Bruch: Ein dunkler Ort - Frank Goldammer - E-Book
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Bruch: Ein dunkler Ort E-Book

Frank Goldammer

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Beschreibung

Spannend, beklemmend, einzigartig – der Bestsellerautor Frank Goldammer schreibt eine Ermittlerfigur, die es im deutschen Krimi so noch nicht gab. Ein Stadtteil am Rande Dresdens ist in Aufruhr: Ein zwölfjähriges Mädchen ist spurlos verschwunden. Felix Bruch wird mit der neuen Ermittlerin Nicole Schauer auf diesen Fall angesetzt. Schauer merkt schnell, dass Bruch ein Einzelgänger ist, kein Wunder, denn er legt scheinbar keinen Wert darauf, von anderen gemocht zu werden. Schauer plant eh schon wieder ihre Versetzung, sie versucht, nicht gekränkt zu sein. Die Ermittlungen laufen schleppend an. Ihre einzige Spur: Vor zwei Jahren verschwand bereits ein Mädchen aus derselben Nachbarschaft – und kehrte nach zwei Wochen nahezu unversehrt zurück. Bis heute weiß niemand, was damals geschah, und das Kind schweigt weiterhin. Zunehmend irritiert sie Bruchs Verhalten, er ist wortkarg, empathielos, unzuverlässig. Er verfolgt Spuren, die nur für ihn Sinn ergeben. Sie erfährt, dass Bruch den Unfalltod seines Kollegen zu verkraften hat, aber sie vermutet, dass hinter seinem eigentümlichen Verhalten noch etwas anderes steckt als Schock und Trauer. Sie beobachtet, wie er Tabletten nimmt, und erlebt, was geschieht, wenn er das nicht tut. Bruch lebt zwischen den Extremen. Jugendliche aus der Gegend scheinen mehr über Celinas Verschwinden zu wissen, nach und nach verdichten sich die Hinweise, dass ein alter, verfallener Dreiseitenhof in der Nähe des Wohnortes eine Rolle spielt. Doch den Ermittlern fehlt weiter eine heiße Spur – und Schauer muss sich auf Bruchs ungewöhnliche Ermittlungsmethoden einlassen. Bruch bringt sie an ihre Grenzen, und zunehmend wird deutlich, was mit ihm passiert …

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Seitenzahl: 510

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Frank Goldammer

Bruch

Ein dunkler Ort

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

In einem Dresdner Vorort wird ein Mädchen vermisst. Die einzige Spur führt zwei Jahre zurück, denn damals verschwand ebenfalls ein Mädchen aus derselben Nachbarschaft. Sie tauchte nach zwei Wochen wieder auf. Bis heute weiß niemand, was damals geschah. Sie schweigt.

Der Ermittler Felix Bruch wird gemeinsam mit der neuen Kollegin Nicole Schauer auf den Fall angesetzt. Schauer merkt schnell, dass Bruch anders ist – ein Einzelgänger, wortkarg, unempathisch. Sie erfährt, dass er den Unfalltod seines Kollegen zu verkraften hat, vermutet aber, dass hinter seinem eigentümlichen Verhalten etwas anderes steckt als Trauer und Schock. Schauer beobachtet, wie er Tabletten nimmt, und erlebt, was geschieht, wenn er das nicht rechtzeitig tut. Bruch lebt zwischen den Extremen.

Die Suche nach dem Kind verläuft erfolglos, und Schauer muss sich auf Bruchs ungewöhnliche Ermittlungsmethoden einlassen. Diese bringen sie an ihre Grenzen, und sie zweifelt zunehmend daran, ob sie Bruch vertrauen kann.

Vita

Frank Goldammer, 1975 in Dresden geboren, ist Handwerksmeister und kam, neben seinem Beruf, schon früh zum Schreiben. Mit seinen Büchern landet er regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Der Autor lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Andy & Michelle Kerry/Trevillion Images; iStock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01045-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

1

Hauptkommissarin Nicole Schauer sah sich im Büro ihres neuen Chefs um. Es sah aus wie jedes andere, freudlos, graue Möbel. Doch immerhin standen hier ein paar Pflanzen, die ganz gepflegt aussahen. Sie wollte dem stiernackigen Typen ihr gegenüber einfach mal zutrauen, dass er es selbst war, der sich um das Grünzeug kümmerte.

Karsten Simon, seines Zeichens Erster Hauptkommissar der Dresdner Kripo, war ein bulliger, kahlköpfiger Mann mit leicht gequältem Gesichtsausdruck. Ob er wirklich litt oder sich damit nur Arbeit vom Hals hielt, musste sie noch herausfinden. Schauer hoffte, sie würde sowieso nicht lang hierbleiben. Das Ganze hier war nämlich ein einziges großes Missverständnis.

Ein bisschen peinlich war die Situation schon, sich so gegenüberzusitzen, nichts gesagt zu haben, außer einigen ersten Begrüßungsfloskeln. Lange saßen sie noch nicht hier. Die Uhr auf Simons Schreibtisch zeigte vier Minuten nach neun. Pünktlich um neun war sie wie bestellt erschienen. Sie war gespannt, wie lange sie noch warten sollte. Das einzige Geräusch im Moment war der Novemberregen, der gegen die Fensterscheiben prasselte. Endlich regte sich Simon. Er griff zum Telefon, wählte eine Durchwahl, ließ es klingeln, gab nach wenigen Sekunden auf.

«Nun, Felix kommt wohl nicht», sagte er.

Schauer hob die Augenbrauen. Ihr neuer Kollege, Felix Bruch, hatte beschlossen, einfach nicht zum Termin zu erscheinen, ging offenbar auch nicht ans Telefon, und sein Chef nahm das so hin? Felix, der vom Glück Begünstigte. Super Zustände, dachte sie sich. Nicole übrigens kam von Nike, wusste sie, seit sie zehn oder elf war, altgriechisch für Sieg. Super Witz.

«Ich möchte Sie jedenfalls noch einmal im Namen aller willkommen heißen. Vielleicht gelingt es Ihnen mit Ihren Erfahrungen, ein wenig frischen Wind in unser Team zu bringen.»

Ganz bestimmt nicht, höchstens ein paar Wochen. Schauer nickte freundlich und lächelte. «Darf ich mal fragen, weshalb Hauptkommissar Bruch nicht erscheint?» Sie hatte sich angewöhnt, Dinge gleich anzusprechen, ehe sie sich zu Problemen entwickelten.

Simon lächelte unglücklich. «Felix ist ein wenig … eigen.»

«Eigen? Wenn Sie ihn bestellt haben, sollte er doch zum Termin erscheinen.»

Simon wiegte den Kopf. «Ich habe ihn ja nicht wirklich bestellt, es war eher eine Bitte.» Er seufzte. «Sie müssen wissen, er hatte es in letzter Zeit nicht leicht. Vor Kurzem erst hat er bei einem Unfall seinen langjährigen Kollegen und Freund verloren.» Simon deutete auf eine Pinnwand, an der ein schwarz gerahmtes Foto hing. Hübscher Kerl, der Tote, grinste, als wäre er high.

Eine Bitte, dachte sich Schauer. Toll, ganz, ganz toll. Sie presste einen Moment lang den Kiefer zusammen. Konnte sich Simon nicht durchsetzen, dass er seine Untergebenen nur bitten konnte, in sein Büro kommen, oder hatte Bruch einen solchen Sonderstatus, dass er sich das erlauben konnte?

«Michael Bartko hat den Wagen selbst gefahren. Felix war Beifahrer. Er wurde aus dem Wagen geschleudert. Bartko hatte keine …» Simon schloss den Mund. Es ging ihm nahe, sah Schauer und wollte es dabei belassen. Aber eines fragte sie sich dann doch.

«Und Hauptkommissar Bruch ist jetzt bereits wieder dienstfähig?»

«Natürlich», sagte Simon etwas ungehalten. «Sonst wäre er ja nicht hier.»

«Er ist ja aber gar nicht hier!»

«Ich meine, im Gebäude. Im Dienst», beeilte sich Simon zu konkretisieren und sprach dann schnell weiter. «Jedenfalls hätte ich Sie gern einmal herumgeführt, um Ihnen alle vorzustellen, und ich hätte Ihnen auch gern ein wenig Zeit gelassen, sich einzugewöhnen, doch die Umstände zwingen mich, das vorerst zu verschieben.» Simon beugte sich vor und schob ihr eine Aktenmappe entgegen. Schauer nahm sie, sah vorerst nicht hinein. «Ein Kind ist verschwunden. Ein Mädchen. Es gilt größte Eile. Was Sie wissen müssen, steht alles hier drin.»

Ihr war, als wollte er noch etwas sagen. Seltsam, dieser Simon, dachte sie. Ein Bär von einem Mann, sah aus wie einer, dem man nachts im Dunklen nicht begegnen mochte, und mit seinen circa fünfzig sollte ihm doch keiner mehr etwas vormachen können. Trotzdem druckste er hier herum.

«Das ist doch aber hier die Mordkommission, wieso betreuen wir den Fall?»

«Aus Kapazitätsgründen.»

«Ah.» Schauer hob das Kinn, damit war ja alles geklärt.

Simon sah das auch so. «Sie werden sehen, Bruch hat so seine Art. Aber er ist ein guter Kerl. Ein guter Ermittler. Hat es nicht leicht. Hatte es noch nie.» Er schien ergriffen.

Ich auch nicht, dachte Schauer und setzte sich gerade hin. Und was sollte das heißen, seine Art?

Schauer erhob sich. Sie wollte das hier beenden, ehe Simon noch in Tränen der Rührung ausbrach. «Dann will ich mal!», sagte sie.

Simon sprang auf, reichte ihr die Hand über den Tisch. «Auf gute Zusammenarbeit, die anderen Kollegen werden Sie im Laufe der Woche noch kennenlernen. Ihr Büro finden Sie den Gang hinunter, ganz am Ende.»

