Bruckmandls böse Buben - Lisa-Marie Hallberg - E-Book

Bruckmandls böse Buben E-Book

Lisa-Marie Hallberg

2,0

Beschreibung

Zwischen Bankenwelt und Rotlichtmilieu: Spannender Krimi aus Regensburg

Stressige Arbeitstage werden bei ausschweifenden After-Work-Parties beendet. Zumindest in der Welt von Regensburger Bankdirektor Roger Gelhoff ist das einfach Pflicht. Er veranstaltet in seiner Villa exklusive Feiern, bei denen die Spezlwirtschaft zur Höchstform aufläuft. Dann brechen jedoch gleich vier Tote in einer scheinbar unzusammenhängenden Mordserie über die Welt der systemrelevanten Entscheidungsträger der Domstadt herein. Was die Feierlaune zunächst nicht wesentlich beeinträchtigt, wird durch die Mordermittlungen zum Störfaktor. Wer sind die Toten? Und was verbindet sie mit den Banken und dem Rotlichtmilieu von Regensburg? - Bruckmandls böse Buben: der spannende Debütroman der Krimiautorin Lisa-Marie Hallberg
- Bankdirektor mit Verbindung zu Bordell-Chefin: Ist Roger Gellhoff der Schuldige?
- Krimigeschichte zum Mitraten mit äußerst überraschendem Ende
- Regionalkrimi aus der Oberpfalz mit mörderisch guten After-Work-Parties
- Das Ermittler-Duo Toni Pflamminger und Franziska Lux auf Tätersuche in Regensburg

Bayern-Krimi aus dem „Hinterzimmer der Macht“: Wenn Spezlwirtschaft tödlich endet

Vier Tote, kaum Anhaltspunkte und ein Bankdirektor, der vor allem eines will: Seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen aufpeitschen. Er und die Bordell-Chefin und Party-Organisatorin Tamara Broncovic geraten schnell ins Visier der Ermittler. Doch haben sie wirklich etwas mit der grausamen Mordserie zu tun? Zwischen schlagfertigen Dialogen und mitreißenden Situationen kommt in diesem Krimi mit Humor eines ganz sicher nicht auf: Langeweile! Ein Muss für Fans von Krimigeschichten zum Miträtseln und überraschenden Wendungen.

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Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind rein zufällig 

 

 

 

 

 

Lisa-Marie Hallberg (Ps), aufgewachsen in der Nähe von Regensburg. Ausbildung zur Bürokauffrau. Nach dem Studium der Sozial-Pädagogik arbeitete sie als Kulturschaffende in München. 

 

 

 

 

 

 

Vollständige e-Book-Ausgabe 2023 

 

Originalausgabe: »Bruckmandls böse Buben« 

Copyright © 2023 WOLFSTEIN VERLAG 

ein Imprint der Spielberg Verlagsgruppe, Neumarkt 

Korrektorat: Hanë Bytyqi 

Umschlaggestaltung: Ria Raven www.riaraven.de 

Umschlagillustration: © shutterstock.com 

Alle Rechte vorbehalten 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung 

können ziviloder strafrechtlich verfolgt werden. 

 

ISBN: 978-3-95452-122-7 

 

www.spielberg-verlag.de 

Inhaltsverzeichnis

Bruckmandls böse Buben 

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Bruckmandls böse Buben 

Mit nacktem Oberkörper stand er am offenen Fenster und rauchte eine Zigarette. Er roch nach Schweiß. Seit Stunden wartete er auf seine Frau. Vielleicht kam sie heute früher nach Hause? Nüchtern betrachtet rechnete er nicht damit. Trotz der traurigen Gewissheit, die er zu verdrängen suchte, hoffte er sehnlichst alles würde sich zum Guten wenden. Warum tat sie ihm das an? Hatte er sie unterschätzt? Brauchte sie ihn nicht mehr? Zeigte sie nun ihren wahren Charakter? Von früh bis spät, Stunde um Stunde, die quälenden Gedanken. Das ging nun seit Monaten so. Er wusste mit wem sie die Nächte verbrachte. Er fühlte sich zutiefst gekränkt und hilflos. Den grenzenlosen Hass auf den verfluchten Nebenbuhler, der sein Chef war, konnte er nur noch mit Hochprozentigem im Zaum halten. Die Leuchtziffern seiner Armbanduhr zeigten vier Uhr zehn. Die Stadt schlief noch. Die kleine Lampe über seinem Bett warf einen schmalen Strahl auf den dunklen Flur, auf dem er seit Stunden wie ein Schlafwandler auf und ab ging. So konnte es nicht weitergehen, er musste endlich handeln, Klarheit schaffen. Leichter gesagt als getan. Nicht jetzt, nicht heute, morgen, spätestens übermorgen. Er drückte die Zigarette in den übervollen Aschenbecher, wollte sich noch eine Stunde hinlegen. Zwecklos, er fand keinen Schlaf.

Schweren Schrittes ging er wieder zum Fenster im Flur. Von hier oben hatte er einen direkten Blick auf das beleuchtete Hoftor, durch das seine Frau kommen würde. Sie kam nicht. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. Irgendetwas war heute anders als sonst. In seiner Verzweiflung dachte er an seine erste Frau Melitta. Vor fünfzehn Jahren war sie an Krebs gestorben. Mit ihr war er dreiundzwanzig Jahre glücklich verheiratet gewesen. Kinder waren ihnen nicht vergönnt. Lange hatte er um seine geliebte Melitta getrauert, aber vor vier Jahren begann ein neues Leben. Er heiratete die junge, lebenslustige Natascha und empfand sie als Geschenk des Himmels. Möglich gemacht hatte die Heirat eine Wiener Partneragentur. Die aufgeweckte und wissbegierige Natascha aus Bulgarien hatte ein heiteres und gewinnendes Wesen. Sie arbeitete als Schuhverkäuferin und lernte im Eiltempo die deutsche Sprache. Alles hatte so wunderbar begonnen. Vom ersten Tag an verstanden sie sich prächtig. Der Altersunterschied schien Natascha nicht zu stören. Oder hatte sie ihm etwas vorgegaukelt, um schneller in den Westen zu gelangen? Heftige Zweifel nagten Tag und Nacht an ihm. Er musste das Problem endlich aktiv angehen, bevor es zu spät war. Natascha drohte mit der Scheidung, wenn er sich, penetrant wie ein spießiger Opa verhielt.

„He, Charly entspann’ dich! Ich komme wieder, okay?“, sagte sie gestern, während sie sich schminkte.

Er hatte sich vorgenommen, mit ihr zu reden, ohne ihr etwas vorzuwerfen, aber Nataschas abweisendes Grinsen traf ihn wie ein vergifteter Pfeil mit Widerhaken. Ihre Kälte schnürte ihm die Kehle zu. Er war außerstande auch nur ein Wort hervorzubringen.

Eine heitere Melodie summend verließ Natascha die Wohnung direkt in die Arme dieses Hurenbocks. Sie war verrückt nach ihm. Er musste nur mit dem Finger schnippen und es war um sie geschehen.

He Charly, hämmerte es in seinen Gedanken nach. Er hasste es, wenn sie ihn Charly nannte. Verdammt, er hieß Fred und war keine dreißig mehr, aber das wusste sie doch von Anfang an.

Zweimal die Woche wollte er ein Fitnessstudio besuchen, den Alkoholkonsum reduzieren und weniger rauchen. Es haperte an der Umsetzung. Wenn Natascha abends zu Hause blieb, was selten vorkam, aß er nur Obst, zwängte sich in ein Stützkorsett, strampelte auf dem Hometrainer, um ihr zu zeigen, ab sofort würde er abnehmen. Als sie das teure Korsett entdeckte, lachte sie hysterisch und verspottete ihn aufs Übelste.

Er seufzte schwer, nahm einen satten Schluck Bier, als plötzlich von unten ein wütendes Geschrei heraufdrang. Vor dem Hotel Blauer Schwan gab es mit drei nicht mehr ganz nüchternen, jungen Männern ein Handgemenge. Der Rezeptionist hatte sie wohl aus der Hotelbar geworfen und drohte die Polizei zu rufen, sollten sie nicht sofort abhauen. Die Männer grölten noch eine Weile herum, schließlich zogen sie schwankend davon.

Erste helle Strahlen schimmerten am Horizont. Die Morgenluft war noch erträglich. Der Wetterbericht kündigte einen heißen Tag an, der Freds Mansardenwohnung wieder kräftig aufheizen würde.

In gut einer Stunde begann sein Arbeitstag. Er ging in die Küche, füllte die Kaffeemaschine mit Pulver und Wasser. Er duschte kalt, trank starken Kaffee, das Morgenmagazin flimmerte über den Bildschirm, es interessierte ihn nicht, er schaltete das Gerät ab, räumte leere Bierflaschen weg, schlüpfte in den grauen Arbeitskittel, steckte eine Packung Pfefferminzbonbons ein, dachte an Natascha, fuhr mit dem Aufzug in den Keller und begann seinen Routinerundgang.

Seit zweiundvierzig Jahren versah Fred Schlunzinger den Hausmeisterdienst in der PORTA Bank. Jeden Tag war er in den weitläufigen Fluren unterwegs, grüßte jeden freundlich, war sofort zur Stelle, wenn seine Hilfe benötigt wurde. Die zermürbenden, ihm zusetzenden Eheprobleme ließ er in der Wohnung zurück. Wenn er die Stimme des Chefs hörte, ging ihm das sprichwörtliche Messer in der Hose auf. Trafen sie im Haus aufeinander, gingen sie mit angespannten Gesichtszügen grußlos aneinander vorbei. Waren Mitarbeiter in der Nähe, reichte es gerade für ein gepresstes Guten Tag. Fred kostete es große Überwindung den Schein zu wahren, obwohl es in ihm brodelte.

Auf dem Restaurantschiff Donauwalzer wurde der hochgeschätzte Direktor Lutz Langhofer für sein erfolgreiches Arbeitsleben mit Ehrungen überhäuft und in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Eine Ära ging zu Ende. Sein Nachfolger triumphierte. Ab sofort hielt Roger Gellhoff die Zügel fest in den Händen. Er würde die PORTA Bank in eine glänzende Zukunft führen, dies war einer seiner Vorsätze.

Roger Gellhoff hatte hundertdreißig Bewerber aus dem Feld geschlagen. Das fünfzehnköpfige Vorstandsgremium hatte sich für ihn, den jungen Wilden, entschieden. Er würde alte Zöpfe abschneiden und innovative Maßstäbe setzen, die Abteilungsstrukturen verändern, die gesamte Finanzdienstleistungspalette modernisieren und das Personal auf seinen Kurs einschwören.

