9,99 €
Dunkle Geheimnisse und heiße Royals – die neue Romance-Reihe von Spiegel-Bestsellerautorin Anya Omah. Als ich mich in das Leben von Kronprinz Maximilian eingeschlichen habe, hatte ich nur ein Ziel: meine verschwundene beste Freundin zu finden, die zuletzt im Schloss gesehen wurde. Gefühle für den Prinzen zu entwickeln, stand allerdings nicht auf dem Plan. Denn seine Nähe ist nicht nur verführerisch, sie bringt mich in Lebensgefahr. Meine Nachforschungen haben einen Stein ins Rollen gebracht, der sich nicht mehr aufhalten lässt. Selbst wenn er mich, Maximilian und die gesamte Königsfamilie unter sich begräbt … Das atemberaubend spannende Finale der Northern-Royals-Dilogie.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anya Omah
Roman
Manche Wahrheiten sind tödlich …
Als ich mich in das Leben von Kronprinz Maximilian eingeschlichen habe, hatte ich nur ein Ziel: meine verschwundene beste Freundin zu finden, die zuletzt im Schloss gesehen wurde. Gefühle für den Prinzen zu entwickeln, stand allerdings nicht auf dem Plan. Denn seine Nähe ist nicht nur verführerisch, sie bringt mich in Lebensgefahr. Meine Nachforschungen haben einen Stein ins Rollen gebracht, der sich nicht mehr aufhalten lässt. Selbst wenn er mich, Maximilian und die gesamte Königsfamilie unter sich begräbt …
Das dramatische Finale der Northern-Royals-Dilogie.
SPIEGEL-BESTSELLER-AUTORIN
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/brokenprince eine Content-Note.
Anya Omah, geboren in Nordrhein-Westfalen, hat als medizinisch-technische Laborassistentin und Wirtschaftspsychologin gearbeitet, bevor sie sich als Autorin selbstständig machte. Über diese Entscheidung sagt sie Folgendes: «Ich war verrückt genug, meine Leidenschaft zum Beruf zu machen, und kehrte dem sicheren Bürojob den Rücken. Aber mal ehrlich … wie verrückt kann es sein, einen Traum zu leben, wenn man die Chance dazu bekommt?» Im März 2014 veröffentlichte sie ihren Debütroman, es folgten zahlreiche weitere New-Adult-Romane. Mit der Sturm-Trilogie stand sie erstmals auf der Spiegel-Bestsellerliste, Band 3, «Gewitterleuchten», stieg bis auf Platz 2. Mit den «Northern Royals» legt sie nun eine neue Dilogie vor.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01616-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
www.rowohlt.de
Für Angel
Gustavo Bravetti – Babel
Egzod, Maestro Chives & Neoni – Royalty
M83 & Felsmann + Tiley – Solitude (Felsmann + Tiley Reinterpretation)
SYML – Where’s My Love
Billie Eilish – hostage
Coco Jones – ICU
The Irrepressibles & Felsmann + Tiley – The Most Beautiful Boy (Felsmann + Tiley Reinterpretation)
Wolf Larsen – If I Be Wrong
Coldplay – Sparks
Isabel LaRosa – i’m yours
Chase Atlantic – Swim
Ludovico Einaudi – Experience
Labrinth – Power Couple
Lykke Li – Possibility
The Irrepressibles – In This Shirt
Gibran Alcocer & Anya Nami – Idea 22 (Anya Nami Remix)
RY X – Only
Claire Wyndham & AG – Kingdom Fall
MAX&JOY – Alles Liebe
Sofia
Ein Mann beugt sich über mich. Der Mann, der in mein Zimmer eingebrochen ist. Der Mann, der mich angegriffen hat. Er streckt die Hände nach mir aus.
Ich werde sterben.
Oh Gott.
Ich werde sterben.
Dann …
Ein dröhnender Schlag. Ein dumpfes Poltern. Der Mann stürzt auf mich herab.
Wie in Zeitlupe sackt er auf mir zusammen und drückt mich mit seinem Gewicht zu Boden. Um Atem ringend erkenne ich die Silhouette einer weiteren Person. Unscharfe Linien, die nach mehrmaligem Blinzeln ein immer klareres Bild ergeben. Das einer Frau. Ist das nicht …
«Ilvy?» Meine Stimme klingt genauso kraftlos, wie ich mich fühle. Ich will den Mann von mir schieben, stemme meine Hände gegen ihn. Aber ich könnte genauso gut versuchen, einen Berg zu bewegen. So in etwa fühlt sich seine Last auf mir an. Er zerquetscht mich. Und statt mir zu helfen, steht Ilvy einfach nur da. Die Augen weit aufgerissen, hält sie meine Bratpfanne in den Händen. Mit zittrigen Fingern. Ihre Brust hebt und senkt sich heftig, während ihr Blick starr auf den Typen gerichtet ist, der immer noch auf mir liegt und mir mit jeder Sekunde das Atmen schwerer macht. «Ilvy … hilf mir», presse ich hervor.
«Oh Gott. W-was hab ich getan? I-ist … ist er tot?» Panik lässt ihre Stimme erbeben, aber darauf kann ich jetzt genauso wenig Rücksicht nehmen wie auf dieses verdammte Arschloch.
«Keine Ahnung … aber ich … ersticke hier gleich.»
Die Pfanne entgleitet ihren Händen und fällt krachend zu Boden. Ein Zucken, das ihren Körper durchfährt, befreit sie endlich aus ihrer Starre. Als hätte sich ein Schalter umgelegt, eilt sie mir zu Hilfe, und gemeinsam wuchten wir den Typen von mir runter. Ich richte meinen Oberkörper auf, versuche aufzustehen, aber meine Beine gehorchen mir nicht. Sie fühlen sich wie Gummi an, und mein Kopf pocht im Rhythmus meines rasenden Herzschlags – jeder Stoß ein stechender Schmerz. Instinktiv fasse ich mir an die Stirn und spüre klebrig warme Nässe an meinen Fingern.
Blut.
Viel Blut.
Mein Blut.
Übelkeit steigt in mir hoch. Mein Magen krampft sich zusammen. Schwindel packt mich, und alles verschwimmt. Ich habe das Gefühl zu fallen, aber Ilvys Arme greifen unter meine Schultern. Sie zerrt mich hoch, stützt mich wie ein Pfeiler, als meine Knie nachgeben wollen.
«Komm! Wir müssen hier weg, bevor er wach wird … Falls er überhaupt noch lebt.» Ihre Stimme klingt, als wäre mein Kopf unter Wasser getaucht. Als würde ich untergehen. Meine Beine gleichen Betonklötzen.
«Kannst du laufen?», fragt Ilvy.
Als ob ich eine Wahl hätte. Ich muss. Irgendwie muss ich es hier rausschaffen. Aber nicht ohne die Bilder. Keine Ahnung, wo dieser plötzliche Moment der Klarheit herkommt. Ein Aufglimmen von Hoffnung. «Nachttisch … Ich … muss … zum … Nachttisch.» Meine eigenen Worte klingen in meinen Ohren wie unverständliche Laute.
Ilvy wirft mir einen hastigen Blick zu, ihre Stirn in Falten gelegt. «Was ist mit dem Nachttisch?»
Ich antworte nicht. Das würde viel zu lange dauern und Kraft kosten. Und ich muss schon jedes bisschen Energie zusammenkratzen, um mich allein auf den Beinen halten zu können. Ich lasse Ilvy los, winde mich aus ihrem Griff. Eine Hand auf die Matratze gestützt, versuche ich mich ohne ihre Hilfe zur Kommode zu schleppen.
«Sofia, was tust du denn da? Scheiß auf was auch immer dadrin ist. Wir müssen hier weg. Sofort.»
Ich höre die Verständnislosigkeit in ihrer Stimme. Das Drängen. Die wiederkehrende Panik.
«Wenn der Typ wach wird, dann …»
«Hilf mir.» Mein Atem geht schwer, wie durch ein Sieb. Ich werfe ihr einen flehenden Blick zu. Ihrer zuckt nervös zu dem reglosen Mann, ehe sie etwas von sich gibt, das wie ein Fluch klingt.
«Was soll ich holen?», fragt sie schließlich und eilt zum Nachttisch.
«Die Fotos.»
«Fotos?! Dafür riskieren wir …» Den Rest des Satzes verkneift sie sich. Vermutlich ahnt sie, dass ich dieses Zimmer nicht ohne sie verlassen werde. Hastig reißt die Schublade auf.
Mein ohnehin schon rasendes Herz überschlägt sich beinahe, als sie die Fotos hervorholt. Bilder, die mich fast mein Leben gekostet hätten. Der Schlüssel zu einer Wahrheit, die ich noch nicht kenne, aber wild entschlossen bin herauszufinden. Kaum dass Ilvy wieder bei mir ist, nehme ich den Stapel an mich. Presse ihn an meine Brust, als hinge mein Leben davon ab. Was irgendwie ja auch stimmt. Der Typ hätte mich wegen dieser Bilder beinahe umgebracht.