 

Als sie Simons Büro verließ, wusste sie nicht, was sie von alledem halten sollte. Menschen neigen ja dazu, entweder zu unter- oder zu übertreiben. Wenn Simon sich schon gezwungen sah, sie auf die Verhaltensweisen ihres neuen Kollegen hinzuweisen, was mochte das dann bedeuten? Sie hatte bestimmt keine Lust, Kindermädchen für irgendeinen unzuverlässigen Typen zu spielen. Das konnten die sich abschminken. Sie würde sich nichts gefallen lassen. Das hatte sie sich fest vorgenommen. So viel war in letzter Zeit schiefgelaufen, dass sie sich weigerte, auch nur eine zusätzliche schlechte Nachricht zu akzeptieren.

Ihre Tasche geschultert, die Akte in der Rechten, lief sie den Gang hinab, passierte eine Reihe geschlossener Bürotüren. Nur eine auf dem halben Weg stand offen, die Küche. Ein Mann kam in diesem Moment heraus, balancierte eine volle Tasse auf einem Unterteller. Er war gerade so groß wie sie, eins siebzig, Bauchansatz, kurze Haare, mochte etwa um die fünfzig Jahre alt sein. Er hatte O-Beine wie einer, der seit frühester Jugend Fußball spielte. War das Bruch?

«Morschn», sagte er zuerst nur, blieb dann aber doch stehen, als er das neue Gesicht wahrnahm.

«Sie sind wohl die neue Kollegin?», fragte er freundlich. «Buchholz, Ralf», stellte er sich vor.

«Nicole Schauer, ja, ich bin die Neue.»

«Und Sie arbeiten jetzt mit …» Er sprach es gar nicht aus, deutete nur auf die entsprechende Tür.

Sie nickte.

«Na, dann viel Glück. Wir sehen uns.» Buchholz hob die Augenbrauen und ging zurück in sein Büro.

Ganz toll, dachte Schauer, wirklich ganz toll.

2

Felix Bruch saß in seinem Büro und starrte auf den dunklen Bildschirm seines Computers. Er hatte kein Licht eingeschaltet, und die Lamellen vor dem Fenster waren vom Abend des gestrigen Tages noch geschlossen. Es konnte noch nicht lang sein, dass er in der Dunkelheit saß, ins Leere starrte, während es draußen in Strömen goss. Das Telefon begann zu vibrieren. Er ignorierte es. Nach kurzer Zeit gab der Anrufer auf.

Er dachte an nichts. Buchstäblich nichts. Unmöglich, nur einen Gedanken festzuhalten, ihn weiter zu denken. Jemand hatte ihn angesprochen, vorhin auf dem Gang. Und dann hatte er hier im Büro ein Telefonat geführt. Weshalb, daran konnte er sich gerade nicht erinnern. Versuchte es auch gar nicht, denn vielleicht war es das, was diese graue Leere in ihm ausgelöst hatte. Das oder der Regen.

Es regnete inzwischen seit drei oder vier Tagen. Die Wolkendecke war in der ganzen Zeit nicht einmal aufgerissen, kein einziger Sonnenstrahl drang hindurch. Als hätte jemand die Stadt mit einem dunklen Tuch abgedeckt, wie man einen Vogelkäfig am Abend zudeckte. Längst waren die Rasenflächen übersättigt, die Pfützen auf den Straßen riesig. Fuhr draußen vor dem Präsidium ein Auto vorbei, hörte es sich an, als zerrisse jemand genüsslich eine Zeitung. Das tat ihm nicht gut, wusste Bruch.

Schritte näherten sich, verzögerten. Er sah auf, schob sich in seinem Stuhl zurecht. Beinahe verwundert nahm er die Pistole in seiner Hand wahr. Er konnte sich nicht erinnern, aus welchem Grund er sie aus dem Holster genommen hatte. Als es klopfte, wusste er nicht sogleich, wohin mit ihr. Zu träge für hektische Bewegungen, legte sie einfach auf den Tisch.

Schon öffnete sich die Tür, einen Spalt erst nur, dann ganz, ein schmaler Streifen Licht fiel vom Gang in den Raum.

«Das ist aber düster hier», sagte die Frau. Schmal sah sie aus, ihre Haare waren ganz kurz.

«Der Lichtschalter ist neben der Tür», antwortete Bruch. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er heute eine neue Kollegin bekommen sollte. In Simons Büro hätten sie bekannt gemacht werden sollen.

Die Frau langte nach dem Schalter. Als sämtliche Deckenbeleuchtung anging, verengte Bruch die Augen zu Schlitzen.

«Was machen Sie denn hier im Dunkeln?», fragte sie.

Ihr Haar war schwarz gefärbt. Das stand ihr nicht. Bruch antwortete nicht. Nicht weil er nicht wollte, er wusste keine Antwort auf ihre Frage. Beziehungsweise keine, die sie etwas anging.

«Wir hatten um neun einen Termin bei Karsten Simon!», sagte die Frau, dabei sah sie sich um, suchte wohl eine Ablage für die Mappe in ihrer Hand.

Ihr Haar war noch nass, ebenso die Schultern ihrer Jacke. Kam nicht von hier. Ihre Art zu sprechen verriet sie als eine aus dem Norden.

«Na, wie dem auch sei», sagte sie nun. «Schauer. Hauptkommissarin. Nicole. Neue Kollegin. Aus Hamburg ursprünglich. Wir sind jetzt ein Team.» Sie sprach es aus, als wäre es ein Witz.

Bruch sah sie nur an. Er wollte ihr gern erklären, dass er ihr in diesem Moment kaum folgen konnte, es war, als wäre er im Nebel. Als liefe er durch Zeitlupenmorast. Er musste erst einmal ankommen in dieser neuen Situation.

Wieder wartete sie auf seine Erwiderung. «Ist das dort mein Platz?», fragte sie, ehe Bruch auf den Gedanken kam, seinen Namen zu nennen, und deutete auf den Schreibtisch quer vor dem Fenster.

Bruch nickte. Ja, jetzt war es ihr Platz.

Sie nickte demonstrativ, setzte sich in Bewegung und warf ihm im Vorbeigehen die Aktenmappe auf den Tisch. «Ehe wir uns noch verplaudern, wir haben schon einen Auftrag!» Mit einer fast zornigen Bewegung ließ sie dann ihre Tasche auf den Schreibtisch fallen. Sie setzte sich gar nicht erst. Lehnte sich mit dem Gesäß an ihren Tisch, verschränkte die Arme vor der Brust, deutete mit dem Kinn auf die Mappe.

«Wollen Sie nicht mal reinschauen?»

Bruch schüttelte den Kopf. Er wusste schon Bescheid. «Ein Kind wird vermisst. Celina Kühn, zwölf Jahre alt. Sie suchen es seit gestern Abend.»

«Sie wissen also Bescheid, dann können Sie mich ja unterwegs aufklären!», sagte Schauer und stieß sich vom Schreibtisch ab.

Fragend sah sie ihn jetzt an. «Und wie sieht es aus, wollen wir los?»

Bruch hob die Hand.

 

Diese fast bittende Geste brachte Schauer ein wenig zur Räson. Mochte sein, sie hatte den Mann überfordert. Gut möglich, dass der geschlafen hatte, bevor sie ins Büro gekommen war. Mochte sein, dass er deshalb den Termin verpasst hatte. Seine ganze Erscheinung sprach für diese Theorie. Die Haare ein kleines bisschen zu lang, ziemlich ungekämmt. Rasieren hätte er sich auch können. Zudem hatte er noch tiefe Augenringe. Aber die hatte sie auch. Kam davon, wenn man nachts erst ewig nicht einpennen konnte und sich dann im Schlaf ständig herumwarf, um dann am Morgen noch vor dem Weckradio zu erwachen. Von seiner Gestalt her hätte Bruch Marathonläufer sein können, oder Bergsteiger, oder er hatte sehr abgenommen, er sah aus, als wären ihm die Klamotten eine Nummer zu weit.

«Seit gestern suchen sie die Gegend ab. Hundestaffeln. Drohnen. Hubschrauber. Insgesamt mehrere Hundert Leute», sagte er.

Es schien ihm schwerzufallen, in Sätzen zu sprechen. Ohne die Vorwarnungen der anderen wäre ihr das vielleicht alles gar nicht so komisch vorgekommen, aber nun fragte sie sich nur noch mehr, ob Bruch überhaupt dienstfähig war. Nach dem tödlichen Unfall eines Kollegen hatte er bestimmt einige Gespräche mit Psychologen hinter sich, denen konnte nicht entgangen sein, dass er nicht einmal in der Lage war, ein normales Gespräch zu führen. Entweder herrschte hier wirklich großer Personalmangel, oder der Typ hatte es wirklich drauf, sodass man nicht auf ihn verzichten konnte. Irgendwie wollte sie Letzteres aber nicht glauben.

«Es sind somit genügend Leute vor Ort.»

Was er wohl damit sagen wollte, war, dass sie keinen Grund zur Eile hatten.

«Wie ist denn dann dein Plan?», fragte sie ihn.

Er sah sie fragend an, doch sie hatte keine Lust, den Satz noch mal zu wiederholen. Zu spät fiel ihr auf, dass sie ins Du gewechselt war. Schien ihn aber nicht zu stören, oder er hatte das überhaupt nicht registriert.

Jetzt regte er sich. «Wir müssen uns über die Vorgehensweise einig werden. Es gibt einen Umstand, den wir in Betracht ziehen müssen.»

«Der da wäre?»

«Vor zwei Jahren ist schon einmal ein Kind dort weggekommen. Aus derselben Siedlung. Ebenfalls ein Mädchen, damals zehn, jetzt zwölf Jahre alt, wie das verschwundene Kind. Nach knapp zwei Wochen tauchte es wieder auf.»