Zeitenwende! Endlich! Junge Mitarbeiter ließen die Sektkorken knallen. Die Mehrheit der Belegschaft, allen voran Ältere, standen dem Wechsel in der Chefetage skeptisch gegenüber.

Der bringt’s nicht … zu jung … zu unerfahren … zu impulsiv … es fehle an nötiger Reife … seine radikalenIdeen passen nicht in unsere Bank … gingen Einschätzungen und Befürchtungen wie in einer geheimen Rohrpost durch alle Abteilungen.

Vor fünf Jahren kam Roger Gellhoff zur PORTA Bank. Vom ersten Tag an stand Direktor Langhofer dem zielstrebigen Absolventen einer Eliteuniversität wohlwollend gegenüber. Das Mentoring für den neuen Mitarbeiter schien perfekt. Die steile Karriere des jungen Wilden war beispiellos.

Roger Gellhoff, der gutaussehende frisch ernannte Bankdirektor, gerade mal zweiunddreißig, schmal in den Hüften, fast einen Meter neunzig groß, mit kurzen,dichten,blonden Haaren, zog stets die Aufmerksamkeit auf sich. Aufgrund seiner herausragenden Position im ältesten Bankhaus der Stadt und Mitgliedschaft in mehreren einflussreichen Vorstandsgremien, war er häufig in Printmedien und Internetforen präsent. Sein makelloses Gesicht, die großen blauen Augen, sein gewinnendes Wesen beeindruckten viele, die ihm zum ersten Mal begegneten. Während des Studiums in London hatte sich der Adonis auf dem Laufsteg ein stolzes Honorar dazuverdient. Wegen unersprießlicher Vorfälle mit Kolleginnen sexueller Art, hatte ihm die Chefin fristlos gekündigt.

Mit großen Schritten eilte Gellhoff ans Rednerpult, setzte sein charmantestes Lächeln auf und holte das Redemanuskript aus der Innentasche des dunkelblauen Armanianzugs. Mit anrührenden Worten bedankte sich der neue Direktor bei seinem Förderer Lutz Langhofer „… vierundvierzig Jahre der PORTA Bank die Treue gehalten hat. In guten wie in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, lenkte Herr Langhofer mit Geschick und Professionalität das Bankhaus … neben den operativen Geschäften war seine Personalpolitik beispiellos und vorbildhaft … stets hatte er ein offenes Ohr für die Probleme und Nöte seiner Mitarbeiter … wie ein verständnisvoller Vater … gab sein Herzblut … und nun wünschen wir Herrn Langhofer einen wohlverdienten Ruhestand …!“

Prominente Köpfe des öffentlichen Lebens und die gesamte Belegschaft, die zur Verabschiedung des Bankdirektors auf das Restaurantschiff geladen waren, erhoben sich, Applaus brandete auf. Die Rede des Nachfolgers ging unter, interessierte kaum jemanden. Ein letztes Mal ließen die Mitarbeiter den Scheidenden hochleben. Lutz Langhofer sah nicht aus wie ein Mittsechziger, der sich seit vielen Jahren diesen Tag herbeisehnte. Im Gegenteil. An seinem sechzigsten Geburtstag sagte er: „In fünf Jahren bin ich Rentner. Für mich schwer vorstellbar morgens aufzuwachen und festzustellen, das aktive Arbeitsleben ist passé.“

Schlank und rank stand der Senior Chef neben seiner Frau und ließ die Huldigungen über sich ergehen. Vielen Mitarbeitern wurde schlagartig klar, eine erfolgreiche Ära ging zu Ende, Taschentücher wurden gezückt, Tränen flossen und viel Alkohol.

„Mein lieber Lutz … Mein lieber Lutz“, versuchte Gellhoff sich noch mal Gehör zu verschaffen, „was du für die PORTA Bank in den vergangenen vier Jahrzehnten geleistet hast, wird uns noch viele gute Jahre bescheren … uns mit Zuversicht in die Zukunft tragen und die neuen Herausforderungen …“

Die Zuhörer applaudierten frenetisch. Lutz Langhofer war zu Tränen gerührt, erhob sich erneut und verneigte sich mehrere Male.

„Herr Langhofer, wir werden Sie vermissen … “, fuhr Gellhoff beinahe beschwörend fort.

Seine Rede ging in den Jubelrufen unter.

„We love you … we will miss you … we love you … “, riefen Mitarbeiter dem scheidenden Direktor im Chor entgegen.

Roger Gellhoff lächelte in die tosende Menge, versuchte mit beiden Händen die Applaudierenden zu beruhigen - vergeblich. Scheinbar geduldig wartete er ab, bis die lautstarke Würdigung des Vorgängers endlich abebbte. Dem war aber nicht so.

Die geladenen Gäste, überwiegend Mitarbeiter der PORTA Bank, die dem verehrten Chef die Hand schüttelten, sich bedankten, ihn umarmten, Beifall klatschten, hatten nicht die leiseste Ahnung, was ihnen bevorstand.

Freunde der christlichen Seefahrt, der Wind hat sich gedreht, dachte der wartende Gellhoff genervt … zum Henker! Das ist doch zum Kotzen! Klatscht euch doch die Hände wund. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen. Okay, that’s the name of the game. Wie der Engländer sagt. Verdammt! Schluss jetzt! Es wurde ihm zu bunt. Dann leckt mich doch, dachte Festredner Gellhoff wütend, ließ das Redemanuskript in die Seitentasche der Anzugjacke verschwinden, lächelte generös in die tosende Belegschaft, deren Aufmerksamkeit sich nur noch auf den Senior Chef fokussierte. Roger Gellhoff verließ das Podium, eilte zu Langhofer, schüttelte ihm die Hand mit einer tiefen Verbeugung, während eine Blitzlichtorgie die symbolische Stabübergabe von Alt zu Jung festhielt.

„Mein verehrter Herr Langhofer, genießen Sie den längsten Urlaub der Welt! Frönen Sie alle Ihre sportlichen Aktivitäten und aufregenden Hobbys.“

Und bleiben Sie mir vom Leib, fuhr er in Gedanken fort. The game is over. Mit einem breiten Lächeln beobachtete er die Reaktion des scheidenden Direktors, dem die Ratschläge für ein gelingendes Rentnerdasein mit Sicherheit seelische Seitenstiche verursachten.

Wenn es Zeit ist zu gehen, sollte man den Abschied nicht in die Länge ziehen, hatte Gellhoff seinem Förderer beim letzten Arbeitsgespräch im Beisein des gesamten Aufsichtsrates gesagt.

Alle hatten nur noch Augen für Langhofer. Das Händeschütteln und die Umarmungen nahmen kein Ende.

Innerlich angewidert eilte Gellhoff zum Ausgang. Er hasste die überbordende Empathie für den alten Mann, der unter Jubelrufen aufs Abstellgleis geschoben wurde. So war es nun mal, das Alte und Erschöpfte musste der jungen Kraft weichen. Der König ist tot, es lebe der König!

Die Sonne stand bereits tief, als Gellhoff das Restaurantschiff mit großen Schritten verließ und in das wartende Taxi stieg. Die schräg einfallenden Strahlen funkelten und glitzerten verspielt auf der Wasseroberfläche des Donaustroms. Während die untergehende Sonne den Horizont zartrosa färbte, schwang die Festgesellschaft das Tanzbein bis weit nach Mitternacht.

Fred Schlunzinger war der Abschiedsfeier auf dem Restaurantschiff ferngeblieben. Kollegen berichteten ihm haarklein, was er versäumt habe. Wegen heftiger Halsschmerzen sah er sich außerstande teilzunehmen.

Fred Schlunzinger zog zwei prall gefüllte Müllsäcke langsam über den Hof. Wieder hatte er eine schlaflose Nacht hinter sich, war müde und schlecht gelaunt. Natascha war nicht nach Hause gekommen. Er verdrängte den Gedanken so gut es ging. Mit großer Kraftanstrengung wuchtete er die Säcke in den Container. Beim Weggehen wäre er beinahe über zwei lange Hosenbeine in löcherigen Turnschuhen gestolpert. Er bückte sich und erschrak.

„Jessas, da liegt einer?“ Er sah genauer hin. „Mein Gott …?“

Der leblose Mann hatte auffallend blaue Lippen und getrocknetes Blut im Gesicht.

„Können Sie mich hören?“

Keine Reaktion. Schlunzinger betastete die Halsschlagader des Regungslosen. Bewusstlos oder …?

Schlunzinger alarmierte die Polizei samt Notarzt. Ein weiterer Anruf ging an Harry Grammel aus der Controllingabteilung. Dieser war neben seinem Job ausgebildeter Ersthelfer und in Notfallsituationen innerhalb der Bank sofort zu benachrichtigen. Schlunzinger zog seinen Arbeitskittel aus, schob diesen zusammengerollt und vorsichtig unter den Kopf des am Boden liegenden Mannes.

Etwas außer Atem kam Grammel mit dem Ersthelferkoffer angerannt.

„Er blutet am Hinterkopf. Verband, schnell!“, drängte Schlunzinger seinen Kollegen.

Vorsichtig versorgten sie die Wunde so gut sie konnten.

„Sieht nach einem Herzinfarkt aus“, mutmaßte Grammel.

Er hielt dem Mann einen kleinen Spiegel vor den Mund.

„Lebt er noch?“

Der Kollege schüttelte ratlos den Kopf, hob die Schultern und sagte: „Er riecht stark nach Alkohol. Vielleicht stockbesoffen?“

Grammel und Schlunzinger wickelten den Verletzten in eine Wolldecke.

„Harry, den kenne ich von irgendwoher? Ja genau, der schleicht ab und zu zwischen den Mülltonnen herum.“

Schlunzinger kratzte sich hinterm Ohr und musterte konzentriert das lädierte Gesicht des Verletzten.

„Du kennst ihn“, sagte Grammel überrascht.

„Vielleicht verwechsle ich ihn mit jemandem?“

 

Der Notarztwagen fuhr auf den Hof. Für den Mann zwischen den Müllcontainern kam jeder Hilfe zu spät. Die Kratzspuren im Gesicht, das verklebte, angetrocknete Blut zwischen den Haaren und an der Jacke schlossen eine Gewalttat nicht aus.

Die Mordkommission und die Spurensicherung nahmen die Arbeit auf. Im Rucksack des Toten befanden sich ein kleiner Fotoapparat, selbstgedrehte Zigaretten, drei Handtücher, ein Toilettenbeutel mit Seife, Haarshampoo, Parfüm, Kamm, Schere, Rasierapparat, eine große Packung Heftpflaster. In einer kleinen Geldtasche kamen vierhundert Euro und ein paar Zerquetschte zum Vorschein. Personalausweis? Handy? Fehlanzeige. Wer war der Mann, der sich zum Sterben im Hinterhof der PORTA Bank zwischen die Mülltonnen gelegt hatte? Wie gelangte er durch die mehrfach abgeriegelte Sicherheitstür?

