Brutal vergeigt - Jürgen Seibold - E-Book

Brutal vergeigt E-Book

Jürgen Seibold

3,8

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Weil kurzfristig eine Band ausfällt, packt Bestatter Froelich sein Keyboard in den Leichenwagen und fährt nach Ludwigsburg ins Blühende Barock, um die Lücke im Programm des dortigen Straßenmusikfestivals zu füllen. Zusammen mit seiner Freundin Inge am Bass und Kripomann Alex Maigerle an der Gitarre genießt es Froelich sehr, endlich wieder vor Publikum zu spielen. Doch dann erfährt er, warum die ursprünglich gebuchte Gruppe ausgefallen ist: Deren Gitarrist und Sänger Mick Jäger starb durch einen Stromschlag, den ihm sein Mikrofon verpasste, und an diesem Mikrofon hatte sich zuvor offenbar jemand zu schaffen gemacht. Ein Fall für die Kripo Ludwigsburg - und für den neugierigen und immer hungrigen Bestatter Gottfried Froelich, der als Musikerkollege des Toten einen ganz anderen Zugang zu Mick Jägers Umfeld hat als die offiziellen Ermittler. Bald kennt Froelich einige Männer und Frauen, die nicht übertrieben gut auf Jäger zu sprechen waren. Doch reichen diese Unstimmigkeiten als Motiv für einen Mord aus?

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Seitenzahl: 292

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Jürgen SeiboldBrutal vergeigt

Jürgen Seibold

Brutal

vergeigt

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Jürgen Seibold, 1960 in Stuttgart geboren, ist gelernter Journalist und arbeitet als freier Autor. Er hat Musikerbiographien und andere Sachbücher sowie Thriller und andere Romane für verschiedene Verlage (Heyne, Moewig, Knaur, Piper) mit einer Gesamtauflage von weit über einer Million Exemplaren verfasst. Beim Silberburg-Verlag hat er bisher Kriminal- und Unterhaltungsromane, einen historischen Roman sowie Sachbücher veröffentlicht. Jürgen Seibold lebt mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis und macht Musik – wenn er mal Zeit dafür findet.

 

1. Auflage 2015

© 2015 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © biffspandex – iStockphoto.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1688-5E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1689-2 Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1430-0

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Inhaltsverzeichnis

Autor

Freitag, 22. Mai

Samstag, 23. Mai (Pfingstsonntag)

Sonntag, 24. Mai (Pfingstsonntag)

Montag, 25. Mai (Pfingstmontag)

Dienstag, 26. Mai

Donnerstag, 28. Mai

Freitag, 29. Mai

Dank

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»Aber jetzt versteh doch endlich: Ich hab denen mein Wort gegeben!«

»Und mir nicht, oder was?«

»Das kannst du doch nicht vergleichen! Als die mich wegen des Festivals gefragt haben, gab es für uns an diesem Wochenende noch keinen Termin. Du hast den Gig im Café Provinz erst klar gemacht, als ich denen längst zugesagt hatte. Und du hast das auch gewusst, schließlich habe ich dir wegen des Festivals sofort Bescheid gegeben – also komm mir jetzt nicht so, ja?«

»Ich brauch dir überhaupt nicht mehr zu kommen, mein Lieber!«

»Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?«

»Du bist raus, das heißt das.«

»Wie – raus?«

»Na, du packst dein Zeug und schleichst dich! Das ist meine Band. Mit der habe ich noch einiges vor. Unzuverlässige Mitmusiker kann ich da nicht brauchen. Und für deine paar mittelmäßigen Parts werd ich schon jemand anderen finden. Ralf zum Beispiel hat schon durchblicken lassen, dass er am nächsten Samstag Zeit hätte.«

»Du hast … mit … Ralf? Ich meine, der kann doch keine vier Noten geradeaus spielen!«

»Na also, passt doch.«

Ein böses Grinsen, ein vor Zorn erbleichendes Gesicht, angespannte Stille. Die Männer stehen sich wütend gegenüber. Der linke Haken kommt unvermittelt, geht aber ins Leere, weil der eine Mann den Schlag kommen sieht und gerade noch ausweicht. Vom Treppenhaus her ist eine Frauenstimme zu hören.

»Essen ist fertig. Kommt ihr hoch?«

»Ich komme«, ruft der eine zurück, wirft dem anderen noch einen bösen Blick zu, deutet auf ein paar Gerätschaften und dann auf den Ausgang. »Schau zu, dass du dein Zeug rausgeschafft hast und weg bist, bis ich wiederkomme. Und dann wär’s mir am liebsten, ich müsste nie wieder etwas von dir sehen oder hören, du Lusche!«

Damit wendet er sich ab und lässt die Tür hinter sich halb offen.

