Brief an einen Attentäter Lieber Osama ... - Chris Cleave - E-Book

Brief an einen Attentäter Lieber Osama ... E-Book

Chris Cleave

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Beschreibung

Sie wollen dich tot oder lebendig, damit der Terror endlich aufhört Eine wahnwitzige, anrührende, überwältigende Geschichte – der Brief einer Mutter an einen Attentäter. Ihr Mann, ein Polizist, und ihr vierjähriger Sohn sind bei einem Terroranschlag auf ein Londoner Fußballstadion getötet worden. In ihrem Brief an Osama bin Laden klagt sie an, schildert ihr Leben, ihre Familie, ihr Glück und ihr Unglück. Es entsteht das packende und herzzerreißende Bild einer Frau aus der Arbeiterschicht, die sympathisch, sarkastisch und ganz und gar keine Heilige ist. Auch ihre Familie war keine Bilderbuchfamilie – doch ohne sie kann die Briefschreiberin nicht weiterleben wie bisher. Der Terror bekommt eine furchtbare Macht über sie …

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Seitenzahl: 398

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Chris Cleave

Brief an einen Attentäter

Lieber Osama …

Roman

Deutsch von Marcus Ingendaay

Für Louis und Clémence

… und eine verheerende Feuersbrunst brach aus, die nicht nur die angrenzenden Viertel verwüstete, sondern sich mit wütender Macht und unvorstellbarem Getöse auch auf weit entfernte Stadtteile ausdehnte.

Inschrift auf der Nordseite des Mahnmals für das Große Feuer, London 1666

FRÜHLING

LIEBER OSAMA , sie wollen dich tot oder lebendig, damit der Terror endlich aufhört. Obwohl, ich weiß nicht. Mit dem Rock ’n’ Roll war ja auch nicht Schluss, als Elvis auf dem Lokus starb, es wurde bloß schlimmer. Irgendwann hatten wir dann Sonny & Cher und Dexy’s Midnight Runners. Aber dazu später. Was ich sagen will: Es ist viel leichter, mit so einem Scheiß anzufangen, als wieder damit aufzuhören. Ich nehme an, das weißt du selbst.

25 Millionen Dollar haben sie auf deinen Kopf ausgesetzt, aber lass dir meinetwegen keine grauen Haare wachsen. Ich habe keine sachdienlichen Hinweise, die zu deiner Ergreifung führen könnten. Ich habe keine, Punkt, aus, Schluss. In deinen Augen bin ich zwar nur eine Ungläubige – mein Mann nannte das übrigens Unterschicht, was ein Unterschied ist –, aber nehmen wir mal an, ich hätte dich tatsächlich hier irgendwo gesehen, vielleicht in einem Nissan Primera auf dem Weg nach Shoreditch, und ich hätte dich tatsächlich bei den Bullen verpfiffen. Na. Ich wüsste gar nicht, was ich mit den 25 Mios anfangen sollte. Ich habe nämlich keinen mehr, für den ich sie ausgeben könnte, seit du meinen Mann und meinen Sohn in die Luft gejagt hast.

Klar, worum es mir geht, oder? Ich will keine 25 Mios, Osama, ich will nur eins: dass du mit diesem Scheiß aufhörst. STEHE ICH DAMIT ETWA ALLEIN? Vielleicht. Zumindest will ich die letzte Mutter sein, die dir einen solchen Brief schreiben muss. Die letzte, die dir von ihrem toten Jungen schreibt.

Na ja, Schreiben ist eigentlich nicht so mein Ding. Das letzte Mal, dass ich was geschrieben habe, war auf diesem Fragebogen für das Sozialamt, wo sie den NAMEN DES EHEGATTEN BZW. LEBENSPARTNERS wissen wollten. Ich tue zwar mein Bestes, aber ein bisschen Geduld musst du schon haben, ich bin eben keine große Schriftstellerin. Und schreiben tue ich dir von der großen Leere, mit der ich plötzlich zurechtkommen musste, als du mir meinen Jungen genommen hast. Schreiben tue ich dir, damit du in mein leeres Leben schauen und erfahren kannst, was so ein Junge wirklich ist, allein von dem tiefen Loch her, das er hinterlässt. Ich will, dass du dieses Loch in deinem eigenen Herzen spürst, dass du es anfasst, dich an seinen scharfen Kanten schneidest. Ich bin eine Mutter, Osama, deshalb will ich, dass du meinen Sohn liebst. Das ist doch nur normal, oder?

Ich weiß, dass du dazu fähig bist, Osama. Die Sun nennt dich zwar die FRATZE DES BÖSEN, aber ich glaube nicht so recht an das Böse, weil es zum Bösesein immer zwei braucht. Ich weiß, dass du eine Stinkwut auf die Führer des westlichen Imperialismus hast. Aber auch zu denen kommen wir noch.

Was dich betrifft, so glaube ich, dass du sofort mit der Bomberei aufhören würdest, wenn du meinen Sohn auch nur einen Moment lang mit dem Herzen sehen könntest. Ich weiß, du würdest sofort aufhören, Löcher in Form kleiner Jungen in die Welt zu reißen. Du wärst dann nämlich viel zu traurig dazu. Und deshalb, Osama, werde ich mir hiermit viel Mühe geben. Auch wenn dir natürlich nicht entgehen wird, dass ich es nicht so mit Worten habe. Ich hoffe trotzdem, der Brief kommt an. Ich hoffe, er findet dich, ehe dich die Amerikaner finden, sonst hätte ich mir das Ganze ja sparen können, nicht?

Osama, wenn ich dir von meinem Jungen schreibe, dann fange ich am besten damit an, wo er gewohnt hat und ich noch immer wohne. Nämlich in London, England. Ich stimme dir übrigens zu, dass das in vieler Hinsicht ein ziemlich schlimmer Ort ist, aber ich bin nun mal da geboren, also was soll’s. Von außen sieht London zwar stinkreich aus, aber die meisten von uns hier sind sehr arm. Ich habe dich auf dem Video gesehen, wo du sagst, der Westen ist dekadent. Vielleicht hast du ja das West End gemeint? Wir sind nämlich nicht alle so. London ist ein grinsender Lügner – mit schönen Zähnen vorn, aber die hinten stinken nach Fäulnis und Verrottung.

Die Familie, aus der ich komme, war nie richtig arm, aber das Geld war ständig knapp. Auch das übrigens ein Unterschied. Trotzdem, wir waren keine Asis, sondern ordentliche Leute, das muss ich hier mal sagen. Wir gehörten weder zu den schönen Zähnen vorn noch zu den verrottenden dahinter. Von unserer Sorte gibt es Millionen. Die aus der Mittelschicht haben ganze Webseiten über uns gemacht. Wenn’s dich interessiert, leg doch mal kurz deine Kalaschnikoff beiseite und gib bei Google Vollprolet, Restefick, Schweinefee oder Pack-Alarm ein. Damit sind wir gemeint. Wie gesagt, wir sind Millionen. Auch wenn seit einiger Zeit eine ganze Reihe fehlen. Und zwei davon, mein Mann und vor allem mein Junge, fehlen mir wahnsinnig.