Alter, schätzungsweise Ende dreißig? Groß, spindeldürre Gestalt. Rote lange, zottlige Haare. Markantes Gesicht, ungepflegter Vollbart. Was suchte der Fremde im Hinterhof der Bank? Durchwühlte er die Mülltonnen? Suchte er nach Dokumenten, die Hausmeister Schlunzinger manchmal statt zu schreddern, der Einfachheit halber in Säcke stopfte und in die Papiertonne warf.

Bankmitarbeiter standen in Grüppchen zusammen, waren entsetzt, beobachteten die Arbeit der Kriminaltechniker, fragten Grammel und Schlunzinger ein Loch in den Bauch.

„Wie gelangte der Fremde in den abgeschlossenen Hof? War er drogensüchtig, krank oder beides? Hatte er kein Handy? War er ohnmächtig geworden und dabei vielleicht mit dem Kopf gegen die Wand geknallt? Wurde er erschlagen? Ein Mord in unserem Hinterhof? Entsetzlich! Schrecklich! Grausam! Wie im Wilden Westen. Unsere Gesellschaft verrohte zusehends …“

Vier Polizeibeamte sicherten den Tatort, forderten herumstehende Gaffer auf den Hof zu verlassen, um die kriminaltechnischen Arbeiten der Spurensicherung nicht zu behindern.

Hauptkommissar Pflamminger wollte vom Hausmeister wissen, ob er nachts oder am frühen Morgen wegen ungewöhnlichen Geräuschen aus dem Schlaf gerissen wurde. Vielleicht habe jemand um Hilfe gerufen oder jemand sei über die Mauer, oder das Hoftor geklettert, ein davonbrausendes Fahrzeug, quietschende Autoreifen?

Schlunzinger verneinte kopfschüttelnd und sagte: „Wenn ich im Tiefschlaf bin, könnte mich jemand aus der Wohnung tragen, ich würde nicht wach werden.“

Schlunzinger lächelte unsicher, wischte sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß von Stirn und Nacken und jammerte: „Am Vormittag schon wieder so eine Hitze und das Anfang Mai.“

Während Schlunzinger und Pflamminger noch miteinander redeten, kam Grammel aufgeregt aus der Tür gesaust, ging zum nächsten Uniformierten und bat ihn mitzukommen. Gleichzeitig rief er dem Hausmeister zu, ihm zu folgen.

Schlunzinger und Pflamminger unterbrachen ihr Gespräch und folgten Grammel hinunter in den Keller zu den Safe-Räumen. Angestellte, die gegen halb acht als Erste in die Bank kamen, wurden von Kommissaranwärterin Lux befragt, ob ihnen etwas aufgefallen war. Fremde Personen im Hinterhof, im Flur, Geräusche, Schreie oder irgendetwas Ungewöhnliches? Aber die fünfzehn Befragten konnten keinen einzigen Hinweis beisteuern, der auch nur im Entferntesten etwas mit dem Toten im Hinterhof zu tun haben könnte. Für alle Fälle sicherte ein Mitarbeiter der KTU die Fingerabdrücke der Befragten, was diese nicht lustig fanden.

Lux eilte ihrem Chef hinterher, der mit Schlunzinger bereits die Treppe hinunterstieg.

Sowohl an der Brandschutztür als auch an der Stahltür, die zu den Safe-Räumen führten, waren eindeutige Spuren zu erkennen plus einer stinkenden Hinterlassenschaft. Jemand, vielleicht waren es auch zwei oder drei Personen, hatte einen großen Haufen neben der Tür hinterlassen und an die Wand gepisst. Außerdem wurde versucht die gesicherte Doppeltür gewaltsam zu öffnen. Neben heftigen Dellen und Kratzern, vermutlich mit Hammer und Brecheisen verursacht, klebte ein großes weißes Papier, auf dem in roten Großbuchstaben stand:

GELLHOFF, DU PERVERSE DRECKSAU! WINDIGER MÖCHTEGERN-BANKER! ELENDIGER BLENDER UND BETRÜGER! WIR KOMMEN WIEDER! WIR KRIEGEN DICH!

Der junge Bankdirektor Roger Gellhoff wirkte fahrig, fuhr sich durchs Haar, wechselte schnelle Blicke zwischen Hauptkommissar Toni Pflamminger und Assistentin Franziska Lux, schließlich sagte er mit getragener Stimme: „Der Vorfall muss selbstverständlich diskret behandelt werden. Zu viel Pressewirbel schadet dem Image des Hauses. Langjährige Kunden könnten auf die Idee kommen ihr gesamtes Kapital der Konkurrenz anzuvertrauen. Versetzen Sie sich mal in meine Lage. Ich habe das Steuer in der Bank gerade übernommen und mir den Start als integrer Chef entspannter vorgestellt. Ein Toter im Hinterhof könnte so manchen Journalisten ins Land der Fantasien abgleiten lassen. Das muss unbedingt vermieden werden. Vor allem darf der bescheuerte Zettel an der Tür in keiner Pressemeldung erscheinen. Ich bin ein zukunftsorientierter Mensch, den so schnell nichts aus der Fassung bringt. Höchstwahrscheinlich haben sich pubertäre oder zugekiffte Ökotypen oder psychisch gestörte Fanatiker einen üblen Scherz erlaubt. Kurzum, ich sehe von einer Anzeige ab. Der versuchte Einbruch ist ein Fall für die Versicherung. Kann ich mich auf die Diskretion der Polizei verlassen?“

Pflamminger und Lux warfen sich fragende Blicke zu. Was hielt ihn von der Anzeige ab? Tiefschürfende Nachfragen? Wertete er die Vorfälle als schlechtes Omen beinahe zeitgleich mit seinem Antritt als Bankdirektor? War er abergläubisch? Oder hatte er was zu verbergen?

Der Hauptkommissar rückte die rätselhaften Ereignisse in der Bank aus seiner Sicht zurecht. Ein lebender oder toter Obdachloser interessierte kaum jemanden. Oftmals distanzierten sich Angehörige gestrandeter Familienmitglieder unter Brücken oder zwischen Mülltonnen. Selbst die Medien erwähnten den Tod eines Wohnungslosen mit zwei, drei kurzen Sätzen auf der letzten Seite. Eine weithin bekannte gesellschaftliche Ignoranz. Sollte sich jedoch herausstellen, der Leblose im Hinterhof sei durch Gewaltanwendung zu Tode gekommen, müsste sofort in alle Richtungen ermittelt werden.

„Sobald wir den Obduktionsbefund vorliegen haben, wissen wir mehr“, sagte Chefermittler Pflamminger klar und deutlich.

Merkwürdig erschien den Ermittlern die nervös zuckenden Augenlider des jungen Bankers. Auffallend waren auch seine geweiteten Pupillen. Aufregung? Unsicherheit? Misstrauen der Polizei gegenüber, die peinlichen Vorfälle würden sich ruckzuck durch die gesamte Medienlandschaft ergießen? Das ließ sich leider nicht immer verhindern. Damit musste das Krisenmanagement der Bank selbst klarkommen.

Gellhoff sprang vom Chefsessel hoch, rieb seine Hände aneinander, als ob er gegen einen Juckreiz ankämpfte und sagte eine Spur zu hastig: „Herr Kommissar, selbstverständlich stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Sie wissen ja, ein Bankdirektor kennt keinen Achtstundentag … nun ja, was ich sagen möchte, es gibt für alles eine tragfähige Lösung.“

Er lächelte breit und fuhr fort: „Nur eine Frage der Verhältnismäßigkeit.“

Gellhoff reichte zwei Visitenkarten über den großen gläsernen Schreibtisch, der Fortschritt, Fashion und Transparenz illustrieren sollte.

Pflamminger nickte, setzte ein dienstbeflissenes Lächeln auf und wunderte sich über den Ratschlag, es gäbe für alles eine tragfähige Lösung. Pflamminger glaubte aus dem Augenwinkel heraus bei seiner Kollegin eine ähnliche gedankliche Reaktion zu erkennen.

„Na dann“, sagte Gellhoff um Nonchalance bemüht, lächelte sphinxhaft, gefolgt von taxierenden Blicken auf die Kriminalbeamten.

 

Auf dem Hof flüsterte Lux ihrem Chef zu: Die Spurensicherung hat den Thesenanschlag …“

„An der Kirchentür zu …“, sagte er mit besorgter Miene.

„Ich habe die Kamera draufgehalten. You never know?“, unterbrach ihn Lux augenzwinkernd.

„Mitgedacht. Gut gemacht“, lobte er seine Assistentin und entsicherte die Autotüren.

„Hat der Banker ein Zappelphilippsyndrom? Sieht fast danach aus“, sagte Lux etwas nachdenklich, legte den Gurt um und checkte ihr Smartphone.

SMS von Holger: Gut angekommen. Wetter gut! Mangiare fantastico! Geschäftspartner anstrengend. Pass auf dich auf!!! Amore!!! Wir telefonieren heute Abend. Ciao Bella!!!

„Ist Holger in Mailand gut gelandet?“, wollte Toni Pflamminger neugierig wissen, während er den Motor anwarf.

Lux ließ das Handy in der Seitentasche verschwinden, hielt den Daumen nach oben und sagte mit einem Lächeln: „Tutti kompletti, alles paletti.“

Der Chef grinste seine Kollegin von der Seite an, steuerte das Auto langsam vom Hinterhof der Bank auf die Straße und sagte: „Vielleicht hat der Zappelphilipp sogar Recht und das Ganze löst sich in Kürze in Luft auf.“

Chefermittler Pflamminger winkte den Kollegen in weißen Schutzanzügen zu. Die Spurensuche der KTU am Tatort würde sich mit Sicherheit noch mehrere Stunden hinziehen.

„Auf mich wirkte der Banker nicht nur auffallend nervös, sondern auch unsicher und blockiert“, bemerkte Lux.

Spontan dachte sie an ihren Cousin Markus, der bereits mit fünf Jahren an einer Hyperaktivitätsstörung litt, nie stillsitzen konnte und lärmend durch die Wohnung tobte. Es nahm seinen Anfang, als sich seine Eltern trennten und der Vater von seinem Sohn nichts mehr wissen wollte.

„Unerfahren, vielleicht überfordert“, vermutete Pflamminger.

