Brotherband - Der Klan der Skorpione - John Flanagan - E-Book

Brotherband - Der Klan der Skorpione E-Book

John Flanagan

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Beschreibung

König Duncan von Araluen hat einen wichtigen Auftrag für Hal und die Bruderschaft: Sie sollen Prinzessin Cassandra beschützen. Ein Attentat hat sie überlebt – doch der König weiß, dass die Mörderbande nicht ruhen wird, bis sie ihre schreckliche Pflicht erfüllt hat. Hal, die Bruderschaft und Waldläufer Gilan machen sich auf nach Arrida. Der Plan: Sie verfolgen den Klan der Skorpione durch die Wüste, dringen in sein Höhlenlager ein – und besiegen die Bande. Doch da erreicht sie ein weiterer dringender Hilferuf eines alten Freundes, der in einen tödlichen Kampf verstrickt ist. Wird es den Freunden gelingen, auch diese Mission zu bewältigen – bevor die Attentäter ihr königliches Opfer finden?

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Seitenzahl: 591

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© Random House Australia

DER AUTOR

John Flanagan arbeitete als Werbetexter und Drehbuchautor, bevor er das Bücherschreiben zu seinem Hauptberuf machte. Den ersten Band von »Die Chroniken von Araluen« schrieb er, um seinen 12-jährigen Sohn zum Lesen zu animieren. Die Reihe eroberte in Australien in kürzester Zeit die Bestsellerlisten. Danach konzentrierte er sich auf die Reihe »Brotherband« und plant inzwischen eine weitere Spin-off-Reihe.

Von John Flanagan ist als cbj Taschenbuch erschienen:

BROTHERBAND

Die Bruderschaft von Skandia (22381)

Der Kampf um die Smaragdmine (22382)

Die Schlacht um das Wolfsschiff (22383)

Die Sklaven von Socorro (22505)

Die Chroniken von Araluen

Die Ruinen von Gorlan (27072)

Die brennende Brücke (27073)

Der eiserne Ritter (21855)

Der Angriff der Temujai-Reiter (21065)

Der Krieger der Nacht (22066)

Die Belagerung (22222)

Der Gefangene des Wüstenvolks (22229)

Die Befreiung von Hibernia (22342)

Die Schwertkämpfer von Nihon-Ja (22375)

Die Legenden des Königreichs (22486)

Das Vermächtnis des Waldläufers (22508)

Weitere Bände in Vorbereitung.

John Flanagan

BROTHERBAND

Der Klan der Skorpione

Aus dem Englischenvon Angelika Eisold Viebig

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Erstmals als cbj Taschenbuch August 2016

© der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© John Flanagan 2014

Zuerst erschienen 2014 unter dem Titel »BROTHERBAND –Scorpion Mountain« bei Penguin Random House Australia, Sydney, Australia

Übersetzung: Angelika Eisold Viebig

Lektorat: Andreas Rode

Umschlagillustration: Jeremy Reston

Umschlaggestaltung: init Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

CK · Herstellung: wei

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-17634-1V001www.cbj-verlag.de

Für meinen Sohn Michael – noch einmal.

Teil eins

Schloss Araluen

Kapitel eins

Hoppla! Langsam, Tom, langsam, mein Alter!«

Tom war ein Ackergaul, der seine beste Zeit schon hinter sich hatte. Wie es für seine Rasse typisch war, hatte das gutmütige Tier sich in sein Schicksal als Arbeitstier ergeben und zog einen Pflug, der in der reichen Erde gleichmäßige Furchen hinterließ. Tom war nicht daran gewöhnt, mitten in der Furche angehalten zu werden, und so drehte er den zottigen Kopf, um seinen Herrn anzuschauen.

Wie sein Gaul hatte auch Devon Halder seine beste Zeit hinter sich. Der Arbeitskittel, den er trug, war mit Schlammflecken bedeckt, von denen manche schon getrocknet waren. Als man ihn an diesem Abend in der Dorfschänke fragte, weshalb genau er eigentlich angehalten und sich umgedreht hatte, konnte er es gar nicht sagen. Vielleicht hatte er das leise Knarren von Leder und Tauen gehört oder das Schlagen eines Segels im Wind.

Was immer es war, es hatte Devon veranlasst, seinen Ackergaul anzuhalten und sich zum Fluss zu drehen. Der Anblick, der sich ihm bot, versetzte ihn in Panik.

Kaum vierzig Pferdelängen entfernt segelte ein Schiff stromaufwärts.

Es handelte sich um ein Wolfsschiff, und Devon war alt genug, um sich daran zu erinnern, dass dem Anblick eines nordländischen Wolfsschiffs auf dem Fluss meist ein Überfall folgte. Unwillkürlich spannte er sämtliche Muskeln an, um loszulaufen und im nahe gelegenen Dorf Alarm zu schlagen. Doch dann entspannte er sich wieder.

Die Zeiten, in denen Nordländer die Küstenstädte und Orte am Fluss überfielen, lagen nun schon eine Weile zurück. Und außerdem schien es ihm auf den zweiten Blick gar kein richtiges Wolfsschiff zu sein.

Es sah zwar so ähnlich aus, schmal und gefährlich, hatte jedoch kein großes Rahsegel, wie man es von den Wolfsschiffen kannte. Stattdessen verfügte dieses Schiff über ein dreieckiges Segel an einem langen, gebogenen Baum.

Es war zudem noch schmaler als ein Wolfsschiff und zeigte keinen geschnitzten Wolfskopf mit gefletschten Zähnen als Galionsfigur, sondern einen Vogelkopf. Dieses Motiv wiederholte sich auf dem Segel in Form eines anmutig fliegenden Seevogels mit weit ausgebreiteten Flügeln.

Die vier runden, mit Metall verstärkten Holzschilde hingegen, die an der Steuerbordseite am Schanzkleid steckten, waren zweifellos von nordländischer Art. Devon bemerkte jedoch, dass ein fünfter Schild auf der Höhe des Steuerruders dreieckig geformt war.

Die Mannschaft, zumindest jene Männer, die er sehen konnte, waren wie Nordländer gekleidet: mit Westen aus Leder und Schaffell und geschnürten Beinkleidern. Dennoch sah er keinen der gehörnten Helme, die als Markenzeichen der nordländischen Seewölfe bekannt waren und deren Anblick in jedem ehrlichen Bauern Angst aufsteigen ließ. Stattdessen trugen die Seeleute dunkle Mützen, die sie gegen die Kälte bis über die Ohren heruntergezogen hatten.

Während der Bauer noch hinüberblickte, hob der Mann am Steuer eine Hand zum Gruß. Devon Halder schirmte die Augen ab, um den Steuermann genauer zu mustern. Er schien ihm für einen Nordländer recht schlank zu sein. Der Mann daneben sah nach Devons Meinung eher aus wie ein typischer Seewolf – stämmig, mit wildem grauem Haar, das im Wind wehte. Anstelle seiner rechten Hand hatte dieser zweite Mann einen Holzhaken.

