem Artikel, den ich in den letzten Tagen vorbereitet habe. Ich überfliege die ersten Zeilen und bin kurz davor, im Sog meines eigenen Textes zu versinken. Dann erinnere ich mich allerdings daran, was ich stattdessen zu tun habe.
Mit zwei Klicks öffne ich den Chat mit Josh. Unsere letzten Nachrichten sind schon fast einen Monat alt. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ihm zwischendurch mal zu schreiben. Die kleinen Wortgefechte, die wir uns manchmal liefern, machen einfach so viel Spaß. Aber irgendwie ging das im stressigen Redaktionsalltag völlig unter.
Echt schade, dass er erst einmal in der Redaktion war, seit ich mein Volontariat begonnen habe – und das ausgerechnet an dem Tag, an dem ich mit einer dicken Grippe zu Hause im Bett lag. Ich hätte ihn gern mal getroffen. Mit ihm im Büro wäre es sicher lustig. Aber als Fotograf hat er leider nur selten einen Anlass, vorbeizukommen.
Umso mehr freue ich mich allerdings nun, ihm schreiben zu können. Ich grinse meinen Bildschirm an, während ich meine Nachricht tippe.
Na, Yoshi, Zeit mir ein paar Fotos zu schießen?
Die Nachricht bekommt sofort zwei blaue Haken und unter seinem Namen taucht das Wort online auf. Dann tippt er.
Für dich immer, Prinzessin. Was steht an? Ein paar Schnappschüsse von Bowsers Festung oder doch eher von einer Herde Goombas?
Seine Antwort lässt mein Grinsen noch breiter werden.
Knapp daneben. Ich hab eine noch viel spannendere Aufgabe für dich … Zahnpasta!
Moment, machen wir gerade immer noch Scherze oder meinst du das ernst?
Was denkst du denn? Über Zahnhygiene macht man keine Witze. Im Klartext: Ich brauch ein paar Fotos für meinen Artikel über Diamond Smile. Geht um angeblich aufhellende Zahnpasta, die eigentlich nur ganz normale Zahnpasta in schöneren Tuben ist. Geht das? Fällt dir dazu was ein?
Klar. Ich könnte ein paar Buu Huus ins Bild einfügen, die haben richtig schöne Zähne.
Super Idee, aber ich befürchte, das wird Mrs Dawson nicht freigeben. Und bitte auch keine Selfies von dir beim Zähneputzen
Ich bereue sofort, die Nachricht abgeschickt zu haben. Das wäre meine Chance gewesen … In all den Monaten, in denen wir uns immer wieder wegen Fotos für die Arbeit geschrieben haben, hat sich nie die Gelegenheit ergeben, ihn nach einem von sich selbst zu fragen.
Aber, eigentlich ist es auch völlig egal, wie er aussieht. In meinem Kopf ist er einfach ein kleiner grüner Dinosaurier. Eben Yoshi. Manchmal würde mich aber doch interessieren, wie viel Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Videospielcharakter besteht. Sein Profilbild gibt da wenig Aufschluss. Darauf wechseln sich nur professionelle Landschafts- und Tieraufnahmen ab, die er gemacht hat.
Schade.Hast du denn was von dieser Zahnpasta da?
Jap, zwei Tuben. Liegen hier. Kann ich dir schicken, wenn du willst.
Nicht nötig. Ich bin morgen eh in der Redaktion. Mrs Dawson will neue Fotos von den Büros für die London Lens Website.
Erneut schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen.
Danke für die Vorwarnung. Dann sollte ich die Zahnpasta wohl vorher noch mal benutzen, falls ich irgendwo dekorativ im Hintergrund sitzen und strahlen muss.
Falls ich ein Model brauche, komme ich auf jeden Fall auf dich zurück. Bis morgen, Prinzessin!
Als ich die Finger auf die Tastatur lege, um eine Antwort zu tippen, gibt mein Laptop ein leises Pling von sich. In der unteren rechten Ecke taucht die Vorschau einer neuen Mail von Mrs Dawson auf. Der Betreff macht mich so neugierig, dass ich sofort draufklicke.
Von: Heather Dawson
Betreff: Wichtiges Meeting – alle Redakteurinnen und Redakteure
Hallo zusammen,
aufgrund von internen Hinweisen (danke an Ryan an dieser Stelle!) brauche ich eure gesammelte Expertise bei einer neuen Recherche.
Um uns abzustimmen, kommt bitte alle heute um 16 Uhr in den Konferenzraum A. Dieses Meeting hat oberste Priorität. Wenn ihr zeitgleich Termine habt, verschiebt diese bitte und erscheint pünktlich.
Bis später!
Obwohl ich weiß, dass die Mail sich nicht nur an mich richtet, fühle ich mich von der Aufforderung zur Pünktlichkeit persönlich angesprochen. Sofort überkommt mich wieder das schlechte Gewissen. Ich darf nicht schon wieder zu spät kommen. Sonst halten mich bald alle für unzuverlässig.
»Habt ihr die Mail auch bekommen?«, ruft Alex von seinem Schreibtisch aus in den Raum hinein.
»Klar. Klingt nach ’ner großen Sache, oder?«, antwortet Sanjay, der an dem Tisch mir gegenübersitzt.