«Einfach so?»

Bruch nickte. «Dehydriert, leicht unterernährt.»

«Und?»

Jetzt sah er sie wieder fragend an. War er ein Autist oder so? Schauer sah sich gezwungen auszusprechen, was man gern unausgesprochen ließ. «Zeigte sie Anzeichen eines sexuellen Missbrauchs?»

«Keine äußerlichen.»

Schauer sah ihren neuen Kollegen an, wartete, ob er seiner Antwort noch eine Ergänzung hinzufügte. «Herrgott, was heißt das, keine äußerlichen? Innerliche vielleicht?» Bleib ruhig, mahnte sie sich, bleib ruhig.

«Soweit ich weiß, ließen ihre Eltern damals keine weiteren Untersuchungen zu. Da das Kind äußerlich keine Verletzungen aufwies, jedoch unter Schock stand, beließ man es dabei. Die Eltern waren der Meinung, das Kind wäre traumatisiert genug, als dass jetzt noch ein Gynäkologe an ihr herummurksen sollte.»

«Murksen?»

«So hat es die Mutter damals genannt.»

«Das verstehe ich nicht – das sollte man dann doch eigentlich wollen, also herausfinden, was passiert ist … Sind das Moslems oder so, oder Christen, ich meine, fundamentale?»

Bruch schüttelte nur den Kopf. Nicht schnell, sondern als müsste er sich daran erinnern, wie das ginge. Hin, her.

Schauer ließ ihm einen Moment, als sie sicher war, dass nichts mehr kam, fragte sie weiter. «Also das Mädchen verschwindet, alle suchen sie, doch sie bleibt verschwunden. Dann taucht sie auf, durstig und hungrig, keiner weiß, wo sie war? Und sie sagte nichts? Und dabei bleibt es? Niemand geht der Sache nach?»

«Irgendwann gab man auf.»

«Aha.» Erst jetzt sah sie, dass seine Dienstwaffe vor ihm auf dem Tisch lag. Hatte er sie geputzt? Aber da war kein Putzzeug. Warum lag sie dann da? Warum saß er in einer völlig finsteren Bude, mit der Knarre vor sich?

«Und worauf warten wir?», fragte sie, als es den Anschein hatte, dass sonst gar nichts mehr geschah.

Wieder zögerte er, als müsste er sich erst erinnern. «Ich habe die Akten von damals bereits angefordert. Müssten jeden Moment hier sein.»

War das, bevor er hier mit seiner Waffe rumgespielt hat oder währenddessen? Schauer griff sich an die Nasenwurzel, schloss die Augen einen Moment. Wo war sie hier nur hingeraten? Warum musste ausgerechnet jetzt ihrem Versetzungsgesuch stattgegeben werden? Ausgerechnet jetzt.

«Dann setz ich mich mal hin! Oder ich hol mir erst mal einen Kaffee.»

 

Als sie zurückkam, stellte sie ihm eine Tasse auf den Tisch, warf ein kleines Päckchen Kondensmilch und ein Tütchen Zucker hin.

Bruch sah erstaunt auf. Er hatte gar keinen Kaffee bestellt.

«Bitte!» Schauer schüttelte den Kopf, ging an ihren Platz.

«Danke», sah er sich gezwungen zu sagen. Seine Jacke war vorhin auch nass geworden. Zwar waren es nur wenige Meter von seinem Auto bis zum Eingang des Präsidiums gewesen, doch die hatten genügt, ihn zu durchnässen. Nun stieg die Feuchtigkeit von seinen Schultern auf. Es roch nach nassem Leder. Er müsste sie auf der Heizung ausbreiten, doch der Gedanke, sie auszuziehen, ließ ihn frösteln.

Ihr Stuhl quietschte, als sie sich setzte, und für einen Moment war es, als wäre Michael wieder da. Doch der konnte nicht da sein, hatte kopfüber im zerstörten BMW in den Gurten gehangen und war verbrannt. Die Bilder wollten ihn nicht loslassen. Er hätte gut erst mal alleine weitermachen können. Wie sollte er es nur mit dieser Frau aushalten, die offenbar immerzu sprechen musste. Wie ruhig war es mit Michael gewesen. Manchmal hatten sie den ganzen Tag nicht gesprochen. Kein Wort. Nicht einmal Guten Morgen hatten sie gesagt oder Mach’s gut.

«Willst du gar nichts wissen von mir?», fragte sie nun. «Wir können uns doch duzen, oder? Sind doch jetzt Kollegen.»

Spottete sie? «Was muss ich denn wissen?»

Jetzt stöhnte sie, kippte sich zwei Tütchen Zucker in den Kaffee, keine Milch, rührte mit einem sehr kleinen Löffel um, der kein Tee-, sondern eigentlich ein Salzlöffelchen war. Wie der in die Besteckschublade gekommen war, hatte er nie herausfinden können.

«Du musst schon mal gar nichts wissen. Ich dachte nur, da wir jetzt Kollegen sind, solltest du doch vielleicht einen Wissensvorteil den anderen gegenüber haben. Sonst fragen die dich noch was, und du kannst keine Antwort geben.»

«Mich fragt keiner.»

«Na, das ist ja ein Wunder.» Wieder schüttelte sie den Kopf. «Ich bin jedenfalls achtunddreißig, komme ursprünglich aus Zeven, bei Hamburg ist das. Ich war bei der Hamburger Kripo. Sicher fragst du dich jetzt voller Spannung, wie ich nach Dresden gekommen bin.» Sie sah ihn an, hob die Augenbrauen.

Ihr zuliebe nickte er.

«Ich hab einen Typen kennengelernt. Im Urlaub, auf Ibiza. Dresdner. Hübsch, groß, erfolgreich. Zu schön, um wahr zu sein. Ich bin fast zwei Jahre gependelt. Immer wenn ich frei hatte, bin ich hierhergekommen. Alle zwei, drei Wochenenden mal, eigentlich noch weniger. Schließlich dachte ich, ja, das ist sie, endlich die große Liebe. Ich habe um Versetzung gebeten. Und ein Jahr lang geschah nichts, keine Stelle frei. Dann aber macht er Schluss mit mir, und prompt bekomme ich den Posten hier.» Jetzt schloss sie den Mund. Bestimmt war ihr selbst aufgefallen, dass ihr ironischer Ton, mit dem sie sich durch den Alltag rettete, ins Zynisch-Wütende gekippt war.

«Deshalb bin ich hier», schloss sie und ließ den Rest unausgesprochen. Bruch vermutete, sie hatte umgehend um Rückversetzung gebeten.

 

Sie hatte sich hinreißen lassen. Von sich selbst. Er hatte sie nicht aufgefordert zu sprechen. Nun guckte er betreten aus der Wäsche, wusste mit den Informationen nicht umzugehen. Sie musste sich zusammennehmen, nicht immer denken, dass die anderen an ihrem Schicksal interessiert waren. Geschweige denn, dass sie ihre Gedanken nachvollziehen konnten. Irgendwie schien er vollkommen überfordert. Bestimmt projizierte sie ihre Wut auf Sebastian irgendwie auf ihn.

«Na ja, tut mir jedenfalls leid für deinen Kollegen», sagte sie, mit dem Versuch, einen friedlicheren Ton zu treffen.

«Warum?», fragte Bruch.

Schauer schwieg verblüfft. Hatte er gerade gefragt, warum?

«Du kanntest ihn doch nicht», sagte Bruch.

«Nein», erwiderte sie verunsichert.

«Warum tut es dir dann leid?»

«Meine Güte, das sagt man eben so, er war ja schließlich dein Kollege und wohl auch dein Freund. Und außerdem war er einer von uns. Ein Polizist, nicht wahr.» Dass man das erklären musste. Inzwischen hatte sie das Gefühl, irgendwie im Irrenhaus gelandet zu sein. Oder war das Ganze nur ein Streich, um der Neuen aus dem Westen gleich mal eins auszuwischen.

Sie hatte jedenfalls genug davon. Es brannte ihr unter den Nägeln, endlich loszufahren. Da waren Leute, die suchten ihr Kind. Sie mochte sich das gar nicht ausmalen, auch wenn sie keins hatte. «Sag mal, wen muss ich denn jetzt anrufen, damit wir die Akte schneller bekommen.»

Zu ihrer Überraschung griff Bruch nach einem Zettel auf seinem Tisch und reichte ihn ihr hinüber.

3

Er ließ sie den Dienstwagen fahren. Das wäre bei ihren Leuten in Hamburg nicht passiert, da hätte sie auf den Tisch hauen müssen.

«Du musst mir den Weg sagen, ich kenne mich hier noch nicht so gut aus.» Es regnete noch immer. Jedes Mal, wenn sie glaubte, es ließe nach, wurde sie von neuen Schauern überrascht. Sie war Regen gewöhnt von daheim, doch es wäre auch nicht schlecht, wenn es wenigstens mal kurz aufhören könnte.

Bruch deutete die Richtung nur an, und um nicht gleich wieder auf Konfrontationskurs zu gehen, fragte Schauer nicht weiter, er würde ihr schon sagen, wenn sie falsch fuhr.

«Dresden ist ja nicht so groß wie Hamburg. Eine halbe Million Einwohner?»

«Sechshunderttausend», korrigierte Bruch.

Vielleicht getraute er sich seit dem Unfall nicht zu fahren. Doch er wirkte ganz entspannt. Sehr entspannt.

«Und von dir gibt’s nichts zu erzählen?», versuchte sie ihn zu animieren. Doch er schüttelte nur den Kopf.

«Wie heißt der Stadtteil, wo wir hinmüssen?»

«Goppeln.»

«Und gibt es einen Grund, warum gerade wir beide uns jetzt um die Sache kümmern sollen? Hattest du damals auch schon mit dem ersten verschwundenen Kind zu tun?»