Mein Mann, mein Junge und ich wohnten in der Barnet Grove, das ist eine Straße zwischen Bethnal Green und Haggerston. In der Barnet Grove gibt es 2Arten von Häusern. Einmal die teuren alten Reihenhäuser. Immobilienmakler nennen so was gern «ein Schmuckstück von georgianischer City-Residenz mit Nutzungsmöglichkeit als Büroraum, hervorragender City-Anbindung und attraktiver Nähe zum berühmten Blumenmarkt auf der Columbia Road». Und dann die Wohnblocks, in denen unseresgleichen lebt. Schmutzige Ziegeltürme, in denen es nach Frittierfett riecht. Die Wohnungen dort sind alle gleich, bloß dass die Türen längst nicht mehr zueinander passen, weil sie so oft eingetreten werden. Diese Blocks stammen aus den Fünfzigern. Mit denen hat man damals die Baulücken gefüllt, die Adolf Hitler hinterließ, als er Brandbomben auf die georgianischen Schmuckstücke warf.

Adolf Hitler war der Letzte, der London so gehasst hat wie du, Osama. Die Sun nennt ihn den GRÖSSTEN SCHURKEN DER GESCHICHTE, und von ihm stammt das Loch an der Barnet Grove, in das sie unseren Wohnblock gesetzt haben. Ich schätze mal, ihm verdanken wir, dass wir heute «in attraktiver Nähe zum berühmten Blumenmarkt in der Columbia Road» wohnen, insofern war auch an Hitler nicht alles schlecht.

Wie gesagt, wir wohnten in einer dieser Wohnungen. Eine kleine Wohnung und so hellhörig, dass man den Nachbarn von oben beim Vögeln zuhören konnte. Das ging immer ziemlich leise los, so ah-ah-ah, dann lauter oh-oh-oh-mein-Gott, und am Ende wusste man nicht, ob die jetzt vögelten oder einander umbrachten. Meinen Mann hat das immer in den Wahnsinn getrieben, aber zumindest war die Wohnung warm und sauber. Außerdem gehörte sie uns, wir hatten sie gekauft, eine ehemalige Sozialwohnung. Was bedeutete, dass wir uns nicht jeden Monat mit der Miete abstrampeln mussten. Stattdessen strampelten wir uns mit der Hypothekenrate ab, aber das ist ein Unterschied, und dieser Unterschied heißt EIGENHEIMZULAGE.

Ich habe zu der Zeit nicht gearbeitet, sondern mich um meinen Sohn gekümmert. Das Geld, das mein Mann verdiente, reichte gerade für die Hypothekenrate und das Nötigste, sodass es gegen Monatsende immer ganz schön eng wurde. Mein Mann war Polizist, aber nicht irgendeiner, sondern vom Sprengmittelräumdienst. Man sollte glauben, jemand vom Sprengmittelräumdienst müsste ein kleines bisschen mehr nach Hause bringen als mein Mann, aber ich sage dir, Osama, wenn du die Pferde- und die Hunderennen reinrechnest und die Hahnenkämpfe im Hinterzimmer von Nelson’s Head oder die Wette, ob die nächsten Weihnachten weiß werden, dann reicht es hinten und vorne nicht. Mein Mann gehörte zu der Sorte, die diesen Nervenkitzel braucht. Gott sei Dank machte er mit seinen Bomben einen besseren Schnitt, da ließ er nichts anbrennen. Und wenn wir wieder mal mit den Rechnungen im Rückstand waren, hatte ich jedes Mal eine Heidenangst vor dem Gerichtsvollzieher. Sooft ich konnte, zweigte ich einen Fünfer vom Haushaltsgeld ab und versteckte ihn unter dem Teppich, nur für den Fall, mein Mann verzockt irgendwann auch den allerletzten Penny und sie schmeißen uns aus der Wohnung. Aber mehr als eine Monatsrate lag nie unter dem Teppich, was bedeutete, mehr als 31 Tage waren wir nie vom Rauswurf entfernt. Oder 28, wenn es ein Februar war, was meinem Mann aber auch schnurz gewesen wäre, wie ich ihn kenne. Trotzdem konnte ich ihm nicht mal einen Vorwurf machen, denn er brauchte die Wetten für seine Nerven, und das, Osama, war auch nicht schlimmer als das, womit ich meine Nerven beruhigte, wenn es nicht anders ging. Davon gleich.

Beim Sprengmittelräumdienst kann zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Alarm eingehen. Und bei meinem Mann war das häufig der Fall. Oft auch abends, wenn wir vor der Glotze saßen. Und nicht viel sagten. Nur einfach mit unserem Teller mit Chicken Kiew vor dem Fernseher saßen. Das Chicken Kiew war von Findus, also durchaus genießbar, ein Lieblingsessen von meinem Mann.

Jedenfalls lief meistens die Glotze, wo wir uns zum Beispiel Top Gear ansahen, die Autosendung, wenn der Anruf kam. Mein Mann verstand ja was von Autos, obwohl wir uns nie einen Neuwagen leisten konnten. Höchstens einen ausgedienten Streifenwagen, also meistens einen Vauxhall Astra, aber da hatte er ein gutes Händchen. Unsere Astras haben uns nie im Stich gelassen. Du musst wissen, Osama, bei der Polizei verkaufen sie nämlich ihre ausgemusterten Karren an privat. Spritzen sie um und verkaufen sie. Trotzdem, wenn das Licht richtig stand, sah man noch das alte POLICE unter der neuen Farbschicht. Ich denke mal, nichts kann auf Dauer seine wahre Natur verleugnen.

Jedenfalls, wir sitzen vor der Glotze, gucken Top Gear, und auf einmal klingelt das Telefon. Mein Mann stellt den Teller ab und geht mit dem Telefon ins Nebenzimmer. Und obwohl er mir nicht sagen darf, was gerade wieder passiert ist, weiß ich sofort, wenn es was Ernstes ist. Die beim Sprengmittelräumdienst wissen ziemlich genau, was eine richtige Bombe ist und was wahrscheinlich bloß falscher Alarm. Wenn es wahrscheinlich bloß falscher Alarm war, setzte sich mein Mann wieder aufs Sofa und aß zu Ende, bevor er losging. Dazu brauchte er nur 30 Sekunden, aber wenn es wirklich ernst war, tat er das nie. Dann nahm er einfach nur seine Jacke und ging.

Wenn es ernst war, blieb ich auf und wartete auf ihn. Unser Sohn schlief dann immer schon, sodass ich nur die Glotze als Ablenkung hatte. Nicht, dass mich das Fernsehen jemals wirklich ablenken konnte. Nach Top Gear kam Holby City, diese Krankenhausserie, und dann die Spätnachrichten. Holby City machte mich nervös wegen der vielen tödlichen Unfälle und brennenden Fritteusen, und in den Nachrichten ging es auch nur um Geld und Tod, sodass ich mich zwischendurch immer wieder fragte, wozu ich eigentlich die blöden Rundfunkgebühren zahlte, wenn mir das Fernsehen doch nichts brachte. Aber die Glotze musste eben anbleiben für den Fall, dass irgendwas passierte und sie eine Blitzmeldung brachten.

So sitze ich die halbe Nacht vor dem Fernseher und hoffe, es bleibt langweilig. Mit einem Mann beim Sprengmittelräumdienst wünschst du dir, dass alles so bleibt, wie es ist. Dass nie was passiert. Glaub mir, dann willst du eine Welt wie in der Richard-&-Judy-Show. Nachts guckte ich immer BBC, nie die Privaten, weil mich die viele Werbung nervt. Frauen mit tollen Haaren, die dir erzählen, wie dieses oder jenes Shampoo Spliss verhindert. Na. Das kommt einem schon ein bisschen komisch vor, wenn man bloß wissen will, ob sein Mann vielleicht eben von einer Bombe zerrissen worden ist. Genauer: Man fühlt sich richtig mies.