„Chef, haben Sie sein häufiges Augenflimmern, Lidzucken und das intensive Reiben mit den Händen bemerkt?“

„Ist mir nicht entgangen. Der sitzt noch keine zwei Wochen im Chefsessel, folglich noch nicht sattelfest.“

„Es gibt für alles eine tragfähige Lösung. Hammersatz oder? Verbale Suggestion beherrscht er schon“, sagte Lux nachdenklich.

„Typisches Geschwafel von arroganten Managern. Glauben für alle Unwägbarkeiten des Lebens eine ‚tragfähige‘ Lösung in der Schublade zu haben. Selbst wenn sie den Konzern an die Wand gefahren haben. So what, alles halb so schlimm. Eine hohe Abfindung für den Big Boss ist immer drin.“

Rebecca Reischl trank mit dem neuen Praktikanten Lorenz Kramer eine Tasse Kaffee. Rebecca, „my best right hand“, wie der Chef seine Mitarbeiterin manchmal scherzhaft nannte.

Rebecca Reischl, Ende zwanzig, figürlich gut aufgestellt, ausladende Hüften mit zu viel Fleisch bepackt, wie sie sich selbst sah, war seit zwei Jahren in Pflammingers Team und hatte den Wechsel zum K1 keinen Tag bereut. In der K8 zeigte man für ihre private Situation wenig Verständnis. Ihr vierjähriger Sohn Tommy hatte einen schwierigen Start ins Leben. Tommy, Resultat eines One-Night-Stand mit dem attraktiven Bill Glennson, Offizier der US-Garnison Bavaria Grafenwöhr. Der smarte Offizier ließ sich in die Heimat versetzen. Neben dem monatlichen Scheck wollte Bill keinen Kontakt zu seinem Sohn. Begründung: Er habe seine Jugendliebe Sandy geheiratet.

„I am very sorry! I wish you and Tommy all the best!“, war seine letzte Mail von vor drei Jahren.

Rebecca zog mit Tommy zu ihren Eltern.

„Mein Gott, Herr Kramer warum erzähle ich ihnen das alles“, seufzte Reischl, strich ihr schulterlanges blondiertes Haar hinter die Ohren und ärgerte sich über ihre Offenheit dem jungen Mann gegenüber.

„Tja, das Leben hält manchmal Überraschungen bereit, die einen …“, sagte Lorenz Kramer.

„Fast aus der Bahn werfen, aber jetzt erzählen … Sie oder lieber du …?“

„Rebecca, ich freue mich mit dir, Frau Lux und Herrn Pflamminger, also in eurem Team mitarbeiten zu dürfen.“

Sein bubenhaftes und erfrischendes Lächeln ließ sein Grübchen am Kinn sichtbar werden. Rebecca hatte ein Faible für Männer mit Grübchen. Bei dem jungen Mann fand sie es besonders hübsch. Ihr Ex fiel ihr spontan ein. Markantes Gesicht, breites Kinn mit Grübchen. Rausfiltern! Weg! Sofort! Zwang sie sich in Gedanken.

„Lorenz, ich wünsche dir einen guten Start! Wenn irgendwas anliegt … mit Kollegen, nicht verzagen, Rebecca fragen. Bin im Haus gut vernetzt“, sagte sie augenzwinkernd.

 

Reischls Waage war ein Stimmungskiller und das meist schon morgens. Mist! Wieder zwei Kilo drauf gefuttert. Gürtel, Rock, Hose … alles spannte … wölbte sich. Na und! Erotische Kurven, was sonst? Tröstete sie sich über die Gewichtszunahme hinweg. Rebecca, reiß dich endlich am Riemen, schalt sie sich in Gedanken. Ja, ab sofort abnehmen, regelmäßig Sport treiben und weniger essen! Aber der persönliche Coach, also der innere Schweinehund … trotz alledem hatte sie einen Apfelkuchen gebacken. Strikte Diät befahl sie sich in Gedanken, ab heute Abend.

Schnelle Schritte auf dem Flur. Chef und Assistentin waren im Anmarsch. Reischl rollte mit den Augen, als Pflamminger eine prall gefüllte Tüte mit Leberkässemmeln auf den Tisch legte.

„Bitte bedient euch“, sagte er gut gelaunt und ging sofort zur Kaffeemaschine.

„Chef, Sie sind ein hoffnungsloser Fall. Abmachung schon vergessen?“, seufzte Reischl kopfschüttelnd und stemmte die Fäuste in die Hüften.

„Abmachung?“

Er grinste Rebecca an und rührte geräuschvoll im heißen Kaffee.

„Ab sofort weniger Wurstsemmeln! Chef, Sie werden vergesslich!“

„Verdrängt liebe Rebecca, verdrängt. Herr Kramer, jetzt können Sie live erleben, wie es mir ergeht zwischen zwei resoluten Frauen. Ständig werde ich ermahnt, belehrt, ausgebremst, jeden Tag Psychoterror …“

„Bedroht, niedergemacht, nicht vergessen! Chef“, unterstützte Lux ihre Kollegin.

Nach dem Aufwärmgeplänkel schilderte Kramer seine Motivation die Polizeiakademie zu besuchen. Schon in der Schule habe er sich als Tutor und Streitschlichter engagiert. Er wolle die Grundrechte verteidigen, Schwachen helfen und sie beschützen. Die Ermittlerarbeit sei mit Sicherheit vielseitig und spannend. Teamwork in einer Non-Profit-Organisation war sein Ding. Er freue sich auf die Mitarbeit in Hauptkommissar Pflammingers kompetenter Mann-Frau-Crew. So die Aussage von Kriminaloberrat Diethard Möller während der herzlichen Begrüßung in dessen Büro.

Hauptkommissar Pflamminger fühlte sich am sprichwörtlichen Bart gekrault und lobte nun seinerseits die gute und konstruktive Zusammenarbeit mit dem Vorgesetzten Möller, der stets für alle Nöte und Sorgen ein offenes Ohr hatte.

Sowohl Dienstpflichten als auch die vielschichtige Ermittlerarbeit im K1 waren schnell erklärt, ebenso Lorenz Kramers Aufgabenbereich.

„Den Ermittlern zuarbeiten. Berichte und Protokolle erstellen, Recherchearbeiten im Internet, Anrufe entgegennehmen und weiterleiten, Teilnahme an Lagebesprechungen, diverser Papierkram, Laufbursche für Wichtiges und weniger Wichtiges und stets in Absprache mit Frau Lux und Frau Reischl. Noch Fragen Herr Kramer?“, sagte Pflamminger.

Kramer fuhr sich mit der Hand durch seinen braunen Kurzhaarschnitt, den seine Mutter mit deutlicher Ansage angeordnet hatte. Bis gestern hingen ihm die ungekämmten Locken über seine blauen Augen mit samtenen, dunklen Wimpern. Das stünde einem angehenden Polizeibeamten nicht gut an. Sie drückte ihm einen Geldschein in die Hand und ab ging’s zum Frisör.

Praktikant Lorenz Kramer, groß, sportliche Figur, wechselte schnelle Blicke zwischen Pflamminger und Lux, schließlich sagte er: „Ja, also, das klingt jetzt nach viel Schreibtischarbeit … kann ich denn auch mal bei Zeugenbefragungen, Vernehmungen, Ermittlungen direkt am Tatort dabei sein oder beschränken sich meine Aufgaben hauptsächlich, also quasi, sozusagen, mehr oder weniger auf interne, bürotechnische Zuarbeit?“

Abwartend sah er in die Gesichter der Vorgesetzten, mit denen er die kommenden Monate zusammenarbeiten würde.

„Hm. Eine männermordende Serienmörderin haben wir gegenwärtig nicht im Angebot“, sagte der Chef nicht ganz ernst gemeint.

„Herr Kramer, nehmen Sie nicht alles für bare Münze“, sagte Lux mit Blick auf den Chef.

„Somit sind alle Unklarheiten geklärt“, ergänzte dieser und lächelte selbstgefällig in die Runde.

Lorenz Kramers erste Aufgabe in Kooperation mit Rebecca Reischl: Recherchearbeit im Fall unbekannter Toter im Hinterhof der PORTA Bank.

Ein Mitarbeiter des Männerwohnheims in der ThurmayerStraßewar sich sicher, nach dem er Bilder des Toten gesehen hatte. Es handelte sich um „Buffalo-Edi“. Sein richtiger Name war Edmund Rutzmoser. Vor gut zwei Jahren hatte er aus Geldmangel seinen Teilzeitwohnsitz auf die Jahninsel verlegt. Im Winter nächtigte er in Seitennischen des Donaueinkaufzentrums. Buffalo-Edi war polizeibekannt. Mehrere Male wurde er beim Verkauf von Drogen und gepanschtem Whisky erwischt. Verwarnungen ignorierte er und wanderte schließlich für neun Monate in den Knast. Edi hatte Charme und Humor, er konnte Menschen um den Finger wickeln, mit dem Ergebnis kostenloses Essen bei Metzgern, Bäckern oder am Dönerstand zu bekommen. Ab und an jobbte er als Türsteher oder Geschirrspüler. Außerdem war er in der Stricher-Szene aktiv. War der Tote an dem versuchten Einbruch, der Beschädigung der Safe-Türen in der PORTA Bank beteiligt? Hatte er Helfer? Stammte die stinkende Hinterlassenschaft im Keller der Bank von ihm? Wer hatte ihm die Kopfverletzungen und Kratzer im Gesicht zugefügt? Hatte er sich den finalen Schuss selbst verpasst?

Die Spurensicherung fand in der Mülltonne eine Spritze mit Blut und Hautpartikeln. In Kürze würde der DNA-Abgleich mehr Licht in das rätselhafte Verbrechen im Hinterhof bringen.

„Frau Haller, sofort herkommen!“, rief Roger Gellhoff schroff durch die offenstehende Tür.

Betti Zitzelsberger seufzte und dachte, meine Fresse, jeden Morgen grottenschlechte Laune. Wird sich der Typ jemals ändern? Wenig motiviert ging sie in Gellhoffs Büro und wurde unfreundlich empfangen.

„Habt ihr die Namen getauscht?“

„Nein …“

„Wo ist die Hallerin?“

„Frau Haller kommt erst um neun. Sie muss die Kinder …“

„Was soll dieser Schwachsinn?“, fiel er ihr ins Wort und deutete auf ein Blatt Papier, das in der aufgeschlagenen Arbeitsmappe lag. Frau Hallers schwierige Familiensituation kannte er, interessierte ihn aber nicht die Bohne.

„Um was geht es denn, Herr Gellhoff?“, fragte Zitzelsberger vorsichtig.