«Nein.»

Also gut, dachte sie, lassen wir das. Entweder wird er noch warm, oder eben nicht. Schweigend fuhren sie weiter.

 

Endlich ließ der Regen nach, auch wenn der Himmel nicht weiter aufklarte. Immerhin konnte man sich nun aufrecht im Freien bewegen. Bruch stieg aus, kaum dass Schauer den Wagen an den Straßenrand gelenkt hatte.

«Meine Fresse», staunte sie, als sie ausgestiegen war, und er musste sich zu ihr umdrehen, um zu verstehen, was sie meinte.

Sie deutete auf die vielen Polizeifahrzeuge, den Hubschrauber, der über der Gegend kreiste. Es gab einen Bach, der durch den Gerbergrund floss. Einige alte Gehöfte, kleine Waldstücke, Gärten, steile Hänge, weiter hinauf breite Felder. Genug Plätze, sich oder jemanden zu verstecken.

«Wollen wir jetzt hier stehen bleiben?», fragte Schauer ihn. Bruch spürte, wie ihn diese vollkommene Gefühlslosigkeit verließ, wie dieser ihm so willkommene Zustand von leisem Unmut unterwandert wurde. Konnte sie ihm denn keine Sekunde Zeit lassen?

«Da drüben ist die Einsatzleitung.» Er deutete auf einen großen Bus. Er fand, all dieser Aufwand hier war übertrieben und unnötig. Entweder war das Kind fortgelaufen, oder es war entführt worden. Hier in der Gegend würde man sie nicht finden. Dieses Aufgebot hier war für die Öffentlichkeit.

Man erwartete sie schon. Die drei Uniformierten im Bus gaben bereitwillig Platz frei.

«Hauptkommissar Püschel», stellte sich der Ranghöchste vor. «Ich nehme an, Sie sind Schauer und Bruch von der Kripo», er wartete keine Bestätigung ab, wandte sich dem einen Bildschirm zu. «Wir haben zuerst die nächste Umgebung zum Wohnhaus des Kindes abgesucht, hier!» Er zeigte auf das markierte Haus auf dem Satellitenbild. «Danach haben wir die Suche systematisch ausgeweitet. Haben das Gelände hier und hier entlang in Kette durchlaufen. Einige Leute sind unterwegs zu Adressen von Freunden und Bekannten. Es gibt hier in der Nähe zwei größere und einige kleinere Teiche, die werden auch einer nach dem anderen abgesucht.»

«Wo sind die Eltern?», unterbrach Bruch den Mann.

«Die sind beide zu Hause, waren die ganze Nacht unterwegs. Sie haben in ihrer Siedlung alle Nachbarn zusammengetrommelt. Die ziehen seit Stunden in Gruppen herum und helfen bei der Suche. Ein paar Leute aus dem eigentlichen Dorf auch. Das ist hier nicht ganz so einfach. Es gibt viele Alteingesessene und die Neuhinzugezogenen, in diesen beiden Siedlungen.» Er tippte auf zwei Wohngebiete auf der Karte. «Ich habe so das Gefühl, da hat sich noch nicht viel überschnitten. Die stehen sich misstrauisch gegenüber.»

«Sind das hier Koppeln?», fragte Schauer und deutete auf den Bildschirm. «Hat das Mädchen mit Pferden zu tun? Kann es nicht sein, dass sie ausgeritten ist? Dann müsste man das Suchgebiet ausweiten.»

Der Uniformierte sah Bruch mit ganz leiser Belustigung an.

«Was denn», fragte Schauer sogleich, «ist das unwahrscheinlich? Kleine Mädchen stehen doch auf Pferde. Und so ein Tier kann ja auch durchgehen, oder sie hat sich buchstäblich verlaufen.»

«Also ein vermisstes Pferd hat niemand gemeldet!», sagte der Polizist.

«Es ist ja auch erst früher Vormittag. Ehe die durch den Stall sind, braucht es seine Zeit. Wenn das ein großer Stall ist und eines nicht in seiner Box ist, denken die doch erst mal, dass irgendwer das Tier auf die Koppel gebracht hat. Ehe da einer merkt, dass ein Pferd fehlt, können Stunden vergehen.»

Bruch fand die Idee gar nicht schlecht.

«Soll doch jemand zu den Ställen fahren und fragen», schlug er vor. «Wir gehen unterdessen zu den Eltern.» Der Uniformierte nickte, was er davon hielt, war seinem Gesicht anzusehen.

«Hattest du Pferde?», fragte er seine neue Kollegin, als sie wieder im Freien standen.

«Früher.» Schauer nickte.

 

Früher. War alles besser. Nee, nicht alles.

Schauer sah sich um. Sie befanden sich am Rande Dresdens. Mit Blick auf die Stadt, die sich im Elbtal unter ihnen ausbreitete. In der Ferne deuteten sich die Hügel der Sächsischen Schweiz an. Da waren sie oft gewesen. Sie und Sebastian. Mit Freunden. Seinen Freunden. Jetzt war alles trübe, die Sicht sehr schlecht. Passte gut zu dem ganzen Schlamassel hier.

Bruch schritt neben ihr aus. Er hatte seine Hände in die Jackentaschen geschoben. Schauer konnte ihn immer noch nicht einschätzen. Mit dem war was, eindeutig. Wie eine Aura umgab ihn etwas, das nicht zu definieren war. Redete kein unnötiges Wort. Seine Mimik konnte sie nicht lesen, es gab im Prinzip keine. Hatte ihr geholfen mit der Idee von den Pferden. Obwohl er sie bestimmt für genauso bescheuert hielt. War ja auch bescheuert. Welches Mädchen holte sich schon ein Pferd aus dem Stall, sattelte auf, ritt alleine davon. Außer eben sie selbst. Mit elf.

 

Die Wohnsiedlung war ganz typisch, wie alle Siedlungen. Ein großes erschlossenes Baugrundstück, aufgeteilt in Dutzende große und kleine Parzellen, meist kleine. Neue Häuser dicht an dicht, meist geschmacklos oder wenigstens preiswerter Standard. Was war das schon für ein Leben?, fragte sich Schauer, darauf hinzuarbeiten, so ein Haus zu besitzen, wo man dem Nachbarn die Hand fast durchs Fenster reichen kann, der Garten so groß ist wie ein Klassenzimmer, ständig ein Rasenmäher ging oder Kinder schrien. Aber vielleicht dachte sie nur so, weil ein solches Leben für sie gerade in ganz weite Ferne gerückt war.

Vor einem Haus standen Leute in Grüppchen – unübersehbar das der Familie Kühn. Ein Team vom Fernsehen war auch schon da. Bruch, ihr einen halben Schritt voraus, lief direkt auf die Haustür zu, und es schien, als wäre er unsichtbar, denn niemand drehte sich nach ihm um. Erst als er an der Haustür klingelte, wurden die Leute aufmerksam.

«Sind Sie von der Kripo?», fragte eine Frau. Bruch sah sie zwar an, machte jedoch keine Anstalten zu antworten oder sonst weiter darauf zu reagieren, erwirkte aber, dass die Frau verstummte für den Moment.

Bruch klingelte noch einmal, sein Daumen blieb lang auf dem Knopf.

«Hören Sie, sind Sie von der Kripo?», wendete sich die Fernsehfrau nun an Schauer. «Gibt es schon Erkenntnisse?» Schauer sah sich gezwungen zu antworten. Oder auch nicht, warum auch.

«Das hilft auch nicht weiter, wenn Sie alles verschweigen!», insistierte die Frau.

Schauer berührte Bruch mit ihrem Ellbogen. «Felix?»

Bruch drehte sich um, bedachte die Frau mit einem Blick, der sie endgültig verstummen ließ.

Ein Mann in Jeans und Pullover öffnete nun die Tür. Mitte dreißig etwa. Sah aus wie ein Ingenieur oder so, jedenfalls wie jemand, der den ganzen Tag auf einen Bildschirm starren musste. Völlig übernächtigt außerdem. Dicke Augenringe. Willkommen im Klub.

«Herr Kühn?» Bruch zeigte seine Marke vor. «Kripo. Wir gehen rein.»

Zwar regte sich leiser Widerstand in dem Mann, doch er trat beiseite.

«Hauptkommissare Bruch und Schauer», stellte Schauer sie vor, damit ein wenig Menschlichkeit in die Situation kam. «Ist Ihre Frau da?»

«Sie schläft, wir waren die ganze Nacht draußen. Wir haben auch schon alles gesagt, es wäre besser, Sie würden da draußen suchen helfen.»

«Wecken Sie sie», sagte Bruch.

«Bitte!», fügte Schauer hinzu, auch wenn es Kühn schon mal gar nichts anging, was sie taten. Vermutlich glaubte er, die Polizei täte nicht genug, so wie es angesichts solcher Situationen immer unterstellt wurde. Noch standen sie im Flur, sehr beengt. Kühn setzte zu sprechen an, ergab sich dann jedoch der Notwendigkeit. Er ließ die Schultern fallen, deutete auf den großen Raum hinter der nächsten Tür. Es war eine Art Wohnzimmer-Küchen-Kombination, füllte fast die gesamte Grundfläche des Hauses aus. Eine Treppe führte von hier nach unten und oben.

«Und haben Sie noch mehr Kinder? Holen Sie die auch», befahl Bruch.

«Bitte!», fügte Schauer erneut nachdrücklich hinzu.

«Setzen Sie sich ins Wohnzimmer, ich hole sie. Können Sie …», begann er noch, verstummte dann, winkte ab und stieg die Treppe hinauf.

«Was wollte er sagen?», fragte Schauer leise.

Bruch setzte sich nicht, blieb im vorderen Bereich des Raumes stehen. «Wir sollen unsere Schuhe ausziehen.»