Heutzutage findet man in London ja jede Menge Bomben. Vor allem wenn einer eine Botschaft an die Nation hat, aber keine Chance, in die Richard-&-Judy-Show zu kommen. Da ist es schon einfacher, ein paar alte Nägel und Schrauben in eine Nike-Tasche voll Düngemittel zu packen. Viele einsame Wichser in dieser Stadt basteln heutzutage an irgendwelchen Bomben, Osama, ich hoffe, du bist stolz auf dich. 4 bis 5 pro Woche können die Cops entschärfen, ein bis 2 gehen hoch und reißen Löcher in Leute, und oft erwischt es dabei die Beamten am Einsatzort. Aber das zeigen sie in den Nachrichten nicht, weil dann die Leute erst recht die kreischende Panik kriegen würden. Ich konnte noch nie sonderlich mit Zahlen umgehen, Osama, aber eines Nachts habe ich mir die Chance ausgerechnet, dass es auch meinen Mann mal trifft, und seitdem hatte ich die kreischende Panik. Die Chance lag bei fast 100 Prozent, sodass sie bei Ladbrokes nie im Leben eine Wette drauf angenommen hätten.

Manchmal ging schon die Sonne auf, ehe mein Mann zurückkam. In der Glotze lief dann das Frühstücksfernsehen, und eine Frau erzählte was vom Wetter oder vom Dow Jones. Alles ziemlich dämlich, wenn du mich fragst. Ich meine, wo man doch nur aus dem Fenster zu schauen braucht, wenn man wissen will, was das Wetter so treibt. Und was den Dow angeht, da kann man meinetwegen auch aus dem Fenster schauen oder es bleiben lassen, der Punkt ist doch der, es kann sowieso niemand was dran ändern. Was ich damit sagen will: All das war mir scheißegal. Ich wollte nur, dass mein Mann heil nach Hause kommt.

Und wenn er dann endlich kam, war ich immer so was von erleichtert. Obwohl, er selbst hat in dem Moment nie viel gesagt, weil er so geschafft war. Ich fragte ihn zwar, na, wie war’s? Aber er sah mich immer nur an und sagte: Ich bin noch am Leben, oder? Mein Mann war einer, den die von der Sun einen STILLEN HELDEN nennen. Wobei man sich fragen kann, ob es auch LAUTE HELDEN gibt. Aber das wäre wohl unbritisch. Egal, danach trank mein Mann noch einen Famous Grouse und haute sich hin, ohne sich auch nur auszuziehen oder die Zähne zu putzen. STILLER HELD, schön und gut, aber manchmal konnten ihn eben alle AM ARSCH LECKEN, und wer wollte ihm das verübeln? Sobald er eingeschlafen war, ging ich ins Kinderzimmer und schaute nach unserem Jungen.

Wie gesagt, unser Junge hatte sein eigenes Zimmer, aber so was von schön, wir waren richtig stolz darauf. Mein Mann hat das Kinderbett selbst gebaut, in Form des Kippers aus Bob der Baumeister, und ich habe die Vorhänge genäht. Die Wände gestrichen haben wir gemeinsam. Es roch nach Junge, nachts im Zimmer meines Jungen. Junge als Geruch ist ein guter Geruch, irgendwo zwischen Engel und Tiger. Mein Junge schlief auf der Seite und nuckelte an Mr. Rabbits Pfoten. Auch diesen Hasen habe ich selbst genäht, lila mit grünen Ohren. Egal, wohin mein Junge ging, Mr. Rabbit war immer dabei, oder es gab Theater. Mein Junge lag so friedlich da, es war schön, ihn anzusehen mit seinen rötlichen Haaren vom Sonnenaufgang hinter den Vorhängen. Die Vorhänge machten das Licht ganz rosa. Friedlich schliefen er und Mr. Rabbit darin. Manchmal war mein Junge so still, dass ich nachsehen musste, ob er überhaupt noch atmete. Ich ging ganz nah an ihn heran und blies ihm über die Wange. Dann verzog er ärgerlich das Gesicht und schnaubte, bis er sich wieder beruhigte und ganz still wurde. Ich lächelte, ging auf Zehenspitzen zur Tür und machte sie leise hinter mir zu.

Mr. Rabbit hat übrigens überlebt. Ich habe ihn noch. Allerdings sind seine Ohren schwarz von Blut, und eine Pfote fehlt.

Okay, Osama, jetzt, wo ich dir von meinem Sohn erzählt habe, sollst du auch ein bisschen mehr über seine Mum erfahren, sonst glaubst du noch, ich wäre so eine Art Heilige, die für ihren Sohn Stofftiere näht und ansonsten den ganzen Tag nur auf ihren Mann wartet. Ich wollte, ich wäre eine Heilige, denn die Heilige, die mein Sohn verdient hätte, hat er nie gekriegt. Ich war alles andere als eine perfekte Frau und Mutter, nicht mal eine durchschnittliche, leider. So was wie mich hätten sie bei der Sun wahrscheinlich als HEMMUNGSLOSES HOBBY-LUDER bezeichnet.

Gott sei Dank sind weder mein Mann noch mein Sohn je dahinter gekommen. Und jetzt, wo sie tot sind, ist mir egal, wer alles davon erfährt. Ihnen tut es nicht mehr weh. Denn ich habe meinen Sohn geliebt, genauso wie ich meinen Mann geliebt habe. Aber manchmal habe ich mich auch mit anderen Männern eingelassen. Oder eher sie sich mit mir, und ich hatte nichts dagegen, und so führt eben eins zum anderen. Osama, du weißt doch, wie Männer sind, immerhin hast du Tausende von ihnen ausgebildet. Es sind SEXHUNGRIGE RATTEN.

Aber Sex hat für mich eigentlich nichts Schönes, er hat eher mit meinen Angstzuständen zu tun. Die habe ich, seit ich ein junges Mädchen war. Jede Kleinigkeit kann sie auslösen. Dein Angriff auf das World Trade Center genauso wie zwei Kerle, die sich über den Fahrpreis fürs Taxi streiten. Alle Gewalt auf der Erde hängt irgendwie zusammen, wie die sieben Weltmeere. Wenn ich eine Frau sehe, die auf dem Parkplatz vom Asda-Markt ihr Kind zusammenstaucht, sehe ich zugleich die Bulldozer, die Flüchtlingslager platt machen. Ich sehe kleine afrikanische Jungs mit Narben auf dem Schädel, die an Kopfhörer erinnern. Ich sehe sämtliche Wutausbrüche der Welt, ich sehe DIE HÖLLE AUF ERDEN. Es ist alles ein und dasselbe – und es macht mich fickrig.

Und wenn ich fickrig werde wegen all dieser schrecklichen Sachen, brauche ich dringend was, das weich ist, verboten, anheimelnd und warm, damit ich alles andere für eine Weile vergessen kann. Bis ich 14 wurde, wusste ich nicht, was das war. Ein Freund meiner Mom hat’s mir gezeigt, aber den Namen sage ich nicht, damit er keinen Ärger kriegt. Klar, letztlich war er wohl nichts als ein PERVERSER KINDERSCHÄNDER, aber in meiner Erinnerung hat es sich trotzdem schön angefühlt. Danach fuhr er mit mir im Auto durch die Stadt, und ich war nur am Lächeln und schaute auf die harten Gesichter, die draußen an uns vorbeizogen, und die Penner, aber all das machte mir in dem Moment nichts mehr aus. Ich lächelte nur und dachte an nichts.