„Wie kommt dieses widerliche Pamphlet in die Unterschriftenmappe? Haben Sie dafür eine Erklärung? Kommen sie gefälligst näher oder habe ich Sie schon mal gebissen?“

Betti Zitzelsberger, warme Gesichtszüge, graue Kurzhaarfrisur, mittelgroß, schlank, in drei Monaten feiert sie ihren Sechzigsten, ging auf Gellhoff zu, während er ihr mit ausgestrecktem Arm das Papier entgegenhielt und sagte: „Etwas schneller, wenn ich bitten darf!“

Zitzelsberger war wegen eines schweren Unfalls vor zwei Jahren leicht gehbehindert. Ihr linkes, lädiertes Bein war Gellhoff ein Dorn im Auge. Beinahe täglich bedachte er sie mit schrägen Blicken oder unverblümten Bemerkungen.

Zitzelsberger überflog die Seite, ihr stockte der Atem, zuckte mit den Schultern, legte das Schriftstück auf den Tisch.

„Diesen Vertrag … sehe ich heute zum ersten Mal …“

„Und das soll ich Ihnen glauben?“

„Herr Gellhoff, ich versichere Ihnen alles, was in die Mappe kommt, wird von mir gründlich in Augenschein genommen. Einen Vorschlag …“

„Und der wäre?“, zischte er, ohne sie anzusehen.

„Schreddern. Den Vertrag hat es nie gegeben“, schlug sie vor.

Sie musste schlucken, verdrängte die aufkommende Wut. Der neue Chef erwartete Schnelligkeit, schlug häufig eine aggressive Tonart an. Das war gewöhnungsbedürftig. Nicht nur für die Chefsekretärin, sondern für die gesamte Belegschaft. Viele stöhnten unter dem selbstherrlichen Führungsstil des Direktors, der meist mit hoher Drehzahl durch die Flure sauste. Viele Mitarbeiter wünschten ihm die Pest an den Hals. Warum hatte der Vorgänger Lutz Langhofer so einem Rüpel den Vorzug gegeben? Langhofer hingegen war freundlich, höflich, verständnisvoll, hatte eine charmante Art im Umgang sowohl mit den Mitarbeitern als auch mit der Kundschaft. Roger Gellhoff praktizierte einen kaltschnäuzigen und hochnäsigen Führungsstil.

„Der Vorschlag könnte von mir sein. Shred it, forget it!“

Er erhob sich, eilte in den Raum nebenan und schob das Papier in den Aktenvernichter.

Plötzlich hörten sie Hausmeister Schlunzinger vom Flur her aufgeregt rufen. Seine laut vernehmbare Stimme übertönte das schnarrende Geratter des Schredders.

„Ist der Chef schon im Haus?“

„Bin nicht zu sprechen“, bemerkte Gellhoff grimmig.

Betti Zitzelsberger stand im Türrahmen, hob die Schultern und beobachtete den Chef, der den Pseudo-Arbeitszeitvertrag für die Dauer von vier Wochen ausgestellt auf seinen Namen und von ihm unterschrieben, durch den Reißwolf jagte.

Irgendjemand hatte sich einen üblen Scherz erlaubt, dachte Zitzelsberger. Gleichzeitig waberten sorgenvolle Gedanken durch ihren Kopf, was Kurzzeitverträge für viele Arbeitnehmer bedeuteten. Ökonomisch betrachtet verschafft sich der Arbeitgeber dadurch viele Vorteile. Für Arbeitnehmer hingegen wenig erstrebenswert, vor allem für junge Menschen. Befristete Arbeitsverträge bringen oft die gesamte Lebensplanung ins Wanken. Bei Banken ist man weniger kreditwürdig. Größere Anschaffungen, wie zum Beispiel ein Wohnungskauf ist kaum realisierbar. Schwierig gestaltet sich auch die Wohnungssuche. Als Mitbewerber mit Einkommen auf Zeit fällt man bereits bei der Vorauswahl durch. Vielleicht ein Grund, warum junge Menschen immer seltener daran denken, eine Familie zu gründen? Ehe und Kinder bald nur noch ein Projekt für Reiche?

Befristete Mitarbeiter arbeiten effektiver, schneller, geräuschloser, begehren nicht auf, halten den Mund, nehmen an keiner Demonstration teil. Unbezahlte Überstunden jederzeit. Krankenstand gleich Null. Angestellte auf Zeit umkreisen nur einen Gedanken: Kommt die Verlängerung? Ja oder Nein? Wenn ja, wann? Wie lange dauert die Weiterbeschäftigung? Ein Erfolg versprechendes Druckmittel von oben nach unten. Inhumane Methoden, die in der „modernen“ Arbeitswelt Abhängigkeiten schaffen und in der Folge für ein faires Miteinander innerhalb der Gesellschaft wenig förderlich sind. Und in der Konsequenz nichts Gutes verheißen.

Sollte die anonyme Zeitvertragsaktion den Chef darauf hinweisen, wie es sich anfühlt, wenn man gnädigerweise einen Kurzzeitarbeitsvertrag bekommt, selbst wenn sich der Betreffende für eine unbefristete Festanstellung beworben hatte? Mehrere Kollegen kamen ihr in den Sinn, die mit dem jungen Chef auf Kriegsfuß standen, ihn auf den Tod nicht ausstehen konnten. Aber derartige Warnschüsse aus dem Hinterhalt brachten nichts, dachte Betti Zitzelsberger.

Die aufgeregte, ihr wohlbekannte Stimme kam näher, holte sie zurück in den Büroalltag im Chefsekretariat.

„Was ist? Nicht einschlafen! Sehen sie gefälligst nach, warum der Hausmeister so unflätig plärrt …!“

Weiter kam Gellhoff nicht. Völlig außer Atem kam Schlunzinger ins Sekretariat gehetzt.

„Chef, die neu installierte innere Panzertür ist komplett im Arsch und einige Kisten mit Inhalt sind verschwunden. Ich muss mich setzen, sonst trifft mich noch der Schlag.“

Schlunzinger atmete hastig, als hätte er beim Stadtlauf teilgenommen und nach einem Kilometer aufgegeben.

„Jetzt übertreiben Sie doch nicht so maßlos“, sagte Gellhoff und würdigte den aufgeregten Hausmeister mit hochrotem Kopf keines Blickes.

Zitzelsberger zog ihm schnell einen Stuhl heran. Fix und fertig fiel er auf den Stuhl, wischte sich mit einem Taschentuch Schweißperlen von Stirn und Nacken.

„Wer wollte wo einbrechen?“, fragte Gellhoff und dachte an einen Aprilscherz.

Fred Schlunzinger war nicht mehr der Jüngste und angeblich dem Alkohol stark zugeneigt. Sein verschlissener, grauer Arbeitskittel war sein Markenzeichen. Die Blüte seiner Jahre hatte er hinter sich. Man munkelte, er sei krank. Magen und Leber machten ihm zu schaffen. In letzter Zeit stand ihm bei kleinsten Tätigkeiten ein Kranz Schweißperlen auf der breiten Stirn. Sein gedrungener Körperbau wurde von dem zunehmenden Bierbauch wenig ästhetisch abgerundet. Was er neuerdings unter einer um zwei Nummern größeren Arbeitskluft zu kaschieren suchte. Schon lange stand er auf Gellhoffs Altlast-Abschussliste von deren Existenz weder die Belegschaft noch der Betriebsrat etwas wusste.

Luise Haller kam aufgeregt in den Raum.

„Im Schalterraum stehen mehrere bewaffnete Polizisten?“

„Jetzt fangen Sie auch noch an! Wieso kommen Sie denn erst jetzt? Ihr ständiges Zuspätkommen geht mir so was von auf den Geist!“, herrschte Gellhoff sie an und wandte sich wieder dem stirnschwitzenden Hausmeister zu, der sich mit einer Zeitung Luft zufächelte.

„So, Herr Hausmeister, genug gewedelt. Abmarsch! An die Arbeit! Sofort!“

Die gertenschlanke Pressereferentin Trixi von Thalhussen wirbelte aufgeregt ins Sekretariat und rief: „Wir sind überfallen worden und ihr steht hier herum! Herr Schlunzinger der Aufzug ist schon wieder defekt!“

„Was? Das kann nicht sein!“, sagte er und erhob sich.

„Mensch Schlunzinger, reparieren Sie den Aufzug, sofort!“, schnauzte Gellhoff ihn an.

„Was kann ich dafür, wenn hier alles drunter und drüber …“

Der Polizeieinsatzleiter kam in Begleitung zweier bewaffneter Uniformierter in den Raum und fragte nach dem Chef des Hauses.

„Sind Sie Roger Gellhoff?“

„Ja“, antwortete dieser kreidebleich.

 

Während die Polizeibeamten alle notwendigen Maßnahmen ergriffen, brachte Schlunzinger den Aufzug wieder zum Laufen und unternahm Testfahrten nach oben und in den Keller. Sein Handy läutete.

Er müsse sofort ins Krankenhaus kommen. Vor fünf Stunden wurde seine Frau ohne Ausweispapiere auf dem Krankenhausparkplatz aufgelesen und befände sich auf der Intensivstation. Ein anonymer, männlicher Anrufer habe gerade in der Krankenhauszentrale angerufen und Namen und Adresse durchgegeben. Ihr Zustand sei kritisch. Schlunzinger ließ alles stehen und liegen, berichtete dem Einsatzleiter, seine Frau habe einen schweren Unfall gehabt, liege auf der Intensivstation, er müsse sofort zu ihr.

Mit dessen Einverständnis durfte Schlunzinger in Begleitung seines Kollegen Leo Zentner den Tatort verlassen.

Das Gefühl der inneren Unruhe, es könnte etwas Schlimmes passiert sein, kam wieder hoch. Seit Monaten hatte Schlunzinger Stress mit seiner Frau. Sie drohte mit Scheidung, wenn er ihr weiterhin so kindische Vorwürfe mache. Immer öfter kam sie erst in der Morgendämmerung oder gegen Mittag nach Hause.

Was war passiert? Hatte Natascha einen Unfall? Wurde sie überfallen? Krankenhausparkplatz? Intensivstation? Anonymer Anrufer? Sorgenvolle Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Auf der Intensivstation mussten Schlunzinger und Zentner auf die zuständige Ärztin warten. Endlich. Die junge Assistenzärztin, Ilsegret Fädele, begleitete ihn und Leo Zentner zu Natascha. Kreidebleich lag sie zwischen Hightech-Maschinen der Medizintechnik. Natascha war bewusstlos und atmete schwach. Die Infusionstherapie wurde sofort eingeleitet. Ihr momentaner Zustand sei kritisch, schilderte die freundliche Ärztin einfühlsam mit schwäbischem Akzent. Schlunzinger brachte kein Wort heraus. Nataschas Gesicht war schlaff und grau. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand.