Ilvy greift nach meinem Arm, legt ihn wieder um ihre Schultern, und wir machen uns auf den Weg zur Tür. Gemeinsam stolpern wir in den Flur. Den Gang entlang und zur Haustür, die Ilvy aufreißt. Frische Luft streift mein Gesicht, wie eine kalte Dusche, die den Nebel in meinem Kopf kurzzeitig klärt. Der Gedanke, dass die Königsfamilie hinter mir her sein könnte, zuckt wie ein Blitz durch meinen Kopf. Ich weiß nicht, wer den Kerl geschickt hat, aber ich darf nichts riskieren. Niemand darf mich sehen.
«Warte.» Abrupt bleibe ich stehen.
«Was ist jetzt schon wieder?» Genervt sieht Ilvy mich an. «Hast du deinen Lipgloss vergessen?»
Auf ihre Spitze gehe ich nicht ein, auch wenn ich sie nachvollziehen kann. Immerhin hat sie keine Ahnung, warum die Fotos unbedingt mitmussten. «Gibt es … keinen anderen Weg?»
«Aus dem Gebäude?»
«Vom Schlossgelände runter.»
«Warum?» Verwirrung zerfurcht ihre Stirn.
Ich bin eine wandelnde Zielscheibe, solange ich auf dem Anwesen bleibe. Aber das kann ich ihr nicht sagen. Nicht ohne zu wissen, auf welcher Seite sie steht. Auch wenn sie mir geholfen hat, gilt ihre Loyalität vermutlich den Royals. Sie mag mir das Leben gerettet haben, aber deswegen kann ich ihr noch lange nicht vertrauen. Ich spreche da aus meiner eigenen Erfahrung mit Linnea. Nur dass ich mir inzwischen nicht mehr sicher bin, wer hier wen verraten hat. Was, wenn sie oder sogar Maximilian involviert sind?
Oh Gott. Nein. Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken. Allein bei der Vorstellung dreht sich mir der Magen um.
«Ich bin hier nicht sicher, Ilvy.»
«Doch, natürlich. Komm! Wir gehen zum Tor.» Sie setzt dazu an, mich über die Türschwelle nach draußen zu ziehen. «Die Gardisten, die es bewachen, gehören zur Palast-Security, sie werden sofort Alarm schlagen. Dafür gibt es ein Protokoll. Dort bist du in Sicherheit. In jedem Fall sicherer als hier.»
Sie hat recht. In der Tür zu verharren – hinter uns der Typ, der jeden Moment wieder zu sich kommen könnte – ist gar nicht gut. Aber mich auf den Präsentierteller des offenen Schlossgeländes zu begeben, ist mindestens genauso riskant. Und ich werde mich ganz sicher nicht freiwillig den Gardisten beziehungsweise der Palast-Security ausliefern.
Was bedeutet, dass ich in der Falle sitze.
«Ich kann da nicht raus, Ilvy. Nicht jetzt.»
«Wie meinst du das?»
Panisch sehe ich mich um. «Gibt es hier einen Keller oder so?»
«Und was willst du da?»
Ich deute ihre Gegenfrage als Ja. «Bring mich hin.»
«Aber …»
«Bitte. Bitte, tu’s einfach», dränge ich mit zittriger Stimme. Angst und Verzweiflung schwimmen in meinen Augen. Tränen, die ich mit aller Macht zurückhalte. Immerhin bringen sie Ilvy dazu, sich geschlagen zu geben.
«Okay. Hier entlang.»
Schon beim Hinabsteigen der schmalen Holztreppe schlägt mir modrige Luft entgegen. Feuchtigkeit, Erde und Stein vermischen sich zu einem unangenehmen Geruch, der sich wie eine Klammer um meine Lungen legt. Ich weiß nicht, was mir gerade mehr zu schaffen macht – trotz des anhaltenden Schwindelgefühls unbeschadet die unebenen Stufen hinunterzukommen oder das Atmen. So schnell und flach, wie Ilvy neben mir Luft holt, scheint es ihr ähnlich zu gehen. Vermutlich liegt es auch daran, dass sie mich stützt. Ohne ihre Hilfe wäre ich längst gestürzt. Oder vielleicht sogar tot.
Alva.
Ich zwinge mich, nicht vom Schlimmsten auszugehen. Doch es gelingt mir nicht. Was, wenn meiner besten Freundin dasselbe passiert ist wie mir? Nur dass sie weniger Glück hatte. Ich kann den morbiden Gedanken nicht verdrängen, dass es sich anfühlt, als würden wir in eine Gruft hinabsteigen. Was, wenn Alvas Leiche tatsächlich im Schloss verborgen liegt? Wenn dieser Keller ihr Grab geworden ist?
Die Klammer um meine Lunge zieht sich enger. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Ich erschauere so heftig, dass Ilvy erschrocken zusammenzuckt.
«Was ist los?», fragt sie keuchend und bleibt abrupt stehen.
«Nichts … alles okay.»
«Bist du sicher? Ich dachte schon, du bekommst einen Krampfanfall.»
«Nein, keine Sorge. Es … es geht mir gut.» Den Umständen entsprechend.
«Ja, noch … Mit deiner Kopfverletzung sollte ich dich lieber ins Krankenhaus bringen statt in einen Keller.»
Sie hat recht. Mir brummt der Schädel, und meine Sicht verschwimmt immer wieder. Ein Krankenhaus wäre vermutlich die klügere Wahl. «Gibt es da unten ein Fenster?»
«Keine Ahnung, ich war noch nie hier.»
Vielleicht ist der Keller doch keine gute Idee. Aber eine bessere habe ich nicht. Also gehen wir weiter.
Das Klackern unserer flachen Absätze hallt so laut von den Mauern wider, dass es unsere rasche Atmung übertönt. Ob uns das verraten könnte? Doch auf Zehenspitzen zu laufen würde das Risiko zu stürzen nur erhöhen. Erleichtert seufze ich, als wir heil unten ankommen. Umgeben von Stille, die fast ebenso drückend ist wie der modrige Geruch. Es gibt keine Fenster. Nur eine kleine Luke oben rechts in der Ecke, durch die fahles Licht sickert. Genug, um die aufeinandergestapelten Holzpaletten, ein altes Fahrrad, einen wackeligen Stuhl und anderes Gerümpel zu erkennen, das hier unten herumliegt.
Keine Leiche. Und auch keine Riesenkiste, kein Fass, Teppich oder etwas anderes, in das sie eingewickelt sein könnte. Abgesehen davon wäre der Gestank vermutlich sehr viel penetranter und kaum zu ertragen, wenn …
Ein dumpfes Stechen, das sich wie ein rostiger Nagel in meinen Schädel bohrt, stoppt meine Gedanken. Als wollte mich dieser kurze, intensive Schmerz ermahnen, positiv zu bleiben. Alva lebt. Meine beste Freundin lebt, und ich werde sie finden. Die Fotos – ich presse sie gegen meine Brust – werden mir dabei helfen.
Ich lasse Ilvy los und stütze mich mit der freien Hand an der Wand ab. Sie fühlt sich eklig feucht unter meinen Fingern an. Aber ich bin zu erschöpft, um mich nicht gegen das bröckelige Mauerwerk zu lehnen. All die unterdrückte Panik, das Zurückhalten meiner Emotionen zerrt inzwischen mehr an meinen Kräften als der Kampf mit diesem Typen. Oder die Verletzung an meinem Kopf, die mir einen gequälten Laut entlockt.
«Bist du wirklich okay?», fragt Ilvy.
Ich schließe die Augen, hole tief Luft und nicke. Tränen brennen unter meinen Lidern, meine Lippen fangen an zu beben, aber ich presse sie fest aufeinander. Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen. Genau das wird nämlich passieren, wenn ich mir erlaube zu weinen. Ist der Damm, der meine Gefühle zurückhält, einmal gebrochen – wobei ein Riss schon genügt –, werden mich die Emotionen überschwemmen. Ich würde in ihnen ertrinken. So wie in den ersten Wochen nach Alvas Verschwinden. Oder manchmal, wenn ich mir zu viele Fotos von Mama, Papa und Nora ansehe.
Also zwinge ich mich, die Fassung zu wahren, öffne meine Lider – und sehe, dass sich Ilvy nach vorn gebeugt den Bauch hält.
«Was ist los?», frage ich besorgt.
Keine Antwort. Nur ein Würgen, ehe ein Schwall Erbrochenes aus ihrem Mund auf den Boden platscht. Direkt neben meine Schuhe. Ich verziehe das Gesicht. Ein säuerlicher Geruch kriecht in meine Nase und lässt mich instinktiv durch den Mund einatmen. Ich spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht, und kämpfe gegen den eigenen Brechreiz an. Ich atme flach, lege eine Hand auf ihren Rücken und versuche auszublenden, dass es mir gerade selbst total beschissen geht. Dass ich nur knapp einem Mordversuch entkommen bin, in einem modrigen Keller festsitze und keine Ahnung habe, ob ich hier jemals wieder heil rauskomme.
Ilvy keucht, wischt sich mit zitternden Fingern über den Mund und richtet sich langsam auf.