Sie musste ihn gar nicht fragen, ob sie das tun würden. Außerdem war das Fertigparkett sowieso schon völlig verdreckt von all den Leuten, die heute und am gestrigen Tag hier drinnen gewesen sein mussten.

«Ist es vielleicht möglich, dass du ein wenig freundlicher bist?», fragte sie in derselben Lautstärke, fast flüsternd. «Die vermissen ihr Kind.»

Bruch zeigte keine Reaktion. Unterdessen kam Kühn mit seiner Frau zurück, im Schlepptau zwei Kinder. Einen älteren Jungen und ein kleines Mädchen. Frau Kühn, eine kleine dunkelhaarige Frau, auf dem besten Wege, völlig in ihrer Rolle als Hausmütterchen aufzugehen. Sie schien völlig benommen, war wohl aus dem Tiefschlaf gerissen worden. Schauer tat das leid. Bruch dagegen wartete emotionslos, bis sich alle auf dem breiten Sofa gesetzt hatten.

«Wann genau wurde Ihre Tochter das letzte Mal gesehen und von wem», fragte Bruch in seiner unnachahmlichen Art, keinerlei Betonung zu verwenden.

Schauer konnte nur wieder den Kopf schütteln, atmete schwer durch und schob sich vor ihren Kollegen. «Wir sind Hauptkommissar Bruch und Hauptkommissarin Schauer von der Kriminalpolizei. Wir wissen, was Sie derzeit durchmachen, und wie Sie sehen, setzen wir alle Mittel ein, nach Ihrer Tochter zu suchen. Wir wissen auch, dass Sie schon ausgesagt haben und es für Sie schwer ist, alles noch mal zu wiederholen.» Oder zu sehen, ob die Aussagen widersprüchlich sind, fügte sie in Gedanken hinzu. «Es ist jedoch für die weiteren Ermittlungen notwendig, noch der kleinsten Kleinigkeit nachzugehen. Wir benötigen mehr Informationen über Ihr Umfeld und wenn möglich den minutiösen Ablauf des gestrigen Tages. Deshalb müssen wir Sie noch einmal befragen, damit wir nichts übersehen. Wann also genau haben Sie Ihre Tochter Celina das letzte Mal gesehen?»

«Sag du», flüsterte Frau Kühn heiser. Auf dem Bild hatte Celina ihrer Mutter sehr ähnlich gesehen, rundliches Gesicht, dunkle glatte Haare.

«Minutiös kann ich Ihnen das nicht wiedergeben. Gestern Nachmittag kam Celina aus der Schule. Gegen halb drei. Sie blieb eine Weile auf ihrem Zimmer, oder?» Kühn langte an seiner Frau vorbei und tippte seinem etwa vierzehnjährigen Sohn auf den Oberschenkel. «Maxim?» Der nickte mit schwer genervtem Gesichtsausdruck.

«Weiß nich genau, sie war da, als ich aus der Schule kam. Ich hab sie reden hören in ihrem Zimmer», presste er hervor, und viel fehlte nicht, dass er die Augen rollte.

«Habt ihr miteinander gesprochen?», fragte Schauer ihn.

«Nee, nichts.»

«Wie steht ihr zueinander? Sprecht ihr über persönliche Dinge, vertraut sie dir Geheimnisse an?»

«Nee, null.» Der Junge stöhnte wie jeder Pubertierende, der der Meinung war, alle Welt hätte sich gegen ihn verschworen.

Es geht um deine Schwester, du Flachzange, wollte Schauer auffahren. Sie schob ihre rechte Hand in die Jackentasche.

«Du verstehst aber, wie wichtig es ist, dass wir wirklich alles wissen müssen. Deine Schwester ist verschwunden! Hattet ihr Streit?»

«Hören Sie, die sind wie Hund und Katz», mischte sich der Vater ein. «Die streiten andauernd, aber ich denke, das hat damit nichts zu tun, dass Celina weg ist.»

Schauer drehte sich halb nach Bruch um, sah im Augenwinkel, wie er unmerklich die Augen verengte. Konnte gut sein, dass der Bursche es im Streit übertrieben hatte und die Schwester deshalb davongelaufen war, interpretierte sie diese kurze Regung. Sofern er nicht einfach nur was im Auge hatte.

«Also Celina war auf ihrem Zimmer. Als Sie kamen, Frau Kühn, war sie dann noch da?»

Die Frau nickte, schien gar nicht richtig anwesend. «Ich habe Sarah aus dem Schulhort geholt. Gegen vier war ich daheim.»

Schauer hockte sich hin, um mit dem kleineren Mädchen auf Augenhöhe zu sein. «Und du? Verstehst du dich mit deiner Schwester?»

Das Mädchen nickte. Sie musste sieben, höchstens acht sein.

«Und warst du bei deiner Schwester gestern, habt ihr gesprochen? Worüber?»

«Sie hat gesagt, ich soll in mein Zimmer gehen.» Sarah verzog beleidigt den Mund. «Dann ist sie selbst gegangen.»

«Stimmt das?» Schauer sah auf, sah den Eltern in die Augen. «Die Kleine hat Celina als Letzte gesehen?»

Herr Kühn meldete sich wieder zu Wort. «Sie muss gegangen sein, während meine Frau in der Küche war, oder im Keller bei der Waschmaschine. Sie hat sich nicht verabschiedet. Wir haben uns nichts dabei gedacht, als wir es bemerkten.»

«Wann war das noch mal?», fragte Schauer. Inzwischen war ihr klar geworden, dass sie das hier allein bestreiten durfte. Der Herr Bruch hielt sich ganz raus, im Gegenteil, er sah aus dem Fenster, als gäb es da etwas Wichtigeres.

«Etwa um fünf, also siebzehn Uhr. Da wollte ich Celina fragen, ob sie mit einkaufen fahren wollte. Ich war inzwischen heimgekommen, das war sechzehn Uhr dreißig, das weiß ich, weil im Autoradio gerade die Nachrichten begannen. Es war eigentlich ausgemacht, dass Celina zum Einkaufen mitkommt. Ich dachte mir, sie hätte keine Lust und wäre zu ihrer Freundin gegangen.»

«Linda Herzfeld», sagte Bruch.

«Ja, die.»

Okay, mehr kommt nicht, stellte Schauer mit einem Blick auf Bruch fest und übernahm wieder. «Also Celina war weg, vermutlich schon, als Sie heimkamen?»

Kühn nickte. «Ich war in der Küche. Ich hätte sonst sehen müssen, wenn sie geht.»

«Und zuerst dachten Sie sich nichts dabei. Hatte Celina ihr Handy dabei, sie hat doch sicher eins?»

«Wir haben sie angerufen, aber es klingelte in ihrem Zimmer.»

«Ist es sichergestellt?»

«Ja, aber Ihre Kollegen kommen nicht rein, Celina ändert dauernd ihren Zugangscode. Um die Abendbrotzeit bin ich dann rüber zu Herzfelds, doch da war Celina gar nicht. Also Lindas Eltern haben Celina nicht gesehen.»

«Und ihre Freundin, Linda?»

«Die war auch nicht da. Deshalb dachten wir ja, die beiden Mädchen wären gemeinsam unterwegs. Ich war ziemlich sauer, weil es mittlerweile schon dunkel war und Celina dann nicht mehr draußen herumlaufen sollte.»

«Hier auf dem Dorf? Hatten Sie Angst um sie?»

Kühn sah sie an und verzog das Gesicht zu einer ungläubigen Fratze. Auch die Frau sah auf. Natürlich, nun war ja offensichtlich etwas geschehen. Doch grundsätzlich kannte Schauer es von den Leuten auf dem Dorf, dass die weniger ängstlich waren als Eltern in der Stadt.

«Sie sind noch recht neu hier», sagte Bruch, und dieser Satz fügte sich so nahtlos in ihre Gedanken ein, dass es fast beängstigend war. Die Kühns waren ja im Prinzip Stadteltern, nur dass sie vor ein paar Jahren in diese Siedlung gezogen sind. Noch dazu war ja tatsächlich schon einmal etwas passiert. Das hatte sie beinahe vergessen. Vor zwei Jahren war ein anderes Kind verschwunden. Linda, Celinas Freundin.

«Gut, egal, mein Fehler», versuchte sie zu beschwichtigen. «Also Linda war dann gestern auch weg, weshalb Sie glaubten, beide Mädchen wären gemeinsam losgezogen?»

Kühn nickte, aber seine Haltung hatte sich verändert. Er hielt sie für bescheuert. Dabei sollte er erst mal Bruch richtig kennenlernen. «Linda tauchte später wieder auf, gegen acht gestern Abend. Celina aber nicht.»

«Also war Linda die Letzte, die Celina vor ihrem Verschwinden gesehen hat?»

«Nein, eben nicht. Linda sagt, sie wäre allein unterwegs gewesen, ohne Celina. Sie hätte sie nicht mehr gesehen, seit sie gemeinsam aus der Schule gekommen waren.»

«Gut, vielen Dank», wurde Schauer von Bruch überrascht. Ohne abzuwarten, ob sie ihm folgte, wendete er sich ab und verließ das Wohnzimmer in den kleinen Flur. Sie sah noch, wie er sein Handy aus der Jackentasche zerrte.

«Ich nehme an, Sie haben alle potenziellen Kontaktpersonen aufgelistet und den Kollegen übergeben?», fragte sie, um dem Ganzen wenigstens einen Abschluss zu verpassen. Kühn nickte, schien noch etwas sagen zu wollen, schwieg aber dann.

Schauer erhob sich. «Legen Sie sich alle noch mal hin, versuchen Sie zu schlafen. Wir kommen später noch einmal vorbei.» Damit verließ sie die Familie.

«Geh ich heut nicht zur Schule, Mami?», fragte Sarah leise, als Schauer den Flur erreicht hatte und das Haus verließ. Draußen stand Bruch mit seinem Telefon am Ohr.