Das ist auf jeden Fall ein Seewolf, dachte Devon. Doch auch dieser Mann hob die Hand zum Gruß. Der Bauer erwiderte den Gruß vorsichtig. Sein Misstrauen war nicht völlig erloschen. Auch wenn dieses Schiff kleiner war als andere, war es dennoch kein Handelsschiff. Es war schnell und wahrscheinlich auf einer gefährlichen Mission. Wie die Schilde entlang des Schanzkleids zeigten, bestand die Mannschaft aus Kriegern. Jetzt war das Schiff an Devon vorbeigesegelt. Er sah ihm nach, als es jetzt weiter in die Flussmitte steuerte, um die nächste Flussbiegung zu nehmen. Der Steuermann und sein Kamerad hatten die Hände wieder gesenkt und schienen das Interesse an dem ältlichen Bauern und seinem Ackergaul verloren zu haben.

»Da haben wir ihm etwas gegeben, worüber er heute Abend im Wirtshaus reden kann«, meinte Thorn mit einem Grinsen. »Wahrscheinlich das Aufregendste, was ihm widerfahren ist, seit sein Pflug einmal an einer Baumwurzel hängen geblieben ist.«

Hal hob eine Augenbraue. »Wir? Aufregend?«

Thorn nickte und kratzte sich mit seinem hölzernen Haken am Steißbein.

»Er hatte einen grauen Bart. Gewiss erinnert er sich noch an die Zeiten, als der Anblick eines nordländischen Schiffes einen Beutezug bedeutete. Ich bin überrascht, dass er bei unserem Anblick nicht losrannte, um Alarm zu schlagen.« Thorn wusste ja nicht, wie nahe der Mann daran gewesen war, genau das zu tun.

Als sie um die Flussbiegung segelten und der Bauer mit seinem Gaul außer Sicht war, stellte Voff ihre Vorderpfoten auf die Verschanzung und ließ ein lautes Bellen hören. Zufrieden, dass sie ihre Meinung über Araluen deutlich gemacht hatte, ließ sie sich wieder zurück aufs Deck fallen und streckte sich auf den Planken aus. Einige Sekunden lang beobachtete sie Hal, dann seufzte sie und schloss die Augen für ein Nickerchen.

Hal ließ seinen Blick über die bestellten Felder und die grünen Wälder streichen, die das Flussufer säumten. Es war ein einladendes Land, fand er.

»Bist du je in Araluen auf Beutezug gegangen, Thorn?«, fragte er.

Der alte Seewolf schüttelte den Kopf. »Erak zog die Küsten von Hibernia, Gallica oder Sonderland vor. Und jetzt, nachdem ich Gilan mit seinem Langbogen in Aktion gesehen habe, bin ich recht froh darüber. Vielleicht wusste Erak davon. Stell dir nur vor, wie es wäre, einem halben Dutzend Bogenschützen mit Gilans Können und Geschwindigkeit gegenüberzustehen!«

»Einer allein wäre schon schlimm genug«, stimmte Hal zu.

Einige Schritte entfernt saß Stig auf einer Rolle Tau, schärfte gedankenverloren sein bereits rasiermesserscharfes Sachsmesser und hörte ihrer Unterhaltung zu.

»Glaubt ihr, Gilan ist schon auf Schloss Araluen?«, fragte er.

Ursprünglich hatten sie vorgehabt, die Bucht von Cresthaven zur gleichen Zeit zu verlassen wie der Waldläufer, der über Land zurück zur Hauptstadt ritt. Doch sie hatten gerade erst eine lange, sehr anstrengende Reise nach Socorro hinter sich, und Hal wollte, dass die Seevogel wieder in bestem Zustand war, wenn er zum ersten Mal mit ihr nach Schloss Araluen segelte. Es gab einige Teile des Tauwerks, die ausgefranst waren und repariert werden mussten, und eine der Planken war in Höhe der Wasserlinie stark beschädigt. Das war passiert, als sie bei der Verfolgung der Nachtwolf in plötzlichen Untiefen beinahe auf Grund gelaufen waren.

Sie brauchten einen halben Tag, um diese Stelle zu reparieren und das Holz neu zu streichen, sodass von dem Schaden nichts mehr zu sehen war.

Außerdem wollte Edvin ihre Vorräte auffüllen und frische Lebensmittel an Bord nehmen. Er hatte vorgeschlagen, das in Cresthaven zu tun, da man dort vertraglich zu ihrer Versorgung verpflichtet war.

»Wir müssen doch nicht woanders Geld für etwas ausgeben, was wir hier umsonst bekommen«, hatte Edvin gesagt, und Hal hatte ihm beigepflichtet.

So kam es, dass sie, erst zwei Tage nachdem Gilan sich von ihnen verabschiedet hatte und losgeritten war, von Cresthaven abgelegt hatten.

»Eigentlich müsste Gilan schon auf Schloss Araluen eingetroffen sein«, antwortete Hal auf Stigs Frage. »Es ist ungefähr ein Tagesritt, und ich habe gehört, dass die Pferde der Waldläufer sehr schnell sind.«

»Dann konnte er ja ein Willkommenskomitee für uns organisieren«, fügte Thorn hinzu. »Vielleicht steht ihr König schon am Anlegesteg, um uns zu begrüßen.«

Hal grinste seinen alten Freund an. »Nach dem, was ich von Königen so gehört habe, stehen sie nicht unbedingt auf windigen Anlegestegen herum und warten auf die Ankunft von raubeinigen Seeleuten.«

Betrachtest du dich als raubeinigen Seemann?«, fragte Thorn. »Ich habe dich immer für vergleichsweise kultiviert gehalten.«

»Mag sein, dass ich das bin. Aber du bist raubeinig genug für uns alle«, antwortete Hal und Thorn grinste zufrieden.

»Ja, und ich bin stolz darauf!«

Weiter vorne zankten sich die Zwillinge wieder einmal, wie so oft. Zur Erleichterung der Mannschaft hatten sie vorher einige Zeit Ruhe gegeben, aber das konnte natürlich nicht allzu lange anhalten, das wäre auch zu schön gewesen.

»Erinnerst du dich an dieses Mädchen mit den braunen Augen, die beim Willkommensfest auf deinem Schoß saß?«, begann Ulf.

Wulf musterte ihn misstrauisch, bevor er antwortete. »Ja. Was ist mit ihr?«

Ulf antwortete nicht sofort, sondern bereitete sich lächelnd auf sein Streitgespräch vor. »Tja, sie hatte was für mich übrig«, sagte er.

Wulf sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sie hatte etwas für dich übrig?«

Ulf nickte nachdrücklich. »Dann hast du das auch bemerkt?«

Wulf schnaubte gereizt. »Das war eben keine Zustimmung. Ich habe nur nachgefragt. Deshalb habe ich meine Stimme am Ende des Satzes auch angehoben. Das deutete an, dass ich meinte: Wie kommst du darauf, dass sie was für dich übrighatte?«

»Tja, sie fand mich eben attraktiv … Um genau zu sein: sehr attraktiv. Das war ja schließlich nicht zu übersehen.«

Wulf schwieg einen Moment. »Wenn es so offensichtlich war, dass sie etwas für dich übrighatte und dich attraktiv fand, warum saß sie dann auf meinem Schoß?«

Ulf wedelte in einer geringschätzigen Geste mit der Hand. »Das macht es ja so offensichtlich. Sie wollte mich eifersüchtig machen, also hat sie sich an dich rangeschmissen. Sie spielte das alte Schwer-zu-kriegen-Spiel.«

»Tja, dann hat sie es gut gespielt, denn du hast sie ja nicht gekriegt«, erwiderte sein Bruder deutlich gereizt. Er hatte bemerkt, wie Ulf das Mädchen am frühen Abend bewundert hatte, und sich ihr selbst erfolgreich genähert, noch bevor sein Bruder das hatte tun können.