»Ich komm allein«, ist seine Stimme von draußen zu hören. »Er muss schon los, Nele, er kann leider nicht mehr zum Essen bleiben.«

Schritte die Treppe hinauf, dann oben die Wohnungstür, die ins Schloss fällt. Und im Proberaum ein untersetzter Typ mit dünnem Haar und hängenden Schultern. Mit feuchten Augen sieht er sich in dem Kellerraum um, in dem er seit Jahren mit den anderen geprobt, in dem er unzählige Abende mit endlos wiederholten Songs und billigem Bier verbracht hat.

Verplempert hat, wie es jetzt aussieht. Ausgebootet von dem Mann, der sich für den Bandleader hält, nur weil sie im Keller seines Hauses proben. Und der offenbar schon mit seinem Nachfolger gesprochen hat. Natürlich hat er auch schon andere rausgeworfen, und auch für die hat er sich keine Samthandschuhe angezogen – aber das sind nie Gründungsmitglieder gewesen. Und jetzt setzt er ihm den Stuhl vor die Tür! Ihm, ausgerechnet! Und das nach allem, was er für diese Scheißband getan hat …

Wütend schnaubt er, sieht sich um und beginnt, seine kleineren Utensilien in den alten Umhängebeutel zu stopfen, der nach der langen Zeit im Keller einen etwas muffigen Geruch angenommen hat. Er nimmt seinen Bass vom Ständer und legt ihn in den Instrumentenkoffer, klappt den Ständer zusammen und verstaut ihn mit dem Galgenstativ in der länglichen Tragetasche. Mit einer raschen Bewegung zieht er den Reißverschluss der Tasche zu, dann stopft er noch das kleine Stimmgerät, ein, zwei Kabel und sein Mikrofon in den Beutel.

Zwischendurch wirft er immer wieder Blicke auf das Durcheinander um ihn herum. Auf den Becken des Schlagzeugs spiegelt sich das alberne Licht der bunten Glühbirnen. Unter der Bass Drum quillt der alte, speckige Teppich hervor, über den er während der Proben immer wieder gestolpert ist. In den Ecken des Raums stehen die klobigen Boxen, die sie vor vielen Jahren selbst geschreinert und mit Lautsprechern bestückt haben. Mit einer neuen Anlage müssten sie längst nicht mehr die übertrieben schweren Kisten schleppen, und der Sound wäre mit moderner Technik auch nicht mehr so dumpf und dröhnend – aber man hat sich halt gewöhnt an das alte Zeug, und zu jedem Kratzer, zu jeder Macke weiß er noch zu erzählen, wie sie entstanden sind.

Das Gastspiel auf dem Festival in Tirol kommt ihm in den Sinn. Der unter wütenden Protesten abgebrochene Auftritt in Freiburg. Das binnen Minuten leergespielte Festzelt in Bietigheim. Das umjubelte Konzert auf dem Stuttgarter Killesberg. Die nicht enden wollenden Zugaben im Schorndorfer Hammerschlag. Die Groupies in Wiesbaden, die sie die ganze Nacht hindurch nicht hatten schlafen lassen. Er muss grinsen. Zwei der Mädels sind ihnen sogar nachgereist, und sie hatten ordentlich Mühe damit gehabt, sie wieder aus dem Proberaum zu bugsieren, bevor Nele ihnen hätte auf die Schliche kommen können.

Nele, die gerade oben mit ihrem Mann beim Essen sitzt. Und die ihn damals vermutlich zum Teufel gejagt hätte, wenn sie davon jemals etwas mitbekommen hätte. Er hat ihr nie von all den Schweinereien erzählt, von denen er erfahren hat. Und er hat sicher nicht von allen erfahren. Dieses Arschloch hat Nele nicht verdient, ging es ihm durch den Kopf. Wie er sie behandelt! Und wie er nun auch ihn behandelt! Spielt sich hier als der große Boss auf, wirft ihn raus …

Einen Moment lang denkt er darüber nach, ob er einfach hinaufgehen soll, hinauf in diese Wohnung, in der er nach all den Jahren eigentlich auch schon ein bisschen mehr als ein Gast ist. Ob er ihr reinen Wein über ihren tollen Ehemann einschenken soll? Über den Typen, der auch nach der Episode in Wiesbaden keine Gelegenheit ausgelassen hat, Nele zu betrügen. Und der ihn in die blöde Lage gebracht hat, dass er Nele nie hat sagen können, dass sie ausgerechnet dem gegenüber ganz sicher kein schlechtes Gewissen zu haben braucht. Na ja, zumindest das ist bald ausgestanden.