Und seitdem ist das so. Wenn ich Angstzustände kriege, gehe ich mit irgendeinem mit. Fast egal, wer es ist, nur nett muss er sein. Ich bin auch nicht stolz darauf, und ich weiß, das ist jetzt keine Entschuldigung, aber ich habe ehrlich versucht, damit aufzuhören, es geht bloß nicht. Es ist wie ein Tattoo, das heißt, es liegt unter der Haut, und das kriegt man nie ganz weg. Genauso wie das Wort POLICE auf unserem Astra. Die Buchstaben zeichnen sich nach wie vor unter der Farbe ab, und jeder, der genau genug hinsieht, kann sie lesen. Ach, manchmal bin ich es so was von leid.

Ich erzähl dir mal von dem einen Abend, Osama. Da wirst du sehen, dass ich nicht immer nur auf meinen Mann gewartet habe. Eines Abends letztes Frühjahr wurde er mal wieder zu einem Einsatz gerufen, und während ich vor der Glotze auf ihn wartete, bekam ich diese Zustände. Im Fernsehen lief so eine Politikerrunde, wo alle immer gleichzeitig reden wollen und keiner den anderen zu Wort kommen lässt. Wie auf einem sinkenden Schiff, wo sich alle um die letzten Schwimmwesten prügeln. Irgendwann hielt ich das Gelaber nicht mehr aus und ging in die Küche, um aufzuräumen und sauber zu machen. Das tue ich immer, wenn ich so fickrig werde. Bloß passiert mir das oft, und in so einer kleinen Wohnung ist irgendwann auch die letzte Ecke picobello sauber. Ganz hippelig trat ich auf der Stelle, sah mich in der Küche um und wurde schier wahnsinnig. Der Ofen blitzte, die Fritteuse war blank, und jede einzelne Dose im Regal stand mit dem Etikett nach vorn und in alphabetischer Reihenfolge. Apfelscheiben, Baked Beans, Creme Vanille und so weiter, alles war so scheißperfekt, dass mir beim besten Willen nichts zu tun blieb, als an den Nägeln zu kauen. Ich kann an den Nägeln kauen, bis sie bluten, aber zum Glück hatte ich in diesem Moment den obergenialen Einfall. Die Sachen in der Tiefkühltruhe hatte ich doch noch nicht alphabetisch geordnet. Tja, Osama, manchmal habe ich richtig gute Ideen. Also machte ich die Tiefkühltruhe auf und räumte erst mal alles nach draußen auf den Boden, ehe ich es von oben nach unten, aber eben geordnet, wieder einräumte. Alphabites-Kroketten, Burger, Eclairs, Fischstäbchen, Hähnchenschenkel, Pommes. Das beruhigte mich so, dass ich eine Zeit lang vergaß, mein Mann könnte im selben Moment das falsche Kabel durchknipsen und die selbst gebastelte Nagelbombe reißt ihn in daumengroße Stücke. Nur fiel es mir leider sofort wieder ein, als ich damit fertig war und alle Packungen ordentlich an ihrem Platz lagen. In dem Moment, Osama, tat ich, was jeder in meiner Situation getan hätte: Ich ging runter in den Pub.

Obwohl, das stimmt nicht ganz. Erst machte ich noch mal die Tiefkühltruhe auf, sortierte auch die Alphabites-Kroketten nach Alphabet, tat sie wieder rein, und erst dann ging ich runter in den Pub. Nicht mal mit einer speziellen Absicht, ich wollte nur eine Weile aus der Wohnung raus und die Tür hinter mir zumachen.

Okay, ich weiß, man soll Kinder nicht allein in der Wohnung lassen, aber das ist Theorie. Ich frage mich, was die Leute täten, die so was sagen, wenn ihr Mann gerade dabei ist, eine Bombe zu entschärfen, und die Wäsche gemacht ist und selbst die Alphabites sortiert sind. Wahrscheinlich wären sie genauso in der Kneipe gelandet. Nur mal eben ein paar freundliche Gesichter sehen und was trinken, um zu relaxen. Also ging ich ins Nelson’s Head, bestellte mir einen Gin Tonic, setzte mich an den Ecktisch neben dem TV-Beamer und guckte ganz unschuldig Sky-TV. Sie zeigten die besten Tore der Saison, was mir recht war. Osama, ich weiß, du siehst lieber, wie Leuten der Kopf abgehackt wird, aber das ist eben der Unterschied zwischen dir und mir. Wir haben einfach nicht denselben Geschmack, was Fernsehen angeht, und ich denke mal, wenn du abends zum Fernsehgucken bei uns wärst, gäb’s ewig Streit um die Fernbedienung. Jedenfalls, was ich damit sagen will: Ich saß einfach nur so da, kümmerte mich um nichts und niemanden, und die alten Knacker an der Bar redeten über Fußball und ließen mich in Ruhe.

Ich bin vielleicht schwach, Osama, aber eine Schlampe bin ich nicht. Ich habe Jasper Black nicht gebeten, sich an meinen Tisch zu setzen, wo ich doch nur die schönsten Tore in Zeitlupe sehen wollte. Ich habe Jasper Black nicht angequatscht, er hat mich angequatscht, das ist ein Unterschied.

Man sah übrigens gleich, dass er hier im East End nichts zu suchen hatte. Er war einer von den Typen, die das toll fanden: hervorragende City-Anbindung, in attraktiver Nähe zum berühmten Blumenmarkt auf der Columbia Road. Bei der Sun heißen die immer die ARMANI-FATZKES. Gewöhnlich wohnen sie nicht länger als 3 Jahre in Bethnal Green oder Shoreditch, ehe sie weiterziehen in ein vornehmeres Vorstadtviertel, wo sie unter ihresgleichen sind. Ich habe im Fernsehen mal eine Sendung über Lachswanderung gesehen, wo die Lachse die Flüsse raufschwimmen, um dort zu laichen, und genauso sind auch diese Typen. Eines Morgens wachst du auf, und sie sind weg, und alles, was von ihnen bleibt, ist der schwache Geruch von Boss by Hugo Boss auf deinem guten T-Shirt und ein Starbucks, wo mal ein gutes altes Speiserestaurant gewesen ist.

Mit an Jasper Blacks Tisch saßen 2 weitere Kerle, bei denen man kein Sherlock Holmes zu sein brauchte, um sie ebenfalls als ARMANI-FATZKES zu identifizieren. Ich schaute weiter Sky-TV, ohne sie anzusehen, aber ich spürte, dass sie mich über ihre Biergläser hinweg anstarrten und grinsten, weil ich ja so was von authentisch war für diese Gegend. So, als ob mein Nike-T-Shirt und die Jogginghose schon okay wären, auch wenn sie mich in einem Pearly-Queen-Outfit schöner gefunden hätten. Oder als die kleine Streichholzverkäuferin aus Oliver – Das Musical. Vielleicht, mit ein bisschen mehr Alkohol im Blut, hätten sie mit ihrem Foto-Handy ein Bild von mir gemacht und es ins Netz gestellt, auf einer dieser Seiten, von denen ich dir erzählt habe. Sie hielten sich für besonders schlau. Aber ich sage dir, Osama, von denen hättest du meinetwegen so viele in die Luft jagen können, wie du lustig bist, hier bei uns hätte ihnen keiner eine Träne nachgeweint.