Lydia, die sich ein Stück weiter über die Verschanzung beugte, seufzte bei diesem Wortwechsel hörbar.

Ulf lachte. »Ich hätte sie schon bekommen, wenn ich gewollt hätte. Sie war von meinem höllisch guten Aussehen überwältigt.«

»Von deinem höllisch gutem Aussehen? Du bist so hässlich wie ein räudiger Affe«, erwiderte Wulf.

Doch sein Bruder schüttelte bereits den Kopf. »Komisch, dass gerade du so etwas sagst«, antwortete er. »Deshalb hat sie sich ja auch dich ausgesucht, um mich eifersüchtig zu machen. Sie hat sich den Hässlichsten ausgesucht, den sie finden konnte.«

»Anscheinend hat sie dich dann nicht gefunden«, gab Wulf zurück.

Was diese ganze Diskussion für die restliche Mannschaft so eigenartig machte, war, dass Ulf und Wulf sich ähnelten wie ein Ei dem anderen. Wenn einer den anderen hässlich nannte, dann beschimpfte er sich letztlich selbst. Doch daran schienen sie nicht zu denken.

Inzwischen wurden ihre anfangs noch gesenkten Stimmen immer lauter, sodass die ganze Mannschaft ihre sinnlose Zankerei mithören konnte. Hal fand, dass es nun langsam reichte.

»Ingvar?«, rief er.

Der Hüne saß an den Mast gelehnt da, die langen Beine ausgestreckt. Er drehte sich um.

»Ja, Hal?«

»Was meinst du? Würdest du sagen, dass es auch als Seefahrt gilt, wenn man einen Fluss entlangsegelt?«

Die Regeln an Bord besagten, dass Ingvar die Zwillinge über Bord werfen konnte, wenn sie auf See eine ihrer üblichen Zankereien austrugen. Manch einer aus der Mannschaft meinte sogar, Ingvar sei richtiggehend dazu verpflichtet. Meist war ein entsprechender Hinweis schon genug, um die sinnlosen Streitereien zu beenden.

Ingvar zuckte mit den Schultern. »Was? Oh, keine Ahnung. Wahrscheinlich schon.«

Er klang abgelenkt und lustlos. Lydia, die ein paar Schritte entfernt saß, bemerkte das und drehte sich stirnrunzelnd zu ihm. Hal wirkte ebenfalls verwundert. Normalerweise war Ingvar stets gut gelaunt und fröhlich. Jetzt klang er völlig gelangweilt. Hal fragte sich, was mit seinem Freund wohl los war.

Ulf und Wulf schwiegen sofort. Sie waren nie ganz sicher, wie viel Vorwarnzeit Hal ihnen zugestand, bevor er ihrem unglaublich starken Kameraden Ingvar den Befehl gab, den einen oder anderen oder sogar alle beide Zwillinge über Bord zu werfen. Insofern war Vorsicht besser als Nachsicht.

Hal bemerkte, dass die Brüder ihren Streit beendet hatten, und nickte zufrieden in Ingvars Richtung. Doch sein Freund schaute gar nicht mehr in seine Richtung. Er hatte sich wieder gegen den Mast gelehnt und Hal hörte ihn einen lauten Seufzer ausstoßen. Er blickte zu Stig, der Ingvar ebenfalls verblüfft musterte.

»Hast du bemerkt, dass Ingvar sich in den letzten Tagen ziemlich merkwürdig benommen hat?«, fragte Hal seinen Bootsmann.

Stig nickte besorgt. »Auf jeden Fall beschäftigt ihn etwas. Ich habe schon überlegt …«

Was immer er auch überlegt hatte, war vergessen, als das Schiff im gleichen Moment die steilen Klippen am Ufer hinter sich gelassen hatte. Inmitten einer gepflegten Parklandschaft tauchte das majestätische Schloss Araluen mit seinen hohen Türmen, den verschnörkelten Spitzen, den zahllosen Bogenpfeilern und den im Wind flatternden Fahnen vor ihnen auf.

»Bei Gorlogs Ohrenschmalz!«, rief Jesper aus. »Seht euch das mal an!«

Kapitel zwei

Das Schloss stand auf einer Anhöhe über dem Fluss, umgeben von freier Parklandschaft, an die sich ein schmaler Waldgürtel anschloss – natürlich gewachsene Bäume eines dunkleren, ursprünglicheren Grüns als die sorgfältig gepflanzten und angeordneten Bäume, die im Park standen.

Das Schloss selbst schimmerte golden im Sonnenlicht. Es war riesig, doch diese Größe tat der Anmut und Schönheit des Gebäudes keinen Abbruch. Es war schlicht und einfach mit nichts zu vergleichen, was die Mannschaft der Seevogel je gesehen hatte. Alle standen wie hypnotisiert da und starrten ehrfürchtig auf das Schloss.

»Es ist beeindruckend«, sagte Stefan leise, und die anderen stimmten ihm zu – alle außer Ingvar.

»Was denn? Wovon redet ihr alle?«, fragte er mit einem gereizten Unterton. Lydia drehte sich zu ihm und legte entschuldigend eine Hand auf seinen Arm.

»Es geht um das Schloss Araluen«, erklärte sie. »Es ist einfach wunderschön. Es ist wirklich riesig, aber gleichzeitig anmutig und schimmert im Sonnenlicht. Fahnen wehen auf den Türmen und …«

Sie machte überrascht einen Schritt zurück, als Ingvar ihre Hand von seinem Arm abschüttelte und verärgert in Richtung des Schlosses blickte. Für ihn waren dort nur verschwommene Umrisse zu sehen. Um genau zu sein, konnte er nicht einmal sicher sein, dass diese Umrisse überhaupt das Schloss waren.

»Schon gut. Du hast mir mehr als genug davon vorgeschwärmt«, unterbrach er sie schroff. »Es ist wunderschön. Ich sollte wohl mächtig beeindruckt sein.«

Einen Augenblick lang war Lydia zu schockiert, um zu antworten. Das Ganze sah Ingvar so gar nicht ähnlich – dem sanften, gutmütigen und hilfsbereiten Ingvar. Sie bemerkte, dass Hal ihr einen warnenden Blick zuwarf. Ob er den Grund für Ingvars neuerliche schlechte Laune ahnte?

Lydia schaute zurück zu Ingvar, der wütend auf die Landschaft starrte. Mit einiger Anstrengung schaffte sie es, ihre Stimme leicht und freundlich klingen zu lassen.

»Na klar. Vergiss, was ich gesagt habe«, sagte sie.

Ingvar schnaubte verächtlich. »Wie du meinst«, erwiderte er und ging weiter, um sich ganz allein neben die riesige, mit einer Plane bedeckte Armbrust zu stellen.

Eine unangenehme Stille breitete sich aus.