 

«Hast du deine Tabletten genommen?», fragte eine weibliche Stimme am Telefon.

Bruch zögerte mit der Antwort. Es lag nicht an den Leuten, die hier standen und ihn erwartungsvoll ansahen. Er wollte antworten, aber für diesen Moment wusste er es nicht. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob er sie heute genommen hatte oder nicht.

«Du weißt, es wird besser!», versprach die Frau, statt auf eine Antwort zu bestehen. «Es wird immer besser!»

Das stimmte, doch meistens erst nachdem es schlimmer geworden war. «Ich hab sie genommen», erwiderte er endlich. Doch sicher war er sich nicht. Seine Tage glichen sich so sehr, dass es gut sein konnte, er erinnerte sich an einen anderen Morgen. Woher wusste sie, dass ausgerechnet heute ein solcher Tag war, an dem es ihm schwerfiel, durch den Morast des Menschseins zu waten? Wusste sie von der neuen Kollegin? Natürlich.

«Musstest du wieder daran denken?»

Bruch schwieg und wusste doch, dass er ihr damit Antwort gab.

«Auf Regen folgt Sonnenschein», sagte sie nach einigen Augenblicken.

Er wusste das selbst. Dass sie es immer wieder sagen musste, war nur Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. «Ich muss», sagte er und drückte das Gespräch weg.

«War das wichtig?», fragte die Neue sogleich. Ihretwegen hatte er aufgelegt. Er hatte sie kommen hören. Zu spät jedoch.

«Nicht wichtig, privat.» Er steckte das Telefon weg und lief los, um von den Umstehenden wegzukommen.

Schauer schien das zu verstehen, folgte ihm zwanzig Meter stumm. Dann stellte sie ihn zur Rede. «Hör mal, du kannst mich da drinnen nicht einfach so stehen lassen. Ich hätte noch hundert Fragen stellen können.»

Genau das hatte er befürchtet. Er schaute sie an, sie hatte ein schönes Gesicht. Aber es war voller Härte. Warum sie ihre Haare so kurz schnitt, verstand er nicht. Vielleicht wollte sie noch härter erscheinen.

«Die Familie kann uns nicht weiterhelfen.»

«Ach ja, das weißt du?», fragte Schauer höhnisch.

Bruch nickte. Er wusste es. «Lass uns zu den Herzfelds gehen. Ich will diese Linda sehen. Dass sie sagt, sie hätte Celina nicht gesehen, heißt nicht, dass es auch so war.»

«Meine Güte, drei ganze Sätze», spottete sie.

«Warst du beliebt in Hamburg?», fragte Bruch.

«Was geht’s dich an?»

Also nicht. Vermutlich hatte sie es nicht leicht gehabt da. Vermutlich hatte sie es nie leicht gehabt. «Warst du lang weg damals, mit dem Pferd?»

Schauer stand ein paar Sekunden still, den Mund leicht geöffnet, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf leicht schräg. «Hat dir das irgendjemand erzählt?»

Bruch sah ihr in die Augen. Verletzt war sie. Weil ihr Freund sie verlassen hatte und sie nun mit diesem Job in Dresden festsaß. Aber das war nicht alles.

Sie ergab sich. «Ich wollte damals einfach nur mal allein sein, hab mir das Pferd meiner Freundin genommen. Die kannten mich da im Stall. Die dachten, ich wollte mit ihm spazieren gehen. Wollte ich auch erst, aber dann bin ich aufgesessen und losgeritten. Dann kam eins zum andern. Ich ritt zu weit, es wurde dunkel. Ich wusste, ich würde zu spät kommen, dann gäb’s Ärger. Also ritt ich noch weiter. Blieb draußen über Nacht.»

«Es gab Ärger.»

«Allerdings. Am nächsten Tag, als ich zurückkam. Hab Stallverbot bekommen und hatte eine Freundin weniger.» Schauer schnaubte und schüttelte den Kopf beim Gedanken daran. «Ich war nicht gut im Lügen. Hätte einen auf kleines Mädchen machen können, der ist mir durchgegangen, und dann wusste ich nicht, wo ich war», verstellte sie die Stimme, «aber das kann ich eben nicht.»

«Aber das war noch nicht das Schlimmste», sagte Bruch. Er wusste, da war noch etwas.

«Wie meinst du das?» Sie gab sich wieder hart. Es brauchte ein paar Sekunden. Dann sackte sie ein Stück zusammen. «Das Schlimmste war, meine Alten haben es gar nicht gemerkt, dass ich überhaupt weg war.»

Bruch nickte. «Gehen wir zu den Herzfelds.»

Sie sah ihn ein paar Sekunden an, als hätte sie noch mehr erwartet. «Na ja, lassen wir das. Ist es das dort?»

Bruch sah zu dem beigefarbenen Einfamilienhaus, hinter dessen Wohnzimmerfenster sich etwas bewegte. Anstatt Schauer zu antworten, steuerte er auf die schmale Einfahrt zu, hörte sie hinter sich leise mit sich selbst sprechen. Er verstand, was sie sagte, er wusste, was man von ihm hielt, und es war ihm egal. Er hatte keinen Grund, sich deshalb zu erklären oder sein Verhalten zu ändern.

«Ich spreche jetzt!», sagte er zu Schauer, ehe er klingelte.

Niemand öffnete. Also klingelte er noch einmal. Dann noch einmal.

«Die sind arbeiten und zur Schule», sagte Schauer.

Nein, sie waren da. Heute würde hier niemand zur Arbeit und zur Schule fahren. Die gesamte Siedlung schien auf den Beinen oder war die ganze Nacht hindurch auf der Suche nach dem Mädchen gewesen.

«Ich habe gesehen wie die Gardine sich bewegt hat.»

«Das war vielleicht eine Katze.»

Bruch ging nicht darauf ein. Er klingelte noch einmal. Dann hämmerte er mit der Faust gegen die Tür.

«Ich komm ja schon!», rief eine zornige Männerstimme. In der Spiegelung des Glases der Eingangstür sah Bruch, wie Schauer abschätzig den Mund verzog, weil er recht behalten hatte. Was war nur immer so schwer daran, das zu akzeptieren? Endlich wurde drinnen die Tür zum Flur aufgerissen, dann die Eingangstür. Ein großer Mann, unrasiert, in Jogginghosen und ausgeleiertem T-Shirt öffnete.

«Wir waren die ganze Nacht unterwegs und wollen schlafen. Was müssen Sie denn alle wecken?», fuhr er Bruch an.

«Herr Herzfeld? Heiko Herzfeld?»

«Ja, und Sie?»

«Bruch, Kripo.» Er trat vor. Zu spät fiel ihm auf, er hatte vergessen, Schauer vorzustellen.

«Moment, was wollen Sie denn hier?» Der Mann stellte sich ihm in den Weg.

«Wir müssen über das Verschwinden Ihrer Tochter vor zwei Jahren mit Ihnen sprechen.»

«Ich hab’s ja geahnt, jetzt geht das wieder los!» Herzfeld trat vor und richtete seinen Zeigefinger auf Bruchs Brust. «Wir haben damals alles versucht. Alles. Es war nichts herauszufinden. Was soll sich jetzt geändert haben? Was können wir jetzt dafür, dass denen das Mädel wegläuft? Sie haben doch Linda gestern vernommen, da hat sie Ihnen alles schon gesagt. Sie hat Celina nach der Schule nicht mehr gesehen.»

«Mit uns hat sie nicht gesprochen und wir nicht mit ihr.» Bruch schob sich weiter vor. Herzfeld war ein wirklich großer Mann, massig, und sie hatten keine rechtliche Handhabe, ihn zu vernehmen. Er musste es darauf ankommen lassen.

Herzfeld ließ es auf ein Blickduell ankommen, dann aber wich er zurück. Bruch, der im Augenwinkel sah, dass Schauer sich bemerkbar machen wollte, gab ihr ein kaum merkliches Handzeichen.

«Holen Sie Ihre Frau und Ihre Tochter», befahl Bruch.

Herzfelds Kiefer mahlte. Er hob noch einmal den Finger, um sich vormachen zu können, Herr der Lage zu sein. «Sie werden sowieso nichts Neues erfahren!» Damit ging er die Treppe hinauf.

«Mann, das wäre bestimmt auch anders gegangen», raunte Schauer.

Bruch schüttelte unmerklich den Kopf. «Die haben einen guten Anwalt und sind geschult im Umgang mit der Polizei.»

Schauer sah ihn nur skeptisch an.

Herzfeld kam zurück, mit seiner Frau, Katja Herzfeld, und seiner Tochter Linda. Diese war durchschnittlich groß für ihr Alter, hatte lockige aschblonde Haare, mit einem Haargummi zu einem einfachen Zopf gebunden. Sie sah sehr ernst aus, aber nicht schüchtern.

«Wenn Sie sich bitte setzen», sagte Bruch und zwang sich zu einem Tonfall, der ihn anstrengte. «Ich bitte Sie um Verzeihung, aber es ist wirklich erforderlich.» Herzfeld und seine Tochter setzten sich.

«Worüber wollen Sie denn sprechen?», fragte Frau Herzfeld, sie hatte sich nicht gesetzt. «Über gestern? Da ist doch alles gesagt! Oder über den Vorfall vor zwei Jahren? Das hat mit dem hier nichts zu tun!»

«Wie können Sie das wissen?» Er kam also mit moderatem Ton nicht weiter, dann konnte er sich diesen sparen.

«Es ist einfach so!» Frau Herzfeld verschränkte die Arme vor der Brust. «Sie können doch jetzt nicht jedes Mal zu uns kommen, wenn irgendwo ein Kind verschwindet!»

Bruch hob wieder leicht die Hand, weil Schauer sich regte. «Sie wollen also niemals erfahren, was damals mit Ihrer Tochter geschah.»