„Herr Schlunzinger, alles was in unserer Macht steht, haben wir getan …“

„Wird Natascha wieder gesund?“, fiel er der Ärztin mit zitternder Stimme ins Wort, ohne den Blick von seiner Frau abzuwenden.

„Wir müssen den Kreislauf und die Herzfrequenz stabilisieren. Wenn uns das in den nächsten Stunden gelingt“, sie lächelte zuversichtlich und fuhr fort, „dann ist ihre Frau über den Berg.“

„Wird … wird sie wieder gesund?“, wiederholte er sich mit Tränen in den Augen.

„Glauben Sie mir, wir werden alles Menschenmögliche tun … Herr Schlunzinger …“

Zwei Stunden später hörte Nataschas schwaches Herz auf zu schlagen. Fred Schlunzinger war am Boden zerstört, als er erfuhr, dass seine junge Frau an einem Cocktail aus Drogen und Alkohol gestorben war.

Verärgerte Kunden und neugierige Passanten standen vor dem Haupteingang des Bankgebäudes und diskutierten lebhaft, wollten den Grund der Schließung wissen. Heruntergelassene Jalousien? Polizeiautos im Hinterhof? Überfall? Versuchter Überfall? Vereitelter Überfall? Drei Gesetzeshüter baten die Fragenden und Herumstehenden weiterzugehen.

Das Telefon stand nicht still. Kunden, Journalisten, Nachbarn und Sensationslüsterne löcherten die Pressesprecherin Trixi von Thalhussen mit Fragen. Höflich, aber bestimmt vertröstete sie die Anrufer auf die kommenden Tage. Nach Abschluss der kriminaltechnischen Untersuchungen würde Genaueres im Netz nachzulesen sein. Der permanenten nervigen Anrufer überdrüssig, ließ sie den AB antworten.

Von Thalhussen war erst seit sieben Monaten in der Bank. Davor hatte sie zehn Jahre lang Kommunikationswissenschaften, Public Relation und Amerikanistik in Hamburg und Los Angeles studiert. Mit dem Chef kam sie gut klar, anders formuliert mehr als das, was im Haus hinter vorgehaltener Hand schnell die Runde machte.

 

Der Bankdirektor war für niemanden zu sprechen. Die strikte Parole an die gesamte Belegschaft lautete: Keine Informationen nach draußen! Sollte sich ein Mitarbeiter doch verleiten lassen, einem Reporter Rede und Antwort zu stehen … fristlose Kündigung. Telefonische Anfragen mussten von den Chefsekretärinnen Haller und Zitzelsberger geschickt und wohlüberlegt pariert werden.

Mehrmals versuchte Gellhoff seine Frau Verena ans Telefon zu bekommen. Jedes Mal antwortete die automatische Stimme der Schwiegermutter, die er auf den Tod hasste. Wütend und verzweifelt trommelte er mit beiden Fäusten auf die Tischplatte, was Haller bewog nachzufragen, ob alles in Ordnung sei.

„Machen Sie die Tür zu, aber von außen!“, antwortete er mit gepresster Stimme, „äh … Frau Haller … hat meine Frau bei Ihnen oder bei Frau Zitzelsberger angerufen?“, fragte er monoton mit einem in die Ferne gerichteten Blick durchs Fenster.

„Nein.“

„Falls sie anruft, sofort durchstellen.“

Er griff nach seinem Handy und tippte eine Nummer.

Haller zog leise die Tür hinter sich zu.

„Wenn der so weitermacht, dann Gnade uns Gott“, flüsterte sie ihrer Kollegin kopfschüttelnd zu.

„Der ist überfordert, privat wie beruflich“, kommentierte Zitzelsberger mit gedämpfter Stimme.

 

Das Team der Spurensicherung arbeitete mit Hochdruck vom Keller bis hinauf zur Hausmeisterwohnung im vierten Stock. Nach genauer Überprüfung fehlten zweihundertfünfzigtausend Euro. Vermutlich gelangte der Dieb durch Umgehung der alarmgesicherten Außentüren hinunter zum Hauptsafe und schaffte so problemlos die drei prall gefüllten Transportkisten nach draußen. Pflammingers Kollegen vom Einbruchsdezernat befragten all jene Mitarbeiter, die Zugang zu den Safe-Räumen hatten.

Im Nachbargebäude, ein Versicherungsunternehmen, wurde eine umfangreiche Befragung nach eventuellen Verdachtsmomenten und Auffälligkeiten durchgeführt. Der Gebäudekomplex war nachts menschenleer dafür mit mehreren Ü-Kameras bestückt. Zwischen achtzehn und sechs Uhr morgens kam der Wachdienst alle drei Stunden angefahren und warf einen prüfenden Blick auf den beleuchteten Hinterhof des Bankhauses. Die Zufahrt zur Tiefgarage führte direkt an der hohen trennenden Betonwand der PORTA Bank entlang, einerseits geeignet die Geldkisten mithilfe einer Leiter über die Wand zu hieven, um dann mit einem dort wartenden Fluchtauto zu türmen. Andererseits wegen der Videokameras und taghellen Flutlichtanlage ziemlich aussichtslos nicht entdeckt zu werden. Außer jemand war in der Lage, die Sicherheitstechnik für gewisse Zeit auszuschalten. Aber das wiederum würde einen Alarm bei der nächsten Polizeidienststelle auslösen oder eine Störung anzeigen. Sowohl das große Versicherungsgebäude nebendran, als auch die PORTA Bank waren mit modernster Sicherheitstechnik ausgestattet mit direktem Anschluss zur nächsten Polizeistation.

Weder Mitarbeiter vom Nachbarbürohaus, noch deren wachhabenden Securitys der Sicherheitsfirma Ranftl & Kressbrunner,die auchfür die PORTA Bank zuständig waren, konnten den Polizeibeamten einen verdächtigen Hinweis liefern.

Fünf große Müllcontainer befanden sich unter einer Überdachung. Dahinter eine zwölf Meter hohe Hauswand. Das angrenzende Gebäude war ein stadtbekanntes Hotel. Die Rezeption war rund um die Uhr besetzt und die beiden diensthabenden Angestellten hatten nicht das leiseste Geräusch wahrgenommen, das der Polizei weiterhelfen konnte. Ein Rezeptionist ging alle drei Stunden zum Rauchen vor die Tür und ein paar Schritte am Bankhaus entlang. Hatte er Auffälliges oder Verdächtiges gehört oder gesehen? Fehlanzeige.

Gegenüber, Westund Südseite Fußgängerzone, Geschäfte, Cafés, Büros. Folglich war spätestens nach zweiundzwanzig Uhr tote Hose.

Fred Schlunzingers Wohnung unterm Dach der Bank? Er war zuhause, er könnte was mitbekommen haben. Dass seine Frau in den letzten Monaten meist aushäusig schlief, ließ Schlunzinger bei der ersten Befragung unter den Tisch fallen. Das ginge die Polizei einen feuchten Kehricht an.

Was Schlunzinger, der manchmal das Gras wachsen hörte, nicht im Entferntesten ahnte, seine Wohnungssituation war ein Auslaufmodell. Der Rauswurf aus der Mansardenwohnung mitten in der Altstadt stand auf Gellhoffs geheimen Masterplan ganz oben. Ein Relikt aus der Steinzeit und der behäbige Fred Schlunzinger gehörte in Kürze der Vergangenheit an. Dessen Tätigkeitsbereich würde ein junger Facility Manager übernehmen. Basta! Der geniale Umstrukturierungsplan, die radikale Neuausrichtung der PORTA Bank, war bereits akribisch ausgearbeitet und wurde im privaten Giftschrank verwahrt.

Der Zeitpunkt der Präsentation und Realisierung nahte. Es motivierte und stimulierte den erst kürzlich zum Bankdirektor aufgestiegenen Roger Gellhoff, wenn er nur daran dachte.

Die Presse überschlug sich mit den Meldungen des Tages. Alle Printund TV-Medien berichteten von dem erst gescheiterten Einbruch, dem toten Obdachlosen Edmund Rutzmoser, dem zweiten erfolgreichen Einbruch und von Natascha Schlunzingers tragischem Tod.

Was Direktor Gellhoff mit aller Macht verhindern wollte, war eingetreten. Mehrere Nackenschläge in so kurzer Zeit ausgerechnet zu Beginn seiner Chefkarriere? Er war außer sich. Der Start war alles andere als gelungen. Jemand gönnte ihm die Blitzkarriere nicht. Vielleicht der um zehn Jahre ältere Stellvertreter Johann Gschwendtner, den er für völlig unfähig hielt und vom ersten Tag an nicht ausstehen konnte? Wenn Gschwendtner sein doppeltes Spiel nicht ablegte, würde er die Reißleine ziehen und ihn in die Wüste schicken müssen. Der schmierige Typ, dieser Loser war felsenfest überzeugt gewesen, der neue Bankdirektor zu werden. Aber Gellhoff war nun mal schneller und eloquenter, konnte den Vorgänger um den Finger wickeln. Verdammt, wer könnte ihm derartige Brocken vor die Füße werfen? Waren andere Geldhäuser in der Stadt neidisch auf die Erfolge des Jungbankers? Er würde es herausfinden, schwor er sich. Jetzt hieß es die Zähne zusammenbeißen und mit voller Schubkraft in die Zukunft arbeiten. Jeder Kapitän konnte mit seinem Schiff in stürmische See geraten. Scheiß auf die sensationslüsterne Presse! Die Menschen vergessen schnell. In zwei Wochen war Gras darüber gewachsen, machte er sich Mut, obwohl große Zweifel an ihm nagten. Düstere Gedanken aus der Vergangenheit holten ihn ein, bohrten und hämmerten in seinem Kopf. Himmel noch mal! Diese widerlichen Ereignisse waren kein Zufall. Jemand sägte an seinem Stuhl. Irgendwelche Neidhammel machten mobil, wollten ihn zu Fall bringen?

Vor kurzem wurde ihm zugetragen, sein Stellvertreter halte Gellhoff für den verantwortungsvollen Posten gänzlich ungeeignet. So dachte auch die Mehrheit der Abteilungsleiter? Die Belegschaft, allen voran ältere Mitarbeiter trauerten dem Vorgänger nach. Der gute, alte Lutz Langhofer, der über vier Jahrzehnte die Geschicke des Bankhauses vorbildlich gelenkt hatte. Das spürte der dünnhäutige Nachfolger an jeder Ecke, bei zufälligen kurzen Gesprächen im Flur oder im Aufzug, denen er sich stets fluchtartig entzog. Verdammt, die Ära des Alten war nun mal Geschichte!