Schließlich sagte Thorn: »Ich persönlich finde dieses Schloss gar nicht so beeindruckend. Es ist schließlich nichts gegen Eraks Große Halle.«

Stig ließ ein lautes Schnauben hören. »Eraks Große Halle?«, wiederholte er. »Die ist doch im Vergleich dazu nicht mehr als ein Schuppen!«

Und damit hatte er recht. Eraks Große Halle mochte nach den Maßstäben von Hallasholm ein beeindruckendes Gebäude sein. Doch im Vergleich zu diesem unglaublichen Bauwerk war es kaum mehr als ein Blockhaus.

Thorn weigerte sich jedoch nachzugeben. »Ach, schaut euch das doch nur mal genauer an!«, widersprach er aufgebracht. »All diese Türme und Fahnen und der ganze Quatsch! Zumindest benötigt man in der Großen Halle nur einen einzigen großen Kamin.«

»Darum ist es dort auch immer zugig und rauchig«, warf Edvin ein.

»Aber stellt euch nur mal vor, wie teuer es ist, diesen komischen riesigen Steinhaufen zu heizen!«, ließ Thorn nicht locker.

Hal lächelte still vor sich hin. Thorns Einwurf hatte die Mannschaft von der unangenehmen Szene zwischen Ingvar und Lydia abgelenkt. Es war nicht das erste Mal, dass der alte einarmige Krieger in dieser Weise eine schwierige Situation rettete. Dem jungen Kapitän wurde klar, dass er hinsichtlich Mannschaftsführung noch viel von seinem alten Freund lernen konnte.

»Ich könnte mir vorstellen, dass Duncan sich die Heizkosten leisten kann«, meinte Hal lächelnd. »Er ist schließlich ein König. Könige haben normalerweise immer irgendwo eine Schatzkammer.«

»Ha!«, schnaubte Thorn. »Und all ihre Schätze haben sie natürlich ihren armen, leidenden Untertanen abgepresst.«

»Tja, du zahlst doch auch Steuern an Erak«, erinnerte ihn Stig.

Thorn warf ihm einen strafenden Blick zu. »Nicht wenn ich es vermeiden kann«, sagte er – allerdings nicht mehr ganz so lautstark.

Die Diskussion hätte noch länger so weitergehen können, doch Stefan, der den Ausguck übernommen hatte, deutete zum Ufer.

»Dort gibt es einen Anlegesteg, Hal. Und außerdem noch eine Menge Leute, die uns anscheinend begrüßen wollen.«

Hal schätzte die Entfernung zum Anlegesteg ab und blickte dann rasch zum Stander oben am Mast. Sie segelten direkt in den Wind, während sie auf den Steg zuhielten.

»Wir rudern das letzte Stück«, entschied er. Dann hob er seine Stimme leicht und rief: »Segel bergen. An die Ruder!«

Die Mannschaft beeilte sich, seinen Befehlen zu folgen. Jesper und Edvin fierten die Leinen, während die Zwillinge die Segel einholten. Die vier verstauten das Segel mit raschen Griffen und eilten dann auf ihre Plätze, um die Riemen durch die Ruderpforten zu schieben.

Stig und die anderen befanden sich bereits in Position, Stefan war von der Verschanzung heruntergesprungen und hatte sich direkt auf seine Ruderbank fallen lassen. Thorn und Lydia standen in der Nähe der Steuerplattform. Nur Ingvar blieb, wie Hal bemerkte, im Bug und starrte schlecht gelaunt auf den Fluss hinaus. Der junge Kapitän zuckte mit den Schultern. Ingvar nahm an den normalen Rudermanövern sonst auch nicht teil. Bei seiner großen Kraft bestand stets die Gefahr, dass das Schiff aus dem Gleichgewicht geriet.

»Alles vorwärts«, gab Stig das Ankündigungskommando, und die sechs Ruder hoben sich leicht.

»Und los!«, rief er, und die Ruder tauchten in die ruhige Oberfläche des Flusses. Während die Ruderer sich in die Riemen legten, spürte Hal, wie sein Schiff einen Satz nach vorn machte und das Steuerruder in seiner Hand wieder zum Leben erwachte, sodass er das Schiff zum Anlegesteg am Südufer des Flusses lenken konnte.

Wie Stefan gesagt hatte, war dort eine beträchtliche Menschenmenge versammelt – etwa hundert Leute. Eine kleine Gruppe von drei Personen, bei der es sich vermutlich um die offizielle Abordnung handelte, stand etwas abseits.

»Da ist Gilan«, sagte Lydia, als eine der Gestalten im grau-grünen Umhang nach vorne trat und grüßend eine Hand hob. Hal erwiderte die Geste.

»Bei ihm ist noch ein Waldläufer«, bemerkte Hal. Er musterte die dritte Gestalt. »Und jemand, der sehr auffällig gekleidet ist.«

Beim Näherkommen konnte Hal die Verzierungen und Juwelen auf dem Wams des dritten Mannes deutlicher erkennen – und auch den Fellkragen auf seinem roten, samtbesetzten Umhang.

»Vielleicht ist es der König«, witzelte Thorn.

Hal grinste und schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, Könige stehen meist nicht auf windigen Anlegestegen, um einfache Seeleute zu begrüßen.«

Thorn hob eine Augenbraue bei dieser Beschreibung. »Einfache Seeleute?«, wiederholte er. »Ich sehe mich selbst eher als kultivierten Weltreisenden.«

Voff, die spürte, dass ihnen besonderes Interesse zuteilwurde, erhob sich auf die Hinterbeine und legte ihre schweren Vorderpfoten auf die Verschanzung.

»Voff!«, verkündete sie. Unter der Menge am Ufer befanden sich einige Hunde, die sofort antworteten. Es ertönte ein Chor aus Hundestimmen, von hohem Kläffen bis zu tiefem Gebell.

»Sieht so aus, als hätte sie bereits Freunde gefunden.« Lydia grinste und deutete auf die Menschen am Ufer. »Was glaubt ihr, wer all die Menschen sind?«

Hal zuckte mit den Schultern. »Schaulustige«, antwortete er. »Sie wollen die Barbaren aus dem Norden sehen.« Er gestattete sich einen Blick zu Thorn. »Zusammen mit dem kultivierten Weltreisenden.«

»Kann ich ihnen nicht verdenken«, erwiderte Thorn großspurig. »Ich bin ein faszinierender Anblick für solche Stubenhocker.«

Während ihres Gesprächs hatte Hal die Entfernung und den Winkel zum Steg abgeschätzt. Jetzt rief er den Ruderern den nächsten Befehl zu.

»Achtung! Ruder halt!«

Stig und die anderen hörten sofort auf zu rudern und hoben die Ruderblätter senkrecht aus dem Wasser. Alle zugleich holten sie die Ruder ein und verstauten sie unterhalb der Bänke.

Mit dem letzten Schub lenkte Hal das Schiff seitlich, sodass es längsseits kam. Jesper ergriff die Bug- und Stefan die Heckleine. Dann sprangen sie auf den Steg, zogen das Schiff so fest gegen die Holzpfosten, dass die Fender auf der Seite ächzten, und vertäuten das Schiff.

Einen Moment lang herrschte Stille, dann machte Gilan einen Schritt nach vorn.

»Willkommen auf Schloss Araluen!«, rief er fröhlich. »Kommt doch bitte alle an Land!«

Hal und Thorn sprangen hinaus auf den Steg. Lydia und Stig folgten ihnen, dann die restliche Mannschaft.