«Geht’s wieder?» Die Frage hätte ich mir auch sparen können. Ihre Gesichtsfarbe ist fahl, fast schon grau. Strähnen ihres Ponys kleben an der schweißfeuchten Stirn. Ihre Augen glänzen fiebrig. Nein, es geht ganz offensichtlich nicht wieder.
«Ich hab … vielleicht jemanden umgebracht. Was, wenn der Typ tot ist?» Der Vorwurf, dass ich sie in diese Situation gebracht habe, ist unüberhörbar.
Ich sehe die Verzweiflung in ihren Augen, das Entsetzen über das, was sie getan hat – oder glaubt, getan zu haben. Meinetwegen. Der Gedanke sorgt dafür, dass sich Schuld in mir zusammenballt. Aber auch Wut, weil ich nichts für diese Situation kann und selbst ein Opfer bin.
«Ilvy …», beginne ich krächzend und räuspere mich. «Es war nie meine Absicht, dich in Schwierigkeiten zu bringen. Wenn ich geahnt hätte, was passieren würde … dann …» Ich schüttle leicht den Kopf, als ich stocke. Ich will mich entschuldigen, aber die Worte kommen mir nicht über die Lippen – weil es nichts zu entschuldigen gibt. Das hier geschieht, weil irgendjemand etwas vertuschen will. Meine Suche nach Alva hat ihn aufgescheucht, aber deswegen bin ich nicht schuld an seinem Angriff.
Wenn ich mir etwas vorwerfen kann, dann nur, dass ich zu lange gewartet habe, mich mit Ilvy zu verabreden. Hätte ich sie bereits an meinem ersten Tag zur Rede gestellt, wäre es vielleicht anders gekommen. Vielleicht hätte ich dann längst Antworten und wüsste, was mit Alva geschehen ist. Vielleicht hätte die Polizei die Ermittlungen längst wieder aufgenommen, und Alva wäre inzwischen gefunden worden.
Doch diese ganzen Vielleichts helfen mir nicht weiter. Ich brauche keine Vermutungen, keine vagen Andeutungen – ich brauche Fakten. Ich muss endlich herausfinden, warum Alva im Schloss war, wo und mit wem sie zuletzt gesehen wurde. Entschlossen sehe ich Ilvy an und komme ohne Umschweife zum Punkt. «Es ist Zeit, dass wir über Alva reden. Immerhin ist das der Grund, weshalb wir uns verabredet haben.»
Sofia
Ilvy umklammert ihre Oberarme und reibt sie nervös. «Ich weiß.»
«Also?»
«Sofia … ich … ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.»
Fragend ziehe ich die Augenbrauen zusammen. «Wie meinst du das?»
Sie deutet zur Treppe. «Was eben in deinem Zimmer passiert ist … Ich habe keine Ahnung, was genau hier vor sich geht, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass es etwas mit dem Verschwinden deiner Freundin zu tun hat. Und da will ich nicht mit hineingezogen werden. Das … das ist mir zu gefährlich.»
«Du bist längst mittendrin, Ilvy.» Meine Stimme klingt schärfer als gewollt; mir fehlt die Geduld, sanft auf sie einzureden. «Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort – oder eher zur richtigen. Ohne dich würde ich wahrscheinlich nicht mehr hier stehen. Ich bin dir wirklich dankbar, aber du kannst jetzt keinen Rückzieher machen. Es geht um das Leben eines Menschen – um das Leben meiner besten Freundin. Nichts zu tun, wäre falsch. Und das weißt du. Sonst hättest du mich nicht kontaktiert.»
Ilvy tritt einen Schritt zurück, als fühlte sie sich von mir bedrängt. «Ja, ich wollte dir helfen, aber … ich arbeite hier, Sofia. Genau wie meine Mutter. Wenn ich mich gegen die Königsfamilie stelle, wenn ich gegen die Verschwiegenheitsklausel verstoße, käme das Hochverrat gleich. Dann steht auch die Zukunft meiner Mama auf dem Spiel. Für mich ist das bloß ein Job, ich habe nicht vor, für immer der Krone zu dienen. Aber für meine Mutter ist das hier … alles, was sie hat. Und sie … sie ist alles, was ich habe.»
Ich schlucke.
Ilvy schlingt die Arme um sich. «Vierundzwanzig Stunden täglich auf Abruf zu sein, um der Königin jeden Wunsch zu erfüllen, macht mit der Zeit einsam, verstehst du?»
Mehr, als sie ahnt. Alva ist nicht nur eine Freundin, sondern Teil meiner engsten Familie, die seit jenem Urlaub vor sieben Jahren nur noch aus mir, Edda und ihr besteht. Ich darf nichts unversucht lassen, um sie zu finden. «Ich verstehe, wie du dich fühlst. Und ich verstehe deine Sorge. Aber ich verspreche dir, niemand wird erfahren, dass du mir geholfen hast. Alles, worüber wir sprechen, bleibt zwischen uns. Bitte hilf mir. Sag mir, was du gesehen hast, sonst …»
«Sonst drohst du mir wieder?» Ihre Stimme klingt plötzlich messerscharf.
«Ist die Lage denn nicht bedrohlich genug? Du hast einen Typen niedergeschlagen, der mir etwas antun wollte», erinnere ich sie eindringlich. «Was muss denn noch passieren, damit du endlich mit der Sprache rausrückst?»
Sie zuckt zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Immerhin scheint mein Vorwurf etwas in ihr zu bewegen. Einen Moment herrscht Stille, dann sagt sie leise: «Ich … ich habe einfach Angst.»
«Ich doch auch», gestehe ich. «Aber meine beste Freundin braucht mich. Und ich brauche Antworten. Antworten, die du hast.»
Ilvy schließt die Augen, atmet tief durch und sieht mich wieder an. «Okay. Aber wenn ich schon meinen Job riskiere, will ich wissen, was hier los ist. Wer war dieser Mann und was wollte er von dir?» Ihr Blick huscht zu den Fotos, die ich noch immer an meine Brust presse.
Ich nicke. «Einverstanden. Aber du zuerst.»
«Ich kann dir vertrauen, oder?», versichert Ilvy sich noch mal.
«Genauso sehr wie ich dir», erwidere ich bewusst ausweichend. Wenn sie jetzt zögert, weiß ich, woran ich bin.
«Na schön», sagt sie schließlich. «Ich habe deine Freundin Alva hier im Schloss gesehen. Sogar zweimal an einem Tag – kurz bevor sie verschwunden ist. Es müsste ein Montag gewesen sein. Sie wurde morgens von Herrn Eklund in Empfang genommen.»
Die Schildkröte. Sofort erinnere ich mich daran, wie unangenehm mir sein aufdringliches Verhalten war. Wenn Alva sich mit ihm getroffen hat, wusste sie wahrscheinlich etwas, das niemand erfahren durfte.
«Weißt du zufällig, worum es bei dem Treffen ging?»
«Nein. Aber ich kann es mir denken. Eklunds Aufgabe ist es, den Ruf der Krone zu schützen. Skandale zu verhindern – um jeden Preis.»
Mein Magen zieht sich zusammen, diesmal vor Furcht, nicht vor Übelkeit. «Um jeden Preis? Wie meinst du das?»
«Wortwörtlich. Angeblich hat er einmal eine Frau mit Schweigegeld zur Millionärin gemacht, ihr eine neue Identität besorgt und dafür gesorgt, dass sie ans andere Ende der Welt auswandert.»
Ich reiße die Augen auf. Alva könnte also außer Landes sein, auf einem anderen Kontinent. Aber dann hätte sie sicher Kontakt aufgenommen. Wenigstens zu ihren Eltern.
«Es ist nur ein Gerücht», rudert Ilvy zurück. «Aber ich halte es für glaubwürdig.»
Was, wenn Alva sich nicht kaufen ließ? Sie kann verdammt stur sein. Vielleicht wollte sie etwas anderes – etwas, das Eklund ihr nicht geben konnte. Oder wollte.
«Und wann hast du Alva das zweite Mal gesehen?», frage ich mit wild klopfendem Herzen.
«Am frühen Abend.»
«Dann hat sie das Schloss also nicht verlassen?»
«Das weiß ich nicht.» Ilvy zuckt mit den Schultern. «Normalerweise gibt es ein Besucherprotokoll. Da wird genau festgehalten, wer wann das Schloss betritt und wieder verlässt …»
Ich runzle die Stirn. «Mir wurde so etwas nicht vorgelegt.»
«Du hattest ja auch ein Bewerbungsgespräch. Für Mitarbeitende oder enge Bekannte und Freunde der Königsfamilie gelten andere Regeln. Aus Gründen der Privatsphäre. Aber …» Sie zögert. «Als ich vor ein paar Wochen das Foto deiner Freundin in deinem Insta-Post gesehen habe, wollte ich nachschauen, wann sie das Schloss verlassen hat und ob sie nach diesem Montag noch mal hier war.»
«Und?» Hoffnung lässt meine Stimme eine Oktave in die Höhe schießen.
«Ich habe keinen einzigen Eintrag gefunden. Die Seite, auf der ihr Name hätte stehen müssen, wurde rausgerissen.»
«Bist du sicher?»