Herr Gellhoff, ihr Vorgänger hätte ganz anders entschieden … zu Langhofers Zeiten wäre so etwas nicht vorgekommen … da hatte der Betriebsrat noch ein gewichtiges Wörtchen mitzureden … bei noch mehr Überstunden steigt auch der Krankenstand … wenn Sie immer mehr Leiharbeitskräfte in die Bank holen, diese nach einigen Monaten gegen neue eintauschen, sinkt die Arbeitsmoral und die Qualität unserer Finanzdienstleistungen … und so weiter und sofort …

Gellhoff konnte dieses in der Vergangenheit verharrende Gejammer nicht mehr hören, es brachte ihn auf die Palme. Sein diagnostisches Fazit: Typische Starrköpfigkeit und Lernunfähigkeit von Zeitgenossen ab fünfundvierzig! Das hätten namhafte amerikanische Arbeitspsychologen in langjähriger Feldforschung herausgefunden. Davon war Gellhoff überzeugt und ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen, die Belegschaft erheblich zu verschlanken.

Nun lag es an ihm, das Schiff wieder in ruhiges Fahrwasser zu steuern, um seine Pläne zügig umsetzen zu können. Er musste jetzt präsent sein, den Überblick behalten und schnellstens positive Ergebnisse liefern. Erfolg war das einzige, um widrige Vorfälle schnell vergessen zu machen. Das habe er bereits im ersten Semester seines Studiums in „International Banking“ gelernt. Misserfolge wegstecken, sofort das Ruder herumreißen und entschlossen den Macher geben.

Interviews lehnte er strikt ab. Alle waren gefordert, gierige Vertreter der Journaille in Schach zu halten. Innerhalb kurzer Zeit mussten die Chefsekretärinnen ein zweites Mal Dienstanweisungen von höchster Priorität an die gesamte Mitarbeiterschaft versenden. Eingangsbestätigung unverzüglich. Die unerfreulichen Vorfälle würden sich schnell klären und der normale Arbeitsalltag einkehren. Ein Gewinner dürfe niemals einen Verlierergedanken zulassen, wie sein Lieblingsprofessor bei durchzechten Nächten auf dem Campus den Studenten nachhaltig einschärfte. Gellhoffs Studienabschlüsse in London, Boston und Hongkong, ebenso Praktikas bei namhaften Geldhäusern in New York und Tokio, hatten ihn auf das rauer werdende Bank-Business bestens vorbereitet. Die Pechsträhne würde er meistern und gestärkt aus der … das Wort Krise nahm er nicht in den Mund. Er würde die kriminellen Elemente, die die Bank um zweihundertfünfzigtausend Euro erleichtert hatten, finden und dingfest machen. Heimlich verfasste Gellhoff eine Liste verdächtiger Personen. Seiner festen Überzeugung nach wurde der Geldraub von Mitarbeitern durchgeführt. Wollten sie ihm einen Warnschuss vor den Bug geben?

 

Hauptkommissar Pflamminger und seine Assistentin Lux besichtigten in Begleitung des Bankdirektors den Tatort. Sie gingen durch die Safe-Räume und kurz zu der Stelle im Hinterhof, an der Edmund Rutzmoser vor drei Tagen von Fred Schlunzinger entdeckt worden war. Der gerade überstellte Befund aus der Rechtsmedizin bestätigte Unerfreuliches: Edmund Rutzmoser hatte Unmengen Alkohol etwa vier bis sechs Stunden vor seinem Tod konsumiert. Am linken Unterarm konnte eindeutig, neben mehreren alten Stichen, eine frisch gesetzte Spritzwunde festgestellt werden. Der finale Schuss Heroin? Außerdem hatte der Tote Schürfwunden im Gesicht. Am rechten Schulterblatt und auf dem Rücken und am Hinterkopf wurden deutliche Hämatomediagnostiziert. Vermutlich mit einem stumpfen Gegenstand zugefügt. Gellhoffs Gesichtsfarbe wurde aschfahl, als der Hauptkommissar the bad news mitteilte. Todesursache? Heftige Schläge auf den Kopf eines Wehrlosen.

Welcher gottlose Mensch hatte Natascha Schlunzinger auf dem harten Boden eines Parkplatzes abgelegt und nicht sofort in die Notaufnahme gebracht?

„Herr Doktor, Alkoholvergiftung … ist … ist doch kein Grund zu … zu sterben“, stammelte Schlunzinger mit feuchten Augen.

Als ihm der Arzt die Ursachen und Gründe erläuterte, die zum Tode seiner Frau führten, wollte er es nicht glauben. Seine geliebte Natascha rührte nie einen Tropfen Alkohol an. Na ja, ab und an trank sie gerne mal ein Pils, rekapitulierte er in Gedanken den Alkoholkonsum seiner Frau.

„Ihre Frau hat Drogen genommen und nicht zu knapp“, sagte Doktor Kugler sachlich und sah Schlunzinger fragend an.

Empathie konnte sich der Mediziner aus Zeitgründen nicht leisten. Er nahm seine schmale Brille ab, setzte sie wieder auf, schielte kurz auf die Armbanduhr, dann wieder auf Fred Schlunzinger.

Dieser ließ nicht locker und sagte unverständlich: „Herr Doktor, das muss eine Verwechslung sein … Drogen, niemals! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. So ein Teufelszeug hat Natascha nicht … nein … nie … niemals …!“

Er atmete schwer, schüttelte fortwährend den Kopf und suchte in den Hosentaschen nach einem Taschentuch.

„Tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ihre Frau hat über einen längeren Zeitraum wahrscheinlich über mehrere Jahre Drogen konsumiert. Die letzte Dosis Heroin war bedauerlicherweise gepanscht“, sagte der Arzt und schielte wieder auf die Uhr.

„Was? Nein und nochmals nein! Aber … aber …“, flüsterte Schlunzinger mit versagender Stimme und hilflosem Blick ins Leere.

„Herr Schlunzinger, Sie müssen jetzt sehr stark sein.“

„Was denn noch?“

Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten.

„Ihre Frau war im dritten Monat schwanger. Ich nehme an, Sie wussten …?“

“Schwa … schwanger?“

Schlunzinger wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Natascha erwartete ein Kind? Das war zu viel für ihn. Es brach ihm schier das Herz. Sein Freund und Kollege Leo Zentner legte den Arm um seine Schultern, versuchte ihn zu trösten.

„Der Chef und seine noblen Freunde haben meine Natascha mit Drogendreck gefügig gemacht“, sagte er zornig mit einem Gefühl, als läge er unter einem tonnenschweren Betonblock und spürte weder Druck noch Schmerzen.

„Fred, das tut mir so leid“, sagte Zentner mitfühlend.

Schlunzinger ballte die Fäuste, schluckte mehrere Male und sagte: „Leo, der Gellhoff ist so eine perverse Drecksau!“

Irritiert sah der Arzt auf Schlunzinger, räusperte sich und sagte: „Herr Schlunzinger, ich glaube das gehört nicht hierher. Sollten Sie noch Fragen haben, können Sie jederzeit bei meiner Stationsleiterin Frau Tschupke anrufen. Es tut mir außerordentlich leid. Herr Schlunzinger, viel Kraft!“

Schlunzinger schnäuzte ins Taschentuch und bemerkte nicht wie der Arzt schnellen Schrittes hinter der automatisch auseinander gleitenden Schiebetür entschwand.

Schlunzinger war bis ins Mark getroffen und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er ließ sich von seinem Freund Leo, den er um eine gute Kopflänge überragte, willenlos zur nächsten Bank führen. Er setzte sich, wusste nicht, ob er wach war oder träumte.

„Natascha hat doch nur Blumen gegossen und das Haus sauber gehalten.“

Leo Zentner kam schnell ins Schwitzen und setzte sich neben seinen verzweifelten Freund, seufzte tief und sagte leise: „Blumen gegossen? Sie war Wachs in seinen Händen! G’vögelt hat er …!“

„Ja, wie redest du über meine Natascha?“

„Ist mir so rausgerutscht. Tut mir leid.“

„Natascha war schwanger? Und jetzt ist sie tot … Leo, das überlebe ich nicht. Ich geh’ in die Donau, aber vorher werde ich mir den Gellhoff vorknöpfen. Er und seine Banditen im feinen Zwirn haben ihr diesen Drogenscheißdreck verabreicht. Die sogenannten besseren Herren haben meine Natascha auf dem Gewissen!“

Die neue Möblierung des geräumigen Chefbüros war modern und kühl gehalten. Mit einer Handbewegung bat Gellhoff die Ermittler, denen er am liebsten Hausverbot erteilt hätte, auf den Clubsesseln Platz zu nehmen. Präventiv ließ sich der verunsicherte Banker eine Beruhigungsspritze von seinem Hausarzt geben. Ihn bringe so schnell nichts aus der Fassung, so die Botschaft nach außen. Selbstbewusst und entschlossen den Mitarbeitern entgegentreten, den Überblick behalten und besonnen handeln. Seine Innenwelt war für die Außenwelt tabu.

„Was für tragische Schicksalsschläge manche Menschen ereilt. Herr Schlunzinger ist wirklich zu bedauern“, begann Gellhoff in mitfühlender Tonlage.

Natascha Schlunzingers plötzlicher Tod war nicht der Grund dem Bankdirektor erneut einen Besuch abzustatten. Pflamminger nahm dem fahrig wirkenden Gellhoff das zum Ausdruck gebrachte Mitleid für seinen Hausmeister nicht ab.

Er machte einen harten Schnitt.

„Die neue Alarmanlage“, sagte er unvermittelt, „samt Videoüberwachung hat versagt oder wurde vielleicht kurzzeitig abgeschaltet und Herr Schlunzinger im obersten Stock hat nicht das leiseste Geräusch mitbekommen?“

Gellhoff wechselte zwischen den Ermittlern schnelle Blicke.

„Was wollen Sie damit sagen, auf was wollen Sie hinaus?“

Der Hauptkommissar fasste die neuesten, unerfreulichen Vorfälle im Bankhaus zusammen, dabei ließ er Gellhoff nicht aus den Augen.

Tja, unverhofft kommt oft. Wegen ermittlungsrelevanten Gründen waren die Kripobeamten wiederholt vor Ort, um dem Chef der PORTA Bank auf den Zahn zu fühlen.

Den vorliegenden Fall zügig abschließen, war Pflammingers Vorsatz bis gestern. Für den entstandenen Kollateralschaden war die Versicherung zuständig.

Aber Edmund Rutzmosers Obduktionsbefund brachte eine neue Ausrichtung in die unerklärlichen Vorkommnisse innerhalb kürzester Zeit.

Der Tote zwischen den Mülltonnen wurde mit einem stumpfen Gegenstand brutal erschlagen.