Gilan schüttelte Hal die Hand. »Schön, dich wiederzusehen«, sagte er. Er deutete auf den reich gekleideten Mann ein paar Schritte hinter ihm. »Dies ist Lord Anthony, der Kämmerer des Königs. Lord Anthony, darf ich Euch vorstellen: Hal Mikkelson, Kapitän des diesjährigen Pflichtschiffes.«

Der Kämmerer war relativ klein und stämmig. Angesichts seines Schmucks und der prachtvollen Kleidung warf Hal rasch einen besorgten Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass Jesper außer Reichweite war und keinen Taschendiebstahl versuchen konnte. Dann schüttelte er Lord Anthonys Hand. Der Griff des Kämmerers war zwar fest, doch seine Hand war weich und zart, nicht gehärtet und voller Schwielen wie die eines Kriegers. Hal vermutete, dass Lord Anthony der Berater des Königs war. Er bemerkte auch den klugen Blick des Mannes, mit dem er die versammelte Mannschaft schnell und unauffällig musterte, um dann anerkennend zu nicken.

»Im Namen von König Duncan heiße ich Euch alle in Araluen herzlich willkommen«, verkündete der Kämmerer mit erhobener Stimme. »Solltet Ihr irgendetwas zu Eurem Wohlbefinden benötigen, so lasst es mich bitte wissen.«

»Danke … Lord Anthony.« Bei dem Titel kam Hal kurz ins Stocken. Er war sich nicht sicher, wie man sich einem Lord gegenüber verhielt. Doch er schien es richtig gemacht zu haben.

Anthony nickte lächelnd und trat zurück. »Ich werde zum Schloss zurückkehren und mich vergewissern, dass alles für Euch bereit ist«, sagte er.

Hal nickte mit einer angedeuteten Verbeugung, woraufhin der Kämmerer sich mit einer gekonnten Bewegung in seinen Umhang hüllte und den Anlegesteg verließ, um zu seinem Pferd zu gehen, das ein Stück weiter vorn angebunden war.

»Anthony ist ein wenig steif, aber ein guter Mann«, meinte Gilan leise zu Hal. »Jetzt möchte ich dir Crowley vorstellen. Er ist der Kommandant des Bundes der Waldläufer … und mein Vorgesetzter«, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

Der Oberste Waldläufer war ein wenig kleiner als Gilan, und als er die Kapuze seines Umhangs zurückschob, konnte Hal sehen, dass sein rötliches Haar und der Bart bereits von Grau durchzogen waren. Seine Augen waren blau und funkelten beinahe schelmisch. Hal fand den älteren Mann instinktiv sympathisch.

»Ihr müsst Hal sein«, sagte Crowley und trat auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln. Dann wandte er sich an Thorn. »Und Ihr könnt niemand anders sein als der gefürchtete Thorn.«

Wie beiläufig streckte er die andere Hand aus, um Thorn mit der Linken die Hand zu schütteln.

»Keine Ahnung, ob ich gefürchtet bin«, erwiderte Thorn. »Aber ich bin ein kultivierter Weltreisender.«

»Ihr seht auf jeden Fall danach aus«, antwortete Crowley glatt, und als ihm Stig vorgestellt wurde, bemerkte er sofort dessen breite Schultern und die muskulöse Gestalt. »Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr in einem Kampf ein harter Gegner seid.«

Stig grinste. »Das versuche ich zumindest.«

Crowley ging bereits weiter zu dem schlanken, hübschen Mädchen neben Stig. »Und Ihr seid zweifellos Lydia, die gefürchtete Pfeilwerferin. Unsere Prinzessin Cassandra kann es kaum erwarten, Euch kennenzulernen.«

Lydia wurde rot. Sie hatte die meiste Zeit ihres Lebens allein verbracht und war es gewohnt, ohne Begleitung auf die Jagd zu gehen. In größeren Gesellschaften fühlte sie sich nicht sonderlich wohl. Sie schüttelte Crowley die Hand und murmelte etwas wie »Freut mich, Euch kennenzulernen!«. Crowley spürte ihre Verlegenheit und lächelte sie aufmunternd an.

»Weiß gar nicht, wie Ihr mit diesem grobschlächtigen Haufen hier zurechtkommt«, sagte er.

Damit brachte er Lydia zum Lächeln.

»Ich versuche, sie im Zaum zu halten«, antwortete sie, und er gab ihre Hand frei, nachdem er sie noch einmal mit seiner anderen Hand getätschelt hatte.

Crowley ging weiter, während ihm die restliche Mannschaft vorgestellt wurde. Hal war erleichtert zu sehen, dass Ingvar sich zu ihnen gesellt hatte und seine deprimierte Stimmung überwunden zu haben schien. Crowley hob leicht die Augenbrauen bei der Größe dieses jungen Riesen, machte jedoch klugerweise keine diesbezügliche Bemerkung. Als er vor den Zwillingen stand, hob er die Augenbrauen noch höher.

»Und das sind Ulf und Wulf«, stellte Hal vor.

Crowley blickte von einem zum anderen. »Welcher ist welcher?«

»Ich bin Ulf«, sagte Wulf.

»Und ich bin Wulf«, ergänzte Ulf.

Der Oberste Waldläufer runzelte nachdenklich die Stirn. »Tja, wieso habe ich dabei nur meine Zweifel?«

Die Zwillinge waren verblüfft, dass er ihren Schwindel so schnell durchschaut hatte. Hal grinste. Es kam nicht oft vor, dass es jemandem gelang, die Zwillinge auszutricksen. Vielleicht hatte Gilan seinem Kommandanten bereits von den Eigenheiten der Zwillinge und ihren Verwechslungskomödien berichtet.

»Es ist eigentlich auch ganz egal, wer genau wer ist«, fügte er fröhlich hinzu. »Sie sind beide unverbesserliche Spaßvögel.«

Crowley nickte und deutete dann auf das Schloss hinter ihnen, das über die Wipfel der nächsten Bäume hinweg zu sehen war. »Dann bringen wir Euch mal zum Schloss. Wir haben Pferde hier, wenn Ihr reiten möchtet.«

Es gelang ihm nicht völlig, sein Lächeln bei diesem Angebot zu verbergen. Hal warf Thorn einen schnellen Blick zu, bevor er ablehnte.

»Ich denke, wir gehen lieber zu Fuß.«

Kapitel drei

Trotz seiner früheren Bemerkungen war Thorn beim Näherkommen unwillkürlich von der Größe und der Schönheit des Schlosses beeindruckt. Ihre Schritte hallten auf der Zugbrücke und auf dem Kopfsteinpflaster, als sie unter dem Fallgatter hindurchmarschierten und den großen Hof vor dem Bergfried durchquerten. Thorn reckte den Hals, um zu den hoch aufragenden Türmen zu spähen.

Lydia stieß ihn mit einem Ellbogen an. »Mach lieber den Mund zu, bevor ein Vogel sich noch eingeladen fühlt, ihn als Abtritt zu benutzen«, flüsterte sie.

Er warf ihr einen bösen Blick zu, als er merkte, dass er seinen Mund tatsächlich ein wenig geöffnet hatte. Sofort schloss er ihn und entgegnete nichts.