Ich nutze die Gelegenheit. »Gehen wir später zusammen rüber und nehmen uns noch einen Kaffee mit?«
»Gern«, sagt Sanjay, beugt sich an seinem Bildschirm vorbei und lächelt mir zu. »Wir sollten vielleicht gleich eine ganze Kanne mitnehmen. Wird bestimmt länger dauern.«
Mein Plan geht auf. Als ich nach dem Mittagessen in meinem Artikel versinke und noch mal alle Quellen prüfe, sind es Alex und Sanjay, die mich an die Zeit erinnern. Gemeinsam gehen wir zuerst in die Kaffeeküche, dann zum Meeting.
Ausgestattet mit meiner Lieblingstasse, die ein niedliches Comic-Faultier ziert, betrete ich hinter den beiden den Konferenzraum. Wir sind so früh dran, dass die Hälfte der Plätze noch leer ist.
Mrs Dawson fährt gerade die Sonnenblende herunter, um die durch die breite Fensterfront einfallenden Frühlingssonnenstrahlen zu dämpfen.
Als ich nicht mehr vom Licht geblendet werde, entdecke ich Josie und Ryan an der langen Seite des massiven Konferenztisches. Josie hat ihren Stuhl nahe an Ryans herangerückt und den Kopf auf seine Schulter gelegt. Beim Anblick der beiden füllt sich mein Herz mit Wärme.
»Na, ihr Turteltauben?« Ich ziehe den Stuhl neben Josie zurück und setze mich zu ihnen.
»Na, Starredakteurin?« Sie lacht und richtet sich auf, greift unter dem Tisch aber sofort nach Ryans Hand und verschränkt die Finger mit seinen. »Wie läuft‘s mit deinem Artikel?«
»Bestens. Alles fertig. Kommt nächste Woche mit in die Ausgabe, wenn Josh die Fotos rechtzeitig liefern kann.«
»Super. Schick ihn mir später gleich mal rüber, dann bereiten wir dazu ein Video für Tiktok vor.«
»Mit Mr Zahnpastalächeln?« Ich beuge mich nach vorn und schaue an ihr vorbei zu Ryan. »Wenn der seine Zähne zeigt, glauben die Leute am Ende, das Zeug funktioniert doch und kaufen den Mist.«
Ryan streicht sich eine Strähne seines dunklen Haars aus der Stirn. »Das nehme ich mal als Kompliment«, antwortet er und zwinkert mir zu.
»Kannst du.« Ich schaue zwischen den beiden hin und her. »Also: ihr wisst mehr als ich, wie ich in der Mail gelesen habe … Warum sind wir hier?«
»Geduld«, sagt Ryan. »Ich will Mrs Dawson nichts vorwegnehmen. Aber ich bin echt froh, dass sie auf mich eingegangen ist. Das könnte was Großes werden. Oder auch nicht … Ach, wir werden‘s sehen.«
»Von großen Fällen habe ich vorerst eigentlich genug«, murmle ich. So aufregend es auch war: die Unruhe und Angst, die der Pure Plates-Fall letztes Jahr in der ganzen Redaktion ausgelöst hat, kann ich wirklich nicht noch mal gebrauchen.
Gespannt beobachte ich Mrs Dawson, die mit einer Kaffeetasse in der Hand zur Beamerleinwand schlendert und einen Blick auf ihre Armbanduhr wirft. Mittlerweile ist es 16 Uhr und der Konferenzraum ist beinahe voll.
»Wollen wir loslegen?«, fragt sie in die Runde.
Die Kolleginnen und Kollegen nicken, die Gespräche verstummen. Ich wende mich von Josie und Ryan ab, setze mich gerader auf und versuche, meine Aufmerksamkeit nur auf Mrs Dawson zu lenken.
»Na dann. Ich hoffe, ich halte niemanden von seinem wohlverdienten Feierabend ab. Aber mir war es wichtig, das gleich in großer Runde zu besprechen, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Angela wird auch alles protokollieren. Danke, Angela.«
Mrs Dawson lächelt der Kollegin mit der Perlenkette und dem altrosa Kostüm neben sich zu. Dann schnappt sie sich eine graue Fernbedienung und drückt einen Knopf.
Hinter ihr auf der Leinwand ploppt ein grünes Logo auf, in dessen Mitte ein kleiner Baum abgebildet ist. Um ihn herum sind drei Pfeile angeordnet, die mich an das Recycling-Symbol erinnern.
»Ahh«, macht jemand ein Stück links von mir.
Mir kommt das Logo auch bekannt vor, aber ich kann es noch nicht ganz zuordnen.
»Wie es aussieht, kennen die meisten von euch das Unternehmen schon, das wir uns diese Woche genauer ansehen werden. Alle anderen will ich kurz aufklären.«
Sie klickt noch mal. Der Schriftzug Evergreen erscheint unter dem Logo, und ich bin kurz davor, mir die Hand gegen die Stirn zu schlagen. Natürlich! Da hätte ich gleich draufkommen müssen.
Evergreen ist seit einiger Zeit überall auf Tiktok und Instagram zu sehen. Mich persönlich haben ihre Klamotten bisher allerdings nicht interessiert. Nicht, weil ich das Konzept nicht toll finde, sondern, weil die Preise mein Budget weit übersteigen.
»Die Firma Evergreen, mit Hauptsitz in London, verzeichnet derzeit eine große Medienpräsenz. Sie werben damit, ihre Kleidung aus recyceltem Müll herzustellen.« Mrs Dawson klickt weiter und auf der nächsten Folie erscheinen Fotos von einem dunkelgrünen Skaterkleid, einem schwarzen Hoodie mit Evergreen