Sie nickt. «Wer auch immer das war, hat sich nicht mal Mühe gegeben, es zu verbergen.»
«Und mit wem hast du sie zuletzt gesehen?»
Stille.
«Wer war es?»
Ihr Blick weicht meinem aus, huscht zur Seite – nervös, unruhig. Angst flackert in ihren Augen.
Ich lehne mich vor. Meine Stimme ist leise, aber eindringlich. «Bitte. Antworte. War es jemand aus der Königsfamilie?» Ich wage es nicht, direkt nach Maximilian zu fragen. Noch halte ich an der Hoffnung fest, dass er nichts damit zu tun hat.
Ilvy nickt.
«Wer?»
«Ich … ich habe mitbekommen, wie sie in die Suite des Prinzen gegangen ist.»
«Hast … hast du ihn gesehen?» Bitte sag Nein. Bitte, bitte sag Nein.
«Ja. Er hat ihr die Tür geöffnet.»
Ihre Worte lassen meine Hoffnung wie eine Seifenblase platzen. Ein Zittern durchfährt mich. Ich lehne mich zurück an die Wand, brauche Halt. Kurz schließe ich die Augen. Versuche, die Enttäuschung an mir abprallen zu lassen. Doch sie trifft mich mit voller Wucht. Ich hatte es geahnt – seit dem Gespräch, das ich im KRONA belauscht habe.
Oder hast du sie etwa nicht zu dir eingeladen?
Ja, um wie immer das Chaos, das du angerichtet hast, zu beseitigen.
Diese Sätze, insbesondere Maximilians Antwort auf Linneas Frage, hallen in meiner Erinnerung nach. Nur hätte ich niemals gedacht, dass er die letzte Person gewesen sein könnte, mit der sich Alva getroffen hat.
Wieso?
Woher kannte sie ihn? Oder Linnea?
Und warum hat Alva mir all das verschwiegen?
Wir haben uns doch immer alles erzählt – dachte ich. Aber offenbar hat sie mir nicht vertraut. Und das tut weh.
Mehr noch als die Enttäuschung über Maximilian. Mehr als die Wunde an meinem Kopf, die jetzt wieder zu pochen beginnt.
Ich presse die Finger gegen meine Schläfe.
«Ist alles okay?» Ilvys zaghafte Berührung meines Unterarms lässt mich die Augen wieder öffnen.
«Ja. Abgesehen vom Presslufthammer in meinem Kopf.» Und der Tatsache, dass der Typ, mit dem ich gestern rumgemacht habe, vielleicht meine beste Freundin auf dem Gewissen hat.
«Und die Prinzessin?», hake ich nach. Über Linn hat Ilvy bisher kein Wort verloren, und das wundert mich. «War Linnea auch dabei?»
«Nicht an diesem Tag. Aber ich habe die beiden, sie und Alva, mal im Schlosspark spazieren gehen sehen. Und sie war auch im Winter zur Eis-Pool-Party eingeladen.»
«Dann waren Linnea und Alva … Freundinnen.» Eifersucht färbt meine Stimme ein. So albern das klingen mag, aber ich fühle mich betrogen. Nicht, weil Alva Linn offenbar nahestand, sondern weil sie mir nichts davon erzählt und mich ausgeschlossen … ja, vermutlich sogar angelogen hat, um all das vor mir geheim zu halten.
«Ob sie Freundinnen waren, weiß ich nicht. Die Prinzessin hat öfter mal Kontakte zu Bürgerlichen. Ich glaube, dass sie sich zu dieser Welt hingezogen fühlt. Sie aufregend und spannend findet. Als ich jünger war, hatte ich auch mehr mit ihr und Maximilian zu tun – bis sie mich von jetzt auf gleich ignoriert haben.» Gleichgültig zuckt Ilvy mit den Schultern, doch die Verbitterung in ihrer Stimme verrät, dass ihr der Kontaktabbruch noch immer zusetzt.
«Weißt du warum?», hake ich vorsichtig nach. Ich will nicht tiefer als nötig in einer offenen Wunde bohren.
«Vielleicht, weil ich nicht gut genug bin? Als Tochter einer Bediensteten? Ich weiß es nicht. Hab nie nachgefragt.»
Ich nicke verständnisvoll.
«Wenn ich du wäre, würde ich mir nicht allzu viel darauf einbilden, dass dich die Prinzessin bei sich hat schlafen lassen. So schnell, wie sie dich ins Herz schließt, lässt sie dich auch wieder fallen.»
«Wir sind nicht befreundet», stelle ich klar und kehre zum eigentlichen Thema zurück. «Glaubst du denn, sie könnte wissen, was mit Alva passiert ist?»
«Theoretisch schon. Aber zuletzt gesehen habe ich deine Freundin, wie gesagt, mit dem Prinzen.»
«Und … wie lange war sie bei ihm? Hat sie dort übernachtet?» Ich versuche, so viel Gleichgültigkeit wie möglich in meine Stimme zu legen. Was eigentlich unnötig ist. Es ist okay, betroffen zu klingen. Es geht immerhin um meine beste Freundin.
«Definitiv nicht. Die Königin und er sind noch am selben Abend zu einem Auslandstermin aufgebrochen. Und wann immer die Königin verreist, muss ich dafür sorgen, dass es ihr an nichts fehlt.»
«Du reist also mit?»
«Ja. Deshalb erinnere ich mich an alles, was an diesem Tag anders war als sonst.»
«Verstehe», sage ich eher zu mir selbst. Trotz der ganzen Infos habe ich nicht das Gefühl, schlauer zu sein als vorher.
«Jetzt bist du dran. Was wollte dieser Mann von dir? Was ist mit den Fotos, die du unbedingt retten musstest? Und …»
Das Klingeln ihres Handys lässt uns beide zusammenzucken und von jetzt auf gleich verstummen. Es durchschneidet die angespannte Stille wie ein Alarm – grell, schrill, viel zu laut. Hastig greift Ilvy in die Tasche ihrer Strickjacke und zieht das Telefon heraus. Ihr Blick ist starr aufs Display gerichtet.
«Meine Mutter.» Ihre Stimme ist leise, fast ehrfürchtig. «Was mach ich denn jetzt?»
«Rangehen?», schlage ich vor. Wobei mich wirklich wundert, dass Ilvy überhaupt Empfang hat – hier unten im Keller, umgeben von den dicken Mauern eines jahrhundertealten Gemäuers.
Ilvy schüttelt heftig den Kopf. «Ich … ich trau mich nicht. Sie wird mir anhören, dass etwas nicht stimmt.»
So wie Oma es bei mir immer merkt. Als hätte sie einen siebten Sinn.
«Wieso ruft sie ausgerechnet jetzt an?», fragt Ilvy.
«Das muss doch nichts heißen.»
«Und wenn doch?»
Das Klingeln verstummt. Aber Ilvy wirkt kein bisschen erleichtert. Im Gegenteil. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich hektisch. Die Hand, mit der sie ihr Telefon umklammert, zittert. Und ihre Gesichtsfarbe ist dieselbe, wie kurz nachdem sie sich übergeben hatte.
«I-ich muss los», sagt sie tonlos. «Bevor meine Mama Verdacht schöpft. Falls sie es nicht längst tut.» Sie strafft ihre Schultern und reckt das Kinn. Als würde sie in eine Schlacht ziehen. Oder aus einer fliehen.
Ich werde zurückbleiben. In diesem Keller, der sich mehr und mehr wie ein Bunker anfühlt, während draußen die Gefahr lauert. Ich könnte die Polizei rufen, aber wenn die Königsfamilie involviert ist, wird mir das nichts bringen. Genauso wenig wie bei Alva. Ich muss mir in Ruhe überlegen, wie ich weiter vorgehen will. Und dazu muss ich erst mal raus aus dem Schloss. Meine einzige Chance, das ungesehen zu schaffen, ist die Dunkelheit. Solange werde ich hier ausharren müssen. In dieser Kälte. Dieser Feuchtigkeit. Durstig und hungrig. Verletzt.
«Hier», höre ich Ilvy sagen. «Damit du nicht frierst.» Sie hält mir ihre Strickjacke hin. Versunken in meinen Gedanken habe ich gar nicht mitbekommen, dass sie sie ausgezogen hat.
Überrascht blicke ich von der Jacke in ihr Gesicht und wieder zurück. «Bist du sicher?»
«Ja. Du hast sie nötiger als ich.»
«Danke.» Ich höre selbst, wie ungläubig ich klinge. Es ist nur eine Jacke. Trotzdem rührt mich diese Geste, weil ich damit nicht gerechnet habe. Auch wenn Ilvy mir vermutlich das Leben gerettet hat. Ich nehme den schwarzen, grob gestrickten Stoff entgegen. Er ist schwerer als erwartet und riecht – trotz des Gestanks nach Erbrochenem, der uns umgibt – nach frischer Wäsche. Die Wärme ihres Körpers steckt in den Fasern. Ehe sie verfliegt, schlüpfe ich hinein. «Das ist wirklich lieb von dir.»