Manchmal gab es einfach keine ausreichend scharfsinnige Erwiderung. Lydia hatte in ihrem nie endenden beiderseitigen Scharmützel einen Punkt gewonnen.

Die beiden Waldläufer führten die Mannschaft zum massiven Bergfried und weiter direkt in die große Empfangshalle. Thorn war nicht das einzige Mitglied der Mannschaft, das sich mit großen Augen umsah und die auserlesene Möblierung und die kunstvollen Wandteppiche bewunderte.

Überall in Nischen, in polierten Holzschränken und auf kleinen Tischen standen wunderschöne und zweifellos sehr teure Kunstgegenstände. Ein riesiger Wandteppich gleich gegenüber dem Eingang zeigte eine Wildschweinjagd. Hal studierte diese Szene kritisch. Der Weber hat bei der Größe des Wildschweins wohl ein wenig übertrieben, dachte er.

Gilan bemerkte sein Interesse an dem Gobelin und sagte leise: »Es ist die Darstellung einer Jagd aus König Duncans jüngeren Tagen. Das Wildschwein wird in der Erzählung stets größer.«

Hal nickte, verlegen, dass Gilan offensichtlich seine Gedanken gelesen hatte. Um seine Verlegenheit zu verbergen, drehte er sich um und begegnete Jespers Blick. Der fingerfertige Kamerad betrachtete bewundernd die ausgestellten Kostbarkeiten.

»Lass deine Hände davon«, warnte ihn Hal.

Jesper verdrehte die Augen, hob die Hände in einer unschuldigen Geste und grinste seinen Skirl an. »Wovon?«, fragte er und gab sich betont unwissend.

»Von allem.« Hal wusste, dass Jesper nie irgendetwas von dem, was er geklaut hatte, behielt, doch die Araluaner wussten das nicht. Jespers Fingerfertigkeit war unglaublich nützlich, wenn es darum ging, in Sklavenmärkte und Kerker einzubrechen. Im reich dekorierten Palast eines Verbündeten war hingegen Zurückhaltung gefordert.

Auf der anderen Seite des Raumes entstand eine gewisse Geschäftigkeit, und Lord Anthony tauchte auf, gefolgt von Leuten, die, nach ihrem Aussehen zu urteilen, Dienstboten waren. Sie trugen Wäschestöße und saubere Handtücher.

»Noch einmal willkommen«, sagte Lord Anthony, während er auf sie zukam. Die Dienstboten folgten ihm, blieben jedoch in einer geordneten Gruppe einige Schritte hinter ihm. »Der König ist bereit, Euch«, er nickte Hal zu, »und Eure Offiziere zu empfangen. Die Dienstboten hier werden die anderen Männer zu ihren Räumen bringen.«

»Und die Dame«, ergänzte Hal und deutete mit dem Kopf auf Lydia.

Lord Anthony nickte entschuldigend. »Und die Dame, natürlich. Selbstverständlich wird sie ein Zimmer für sich allein haben.«

Er blickte auf eine Liste in seiner Hand und schnippte den Dienstboten mit den Fingern zu.

»Also gut, bringen wir die Gäste unter.« Er blickte auf Ingvar, runzelte die Stirn und drehte sich wieder zu einem der Dienstboten. »Möglicherweise benötigen wir ein größeres Bett für …« Er blickte wieder auf die Liste. »Ingvar, nehme ich an?«

Ingvar nickte. »Das bin ich.«

»Hm«, sagte Anthony und blickte mit gerunzelter Stirn auf die Liste in seinen Händen. »Mir war nicht klar, dass Ihr so groß seid. Aber keine Sorge, wir kümmern uns darum, nicht wahr, Arthur?« Der letzte Satz war an einen der Diener gerichtet.

»Aber natürlich, Mylord«, erwiderte der glatzköpfige Mann, der offenbar Arthur hieß, ernst.

Hal wurde klar, dass Gilan wohl den Kämmerer mit einer Liste der Mannschaft und einer Kurzbeschreibung zu jedem Einzelnen versehen haben musste. Da Schloss Araluen der Regierungssitz war, hielten Anthony und die Dienstboten wohl stets eine große Auswahl an Dingen für Gäste aus fremden Ländern bereit, mit einer großen Bandbreite an Größen und Formen.

Jetzt merkte er, dass Anthony zögerte und darauf wartete, dass Hal jene benannte, die mit ihm kamen, um den König kennenzulernen. »Stig und Thorn, ihr kommt mit mir«, verkündete er daraufhin.

Anthony nickte und wies die wartenden Dienstboten an, den Rest der Mannschaft zu einer Wendeltreppe an der Ostseite der Eingangshalle zu bringen.

Hal drehte sich zu Gilan und Crowley und deutete mit dem Daumen in Richtung seiner verschwindenden Mannschaft. »Ich nehme an, wir sehen sie wieder?«

Crowley nickte sofort. »Arthur hat jetzt schon seit fast einer Woche keine Gäste mehr verloren«, sagte er und seine Augen funkelten vor Schalk. Er deutete eine leichte Verbeugung an und wies dann auf eine ähnliche Treppe auf der Westseite. »Wollen wir?«

Die fünf durchquerten die Halle. Die Fellstiefel der Nordländer machten praktisch kein Geräusch auf den harten Fliesen, und Hal bemerkte, dass auch die Waldläufer Stiefel mit weichen Sohlen trugen. Ihre Schritte waren ebenfalls nicht zu vernehmen. Die steinernen Treppenstufen waren in der Mitte, wo man normalerweise ging, schon leicht abgenutzt.

»Die königlichen Gemächer und die Amtsräume befinden sich im dritten Stock«, erklärte Crowley ihnen. »Eure Räume sind im fünften Stock.«

»Hört sich gemütlich an«, meinte Thorn.

Sie erreichten den Treppenabsatz und stiegen gleich weiter zum nächsten Stockwerk. Dieses war nicht ganz so reich ausgestattet. Die Treppe war zudem schmaler.

Hal nahm am Rande wahr, dass die Treppe sich nach rechts drehte, wie es allgemein üblich war. Ein Verteidiger auf der Treppe brauchte dadurch nur seinen rechten Arm und die Schulter gegenüber einem Angreifer von unten entblößen, wohingegen ein Angreifer seinen ganzen Körper entblößen musste, um seine rechte Hand und damit seine Waffenhand zu benutzen.

Naheliegend wäre es da natürlich, ging es Hal durch den Kopf, über eine Armee von linkshändigen Schwertkämpfern zu verfügen. Soweit er wusste, hatte niemand je versucht, eine solche Truppe zusammenzustellen.

Nun hatten sie die nächste Etage erreicht. Hier erstreckten sich Korridore nach links und rechts. Die Wand gegenüber der Treppe war aus blankem Stein, doch Hal hätte wetten mögen, dass sich dahinter ein verborgener Gang mit Beobachtungspunkten befand, sodass ein Wachposten die Möglichkeit hatte, zu sehen, wer die Treppe heraufkam.

Crowley deutete auf die Tür zur Rechten. »Hier entlang.«

Sie passierten einige Türen – schwere Holztüren ohne jegliche Verzierung, doch mit soliden Messingbeschlägen. Schließlich blieb Crowley vor einer Tür stehen, die sich von den anderen nicht zu unterscheiden schien, und klopfte mit den Fingerknöcheln ans Paneel. Von drinnen hörten sie gedämpft eine Stimme.