«Reden Sie nicht so über sie in ihrer Gegenwart!»

«Dann soll sie doch selbst erzählen!»

«Was denn?», fauchte Frau Herzfeld.

«Der gestrige Tag. Linda, du bist mit Celina in einer Klasse.»

Linda sah erst ihre Mutter an, nickte dann.

«Ihr fahrt zusammen zur Schule.»

Linda nickte. «Ja, mit dem Bus, in die Stadt. Sie kommt jeden Morgen und klingelt hier. Nachmittags fahren wir zusammen heim.»

«Wie verbringt ihr den Tag in der Schule, sitzt ihr nebeneinander, steht ihr auf dem Schulhof zusammen?»

«Ja, meist. Gestern auch.»

«Hat sie da irgendetwas erzählt, dass sie zu Hause Streit hatte?»

Herzfeld ging dazwischen. «Das hat Linda gestern alles schon erzählt!»

Bruch ignorierte ihn einfach, sah das Mädchen an. Die sah wieder zu ihrer Mutter, bekam deren Erlaubnis. «Nein, sie hat wirklich gar nichts erzählt. Nichts Besonderes. Ihr großer Bruder nervt. Und ihre kleine Schwester. Aber das ist ja …» Sie sprach es nicht aus.

«Sie haben noch ein Kind?», fragte Bruch.

«Luisa, sie ist im Kindergarten», antwortete Herzfeld.

«Dann seid ihr gestern nach der Schule heimgefahren, habt euch vor deiner Haustür getrennt? Hat sie irgendwas gesagt, sich anders als sonst verabschiedet?»

«Gar nicht, nein.»

«Hat sie dir einmal erzählt, dass sie sich verfolgt fühlte? Gab es jemanden, den sie nicht mochte oder vor dem sie Angst hatte?»

Linda schüttelte heftig den Kopf.

«Wie fühlst du dich jetzt? Kannst du nachvollziehen, wie man sich fühlt an Celinas Stelle?»

«Hören Sie mal!» Herzfeld sprang auf und stieß Bruch mit der flachen Hand heftig gegen die Schulter. Ehe Bruch reagieren konnte, hatte Schauer das Handgelenk des Mannes gepackt und schüttelte mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf. Dann löste sie ihre Finger, einen nach dem anderen. Herzfeld nahm den Arm runter, rieb sich das schmerzende Handgelenk. Bruch sah Schauers Handabdruck, so fest hatte sie zugepackt.

«Sie können nicht meine Tochter so hinterrücks damit überfallen. Was wissen Sie denn schon, was die durchgemacht hat. Wir sind froh, dass sie ein ganz normales Kind geblieben ist. Machen Sie das bloß nicht kaputt mit dieser dummen Fragerei.»

«Soviel ich weiß, haben Sie sich damals einer körperlichen Untersuchung Ihrer Tochter widersetzt.» Bruch ließ das Mädchen nicht aus den Augen. Die sah zu Boden, während die Erwachsenen sich stritten, vermittelte nicht den Eindruck, als ob es sie tangierte.

Nun mischte sich auch die Mutter wieder ein. «Das haben wir, und wissen Sie was, das geht Sie nichts an.»

Bruch hatte auch kein Problem damit, sich der Frau zu stellen. «Hatten Sie kein Interesse daran zu erfahren, ob es ihr körperlich gut geht oder ob Schlimmeres passiert ist. Sie hätte innerlich verletzt sein können, oder schwanger oder unfruchtbar.»

«Raus, raus hier, jetzt! Gehen Sie, alle beide. Ich will, dass Sie sofort mein Haus verlassen.» Frau Herzfeld zeigte zur Tür. Herr Herzfeld hatte sich unterdessen wieder gesetzt und seinen Arm um Lindas Schultern gelegt. Er flüsterte ihr etwas zu, sie schüttelte den Kopf.

Ein Telefon begann zu klingeln. Es war Schauers. Sie nahm den Anruf an.

 

«Schauer», sagte sie, wendete sich ab und ging nach draußen. Es hatte sowieso keinen Sinn, hier noch zu bleiben. Bruch hatte die Leute vollends gegen sie aufgebracht.

«Buchholz hier, wir haben uns heute Morgen auf dem Gang getroffen. Bruch hat mal wieder sein Handy aus. Sie sollen sich beide um eine Person kümmern. Männlich, zweiundvierzig Jahre, wohnhaft in Bannewitz. Die Adresse und den Namen sende ich Ihnen per E-Mail zu. Der Mann war verurteilter Sexualstraftäter, hat seine Strafe abgesessen. Wohnt seit vier Monaten mit neuer Identität in einer Sozialwohnung, arbeitet als Hilfskraft auf einem Getränkehof.»

«Aha, und wie kommen Sie auf den, so plötzlich?»

«Den hat der Computer ausgespuckt. Den und noch zwei andere, die aber ganz am anderen Ende der Stadt wohnen.»

«Ach so, und Bannewitz ist gleich hier irgendwo?»

Buchholz zögerte einen kleinen Moment. «Goppeln gehört zu Bannewitz.»

Schauer schnaufte. Stand sogar am Ortseingangsschild, erinnerte sie sich. Das würde noch eine Weile dauern, ehe sie sich die ganzen Ortsteilnamen gemerkt hatte. Oder eben auch nicht. Warum Mühe daran verschwenden. «Geht klar. Danke.» Sie legte auf und drehte sich Bruch zu, der ihr nach draußen gefolgt war.

«Erstens. Ist dein Handy aus? Mach es wieder an. Zweitens, wir sollen nach Bannewitz.» Sie scrollte auf ihrem Display, suchte die E-Mail und öffnete sie. «Drittens, was war das jetzt gerade wieder? War das dein Plan, die Leute wütend zu machen? Hat super funktioniert!»

«Die Leute sind mir egal. Das Mädchen ist der Schlüssel. Sie weiß was.»

«Na klar. Warum sorgen wir nicht dafür, dass ihr Trauma aufbricht und sie zu einem menschlichen Wrack macht!» Sie sah Bruch an, dessen Haar vom Regen und der feuchten Luft inzwischen völlig durchnässt war. Er müsste frieren in seiner Lederjacke, doch so wie auch ihr Sarkasmus an ihm abprallte, schien ihn auch die Temperatur nicht zu stören. «Warum glaubst du das denn? Kann es nicht wirklich sein, dass das eine mit dem anderen gar nichts zu tun hat? Immerhin liegen zwei Jahre dazwischen.»

«Es ist derselbe Ort und Celina ihre beste Freundin», sagte er trocken.

Er hatte recht. Sie musste runterkommen. Vielleicht war es die Erinnerung an den Tag, als sie nach Hause kam, nachdem sie die ganze Nacht weg gewesen war, voller Angst und Reue, und niemand, wirklich niemand hatte ihre Abwesenheit überhaupt bemerkt. In dem Moment fühlte sie sich nicht mehr nur alleine, nun wusste sie, sie war es auch.

«Hier, da sollen wir hin.» Sie hielt Bruch ihr Handy hin. «In der Zentrale haben sie einen Sexualstraftäter gefunden, der in der Nähe wohnt.»

Bruch sah sich die Mail an. «Das hat damit nichts zu tun.»

Sie drehte das Handy um, damit sie selbst noch einmal einen Blick darauf werfen konnte, nicht dass sie ihm aus Versehen etwas anderes gezeigt hatte, doch es war die richtige E-Mail.

«Ein entlassener Sexualstraftäter. Ganz in der Nähe. Was gibt es denn da zu überlegen?»

«Ich überlege nicht.»

«Felix, wir fahren da jetzt hin.»

Bruch verblüffte sie einmal mehr, indem er sich jetzt einfach geschlagen gab und nickte. Er folgte ihr unter den Blicken der Anwohner zum Wagen.

«Was machen die hier jetzt eigentlich», fragte Schauer, während sie den Motor anließ. «Stehen herum, warten auf Neuigkeiten? Sieht nicht so aus, als ob sie nach dem Mädchen suchen.»

«Eine Mischung aus Empathie und Neugier», erwiderte Bruch auf ihre eigentlich rhetorische Frage. Er sah sich sogar nach den Leuten um. Während er sie betrachtete und abschätzte, blinzelte er nicht einmal. Ein Terminator, dachte Schauer und konnte über ihren Vergleich nicht einmal schmunzeln.

«Ich halte unterwegs noch mal bei einem Bäcker», kündigte sie an. «Hab gar nichts zu essen. Und einen Kaffee könnte ich auch noch mal gebrauchen.»

Bruch reagierte nicht, sie verstand das als Zustimmung.

4

Der Bäcker war schnell gefunden, lag auf direktem Weg durch die lang gestreckte Ortschaft in Richtung Hänichen, einem weiteren Ortsteil von Bannewitz.

Schauer parkte halb auf dem Bordstein, um nicht die Straße zu blockieren. Da Bruch weder Anstalten machte auszusteigen, noch etwas zu ihr sagte, musste sie davon ausgehen, dass er nichts wollte.

«Sie sind wohl von der Polizei?», fragte die Verkäuferin, eine ältere Frau mit grauem Haar, kaum dass Schauer den Laden betreten hatte. Außer ihnen war niemand in der Bäckerei. «Ist das Mädchen noch immer weg?»

Schauer nickte. «Leider.»

«Die ist bestimmt bloß weggelaufen.»

«Meinen Sie?», fragte Schauer in einem Tonfall, der eigentlich zum Ausdruck bringen sollte, dass sie keine Lust auf Spekulationen hatte.

«Ja, na klar, Stadtkinder. Ich sag Ihnen, die andere damals, die war auch nur weggelaufen.»

«Wie kommen Sie denn darauf?»