Na, jedenfalls steht Jasper Black vom Tisch auf und kommt zu mir rüber, und da gab es gleich mal die erste Überraschung. Normalerweise hätte ich so einem nämlich gesagt, er soll sich verpissen. Aber es fiel mir halt auf: Für einen ARMANI-FATZKEN hatte er echt schöne Augen. Ich meine, die meisten haben völlig tote Augen, so wie Jack Nicholson in Einer flog über das Kuckucksnest nach den Elektroschocks. Andere wiederum haben diesen hektischen Blick, als hätten sie einen Chinchilla im Arsch, so wie Hugh Grant in … na, in allen seinen Filmen. Aber Jasper Black war nicht so. Er hatte schöne Augen. Beinahe menschlich. Ich schaute aber stur weiter auf die Zeitlupenaufnahmen von Sky-TV. Ich wusste, es war gefährlich, Jasper Black anzusehen, zumindest das kannst du mir zugute halten.

– Na, auch Fußballfan?, sagte Jasper Black.

– Was meinst du?

– Ich meine, dass du schön bist, sagte Jasper Black. Meine Freunde übrigens auch. Sie haben um zwanzig Pfund gewettet, dass ich es nicht schaffe, deinen Namen rauszukriegen. Ich mach dir einen Vorschlag: Du sagst mir, wie du heißt, dann teilen wir uns den Gewinn, und danach lasse ich dich in Ruhe.

Er lächelte. Ich nicht.

– Zwanzig Ocken?

– Ja, sagte er. Zwanzig englische Pfund.

– Jetzt pass mal auf, und ich sage das extra langsam zum Mitschreiben: Deine Freunde sind WICHSER.

Jasper Black zuckte nicht mit der Wimper.

– Dann hilf mir, ihnen die Kohle abzunehmen, sagte er. Die Hälfte für jeden. Zehn Pfund. Was meinst du?

– Aber ich brauche keine zehn Pfund.

Jasper Black hörte auf zu lächeln.

– Natürlich nicht, sagte er. Ich auch nicht. Aber vielleicht können wir uns einfach unterhalten.

– Ich bin verheiratet. Ich warte hier auf meinen Mann.

Ich nahm meinen GT und hielt ihn so, dass Jasper Black meinen Ehering sehen konnte. Mein Ehering ist nicht einfach aus Silber, Osama, er ist aus Platin, ein Superteil. Mein Mann hat ihn selbst ausgesucht und einen vollen Monatslohn dafür hingelegt. Bei manchen Dingen darf man nicht knausern, hat er immer gesagt. Ich trage ihn noch immer, an einem kleinen Silberkettchen um den Hals. Er ist so breit wie die Startbahn 1 von Heathrow und leuchtet wie die Sonne, aber irgendwie sah Jasper Black das nicht.

– Bist du allein hier?

– Nein. Das heißt: ja. Ich sagte doch, ich warte auf meinen Mann, er ist Polizist, und er hat mich noch nie versetzt. Wir sind seit 4 Jahren und 7 Monaten verheiratet, wir haben einen Sohn von 4 Jahren und 3 Monaten, der immer noch mit seinem Stoffhasen schläft, und der Hase heißt Mr. Rabbit.

– Alles in Ordnung mit dir? Du wirkst ein bisschen überspannt.

– Überwas?

– Angespannt.

– Tatsache? Und warum?

– Na ja, sagte Jasper Black. Ich habe nur gefragt, ob du allein hier bist, und eine halbe Minute später weiß ich alles über dich außer dem Mädchennamen deiner Mutter.

– Knowles.

– Wie bitte?, sagte Jasper Black.

– Knowles. Sie hieß Knowles. Aber so hieß sie immer, denn sie war nie mit meinem Vater verheiratet.

– Oh, sagte er.

– Entschuldige, ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. So was mache ich gewöhnlich nicht. Ich quatsche nicht irgendwelchen Leuten im Pub die Ohren zu.

– Schon gut. Wenn du reden willst, tu es doch einfach. Red’s dir von der Seele. Ich bin ein guter Zuhörer.

– Sicher? Du siehst aus, als wärst du ganz nett, aber mein Mann arbeitet beim Sprengmittelräumdienst.

– Wow, sagte Jasper Black. Wow, wow, wow. Aber eins nach dem anderen. Erst mal gehe ich zur Bar und hole uns was zu trinken. Und du atmest in der Zwischenzeit tief durch und zählst rückwärts von 10 bis 1, und wenn ich wieder da bin, erzählst du mir alles von Anfang an.

– Okay.

– Gut, sagte er. Was nimmst du?

– Noch einen Gin Tonic, bitte.

– GT, wird gemacht.

– Letzte Bestellung, sagte der Wirt.

Jasper Black ging also an die Bar, und seine 2 ARMANI-FATZKES standen auf und gingen aufs Klo, und auch ich stand auf und schloss gleich hinter ihnen die Tür ab, weil sie die ganze Zeit so geglotzt und Blowjob-Gesten gemacht hatten, seit Jasper Black in meiner Nähe war. Das war kinderleicht, denn an der Tür zum Herrenklo war ein Vorhängeschloss, das brauchte ich nur zuzudrücken. Dann ging ich zurück an meinen Tisch und setzte mich, als könnte ich kein Wässerchen trüben. Der Wirt und die alten Knacker an der Bar, die alles gesehen hatten, stießen sich in die Seite und grinsten in meine Richtung, was an sich ganz schön war, wenn man mal von ihren Zähnen absah. Die nämlich erinnerten mehr an einen Horrorfilm, ich sag mal so: DIE NACHT DER GRINSENDEN RENTNER. Als Jasper Black mit den Gläsern von der Bar zurückkam, bemerkte er, dass seine Kumpels nicht mehr da waren, und sah mich fragend an.

– Nanu, wo sind sie denn hin?

– Sie sind einander in den Arsch gekrochen. Schade, dass du das verpasst hast. Es war die Schau.

Jasper Black sah mich an und runzelte die Stirn. Achselzuckend setzte er sich. Dann nippten wir erst mal nur an unseren Drinks. Wir sahen uns nicht an, starrten nur auf unsere Gläser, so wie 2 Leute eben, die sich unter 25 Minuten kennen oder über 25 Jahre. Ich starrte auf Jasper Blacks Bier, und Jasper Black starrte auf meinen GT, und nach einer Weile bollerte es von innen gegen die Klotür. Offenbar hatten seine Kumpels inzwischen bemerkt, dass sie eingeschlossen waren. Das Bollern wurde immer lauter. Jetzt hätte man ja gedacht, wenigstens der Wirt würde sie wieder rauslassen, aber Pustekuchen. Hier bei uns im East End, Osama, läuft das nämlich nicht so. Überhaupt gibt es zwischen Bethnal Green und Shoreditch Geheimnisse, da würden deine Propheten ohne Ende den Kopf schütteln.

Jasper Black nickte in Richtung Herrenklo, wo das Hämmern herkam.

– Ach, da sind sie?

– Sie haben angefangen.

Jasper Black runzelte wieder die Stirn, dann lachte er.

– Braves Mädchen, sagte er.

– Ja, das bin ich. Also bilde dir nicht ein, zwischen uns liefe was.

Jasper Black grinste.

– Aber woher denn?