«Du willst hierbleiben, bis es dunkel wird?», fragt sie. Dass sie nicht vorschlägt, die Polizei zu rufen, bestätigt mich nur in meiner Einschätzung.
«Wenn ich es irgendwie schaffe», fährt Ilvy mit belegter Stimme fort, als ich nicke, «komme ich noch mal vorbei und bring dir was zu essen. Oder zumindest etwas zu trinken.»
Ein Kloß der Rührung brennt mir in der Kehle. Warum ist sie plötzlich bereit, so viel für mich zu riskieren? Ich sollte sie davon abhalten. Noch mal herzukommen, ist leichtsinnig. Jeder Kontakt mit mir, egal ob der Kerl tot oder lebendig ist, ist riskant. Aber bevor ich meine Bedenken äußern kann, kommt sie mir zuvor.
«Hast du dein Handy bei dir?»
Meine Hand fährt automatisch an meine hintere Hosentasche, wo das Handy steckt. Genau wie vor dem Überfall – der Gedanke kommt mir surreal vor. Ich nicke.
«Dann gib mir deine Nummer, damit ich mich melden kann.»
Ihre Worte machen mir Mut. Dennoch bebt meine Stimme, als ich sie ihr diktiere. «Ich glaube nicht, dass ich hier unten Empfang habe.»
«Wenn ich Netz habe, hast du sicher auch welches. Bei der Renovierung vor ein paar Jahren wurde auch das Mobilfunknetz ausgebaut. Damit Mitarbeitende wie ich jederzeit und überall für die Königsfamilie erreichbar sind.» Sie tippt auf ihrem Handy herum, woraufhin mein eigenes keine Sekunde später vibriert. «Siehst du?»
Dann bin ich immerhin nicht komplett von der Außenwelt abgeschottet. Wenigstens etwas. Der Reflex, ans Handy zu gehen, sobald es vibriert oder klingelt, obwohl das nur ein Testanruf war, lässt mich mein Telefon aus der Hosentasche holen – und beim Anblick einer Push-Nachricht erstarren. Sie ist von Maximilian, und mein Herz setzt einen Schlag aus. Ohne zu lesen, was er geschrieben hat, wische ich die WhatsApp fort und stecke das Handy zurück, damit Ilvy nichts mitbekommt. Wenn ich die Nachricht öffne, will ich allein sein und mich nicht zusammenreißen müssen. «Okay, dann hab ich jetzt auch deine Nummer. Danke.» Ich presse diese Worte durch die Enge meiner Kehle, bekomme sie kaum über meine Lippen.
«Wenn du in den nächsten zwei, drei Stunden nichts von mir hörst …» Ilvy hält inne, schluckt und flüstert dann: «Alva kann froh sein, dich zur Freundin zu haben. Pass auf dich auf.»
Der Kloß in meinem Hals schwillt zu einem Klumpen an. Ich bekomme kein Wort heraus, kann nur nicken.
Ilvy erwidert das Nicken. Dann wendet sie sich ab und verschwindet die Treppe hinauf.
Kaum ist sie fort, hole ich mein Handy wieder hervor. Unschlüssig, ob ich mich bereit für Maximilians Nachricht fühle, starre ich aufs Display. Lasse einige Herzschläge vergehen. Insgeheim weiß ich längst, dass ich die Nachricht lesen werde. Ich kann nicht anders. Trotzdem zögere ich den Moment hinaus, versuche, mich zu wappnen. Mental, aber vor allem emotional. Doch von der Mauer, die bis vor wenigen Tagen mein Herz geschützt hat, ist kaum noch etwas übrig. Und jetzt gerade, in diesem Moment, fehlt mir die Kraft, sie Stein für Stein wiederaufzurichten. Also tippe ich auf Öffnen, rechne mit dem Schlimmsten, und …
Was sagt es über mich aus, dass dir zu schreiben das Erste ist, was ich tue, nachdem wir in Barcelona gelandet sind? Ich hoffe, du hast einen schönen Tag, Sofia. Vermiss mich, okay? Wenigstens ein bisschen.
Dein Prinz 😏
PS: Nudes reiche ich nach.
Ich blinzele ungläubig, weiß nicht, was ich davon halten soll. Ein Teil von mir denkt an letzte Nacht, das Gefühl seiner Lippen und Hände auf meinem Körper. Warmes Wasser, das uns umspült. Hitze, Gänsehaut. Und dieses intensive Kribbeln, das ich auch jetzt wieder spüre, wenn ich nur daran denke. An ihn. Uns.
Verdammt, dieses Gefühl ist viel zu real, um es zu ignorieren. Aber trifft das auch auf diese Nachricht zu? Meint er das ernst, oder ist es eine Falle, in der ich bereits mit einem Fuß drinstecke?
Vermisst er mich wirklich? Oder versucht er, mich aus der Reserve zu locken, weil er weiß, was passiert ist, und herausfinden will, wo ich bin?
Meine Finger schweben über dem Display, bereit, eine Antwort zu tippen. Ein Wort. Ein Emoji. Um im Spiel zu bleiben, falls das hier eins ist.
Ich starre auf den Bildschirm, warte … wäge ab. Gott, was soll ich tun?
Maximilian
Die blauen Häkchen unter meiner WhatsApp-Nachricht an Sofia brennen sich in meinen Blick. Gelesen – aber keine Antwort. Seit sechs Stunden. Eigentlich kein Grund zur Sorge. Und doch werde ich von Minute zu Minute nervöser. Wenn ich wüsste, dass sie heute arbeitet, wäre ich vermutlich ganz entspannt. Aber an ihrem freien Tag, so kurz nach dieser unglaublichen Nacht, hätte ich … mehr erwartet. Eine Reaktion. Eine Antwort. Dass nichts kommt, beschäftigt mich mehr, als es sollte. Wir lernen uns doch gerade erst kennen und …
Liegt es daran?
War meine Nachricht zu direkt, zu viel für die Phase, in der wir uns aktuell befinden? Wäre ein unverfängliches ‹Hei, ich bin gut angekommen, hab einen schönen Tag› angebrachter gewesen? Oder mache ich mir einfach zu viele Gedanken?
Mit einem Seufzen lege ich mein Handy neben meinen Teller auf den dunklen Tisch im Séparée des Marriott Bonvoy Hotels. Linn und ich sitzen hier zum Abendessen, abgeschottet vom Trubel des restlichen Hauses. Ich habe keinen Appetit und starre durch die bodentiefen Fenster hinaus auf das flimmernde Lichtermeer Barcelonas. Eigentlich sollte ich hier zur Ruhe kommen – immerhin startet morgen die Clearing-Waters-Tour, begleitet von der Presse. Aber meine Sorgen lassen mich nicht los. Oder besser: meine Unsicherheit. Ein Gefühl, das ich kaum kenne – und das nervt mich.
«Ich kann dich hören.»
Linns Stimme reißt mich aus dem Grübeln. Ich drehe den Kopf zu ihr. Sie sitzt mir gegenüber, hat den Arm auf der Tischkante abgestützt und lässt ihre Gabel lustlos über dem Lachs-Filet kreisen.
«Wie bitte?», frage ich, obwohl ich sie genau verstanden habe.
«Ich. Kann. Dich. Hören.» Wie zum Mitschreiben betont sie jedes Wort einzeln.
«Ich habe nichts gesagt.»
«Musst du auch nicht. Du denkst so laut, dass es dröhnt.»
«Bist du jetzt unter die Mentalistinnen gegangen?»
«Nein. Ich kenn dich einfach. Du denkst an sie. Und zwar seit wir in den Flieger gestiegen sind.»
«Sie?» Ich versuche, ahnungslos zu klingen.
«Sofia!» Ihr Blick durchbohrt mich.
Meinen wende ich ertappt ab, lange nach der Weinkarte und klappe sie auf, obwohl ich keinen Alkohol trinken will.
«Hab ich recht oder hab ich recht, Bruderherz?»
Ich verdrehe die Augen, gehe nicht weiter drauf ein, aber Linn lässt nicht locker. Sie lehnt sich etwas vor und flüstert verschwörerisch: «Dein Blick hängt alle drei Sekunden am Handy. Weil du auf eine Antwort von ihr wartest. Was hast du ihr geschrieben?»
Ich lege die Weinkarte wieder weg und sehe sie genervt an. «Linn, lass gut sein.»
«Ach komm. Ich weiß es doch längst.»
Ich runzle die Stirn. «Was genau weißt du?»
Sie legt die Gabel beiseite, verschränkt die Hände. «Dass du die Nacht mit ihr verbracht hast. Ich hab mitbekommen, wie sie sich aus meinem Zimmer geschlichen hat – und nicht zurückgekehrt ist. Stunden später bist du genauso leise reingeschlichen und wieder verschwunden. Ohne ein Wort zu sagen.»
Verdammt. Meine kleine, neugierige Schwester hat also doch nicht geschlafen. «Vielleicht wollte ich dich einfach nicht wecken.»
«Oder du wolltest nur unauffällig Sofias Klamotten aus meinem Zimmer holen.»
Ich seufze und gebe mich geschlagen. Sofia und ich hatten ohnehin abgesprochen, Linn nicht anzulügen, falls sie etwas merkt. Der Moment ist wohl gekommen. «Behalt es einfach für dich, ja?»