«Ich denk’s mir halt. Die wollen es nur nicht zugeben. Damals gab’s nämlich einigen Ärger deshalb.»

«Wie meinen Sie das denn?»

«Ach na ja, man hatte so das Gefühl, die glaubten, wir hätten was damit zu tun.»

«Wir? Sie meinen die Alteingesessenen?»

«Ja, was natürlich völliger Quatsch ist. Es gab eben Reibereien, nachdem hier so viele hinzugezogen waren. Hatten uns ja einiges erhofft. Mehr Umsatz. Aber die kaufen ihr Zeug alle in den großen Kaufhallen, gefrorene Brötchen und Brot aus der Maschine.»

«Das da, mit Salami!» Schauer zeigte auf ein belegtes Brötchen. «Wie meinten Sie denn das, dass Sie was damit zu tun hätten. Die haben ja nicht ernsthaft behauptet, die Alteingesessenen hätten das Mädchen damals entführt?»

«Na, gesagt hat das natürlich niemand, ich sag ja, das war so unterschwellig, als könnten wir was dafür. Drei fünfzig bitte.»

«Und zwei Kaffee bitte.»

«Hätten Sie das mal gleich gesagt, dann hätt ich die zuerst gemacht. Das wären dann sieben achtzig.»

Sieben Euro achtzig, wiederholte Schauer in Gedanken. Irrsinn. Das wären fünfzehn Mark sechzig gewesen für ein belegtes Brötchen und zwei Kaffee.

 

«Was hat sie gesagt», fragte Bruch.

«Wie meinst du?»

Bruch schwieg, sah sie an. «Ihr habt miteinander gesprochen», sagte er dann, nach einigen Augenblicken.

Schauer stellte die Kaffeebecher in die Halterungen des BMW, warf den Zucker und Milchpackungen in die Armaturenablage und legte das eingepackte Brötchen ins Türfach. «Nur Waschweibergeschwätz. Dass die aus der Siedlung damals behaupteten, die alten Dorfbewohner hätten mit dem Verschwinden von Linda was zu tun.»

Bruch sah sie an, ohne zu blinzeln. Dass der eine Kaffee für ihn sein sollte, hatte er anscheinend noch nicht registriert. Oder er war einfach nur ein ignoranter Affe, der nicht Danke sagen konnte.

«Du denkst doch nicht ernsthaft drüber nach?», fragte Schauer und startete den Motor.

«Hat sie das konkretisiert?»

«Nee, nur so ein Gefühl», zitierte Schauer. Wie er fragte, ohne die Stimme anzuheben, jeder Satz wie eine Aussage, das machte sie richtig wütend.

«Ungewöhnlich ist das.» Es hörte sich an, als käme gleich noch mehr, doch Bruch hatte fertig. Schauer kniff für einen Moment die Augen zusammen. Dann fuhr sie los.

«Immerhin ist das Mädel ja wieder da und hat niemanden im Dorf beschuldigt.»

«Hast du den alten Mann gesehen. Der stand mit draußen vor dem Haus der Kühns.»

Schauer wusste, wen Bruch meinte. «Ja, der muss mindestens achtzig sein.»

«Der scheint nicht neu hinzugezogen. Den will ich sprechen.»

Schauer wagte einen Blick zur Seite. «Wieso?», fragte sie. «Wieso soll der nicht hinzugezogen sein, und wieso willst du ausgerechnet den sprechen und wieso … ach.» Sie winkte ab. Herr Bruch würde schon wissen warum.

«Der Kaffee ist übrigens für dich!», sagte sie und zeigte auch noch auf den Becher, damit er auch kapierte, dass nur der rechte Becher für ihn war. Man wusste ja nie. Bruch glotzte auf den Becher.

«Danke!», sagte Schauer deutlich.

«Danke», wiederholte Bruch. Doch was war das schon wert, wenn man darum betteln musste.

 

Sven Berger war nicht zur Arbeit erschienen, erfuhren sie auf dem Getränkehof, schon am Vortag nicht. Sie mussten hoffen, dass er daheim war.

«Hast du gehört, gestern ist er auch nicht da gewesen!» Schauer sprach es aus, als wäre es von Bedeutung.

Bruch schwieg dazu. Er mochte nicht sprechen, nicht in diesem Zustand, in dem er sich befand. Wenn ihm jedes Geräusch, jede menschliche Regung wie bittere Galle aufstieß. Das Grau des Himmels sich mit dem Grau in ihm mischte. Jedes Wort zu viel war ihm eine Pein. Und der Tag war noch nicht einmal zur Hälfte um.

«Bist du immer so schweigsam? Wie war denn das mit deinem Kollegen? Sprach der immer für euch? Oder lässt du mich etwa auflaufen, weil ich die Neue bin?» Schauer beschleunigte den Wagen.

Bruch atmete durch. Vier Fragen in fünf Sekunden. Er hatte noch nicht einmal Antwort auf die erste.

Michael hatte gesprochen, wenn es darauf ankam. Michael war anders gewesen als er. Er wollte die Initiative ergreifen. Immer. Wollte der Macher sein. Handeln. Immer überall sein. Das Wort führen. Ihm war es immer recht gewesen. So konnte er sich Worte sparen. Außerdem fuhr Michael zu schnell. Alles war ihm zu langsam. Drei Autos hatte er in zehn Dienstjahren verschlissen. Sein Tod hatte damit nichts zu tun. Wie er ihn in dem Moment angesehen hatte. Warum er ihm diese Frage gestellt hatte, kurz davor? Das alles hatte einen Grund, doch sosehr er sich mühte, sich zu erinnern, in seinem Kopf war nur zähe graue Masse.

Inzwischen hatte Schauer die Geduld schon wieder verloren. «Okaaay, ich seh schon, das wird noch lustig mit uns beiden.»

«Ich schweige lieber», sagte Bruch aus demselben Grund, aus dem er vorhin den Kaffee getrunken hatte, eine Art Pflichtgefühl.

Es war nicht weit zu Sven Bergers Wohnung. Sie befand sich in einem großen Wohnhaus, das zwischen mehreren gleich aussehenden Wohnhäusern stand und Wohnraum für bestimmt zweihundert Menschen bot. Der ganze Komplex war recht neu, kein typischer Sozialwohnungsbestand. Vermutlich hatte man wirklich versucht, den Mann ins wahre Leben zu integrieren, nicht in die Subkultur der Plattenbaughettos. Was auch immer das wahre Leben war.

«Wenn der nicht aufmacht, stehen wir dumm da», murmelte Schauer, während sie die Klingelschilder studierte.

«Er hat Auflagen, er wird öffnen müssen.» Bruch hatte die Klingel längst gefunden, konnte nicht länger warten und drückte auf den Taster.

«Wasn?», plärrte es aus der Sprechanlage.

«Herr Berger? Kripo. Lassen Sie uns rein!»

«Hä! Kripo?»

«Herr Berger, lassen Sie uns rein.»

«Gleich, muss erst was anziehen!» Die Verbindung brach ab.

«Oder was wegräumen», raunte Schauer.

Kurz darauf summte der Türöffner. Bruch drückte die Tür auf, ließ Schauer zuerst hinein.

«Treppe oder Aufzug?», fragte sie.

«Aufzug.»

«Aber woher wissen wir, welche …»

«Vierte.» Das hatte man anhand der Anordnung der Klingeln erkennen können.

In der Vierten angelangt, stand dort schon ein Mann in der offenen Wohnungstür. Besonders schick hatte er sich nicht gemacht. Trug ausgebeulte Jogginghosen, einen labbrigen Pullover und Badelatschen. Sein Haar war schütter. Er hatte einen ordentlichen Bauchansatz, vermutlich vom Bierkonsum. Einige Tätowierungen zierten seinen Hals und die Finger. Hässliche kleine Bilder. Von einem Laien gestochen.

«Was wolltn ihr hier?», fragte er.

«Gehen wir rein!», bestimmte Schauer.

«Dürft ihr das überhaupt?»

«Wollen wir es rausfinden? Ist da was drin, das wir nicht sehen sollen?»

«Nee, Mann, ich mein doch nur.» Berger gab nach, schlurfte in seine Wohnung hinein. Schauer und Bruch folgten ihm.

Die Wohnung war in keinem guten Zustand, das Laminat verdreckt, die Wände abgegriffen, die Türen angeschlagen. Kaum zu glauben, dass er erst vier Monate hier wohnte.

«Braucht ihr nicht zu glotzen, hab die Bude so bekommen.»

Das musste eine glatte Lüge sein. Auf dem Couchtisch standen leere Bierflaschen, eine Großpackung loser Tabak, Zigarettenpapier. Es war kalt in der Wohnung, vermutlich weil er glaubte zu lüften, indem er alle Fenster ankippte. Dabei stank es penetrant nach Rauch. Unterdessen knisterte die Heizung voll aufgedreht. Die Möbel waren billig, vermutlich komplett aus zweiter Hand.

«Haben Sie nur dieses Zimmer?», fragte Schauer.

«Nee, nochn Schlafzimmer.»

«Ich seh mir das an!» Schauer trat zurück in den Flur. Berger wollte ihr nach, doch Bruch stellte sich ihm in den Weg.

«Setzen», befahl er. Berger zuckte mit den Achseln und ließ sich auf die Couch fallen. Er nutzte die Zeit, drehte sich mit geschickten Bewegungen eine Kippe, zündete sie an und lehnte sich in großer Geste zurück, legte den Arm auf die Rückenlehne der Couch. Grinste. Zwei Frontzähne fehlten ihm, einer oben, einer unten.

«Die wird da nix finden.»

«Das heißt, es gibt was zu finden», sagte Bruch.

«Nee, nur dass es nichts zu finden gibt. Weshalb seid ihr denn hier?»

«Warum waren Sie gestern nicht arbeiten?»

«Habs vergessen und eh kein Bock, der Penner dort nervt nur.»