– Mein Mann ist beim Sprengmittelräumdienst, er wurde vorhin zu einem Einsatz gerufen. Ich warte hier auf ihn.

– Sprengmittelräumdienst, sagte Jasper Black. Das rote Kabel oder das grüne Kabel, ja? Spannender Job.

Mir entfuhr ein Schrei, als er das mit dem roten oder grünen Kabel sagte, ich konnte nichts dagegen tun.

– O Gott, sagte er. Tut mir Leid, das war nicht besonders feinfühlig von mir. Manchmal bin ich so ein Blödmann, ich könnte glatt in der Erde versinken.

– Nicht deine Schuld. Aber heute Abend fühle ich mich selbst wie eine Bombe, die jeden Moment hochgehen kann. Alles die Nerven.

– Armes Kind.

Er legte die Hand auf meine, und mich durchfuhr ein Zittern.

– Okay, Leute, trinkt aus, wir schließen, sagte der Wirt.

Das war kein Witz. 5 Minuten später standen wir draußen vor dem Pub, und das Hämmern aus dem Klo wurde unhörbar, als der Wirt hinter uns abschloss.

– Und was wird jetzt aus ihnen?, sagte Jasper Black.

– Deinen Kumpels?

– Ja.

– Machst du dir Sorgen um sie?

– Nein.

– Na dann.

Dann starrten wir uns gegenseitig auf die Schuhe. Es regnete. Wir sind hier nämlich in London, Osama. Und wenn ich mal nichts über das Wetter sage, dann stell dir einfach vor, es ist kalt und es regnet, damit liegst du selten verkehrt.

– Alles okay mit dir?, sagte er. Wenn man dich so sieht, kriegt man ja Angst.

– Angst? Um mich? Du kennst mich ja gar nicht. Kümmer dich um deine Sachen.

– Weißt du, es gibt da so was, das nennt man Mitgefühl, sagte er. Ich meine, wir sind alle Menschen, oder? Und dir geht es nicht gut. Warum kann ich dich nicht wenigstens nach Hause begleiten?

– Weil ich kein Haus habe, nur eine Wohnung.

– Dann eben Wohnung.

– Sie ist gleich hier um die Ecke. Mach dir keine Gedanken. Ich geh nach Hause und mach mir einen Tee.

– Und wo ist das?, fragte er.

– In der Wellington-Siedlung, gleich an der Ecke zur Wellington Row. Aber ich lebe mit meinem Mann zusammen.

– Das ist witzig, sagte Jasper Black. Ich wohne direkt gegenüber. Aus meinem Fenster kann ich auf die Wellington-Siedlung gucken.

– Ich wette, die Aussicht ist nicht gerade wertsteigernd für eine Immobilie.

– Aber es ist doch bestimmt ganz gemütlich bei dir, sagte er.

– Es geht. Zumindest müssen wir nicht auf die Wellington-Siedlung gucken.

Er lächelte.

– Komm, ich bring dich hin, sagte er.

Beim Gehen legte er den Arm um meine Schulter. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das verhindern konnte. Ich dachte, vielleicht will er ja wirklich nur nett sein. Ich war fickrig, weil jeden Moment mein Mann kommen konnte. Was, wenn er uns so sah? Außerdem war ich fickrig, weil er sich jeden Moment in die Luft sprengen konnte. Ach, ich war einfach nur superfickrig, der Grund spielte schon gar keine Rolle mehr.

Als wir vor der Siedlung standen, war das Auto meines Mannes nirgendwo zu sehen. Außerdem brannte in unserer Wohnung kein Licht. Er war also noch nicht zurück.

– Er ist noch nicht da.

Ich weiß auch nicht, warum ich das jetzt sagte. Es war ziemlich dämlich von mir. Ich weiß auch gar nicht, warum ich überhaupt mit diesem Jasper sprach. Seinen Namen hatte er mir da übrigens noch nicht gesagt.

– Dein Mann ist noch nicht da?, sagte Jasper Black.

– Nein. Bei uns ist alles dunkel.

– Warum kommst du dann nicht mit zu mir, auf einen Kaffee?

– Ich trinke keinen Kaffee.

– Dann auf einen Tee, sagte er.

– Danke, nein. Ich muss wirklich nach Hause.

– Aber wozu?, sagte er. Auf dich wartet doch niemand.

– Wahrscheinlich nicht.

Selbst wenn vielleicht mein Sohn auf mich wartete. Aber das konnte ich ihm unmöglich sagen, oder? Ich konnte ihm nicht sagen, ich wäre einfach in den Pub gegangen und hätte meinen Sohn allein in der Wohnung gelassen. Sie hätten mir meinen Sohn wegnehmen können. Die vom Jugendamt, meine ich. Also erst mal Schockstarre meinerseits, was anderes fiel mir nicht ein. Es regnete mittlerweile stärker, und ich war so fickrig, dass ich weder sprechen noch klar denken konnte. Zumindest das Reden übernahm Jasper Black für mich.

– Komm doch mit, sagte er. In deinem Zustand solltest du nicht allein sein. Eine schöne Tasse Tee wird dir gut tun, mein Wort darauf.

Tja, Osama, zu der Tasse Tee kam es dann nicht. Wir gingen zu ihm, und es war tatsächlich eins dieser georgianischen Schmuckstücke. Innen alles picobello und ordentlich, er muss wohl eine Putzfrau gehabt haben. Sein Haus lag nur fünfzig Meter die Straße runter auf der anderen Seite, er hatte nicht gelogen. Im Wohnzimmer legte er diese New-Age-Musik auf, so mit Mönchen und ohne Drummer. Er meinte, das wäre schön entspannend. War es aber nicht. Ich schaute die ganze Zeit aus dem Fenster, um zu sehen, ob mein Mann schon zu Hause war.

– Meine Freundin ist nicht da, sagte Jasper Black.

– Oh.

– Ja, sagte er. Sie ist in Paris.

– Das ist schön. Macht sie da Urlaub?

– Nein, rein beruflich. Wir sind beide Journalisten. Sie schreibt über die Pariser Modewoche. Sie heißt Petra Sutherland. Vielleicht hast du ja schon Artikel von ihr gelesen.

– Mmm?

– Im Sunday Telegraph, sagte er. Wir arbeiten beide dort. So haben wir uns kennen gelernt.

– Schön für euch. Hör mal, ich weiß eigentlich gar nicht, was ich hier soll. Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe.

– Bitte geh noch nicht, sagte Jasper Black. Warum tust du dir nichts Gutes, und wir versuchen, dich auf andere Gedanken zu bringen?

– Das verstehst du nicht.

– Oh, ich glaube schon.

Er streichelte mich im Nacken, ganz zärtlich und sensibel, ein Gefühl wie von kleinen elektrischen Impulsen, die mir den Rücken hinunterliefen. Dann zog er mich aus, ebenfalls ganz vorsichtig, während ich nur zitternd vor ihm stand. Am Schluss zog auch er seine Sachen aus.

– So was mache ich gewöhnlich nicht.

– Ich auch nicht, sagte er. Mein Gott, was hast du für schöne Brüste.

– Was?

– Ich sagte, du hast schöne Brüste.

– Oh. Mein Mann nennt sie nie so.

Er nahm mich mit ins Schlafzimmer, und wir legten uns aufs Bett, wo wir miteinander schliefen, aber so gefühlvoll, dass alles in mir ins Fließen geriet und ich in einem fort heulte.