Roger Gellhoff reagierte distanziert und abwartend. Der Tod eines Obdachlosen, na und?

„Was für tragische Schicksals … -schläge manche Menschen ereilt“, sagte Lux den Banker taxierend.

Gellhoff quittierte die spitzfindige Wiederholung seines Satzes mit einem missbilligenden Blick. Schnell wandte er sich dem Chefermittler zu und sagte: „Hm, hm, hm, es könnte sich um ausgefuchste organisierte Banden aus Osteuropa handeln, spezialisiert auf Geldhäuser?“

Den gewaltsamen Tod von Edmund Rutzmoser ließ er kurzerhand unter den Tisch fallen, als handele es sich um lästiges, krankheitsübertragendes Ungeziefer, das nachhaltig beseitigt werden musste.

„Europol, Grenzübergänge, Flughäfen europaweit, vor allem Ostund Südosteuropa, und darüber hinaus, ebenso die Türkei sind informiert. Die Fahndung läuft auf vollen Touren. Leider gibt es noch keinen brauchbaren Hinweis oder eine Spur, die die Ermittlungen voranbringen könnten“, sagte Lux.

Gellhoff sah Lux ungläubig an, verschlang die Finger ineinander und knetete unentwegt seine Hände durch, als seien sie eingeschlafen. Er stieß einen langen Seufzer aus und sagte: „Es … es ist unsäglich! Ausgerechnet mir muss das passieren. Himmel Herrgott noch mal.“

Der Jungbanker mit blondem, fülligem Kurzhaarschnitt sprang vom Stuhl hoch und ging nervös im Büro auf und ab. Erst vor einigen Tagen wurde das Chefzimmer mit stylischen Möbeln bestückt. Die vier dunkelbraunen Clubsessel samt Rauchertisch von seinem Vorgänger würden in Kürze einem Hightech-Konferenztisch weichen. Der neu verlegte hellbeige Teppichboden erfüllte den Raum mit einem Restaroma von Dispersionskleber.

„Herr Gellhoff, kopfloses Handeln gepaart mit operativer Hektik hilft weder Ihnen noch uns und bringt uns keinen Schritt weiter“, sagte Pflamminger in ruhiger Tonlage.

Gellhoff blieb ruckartig stehen, verschränkte seine Arme, blitzte Pflamminger giftig an und hatte Mühe sich zu beherrschen. In seinem vor Zorn gerötetem Gesicht war zu lesen stecken Sie sich ihre bescheuerten Ratschläge sonst wo hin!

Seine finstere Miene verwandelte sich schnell in ein gequältes Lächeln.

„Na, Sie haben gut reden. Wie stehe ich denn jetzt da. Die Belegschaft, die ganze Stadt lacht über mich. Wahrscheinlich verliere ich meinen Chefposten schneller …“

Er setzte sich wieder, rieb seine Handflächen intensiv aneinander und sah dabei aus dem Fenster.

Es klopfte. Gellhoff reagierte nicht. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Chefsekretärin Haller fragte freundlich nach, ob weitere Getränke gewünscht werden.

„Nein!“, herrschte Gellhoff sie an, „Entschuldigen Sie, meine Nerven! Ja, Tee … Danke.“

„Ich nehme auch eine Tasse“, sagte Pflamminger freundlich und wandte sich Gellhoff zu, der seine Handflächen rieb als wollte er Feuer entfachen.

Haller ging ins Sekretariat zurück.

„Seine Nerven! Und unsere Nerven?“, seufzte Haller angefressen und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

Luise Haller war beliebt im ganzen Haus und arbeitete schon viele Jahre in der Bank. Aber mit dem oft schlecht gelaunten neuen Chef machte ihr die Arbeit weniger Spaß. Seit geraumer Zeit war sie heimlich auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber. Aber mit vierundvierzig und als alleinerziehende Mutter zweier halbwüchsigen Mädchen hagelte es bisher Absagen. Kollegin Zitzelsberger war in Hallers Vorhaben eingeweiht und alles andere als begeistert. Sie waren ein perfektes Team. Jede hatte ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte der anderen. Zitzelsberger hoffte, Kollegin Haller möge sich eine vorschnelle Kündigung noch mal gut überlegen.

„Ärgere dich nicht. Wenn der so weiter macht? Vielleicht wirft er bald das Handtuch und geht wieder zurück nach London“, sagte Zitzelsberger und stellte ihrer Kollegin eine Tasse Tee neben den Computer.

„Südamerika oder Neuseeland. Je weiter weg, desto besser“, sagte diese und nahm einen Schluck.

 

Gellhoff lehnte sich zurück, sah eine Weile mit nervösen Augenlidern und geweiteten Pupillen geistesabwesend durch das große Fenster und begann vielsagend: „Nun ja … organisierte Banden hin oder her, hm, hm, hm, alle können es gewesen sein.“

Er sagte es mit einem lauernden Blick auf den Kripobeamten.

„Sie sprechen in Rätseln. Wer ist oder wer sind Ihrer Vermutung nach alle?“, fragte der Hauptkommissar.

Es klopfte wieder. Haller brachte ein Tablett mit Tassen und einer Kanne Melissentee darauf, und stellte es auf den Tisch.

„Danke … und bitte stören Sie uns nicht mehr.“

Sie nickte freundlich und zog leise die Tür hinter sich zu.

Lux musste sich das Lachen verkneifen. Ihr Chef trank nie Melissentee. Verlangten seine Nerven plötzlich danach oder ging ihm dieser Fall nahe? Mal sehen, wohin es ihn nach der Befragung zog. Sie tippte auf den nächsten Coffeeshop.

Lux übernahm das Einschenken, während Gellhoff immer noch überlegte, wahrscheinlich gut überlegte, was er sagte und was er besser für sich behielt.

Sein Rechtsanwalt war informiert und sollte jeden Moment eintreffen. Am Telefon riet dieser, wenig bis nichts zu sagen. Aber Deutschlands jüngsten Bankdirektor dynamisch, eloquent, von sich überzeugt, drängte es auch ohne Rechtsbeistand die peinlichen Vorfälle so schnell als möglich aus seiner Sicht zurechtzurücken.

„Herr Pflamminger, ich habe da so einen Verdacht“, sagte er betont langsam.

Sein angestrengter Blick wirkte beinahe bedrohlich.

„Na, dann lassen Sie mal hören, wir sind ganz Ohr“, sagte der Chefermittler, nahm einen sparsamen Schluck Tee mit einem verächtlichen Blick zu seiner Assistentin. Er ahnte, was sie dachte.

„Was ich sagen möchte. Also die Ereignisse der vergangenen Tage … sagen wir mal so … könnten eine Racheaktion sein, zielgenau gegen mich gerichtet …?“

„Haben Sie Feinde in der Bank oder im privaten Umfeld?“, ging Pflamminger spontan dazwischen, was wieder nicht gut ankam.

„Lassen Sie mich ausreden“, sagte er eine Spur zu laut.

Er bereute es sofort und wechselte in einen halbwegs freundlichen Gesichtsausdruck.

„Noch mal, die dilettantischen Möchtegerneinbrecher müssen nicht unbedingt vom Ausland kommen. Es könnten Mitarbeiter sein, die mit meiner Ernennung zum Direktor nicht einverstanden sind. Können Sie mir folgen? In diese Richtung sollten sie zuallererst ermitteln“, sagte er trotzig, seine stahlblauen Augen auf den Hauptkommissar gerichtet.

So sehr Gellhoff auch versuchte seine innere Unruhe zu verbergen, es gelang ihm nicht.

Pflamminger schob die Unterlippe nach vorne, glaubte sich verhört zu haben, sah dabei konzentriert in die Tasse mit dem restlichen beruhigenden Gesundheitstee, dessen Geruch ihn an Kräuter in seinem Garten erinnerten.

„Herr Gellhoff, der Schuss könnte nach hinten losgehen!“, betonte Pflamminger mit fester Stimme.

Er wunderte sich über den smarten Banker, der sorglos oder vielleicht bewusst die Mitarbeiter mit schmutzigen Verdachtsmomenten bewarf und die Gerüchteküche befeuerte. Gerüchte waren schließlich dazu da, egal wie dick der Absender auf die Tube drückte, dem Gegner Angst einzujagen. In der Hoffnung, als Nebeneffekt ihn zum Schweigen zu bringen, ob richtig oder falsch war völlig egal. Eine Spur Dreck blieb immer kleben.

„Und Edmund Rutzmoser, der Tote zwischen den Müllcontainern? Das Papier an der Tür mit der unverhohlenen Drohung? Und das entwendete Geld? Ein Rachefeldzug? Ist Ihre These nicht etwas gewagt?“, gab Lux dem aalglatten Eliteuni-Graduierten zu bedenken.

Mit einem breiten Lächeln lehnte sich Gellhoff im Clubsessel weit zurück, klatschte mit den Händen auf die Oberschenkel und sagte: „Ach, den ersten Teil, wehrte Frau Lux, habe ich bereits vergessen. Was irgendwelche Spinner an die Türen schmieren oder vielleicht im Netz über mich verbreiten, interessiert mich nicht im Geringsten.“

Schnell beugte er sich nach vorne und gönnte sich einen Schluck Tee mit vornehm abgespreizter Fingerpose.

Gellhoffs Telefon läutete. Er schoss hoch, ging ran und meldete sich. Sein angesäuerter Gesichtsausdruck und tiefer Seufzer verrieten ungute Nachrichten. Das Gespräch war kurz und knapp. Gellhoff kam wieder an den Tisch und berichtete, sein Anwalt könne leider nicht kommen. Auf dem Weg durch die Innenstadt sei ihm in Bahnhofsnähe ein Vollidiot in seinen Porsche SUV hinten reingeknallt. Ziemlicher Blechschaden am Heck. Der Fahrzeughalter, ein impulsiver und aufgeblasener Schnösel aus Österreich. Sein demolierter Wagen müsse abgeschleppt werden. Er melde sich wieder.

Pflamminger griff den roten Faden wieder auf und fragte: „Trauen Sie den Geldraub einem oder mehreren Personen innerhalb ihrer Belegschaft zu?“

Die Ermittler waren erstaunt über die Behauptungen des Jungdirektors, der seine Mitarbeiter als potentielle Täter in den Fokus der Ermittlungen zu rücken versuchte, anders gesagt, eiskalt anschwärzte.

Und er? War er über jeglichen Verdacht erhaben? Gellhoff wäre nicht der erste, der die ihm anvertraute Bank um einige Euros erleichterte. Manchmal geschehen derartige Transaktionen in Absprache mit kreativen Bilanzbuchhaltern, die hohe Summen in dunklen Kanälen verschwinden lassen, mit prozentualer Beteiligung verstand sich.