»Herein.«

Die Tür war offensichtlich schwer und durch Messingbeschläge verstärkt. Dennoch schwang sie glatt und geräuschlos auf, als Crowley den runden Knauf drehte und die Tür nach außen aufzog.

Dass die Tür nach außen aufging, war ein kleines, aber wichtiges Detail: Ein Angreifer konnte die Tür nicht gewaltsam mit einem schweren Holzbalken rammen und aufstoßen, zumal sie sich über einem soliden Steinrahmen schloss, der sie auf drei Seiten stützte. All dies stellte der aufmerksame Hal insgeheim fest. Es nötigte ihm Bewunderung ab, wie hier die Verteidigungsmaßnahmen bis ins kleinste Detail durchdacht waren.

Crowley bat sie hinein und folgte ihnen unmittelbar nach.

»Euer Majestät«, sagte er , »wenn ich Euch vorstellen darf: Hal Mikkelson, Stig Olafson und Thorn …« Er zögerte und drehte sich zu Thorn, wobei er mit gesenkter Stimme fragte: »Ich glaube, ich habe Euren Nachnamen nicht gehört?«

Thorn grinste verwegen. »Hakenhand«, sagte er.

Crowley wollte den Namen schon wiederholen, dann kam es ihm aber doch zu merkwürdig vor. Stattdessen machte er daraus: »Und Thorn der Mächtige.«

Thorn wiegte den Kopf. »Ich ziehe Hakenhand vor«, murmelte er, »klingt weniger angeberisch.«

»Meine Herren«, fuhr Crowley fort und übertönte ihn einfach, »Seine Majestät, König Duncan von Araluen.«

König Duncan erhob sich hinter seinem Schreibtisch, wo er eben noch Papiere durchgesehen hatte.

Hal war von seiner Erscheinung beeindruckt. Der König war groß und breitschultrig, und auch wenn sein blondes Haar bereits einige graue Strähnen aufwies, war sein Gesicht immer noch jugendlich. Er bewegte sich geschmeidig und athletisch zugleich. Im Gegensatz zu seinem Kämmerer war dieser Mann ein Krieger.

Die drei Nordländer traten nach vorn und blieben vor dem Tisch stehen. Duncan betrachtete sie gelassen und unterdrückte ein Lächeln. Der Umgang mit Nordländern war ihm nicht fremd. Bei einigen Gelegenheiten hatte er bereits Erak getroffen, sodass er sich wohl bewusst war, dass die Nordländer kein Verständnis für ererbte Titel hatten und eher einer freiheitlichen Vorstellung von Gleichheit anhingen.

»Seid gegrüßt, meine Herren«, sagte er mit tiefer und wohlklingender Stimme. »Es ist mir eine Freude, weitere unserer Verbündeten kennenzulernen.«

Keiner der drei wusste recht, wie darauf zu antworten war. Sie murmelten alle etwas Unverständliches, und das schien auch zu genügen.

»Man sagte mir, dass Ihr meinem Königreich einen großen Dienst erwiesen und ein Dutzend meiner Untertanen aus der Gefangenschaft von Sklavenhändlern in Socorro gerettet habt«, fuhr Duncan an Hal gerichtet fort. Der junge Skirl bewegte sich leicht verlegen unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er wusste immer noch nicht, wie er den König ansprechen sollte. Es war gut und schön für Thorn, unbekümmert anzukündigen, ihn einfach nur mit »König« ansprechen zu wollen. Doch jetzt, in seiner Gegenwart, war Hal sich nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war. Diesen imposanten Mann ihnen gegenüber umgab zweifellos eine gewisse Aura von Autorität und Befehlsgewalt. Und genau dies schien auch mehr Respekt als die einfache Anrede »König« zu erfordern. Er entschloss sich für einen Kompromiss.

»Das war nicht allein mein Verdienst, König Duncan. Stig und Thorn hier haben die Gefängniswärter außer Gefecht gesetzt.«

Duncan musterte die beiden muskulösen Kameraden von Hal – einer groß, schlank und breitschultrig, der andere ebenfalls groß, aber schwerer und viel breiter gebaut. Sein Blick huschte über den hölzernen Haken an Thorns rechtem Arm. Gilan hatte ihm von der verlorenen Hand des alten Seewolfs und den verschiedenen genialen Hilfsvorrichtungen erzählt, die Hal sich dafür hatte einfallen lassen.

»Ich kann mir gut vorstellen, dass sie hilfreich waren«, sagte er mit einem Lächeln.

Thorn erwiderte das Lächeln mit einem breiten, lockeren Grinsen. »Euer Waldläufer Gilan hat auch Hand angelegt, König«, sagte er locker.

Duncan blickte zu Gilan, der keine Miene verzog »Ja. Er ist ein recht fähiger Mann.« Der König blickte wieder in Thorns offenes Gesicht. Immer noch spielte der Hauch eines Lächelns um die Mundwinkel, dabei runzelte er nachdenklich die Stirn. »Ich habe Euren Oberjarl Erak bei verschiedenen Gelegenheiten getroffen«, sagte er. »Ihr erinnert mich an ihn.«

Thorn zuckte mit den Schultern. »Nun, ich war auch in seiner Schiffsmannschaft. Um genau zu sein, war ich zu einer gewissen Zeit sogar seine rechte Hand.«

»Und was ist geschehen, um das zu ändern?«, fragte Duncan, der eine Pointe witterte.

»Er hat mir die rechte Hand abgehackt«, erklärte Thorn, höchst erfreut, dass der König seinen Köder geschluckt hatte.

Crowley und Gilan lachten beide. Duncan legte den Kopf zur Seite und musterte Thorn einige Momente, ohne das Gesicht zu verziehen.

»Thorn, wir stehen vor dem König«, warnte Hal ihn. Thorn sah ihn mit großen Augen unschuldig an.

»Nur ein Scherz, Hal« sagte er. »Ich bin sicher, der König hier versteht, einen Scherz zu nehmen.«

Duncan lächelte schließlich. »Könnte ich das nicht, hätte ich niemals König werden dürfen.« Er deutete auf einen niedrigen Tisch in der Nähe des Kamins, um den einige bequem aussehende Lehnstühle standen.

»Aber jetzt wollen wir uns setzen und zur Sache kommen.«

Kapitel vier

Lydia hatte einige Zeit damit verbracht, sich ihr Zimmer genau anzusehen. Das Wort »Zimmer« traf es eigentlich nicht, es waren schon eher Gemächer, die ihr zugeteilt worden waren. Da war ein großer, luftiger und komfortabel möblierter Wohnraum mit einem Kamin und einem breiten zweiflügligen Fenster, von dem aus man die Schlossmauer und die Wehrgänge überblicken und bis in den grünen Park dahinter sehen konnte.

Dazu gab es ein riesiges Schlafzimmer, in dem ein Himmelbett stand, an dem Samtvorhänge angebracht waren, mit denen man die kalte Zugluft abhalten konnte – und in einem Schloss wie diesem gab es immer kalte Zugluft. Ein kleiner Abtritt mit Toilette ging diskret vom Schlafzimmer ab.