Als ich nach Hause kam, war mein Mann noch immer nicht da. Ich ließ mir ein Bad ein und tauchte ab, bis nur noch meine Nase und meine Augen aus dem Wasser ragten. Ich dachte an gar nichts. Als das Wasser kalt war, zog ich meinen rosa Bademantel an, wickelte meine Haare in einen Turban und schaute nach meinem Jungen. Er lag so friedlich da. Endlich war es auch in meinem Inneren ruhig. Ich legte mich neben das Bettchen und schlief schnell ein. Als ich aufwachte, schien die Sonne durch die Vorhänge und färbte alles rosa. Ich hörte den Schlüssel meines Mannes in der Wohnungstür, stand auf und ging zu ihm ins Wohnzimmer.

– Wie ist es gelaufen?

Mein Mann hatte sich bereits einen Famous Grouse eingegossen. Er sah mich an.

– Ich bin noch am Leben, oder?, sagte er.

Ich lächelte ihn an.

– Ja, Schatz, das bist du.

Er legte sich in voller Montur aufs Bett. Ich kuschelte mich neben ihn, den Arm auf seiner Brust. Ich horchte auf seinen Atem. Mein Kopf war angenehm leer, ich war glücklich.

DIE LEUTE SAGEN, du bist eine BESTIE, Osama, aber das glaube ich nicht. Ich hab dich in deinen Videos gesehen. Du siehst aus wie ein Gentleman, und genau das macht mir Angst. Mein Mann war auch ein Gentleman, du hättest ihn gemocht. Vielleicht hättest du mal darüber nachdenken sollen, ehe du ihn in die Luft jagst. Sie sagen, du glaubst ans Paradies. Sie sagen, du glaubst, wenn deine Leute Unschuldige töten, tun sie ihnen im Grunde einen Gefallen, weil Unschuldige sofort ins Paradies kommen. Also ich weiß nicht. Mein Mann hat jedenfalls nicht an Allah geglaubt. Er glaubte an seinen Sohn und an Arsenal London.

Ich stehe ja auch auf Fußball, aber mein Mann und mein Sohn waren richtig fußballverrückt. Mein Mann schleppte meinen Sohn zu jedem Heimspiel von Arsenal. Meist ging der Spaß schon am Abend zuvor los. Bevor wir den Kleinen ins Bett brachten, setzte ihn mein Mann auf seine Schulter, dann liefen sie durch die Wohnung und sangen: 1 ZU 0 FÜR ARSENAL, bis die Nachbarn über uns auf den Boden hämmerten. Die sind nämlich Chelsea-Fans. Okay, Osama, du haust mit deiner Kalaschnikoff in den Bergen, schickst von dort aus Gottes Rache auf die Häupter der Ungläubigen und denkst wahrscheinlich, Fußball wäre nicht so wichtig. Aber da liegst du schief.

Manchmal kamen die Nachbarn von oben auch runter und bollerten gegen die Tür. Sie ertrugen es nämlich nicht, wenn mein Mann und mein Junge 1 ZU 0 FÜR ARSENAL sangen. Brüllten, wir sollten die Schnauze halten, und bollerten gegen die Tür. Aber das machte alles nur noch schlimmer, denn darauf sangen mein Mann und mein Sohn noch lauter 2 ZU 0 FÜR ARSENAL. Und so weiter. Je mehr Theater sie vor der Tür machten, desto höher wurde ihre Niederlage.

Also, mich machte das Geschrei eher wahnsinnig. Aber mein Sohn musste jedes Mal so lachen, dass er sich gar nicht mehr einkriegte. Und dann natürlich nicht einschlafen wollte, weder für Geld noch gute Worte. Mum, rief er immer wieder, Mum, Mum, Mum, komm schnell, da ist was in meinem Zimmer. Und ich natürlich sofort hin und gefragt, was los ist. Darauf er: Reingefallen, da ist gar nichts, hahaha. Also, er war 4 Jahre und 3 Monate alt, da konnte man nicht einfach sauer sein. Er hatte so ein schönes Lächeln. So voller Lebensfreude.

– He, du kleines Monster, jetzt wird aber geschlafen, sonst bist du morgen beim Spiel ganz müde. Arsenal gewinnt nicht, wenn du sie nicht unterstützt.

– Aber ich bin noch gar nicht müde, Mum.

– Doch. Und du schläfst jetzt, oder ich hole deinen Vater.

– Ich hab aber keine Angst vor ihm. Mein Dad ist der beste Dad auf der ganzen Welt, besser als … als … als.

– Als was, du kleines Monster? Besser als was?

– Affen, sagte er darauf. Mein Dad ist besser als Affen und … und … und.

– Und was?

– Tizer-Limo, sagte mein Sohn.

Es klingt verrückt, Osama, aber manchmal bin ich froh, dass deine Leute beide zusammen in die Luft gejagt haben. Denn wenn mein Sohn überlebt hätte, hätte ihm sein Dad doch so gefehlt. Es hätte ihn so traurig gemacht, und das konnte ich noch nie mit ansehen. Nein, da ist es schon besser, es trifft nur mich allein.

Wenn der Junge endlich schlief, war es immer schon spät, und wir saßen mit einem Bier auf dem Sofa. Nur ich und mein Mann. Einmal freitagabends stritten wir uns – über Fußball. Es musste einfach raus.

– Mir wär’s lieber, du würdest den Jungen nicht mehr mitnehmen. Er ist noch viel zu klein. Das macht mich richtig fickrig.

– Fickrig?, sagte mein Mann. Wieso denn?

– Na ja, du weißt schon, wegen der vielen Gewalt im Stadion.

– Haha, sagte mein Mann. Das ist ja wohl ein Witz – die paar Schlägereien, wenn man bedenkt, dass ich mein Geld mit Bombenentschärfen verdiene.

– Ich weiß. Aber das macht mich ja auch fickrig.

– Hör mal, Schatz. Hooligans, das ist Vergangenheit. Heute ist so ein Spiel was für die ganze Familie. Außerdem bin ich Polizist, ich bringe einiges auf die Waage, und ich kann mich wehren.

– Darüber mache ich mir ja auch keine Sorgen, sondern wegen dem Jungen. Er ist erst 4 Jahre und 3 Monate alt und schläft noch mit Mr. Rabbit.

– Ach du lieber Himmel, sagte mein Mann. Du meinst, ich passe nicht auf ihn auf? Ich sag dir mal was: Wer den Jungen auch nur anfasst, ist tot.

– Na schön. Aber fickrig macht es mich trotzdem.

– Alles macht dich fickrig, sagte er.

Und damit hatte er vollkommen Recht. Jawohl, ich war fickrig, denn ich spürte den Tod auf uns zukommen.

An diesem Abend war mein Mann völlig fertig, nicht nur von seinem langen Arbeitstag, sondern vor allem deshalb, weil er bei einem Pferderennen in Doncaster 250 Pfund verblasen hatte. Vielleicht hätte ich ihn besser in Ruhe gelassen, statt ihn zu zwingen, mit mir zu schlafen, aber meine Nerven lagen blank, und ich dachte, vielleicht bringt mich ein bisschen Sex wieder runter. Doch nein, der Sex war elend schlecht, die Angst blieb, und mein Mann machte alles nur noch schlimmer. Ich spürte, wie die Panik über die verlorenen 250 Ocken ihm die Muskeln verkrampfte, als er mich umschlungen hielt. Danach lagen wir im Dunkeln und starrten an die Decke. Keiner von uns konnte schlafen. Die Nachbarn machten wieder mal Party.