«Was genau? Dass du was mit Sofia Larsson hast?», trällert sie provokant – und viel zu laut.
Obwohl sich nur Thora, Filip und wir im Séparée befinden, wandert mein Blick nervös durch den Raum. Zum Glück ist das Servicepersonal außer Hörweite. Sie sind zwar in einem Hotel wie diesem der Diskretion verpflichtet, aber man weiß ja nie.
«Nicht so laut», zische ich. «Schon gar nicht, wenn es … darum geht.»
Linn grinst und wispert hinter vorgehaltener Hand: «Ich liebe Geheimnisse. Je schmutziger, desto besser.»
Ich verziehe das Gesicht. Nichts an dem, was zwischen Sofia und mir passiert ist, fühlt sich schmutzig an. Im Gegenteil. In einer Welt ohne Paparazzi würde ich sie nach dieser Tour zu einem richtigen Date einladen. Essen gehen. Theater. Kino. Oder einfach spazieren. Aber all das setzt voraus, dass sie überhaupt noch Interesse an mir hat. Und zack – ist meine Unsicherheit wieder da.
«Dann habt ihr also …» Sie senkt die Stimme wieder. «Eine Affäre? Oder ist da mehr?»
«Weder noch. Wir lernen uns einfach kennen. Ganz entspannt.»
Sie deutet mit dem Finger auf mein Gesicht. «Für jemanden, der entspannt ist, siehst du verdammt verkrampft aus.»
«Na schön.» Ich beschließe, mich ihr zu öffnen. Warum verleugnen, was sie ohnehin schon ahnt? «Ich hab ihr heute Vormittag geschrieben und bisher keine Antwort bekommen. Das muss nichts heißen, aber …»
«… es fühlt sich scheiße an.»
Ich nicke.
Sie lächelt.
«Was ist so witzig?»
«Nicht witzig. Nur … süß, dich so zu erleben.» Sie schneidet sich ein Stück Lachs ab und steckt es genüsslich in ihren Mund.
Ich beobachte sie beim Kauen, warte, bis sie den Bissen geschluckt hat. «Was genau meinst du mit so?»
«Na ja. So unbeholfen.»
«Ich? Unbeholfen?»
Sie nickt. «Du fragst dich, ob es richtig war, ihr zu schreiben. Ob’s zu viel oder zu wenig war. Ob du ihr noch mal schreiben oder ihre Antwort abwarten solltest. Ob sie dir überhaupt antwortet. Und die Möglichkeit, dass sie es nicht tut», sie zeigt mit der Gabel auf meinen Teller, «hat dir ganz offensichtlich den Appetit auf deine Pasta verdorben.»
Um ihre These zu widerlegen, nehme ich mein Besteck und esse demonstrativ weiter. Dass sie in allem recht hat, behalte ich für mich. «Und?»
«Was … und?»
«Was würdest du an meiner Stelle tun?» Kaum zu glauben, dass ich meine kleine Schwester gerade um Rat in Beziehungssachen bitte. Normalerweise hätte ich mit Karim darüber gesprochen. Aber das war, bevor er Linn hinter meinem Rücken Koks gegeben hat. Ich nehme einen großen Schluck aus dem Wasserglas, als ließe sich die Enttäuschung fortspülen. Aber der bittere Nachgeschmack dieses Verrats bleibt.
«Wenn ich an deiner Stelle wäre», antwortet Linn, «würde ich mich bitten, ihr zu schreiben.»
Skeptisch ziehe ich die Brauen hoch. Mir ist noch nicht klar, was sie damit bezweckt, aber es gefällt mir nicht.
«Lass mich ihr schreiben. Wenn sie mir antwortet, aber dir nicht, weißt du, woran du bist.»
Ich winke ab. «Nein danke. Solche Spielchen sind mir zu albern. Wenn sie sich melden will, wird sie es tun. Und wenn nicht … ist das auch okay.»
«So okay, dass du alle drei Minuten aufs Handy starrst?»
«Womit jetzt Schluss ist.»
Nun hebt Linn ihrerseits zweifelnd eine Braue.
Genervt schnaube ich. «Wollen wir wetten?»
«Wow. Du brauchst also schon eine Wette, um dich zu beherrschen? Sofia hat’s dir echt angetan», sagt sie in einer Lautstärke, die mich schon wieder panisch umherblicken lässt.
Als ich sie abermals ermahnen will, leiser zu sprechen, bringt mich das Vibrieren meines Handys zum Schweigen und stoppt jeden weiteren Gedanken. Bis auf einen: Sofia!
Ich starre aufs Display, hoffe, ihren Namen zu lesen. Stattdessen sehe ich den von Karim. Mein Kiefer spannt sich an. Ohne zu zögern, drücke ich seinen Anruf weg. Was zur Hölle fällt ihm ein, nicht mal einen Tag nach der Aktion, die er gebracht hat, anzurufen? Glaubt er wirklich, eine Nacht darüber zu schlafen, reicht aus, um ihm zu verzeihen? Zugegeben, ich schulde ihm wegen meines Ausrasters eine Entschuldigung. Aber ganz sicher nicht hier und jetzt, nicht vor Linn, während wir auf … Mein Handy vibriert erneut. Wieder ist es Karim. Und wieder drücke ich ihn weg. Angepisster als zuvor.
«Hör dir doch an, was er will», sagt sie ernst.
«Auf keinen Fall.»
«Du kannst ihn nicht für immer ignorieren. Und ich … ich auch nicht. Er ist auch mein Freund.»
«Dann solltest du mal über deine Definition von Freundschaft nachdenken», presse ich um Fassung ringend hervor. Ich werde ihr den Kontakt zu ihm nicht verbieten können. Aber ich kann wenigstens versuchen, ihr klarzumachen, dass Karim ihr nicht guttut. Ganz im Gegenteil. «Freunde helfen einander. Sie zerstören sich nicht.»
Kaum ausgesprochen, klingelt es erneut. Diesmal ist es Linns Handy. Ihr spezieller Klingelton für Karim. Ich erkenne ihn sofort – sie hat für jeden ihrer Freunde einen. «Damit ich nicht aufs Display gucken muss, um zu wissen, ob ich gerade Bock auf diese Person habe», so ihre Erklärung.
Daher schwillt meine Halsschlagader auch an, ohne seinen Namen auf ihrem Handy zu lesen. Wie meins liegt es griffbereit auf dem Tisch. Bevor sie es kann, lange ich danach und nehme ab: «Welchen Teil von ‹Halte dich von meiner Schwester fern› hast du nicht verstanden?»
«Anders hätte ich dich nicht ans Telefon bekommen. Es ist wichtig.» Seine Stimme klingt angespannt. Ich will es ignorieren. Kann es aber nicht.
«Du hast zehn Sekunden.»
«Es geht um Sofia.»
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Meine Finger verkrampfen sich um das Handy. «Was ist mit ihr?»
«Ich bin gerade in ihrer Unterkunft. Ihr Zimmer ist völlig verwüstet. Es sieht aus, als hätte ein Kampf stattgefunden. Ein Messer liegt am Boden – blutverschmiert. Und … von ihr fehlt jede Spur.»
Maximilian
Ich kann förmlich spüren, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht. Es rauscht wie ein Sturzbach in meinen Ohren. Linn starrt mich mit großen, fragenden Augen an, ihre Lippen bewegen sich. Aber was auch immer sie sagt, nehme ich nur als fernes Summen wahr. Wörter, die nicht zu mir durchdringen, weil ich die von Karim erst verarbeiten muss.
Sofia.
Kampf.
Messer.
Blut.
Alles in mir zieht sich zusammen. Ist das wahr?
«Max! Bist du noch dran?»
«Woher weißt du das? Wieso bist du in ihrer Unterkunft? Wenn das ein verdammter Scherz ist, dann …»
Karim unterbricht mich. «Du hast mehr als deutlich gemacht, was du von mir hältst. Abschaum hast du mich genannt, wenn ich mich recht erinnere. Aber glaubst du ernsthaft, ich würde mir das hier ausdenken, nur um deine Aufmerksamkeit zu bekommen? Ich bin hier, weil ich Sofia das Veto-Geld aus der Champagnerverkostung persönlich übergeben wollte. Und da ich wusste, dass du unterwegs bist und ich dich nicht antreffen würde, wollte ich es heute machen. Als ich hier ankam, stand die Tür einen Spalt offen. Ich hab sie aufgemacht und … dich sofort angerufen. Aber so, wie du reagierst, sollte ich vermutlich lieber mit der Polizei anstatt mit dir reden. Hier muss was Übles passiert sein, Max.»
Ich schließe die Augen, versuche, mich zu sammeln, meine Angst um Sofia so tief in mein Unterbewusstsein zu sperren, dass ich wieder klar denken kann. Nur so kann ich einen kühlen Kopf bewahren. «Nein … Es war richtig, mich anzurufen. Danke …» Mein Hals fühlt sich staubtrocken an, als ich das sage. Ich atme tief durch, kämpfe gegen die Panik an, die meine Brust zuschnürt. «Ab hier übernehme ich.»