Lydia hatte bereits ihre Sachen ausgepackt und ihre wenigen Kleidungsstücke in den riesigen Schrank gehängt. Ihre Wurfschleuder und ihren Köcher hatte sie an ein Gestell gehängt, das anscheinend ursprünglich als Hutständer gedacht war. Ihren breiten Ledergürtel, an dem sich die Scheide für ihren langen Dolch befand, legte sie im Augenblick jedoch noch nicht ab. Es gab einige Lehnstühle, und sie probierte jeden einzelnen aus, bis sie schließlich den bequemsten wählte – einen mit schönen Schnitzereien, auf dem dicke, weiche Polster lockten. Sie lehnte sich darin zurück, legte ihre Füße, die immer noch in den Stiefeln steckten, auf das Fensterbrett und lächelte zufrieden.

Das Gemach war so groß wie das ganze Haus in Limmat, wo sie mit ihrem Großvater aufgewachsen war. Bei dem Gedanken an ihn schwand ihr Lächeln. Er war getötet worden, als Zavac mit seinen Piraten die Stadt überfallen hatte. In Augenblicken wie diesem, wenn sie allein war, vermisste sie seine ruhige Gegenwart und seinen gutmütigen Sinn für Humor. Mit einiger Anstrengung schüttelte sie die Traurigkeit ab.

»Hör auf, dich zu bemitleiden«, sagte sie halblaut zu sich selbst. »Du hast genug, wofür du dankbar sein kannst.«

Und so war es schließlich auch. Sie war immer gern draußen unterwegs gewesen, hatte die Jagd, das Spurenlesen und das Abenteuer geliebt. Jetzt, als Mitglied der Mannschaft der Seevogel, erlebte sie genug davon. Außerdem hatte sie eine ganze Mannschaft mit guten Freunden um sich. Sie wusste, dass sie als Mitglied der Bruderschaft geschätzt und akzeptiert wurde. Bei diesem Gedanken lächelte sie unwillkürlich.

Ich bin wohl eine Schwester der Bruderschaft, überlegte sie.

Es war, als hätte sie plötzlich acht ältere Brüder bekommen, die sich alle um sie kümmern wollten – besonders Ingvar. Bei diesem Gedanken schwand ihr Lächeln erneut. Irgendetwas bedrückte Ingvar. Es hatte angefangen, bald nachdem sie aus Socorro entkommen und nach Norden gesegelt waren, meinte sie sich zu erinnern. Er hatte sich zurückgezogen und war griesgrämig und mürrisch geworden. Bei der Siegesfeier, als sie die Sklaven in ihr Dorf zurückgebracht hatten, hatte er sich abseits gehalten und sich nicht wirklich an der Feier beteiligt.

Ingvars schlechte Laune heute Vormittag, als sie Schloss Araluen gesichtet hatten, hatte sie alle überrascht. Lydia spürte aber, dass jetzt nicht die richtige Zeit war, mit ihm darüber zu reden. Sie musste sich gedulden, bis eine geeignete Gelegenheit käme. Ingvar war ein zu guter Freund, als dass sie nicht versuchen wollte, ihm zu helfen – welche Sorgen auch immer ihn bedrücken mochten.

Bei den Gedanken an ihre guten Freunde dachte sie natürlich insbesondere an Stig und Hal. Obwohl sie mit der ganzen Mannschaft befreundet war, waren die beiden etwas Besonderes – auch wenn Lydia nicht ganz klar war, wie besonders. Beide jungen Männer waren attraktiv, jeder auf seine eigene Weise. Und Stig, das wusste sie, wäre sofort zu einer engeren Beziehung bereit.

Was Hal betraf, so war sie sich da nicht ganz sicher. Manchmal hatte sie das Gefühl, es gäbe ein besonderes Band zwischen ihnen. Bei anderen Gelegenheiten wirkte er auf sie eher unentschieden.

Vielleicht liegt es daran, dass er der Skirl ist, überlegte sie.

Als Schiffskapitän musste Hal wohl ein wenig Abstand zur Mannschaft halten. Natürlich war er ihr Freund, aber er war auch der Kommandant und musste aufpassen, dass die Freundschaft nicht seine Autorität untergrub. Als ihr Kapitän musste er sicher sein, dass seine Mannschaft sofort jedem seiner Befehle ohne Diskussion gehorchte.

Lydia war klar, dass dies auch der Grund war, weshalb Thorn eine so wichtige Rolle für seinen jungen Skirl spielte. Der alte Krieger stellte sich notfalls zwischen Hal und die Mannschaft. Mit feinem Gespür gelang es ihm immer wieder, sie von ihren Problemen oder Sorgen abzulenken. Genau das hatte er unmittelbar vor ihrer Schlacht mit Zavacs Piratenschiff vor Raguza getan, als er seinen alten Wikingerhelm ins Meer geworfen und stattdessen die schwarze Wollmütze aufgesetzt hatte. Nun war die ganze Mannschaft mit solchen Wollmützen ausgestattet – das war ihr Erkennungszeichen. Und heute hatte er die Mannschaft von Ingvars merkwürdigem Wutausbruch abgelenkt. Lydia bewunderte den alten Krieger für seine Kampfkunst und seine Fähigkeiten, die Mannschaft im Griff zu haben. Sie wünschte nur, er würde aufhören, sie ständig aufzuziehen.

Es klopfte an der Tür.

»Wer kann das sein?«, fragte sie sich halblaut. In den langen Stunden, in denen sie bei der Jagd allein im Wald war, hatte sie sich angewöhnt, Selbstgespräche zu führen. Gelegentlich beantwortete sie sich auch selbst ihre Fragen – genau wie jetzt.

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Die Tür zu öffnen und nachzusehen«, murmelte sie.

Sie erwartete, dass jemand aus der Mannschaft vor ihrer Tür stand. Schließlich kannte sie ja sonst niemanden in Araluen. So war sie ziemlich verblüfft, als sie die Tür öffnete und eine junge Frau davor stand, die sie anlächelte. Sie war wohl einige Jahre älter als Lydia, relativ klein und sehr hübsch, mit schulterlangem, glänzend blondem Haar.

Ihre Kleidung lieferte keinen Hinweis auf ihren Rang. Sie war weder wie ein Dienstmädchen noch wie eine Hofdame gekleidet. Stattdessen war ihre Kleidung der von Lydia sehr ähnlich – ein weißes Hemd und darüber ein weiches, ärmelloses Lederwams, das bis zu den Oberschenkeln reichte, dazu enge Beinkleider und kniehohe braune Lederstiefel. Das Wams war um die Taille gegurtet. Überrascht sah Lydia, dass die Frau links am Gürtel ein Sachsmesser trug.

»Darf ich hereinkommen?«, fragte sie. »Ich konnte es kaum erwarten, Euch kennenzulernen.«

Lydia trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Handbewegung. Sie meinte zu ahnen, wer ihre unerwartete Besucherin war. Die nächsten Worte der Frau bestätigten das, als sie ihr die Hand zum Gruß entgegenstreckte.

»Mein Name ist Cassandra«, stellte sie sich vor. »Ich bin die Prinzessin in diesem alten Gemäuer. Ihr müsst Lydia sein?«

ENDE DER LESEPROBE