– Ich bring diese Arschlöcher noch um, sagte mein Mann. Die ganze Nacht nichts als saufen und brüllen. Die begreifen einfach nicht, dass hier auch normale Familien leben. Was für Musik läuft da eigentlich die ganze Zeit?

– Das ist Beyoncé.

Ich kannte nämlich die Namen aller angesagten Stars, Osama, weil ich tagsüber so viel fernsah.

– Ich meine nicht, von wem, sagte mein Mann. Sondern was für eine Musik das sein soll?

– R & B.

– Quatsch, das ist nichts als verdammter Lärm. Guck doch mal, die Bässe sind so laut, dass das Wasser im Glas Wellen schlägt.

– Ich wollte, wir wären reich. Wenn wir reich wären, könnten wir in einem Haus wohnen, nicht hier in so einer Mietskaserne. Nur arme Leute müssen die Musik der Nachbarn ertragen.

– Was redest du da?, sagte mein Mann. Wir sind nicht arm.

– Ja, klar, aber schau uns doch an.

– Fang nicht schon wieder damit an, sagte mein Mann.

– Womit?

– Mit dem Geld, sagte er. Meinst du, du müsstest mich daran erinnern?

Ich seufzte und streichelte im Dunkeln sein Gesicht.

– Nein, Schatz, tut mir leid.

– Lass gut sein, sagte mein Mann. Mir tut’s leid. Du hast was Besseres verdient als mich.

– Sag doch so was nicht. Ich bin so stolz auf dich. Du bist ein guter Mann. Und nie denkst du über deine Einsätze nach. Du gehst einfach los und rettest Menschenleben.

– Klar, sagte mein Mann. Aber meine Nerven sind im Arsch, und wenn ich nach Hause komme, dröhnen mir dieselben Leute, die mir ihr Leben verdanken, die Ohren voll mit dieser … wie hieß sie noch gleich?

– Beyoncé.

– Genau. Beyoncé. Manchmal wünsch ich mir, wir ließen diese Bomben einfach hochgehen.

Ich streichelte sein Haar. Er meinte das nicht so. Und so lagen wir weiter im Dunkeln, während ein Stockwerk höher die Musik wummerte. Mein Mann hatte die Augen geöffnet; schwitzend starrte er an die Decke.

– Arschlöcher.

– Schimpf nicht so.

– Ich schimpfe, soviel ich verdammt noch mal will.

– Aber das macht mich nervös.

– Entspann dich.

– Und das aus deinem Mund. Wer hat denn die 250 Pfund verloren? Kannst du mir erzählen, wie wir den Jungen ernähren und anziehen sollen, wenn du so weitermachst? Warum entspannst du dich nicht mal zur Abwechslung?

Mein Mann sah mich an, als hätte ich ihn ins Gesicht geschlagen. Ich vermute mal, weil ich sonst nie so rumschreie. Aber ich verlor allmählich die Nerven, und Beyoncés CRAZY RIGHT NOW, das von oben auf uns herunterdonnerte, dass einem die Zähne klingelten, machte es nicht besser.

– Scheiße, ja, sagte mein Mann. Ich weiß auch, dass es so nicht weitergeht. Ich packe das nervlich nicht mehr, und du wirst vor lauter Sorge langsam hysterisch.

– Ich bin nicht hysterisch.

– Bist du doch.

– NEIN, ICH BIN VERDAMMT NOCH MAL NICHT HYSTERISCH !

Ich nahm mein Wasserglas und schmiss es gegen die Wand. Glasscherben und Wasser spritzten über den Teppich, und ich brach in Tränen aus. Mein Mann nahm mich in den Arm und streichelte mir übers Haar.

– Schon gut, Schatz, sagte er. Es ist nicht deine Schuld. Niemand hält das auf Dauer aus.

Ich knipste die Nachttischlampe an und steckte mir eine von seinen Ziggen an. Die Musik von oben wurde noch lauter, die Decke bebte. Jetzt fingen diese Schwachköpfe auch noch an zu tanzen. DIE NACHBARN AUS DER HÖLLE. Ich rauchte die Zigge bis zum Filter und warf sie dann einfach auf den Boden, was ich gewöhnlich nie machen würde. Ich bin vielleicht keine Heilige, Osama, aber meinen Haushalt halte ich in Schuss.

Mein Mann sah mich an, als sei erst jetzt der Groschen gefallen. Die Zigarette landete auf dem Teppich, aber es war die nasse Stelle, wo das Glas gelandet war, und sie ging sofort aus. Ich glaube, in diesem Moment war mein Mann zu einem Entschluss gekommen.

– Weißt du, was ich mache?, sagte er.

– Nein. Was willst du denn machen?

– Ich quittiere den Dienst, sagte er. Ich muss aus diesem Beruf raus, solange ich noch lebe und du nicht völlig durchgeknallt bist.

– Meinst du, das geht? Womit sollen wir denn unser Geld verdienen?

– Ich kenne einen Arzt, sagte mein Mann. Einen Polizeiarzt. Ich habe ihm mal einen Gefallen getan, damals, als ich noch Streife gefahren bin. Sie hatten seinen Sohn wegen Drogenbesitz hochgenommen. Nichts Dramatisches, nur ein paar Pillen, also ganz normal für Kids in seinem Alter. Ich habe die Pillen ins Klo geschmissen. Kein Grund, die Sache so hoch zu hängen. Jedenfalls, ich werde ihn mal fragen wegen meiner Nerven. Er ist mir noch was schuldig. Er kann mir einen Freifahrtschein ausstellen.

– Freifahrtschein? Was meinst du damit?

– Na ja, ein Freifahrtschein ist die Dienstunfähigkeit. So kriege ich immerhin noch drei Viertel meines letzten Gehalts und kann mir in Ruhe was anderes suchen.

– Ach, Schatz, das würdest du tun?

– Klar, sagte mein Mann. Ich bin erst 35, ich kann umschulen.

Ich lächelte im Dunkeln. Mein Mann kein Polizist mehr, das war zu schön, um wahr zu sein.

– Ach Gott, wenn ich mir das vorstelle. Keine Alarme mehr, kein Stress. Um Wettbüros machst du einen Bogen, und wir ziehen in eine schönere Wohnung, und wir lachen den ganzen Tag, und abends sehen wir zusammen fern, und du entscheidest, was geguckt wird. Und für den Kleinen machen wir noch ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen, na, was meinst du?

– Okay, sagte mein Mann. Okay, machen wir.

Ich strahlte ihn an.

– Los jetzt, Schatz.

– Los wohin?, sagte er.

– Komm mit.

Ich zog ihn ins Wohnzimmer vor die Stereoanlage.

– Komm, hilf mir mal, eine CD auszusuchen, bei der sie garantiert ausrasten. Die drehen wir dann richtig auf und zahlen es ihnen heim.

Mein Mann lachte.

– Du bist echt verrückt, sagte er. Aber ich liebe dich. Wie wär’s mit Phil Collins?

– Phil Collins? Nicht schlecht, auf jeden Fall nervig genug. Aber ich dachte an was, das wirklich wehtut. Sonny und Cher?

– Großer Gott, sagte mein Mann. Wir wollen sie ärgern, nicht in den Selbstmord treiben.

– Okay, dann Dexy’s Midnight Runners.

– Perfekt. Du bist ein Genie des Grauens.