«Wenn ich irgendetwas tun kann, dann …»
«Ich lege jetzt auf und versuche, sie zu erreichen.»
«Klar! Mach das. Ich bin da, wenn du mich brauchst … Sag Bescheid, wenn ich was tun kann. Egal was.»
Es gäbe tatsächlich etwas, das er tun könnte. Auch wenn das nach unserem Streit viel verlangt ist, weiß ich, dass er keine Sekunde zögern wird. Und für Sofia springe ich, ohne zu zögern, über meinen Schatten und bitte ihn um Hilfe. «Wenn ich sie nicht erreiche … Würdest du zu ihr nach Stockholm fahren und nachsehen, ob sie dort ist? Sie wohnt bei ihrer Oma.»
«Klar! Schick mir die Adresse. Ich kann sofort losfahren.»
«Okay.» Ich lege auf und starre aufs Display. Meine Finger zittern, also balle ich die freie Hand zur Faust. Dann wähle ich Sofias Nummer.
«Was ist los?» Linn sitzt stocksteif da. «Bitte sag, dass es ihr gut geht.» Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Hauch, doch sie durchschneidet meine Gedanken mit schmerzlicher Klarheit. Weil ich es nicht weiß.
Ich will «Ja» sagen. Ihr die Angst nehmen. Mir selbst. Stattdessen warte ich schweigend und mit einem Puls jenseits von Gut und Böse darauf, dass das Freizeichen von Sofias vertrauter Stimme abgelöst wird. Ich halte den Atem an, lausche dem Tuten. Dann noch eins. Und schließlich: die Mailbox: «Sie erreichen …»
Noch bevor die Ansage beendet ist, lege ich auf.
«Sie geht nicht dran», sage ich heiser und habe plötzlich das Gefühl, unter Wasser gedrückt zu werden, während mir allmählich die Luft ausgeht. Fahrig löse ich die obersten Knöpfe meines Hemdes, aber die Enge in meinem Brustkorb bleibt. Schraubt sich hoch bis in meine Kehle. Trotzdem zwinge ich mich weiterzusprechen, wiederhole alles, was Karim gesagt hat.
«Ich muss zu ihr, Linn. Sofort!» Meine Stimme klingt seltsam fremd, aber fest.
Linnea blinzelt. «Weißt du denn, wo sie ist?»
«Nein.» Meine Finger huschen über das Display, suchen mechanisch Sofias Adresse heraus, die ich per Copy-Paste an Karim schicke. Seine Antwort folgt unmittelbar:
Fahre los. Melde mich, wenn ich da bin.
Die Erleichterung darüber hält genau einen Atemzug lang an, ehe ich weiter auf Linns Frage eingehe. «Vielleicht ist sie bei ihrer Großmutter. Oder noch in Skønien, irgendwo im Schloss. Ich … ich weiß es nicht. Aber ich kann hier nicht sitzen und nichts tun, während sie … Das halte ich nicht aus.»
«Dann geh!» Ihre Antwort kommt sofort, ohne jede Unsicherheit. «Ich halte die Stellung. Du kannst dich auf mich verlassen. Versprochen.»
Bevor sie wegen einer Überdosis fast gestorben wäre, hätte ich keine Sekunde an ihren Worten gezweifelt. Aber Linns Versprechen sind nicht mehr das, was sie mal waren. Genauso wenig wie meine. Denn ich hatte ihr versprochen, für sie da zu sein. Meine Sorge um Linn duelliert sich mit meiner Angst um Sofia. Letztere ist akuter. «Bist du sicher?»
Fest sieht sie mir in die Augen und nickt. Entschlossenheit klärt ihren Blick, verdrängt die Panik. Sie weiß, sie muss jetzt funktionieren.
«Ich hab Mist gebaut. Aber du bist mir wichtig. Und Sofia ist dir wichtig. Ich mag sie. Also tu alles, was dabei hilft, sie zu finden. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme klar. Lass mich dir beweisen, dass du auf mich zählen kannst, okay?»
Das sind die Worte, die ich hören musste, um mit meinem Gewissen zu vereinbaren, dass ich sie zurücklasse. Ich nicke dankbar. Dann rufe ich Anouk an, die mich auf Reisen wie diesen begleitet. Nach dem ersten Freizeichen hebt sie bereits ab. Ich komme direkt zur Sache: «Ich brauche sofort einen Flug nach Hause.»
«Was ist passiert?»
«Sofias Zimmer wurde verwüstet. Sie ist verschwunden und könnte verletzt sein. Mehr weiß ich nicht. Organisiere bitte den schnellstmöglichen Flug. Ich muss wissen, was passiert ist.»
«Lass mich das übernehmen. Ich fliege zurück und kümmere mich um alles, dann kannst du hierbleiben und morgen planmäßig deine Tour starten.»
Es kostet mich meine gesamte Selbstbeherrschung, nicht laut zu werden. «Nein, Anouk. Ich fliege. Du bleibst hier und behältst Linn im Auge. Sie beginnt die Tour morgen ohne mich. Sorg einfach dafür, dass alles reibungslos läuft. Sag der Presse, dass ich … mit einer Magen-Darm-Verstimmung flachliege. Oder von mir aus vom Hotelbalkon gefallen bin. Es ist mir scheißegal, was du denen erzählst – aber ich bin raus.» So mit ihr zu reden, fühlt sich beschissen an. Aber anders hätte ich ihr nicht klarmachen können, wie verdammt ernst die Lage ist – und dass ich sie gerade auf meiner Seite brauche. Auch wenn ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich ihr noch vertrauen kann. Dass sie mich dazu bringen wollte, Sofia auszuspionieren, und ihr ohne Absprache eine Intimitätsvereinbarung gegeben hat, lässt mich an ihr zweifeln. Nur ändert es nichts daran, dass ich mit ihrer Hilfe am schnellsten nach Hause komme.
«Verstanden», sagt sie knapp. Keine Spur von Verärgerung. Nur Professionalität.
«Danke.» Ich lege auf und atme durch, während sich in meinem Kopf bereits die nächsten Entscheidungen türmen. Der Einbruch bei Sofia muss untersucht und die zuständigen Stellen aktiviert werden – diskret, aber effektiv. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, Anouk zu bitten, den Palast zu informieren. Damit das übliche Protokoll abgespult und die Suche nach Sofia beginnen kann, während ich im Flieger sitze. Doch ich weiß, wie das laufen würde. Der Rat würde sich abstimmen müssen. Man würde zögern. Die Nachricht durch fünf Hände gehen lassen, ehe überhaupt etwas passiert. Und am Ende würde irgendjemand – vermutlich Eklund – entscheiden, dass der Ruf des Palasts als Arbeitgeber und Institution wichtiger ist als Sofias Sicherheit.
Nein, diesen Fehler mache ich nicht. Ich werde selbst handeln.
Eilig verlassen Linn und ich das Séparée mit schnellen Schritten Richtung Fahrstuhl. Im Augenwinkel sehe ich Thora und Filip – sie fassen sich fast zeitgleich an das Ohr, in dem der durchsichtige Knopf steckt.
«Verstanden, Anouk.» Meine Privatsekretärin scheint in Höchstform zu sein und die Bodyguards bereits über die Reisepläne zu informieren.
Auf meinem Zimmer, der Präsidentensuite, rufe ich über das Hoteltelefon die zuständige Polizeidienststelle in Skønien an.
Filip und Thora warten vor der Tür.
Jemand hebt ab. Mein Name ist alles, was es braucht, um sofort die volle Aufmerksamkeit des Beamten zu haben. Ich fordere, mit einem Hauptkommissar zu sprechen, und schildere ihm die Lage. Sachlich und ruhig. So ruhig, wie es mein noch immer rasender Puls zulässt. Sofias Namen auszusprechen, schnürt mir beinahe die Kehle zu. Ich räuspere mich, bitte eindringlich um sofortige Untersuchung und Diskretion. Der Mann – ein Herr Lindström – verspricht, sich umgehend darum zu kümmern. Dann beende ich das Gespräch und ziehe mein Handy hervor, um nachzusehen, ob ich einen Anruf oder eine Nachricht von Sofia verpasst habe.
Nichts.
Es klopft an der Tür. Linn öffnet, und Anouk betritt den Raum mit Handgepäck in der einen und einer schmalen Ledermappe in der anderen Hand.
«Der Jet landet in dreißig Minuten. Filip fährt dich zum Flugplatz. Thora begleitet dich. Reisepass, Kreditkarten, Notfallnummern, Ladekabel, Laptop und Reisetabletten – ist alles hier drin.» Sie reicht mir die Mappe und mein Handgepäck. Dabei strahlt sie genau das aus, was ich gerade am meisten brauche: Ruhe.
Nickend nehme ich beides entgegen. «Danke, Anouk.»
«Halt mich auf dem Laufenden.»
«Uns», berichtigt Linnea.
«Sobald ich etwas weiß, melde ich mich. Versprochen.»
Zur Verabschiedung schließe ich beide nacheinander in die Arme. Meine Schwester länger und fester als Anouk.
«Alles wird gut, Maxi», flüstert Linn, und ich hoffe mehr als alles andere, dass sie recht behält.
Während sie mir über den Rücken streicht, gebe ich ihr einen Kuss aufs Haar, ehe ich mich von ihr löse. Ich wende mich zum Gehen, drehe mich an der Tür aber noch mal um, suche Anouks Blick: «Kontaktiere bitte alle Krankenhäuser in Skønien und Stockholm. Finde heraus, ob eine Sofia Larsson eingeliefert wurde. So schnell wie möglich.»
«Wird erledigt.»
Vierzig Minuten später startet der Jet. Ich spüre ein heftiges Rucken, als das Flugzeug beschleunigt. Der Druck presst mich fest in den Sitz, als würde mich eine unsichtbare Hand in die Lehne schieben. Das Heulen der Triebwerke ist ohrenbetäubend, ihr tiefes Dröhnen vibriert in meiner Brust. Mein Atem stockt, während die Startbahn unter mir zu einem grauen Streifen verschwimmt. Durch das kleine Fenster neben mir sehe ich die Lichter am Boden kleiner werden. Während wir weiter an Höhe gewinnen, sackt alles in mir in die Tiefe. Ein flaues Gefühl steigt in meinem Magen auf, dieses seltsame, vertraute Kribbeln, das nicht lange anhält. Normalerweise.
Doch heute ist etwas anders. Mein Herz hämmert schneller. Eine zunehmende Enge drückt meine Brust zusammen – Angst. Sie kriecht mir in den Nacken, lässt meine Handflächen feucht werden. Meine Fingerspitzen graben sich in das weiche Leder der Armlehne. Verdammt, dieses Gefühl kenne ich, habe gelernt, es zu bändigen und zu kontrollieren, um als Kampfschwimmer einsetzbar zu sein und meinen Verpflichtungen der Krone gegenüber nachkommen zu können. Seit der Behandlung gegen Flugangst vor ein paar Jahren gehörte es doch eigentlich der Vergangenheit an.
Wo zur Hölle kommt es plötzlich her?
Wieso heute?
Warum ausgerechnet jetzt?
Als würde meine Angst um Sofia meine Flugangst triggern, sie neu entfachen.
Ein Zittern fährt durch meine Hände. Ich taste nach meiner Sakkotasche, spüre die Kanten der Packung Reisetabletten. Ein Teil von mir will einfach eine einwerfen, die Angst dämpfen, sie betäuben. So wie früher. Doch ich weiß auch, dass sie mich schläfrig machen. Träge. Und ich brauche einen klaren Kopf. Ich lasse die Packung also los, atme tief durch.
«Ist alles in Ordnung, Eure Königliche Hoheit?» Thora sitzt nur eine Reihe hinter mir – so reglos, dass ich ihre Anwesenheit fast vergessen hätte.
Nur nichts anmerken lassen, sage ich mir, setze ein Pokerface auf und drehe mich zu ihr: «Ja, es geht mir gut, Thora.» Meinen Blick wieder nach vorn gerichtet, atme ich langsam durch den Mund ein und lasse die Luft dann behutsam durch die Nase wieder hinausströmen.
Es ist nur der Start, alles verläuft normal, sage ich mir. Das Rucken, das Drücken, dieses flaue Ziehen im Bauch – all das hört gleich auf. Sobald der Jet seine Flughöhe erreicht hat. Die Kapitänin weiß genau, was sie tut. Darauf vertrauend, presse ich meinen Kopf sanft gegen die Kopfstütze und schließe kurz die Augen. Der Schub der Triebwerke trägt uns mühelos in den Himmel. Die anfängliche Urgewalt des Starts lässt langsam nach. Tief in meinem Inneren rumort noch immer diese Unruhe. Doch ich halte sie in Schach, atme weiter ruhig ein und aus.
Mit jeder Sekunde wird die Steigung geringer, und mein Magen beruhigt sich allmählich. Noch einmal wandert mein Blick nach draußen: Unter uns liegen die Lichter der Stadt wie glitzernde Stecknadeln in schwarzer Seide. Ich löse den verkrampften Griff um die Armlehnen, Finger für Finger. Das Schlimmste ist vorbei. In meinem Brustkorb hämmert noch immer mein Herz, doch sein Takt verlangsamt sich – im Einklang mit meinem Atem. Jetzt fühle ich mich bereit. Bereit, meine Mutter zum ersten Mal in meinem Leben vor vollendete Tatsachen zu stellen. Weder ihr noch dem Palast wird gefallen, dass ich bereits im Flugzeug sitze, aber sie werden nichts dagegen unternehmen können.
Ich greife zum Bordtelefon in der Armlehne, zögere jedoch. Soll ich Mutter gleich auf ihrem Handy anrufen oder mich über ihr Sekretariat verbinden lassen? Ich will sie nicht erschrecken. Ihre private Handynummer ist nur einem kleinen Kreis bekannt – und eigentlich nur für Notfälle gedacht.
Aber diese Situation ist einer. Einen direkteren Weg, sie ans Telefon zu bekommen, gibt es nicht. Und ich will dieses Gespräch so schnell wie möglich hinter mich bringen. Also wähle ich ihre Handynummer.
Sorge liegt in ihrer Stimme, als sie nach dem vierten Freizeichen abhebt.
«Maximilian?»
«Guten Abend, Mutter. Mir und Linnea geht es gut», sage ich sofort – damit sie nicht das Schlimmste denkt.
«Das beruhigt mich nur bedingt. Du rufst nicht grundlos auf meinem Handy an.» Tatsächlich klingt sie alarmiert und angespannt.
«Ich wollte es dir selbst sagen, bevor du es von jemand anderem hörst», beginne ich ruhig, aber bestimmt. «Ich bin auf dem Weg nach Hause und bereits im Flugzeug. Es gab einen Vorfall in der Personalunterkunft. Frau Larssons Zimmer wurde verwüstet. Sie ist verschwunden. Es gibt Blutspuren. Ich habe die Polizei informiert.»
«Das wurde mir bereits mitgeteilt, Maximilian.»
Ich stocke kurz. «Von Anouk?»
«Herrn Eklund. Das Blaulicht war nicht zu übersehen.» Der unausgesprochene Vorwurf, den Palast nicht vorab informiert zu haben, klingt deutlich in ihren Worten mit.
Mir liegt eine Entschuldigung auf der Zunge, aber sie wäre nicht ernst gemeint. Also behalte ich sie für mich, während es auch am anderen Ende still bleibt. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie dasitzt, die Haltung elegant, jede Emotion unter Kontrolle.
«Du hast also eigenmächtig die Behörden eingeschaltet?», fragt sie schließlich.
«Ja. Ich habe getan, was notwendig war. Je schneller der Fall untersucht wird, desto eher gibt es Klarheit. Die Sicherheit unserer Mitarbeitenden und der Ruf des Palasts als guter Arbeitgeber haben für mich oberste Priorität, Mutter.» Worte, die ich mir zurechtgelegt habe, weil ich weiß, dass sie sie milde stimmen werden.
«Wer begleitet dich?»
«Thora. Anouk und Linnea bleiben in Barcelona. Der Presse wird mitgeteilt, dass ich erkrankt bin – es gibt keine offizielle Stellungnahme. Ich halte mich während meiner Abwesenheit im Hintergrund und bin in zwei Tagen zurück.» Hoffentlich. Ich weiß nicht, was ich tue, wenn Sofia nicht gefunden wird. Oder Schlimmeres. Ich blende den Gedanken aus, ehe er sich festsetzen kann. «Die Tour wird planmäßig fortgesetzt.»
Wieder ein Moment des Schweigens. Dann spricht sie, ihre Stimme ist weicher, aber nicht weniger kontrolliert. «Ich verstehe, dass du dich verantwortlich fühlst. Aber du musst lernen zu delegieren. Deine Anwesenheit ist nicht zwingend nötig – und sie wirft zudem Fragen auf, was deine Beziehung zu Frau Larsson betrifft.»
Mein Körper spannt sich an. Sie weiß es. Oder ahnt es zumindest. Und das ist gefährlich.
«Hast du mir in dieser Hinsicht etwas mitzuteilen, Maximilian?»
«Nein, Mutter.»
«Gut. Der Krisenstab tagt morgen Mittag. Deine Anwesenheit ist erwünscht.»
Ich werde – ich will – nicht teilnehmen. Die Worte brennen mir auf der Zunge, doch ich schlucke sie hinunter. «In Ordnung», sage ich stattdessen. Wenn sie über Sofia sprechen, sollte ich dabei sein. Nur so kann ich eingreifen, falls nötig.
Mutter wünscht mir einen guten Flug, dann verabschieden wir uns. Ich lege auf, lehne mich zurück und blicke hinaus. Draußen wechselt die Farbe des Himmels von Weiß zu einem Gemisch aus Blaugrün.
Fjordaugen.
Sofia.
Ich schließe die Lider, sehe sie vor mir und weiß zwei Dinge: Erstens – ich werde sie finden. Zweitens – Gnade der Person, die ihr etwas angetan hat.
Sofia