Dann fällt sein Blick auf das Mikrofon und den alten Kasten, der danebenliegt, und ein böses Grinsen schleicht sich auf sein Gesicht.

Stimmt, denkt er, das ist besser, als dieses Arschloch jetzt zu verraten.

Viel besser.

Freitag, 22. Mai

»Na, Herr Froelich, muss ich mir Sorgen um Sie machen?«

Der alte Sanfftleben hockte auf dem wuchtigen Eichendeckel, hatte seine dürren Beine ausgestreckt und lehnte mit den knochigen Schultern an der Wand des Sarglagers. Froelich ließ seine Kaffeetasse sinken und sah ihn fragend an. Sanfftleben stellte seine Tasse auf dem Sargdeckel ab und klemmte aus seinem mageren Bauch mit den Fingerspitzen eine schmale Hautfalte.

»Sie nehmen ab und nehmen ab«, schnarrte der Alte. »Wenn das so weitergeht, fallen Sie mir noch ganz vom Fleisch.«

Froelich lachte und prostete ihm mit der Tasse zu. Schlürfend nahm er einen großen Schluck, dann tätschelte er seinen runden Wanst.

»Ach, wegen der paar Kilo müssen Sie wirklich nicht befürchten, dass ich bald in Ihre Anzüge passen könnte.«

Sanfftleben grinste und zeigte zwischen seinen dünnen Lippen die gelblich verfärbten Zähne.

»Die wollen Sie nicht geschenkt, Herr Froelich, das können Sie mir glauben. Alles altes Zeug, ich trag’s halt noch auf, bis ich …«

Er nickte zu einem der Särge hin, wirkte dabei aber nicht besonders melancholisch.

»Wie viel haben Sie sich denn schon abgehungert?«, fragte er dann.

»Bisher nur fünf Kilo, und von Hungern kann nicht die Rede sein. Ich esse wie immer, aber ab und zu lasse ich ein Gläschen Bier oder Wein weg, und ich treibe etwas Sport.«

Froelich sah zu der alten Wanduhr hinüber.

»Ich muss in ein paar Minuten auch wieder los.«

»Wohin?«

»Ich laufe viermal die Woche. An zwei, drei Tagen geht’s die Burgstaffel hinauf und wieder herunter, und einmal durch die Weinberge, bis rüber nach Uhlbach und dann wieder zurück.«

»Respekt. Und heute geht’s die Burg hinauf, oder? Ganz schön anstrengend an einem warmen Tag, aber zum Glück ist die Staffel überdacht.«

»Nein, heute ist Uhlbach dran.«

»Aber … die Sonne scheint recht kräftig, gerade jetzt um die Mittagszeit, und bis Uhlbach sind es fünf, sechs Kilometer, und nirgendwo Schatten.«

»Ja, und? Ich laufe bei jedem Wetter.«

Sanfftleben warf ihm noch einen anerkennenden Blick zu und nickte. Dann grinste er wieder.

»Hat Ihnen Ihre Inge verordnet, was?«

»Ja, schon, wobei es eher eine Anregung als eine Anweisung war.«

»Sie sind fest zusammen«, korrigierte ihn Sanfftleben und lachte meckernd. »Da sind die Grenzen zwischen Befehl und Bitte … sagen wir … fließend.«

Froelich zuckte mit den Schultern.

»Inzwischen gefällt mir das selbst ganz gut. Es ist ja nicht so, dass ich plötzlich schlank wäre, und außer Ihnen und Inge sieht mir kaum einer die fünf Kilo weniger an – aber ich schlafe etwas besser als bisher, und bis ich einschlafe, nun ja …«

Froelich lächelte nun ganz versonnen, und Sanfftleben fühlte sich dadurch ermutigt, einen seiner derben Scherze aufzusagen. Es ging um einen dicken Mann und seine liebesbedürftige Frau. Froelich hörte sich die Zote an, verdrehte die Augen und zog eine Grimasse, die recht deutlich machte, wie wenig er von dieser Art von Humor hielt.

»Das kann ich Ihnen wohl nicht mehr abgewöhnen, Herr Sanfftleben, oder?«

»Warum auch? Das sind super Witze. Ich kann Ihnen auch gleich noch einen …«

»Bitte nicht!«

Froelich wuchtete sich hoch und sah auf den alten Bestatterkollegen hinunter.

»Und erzählen Sie den auch bitte nicht meiner Inge, ja? Sonst vergeht ihr gleich wieder die Lust, mit einem …« – er zwinkerte Sanfftleben zu – » … mit einem stattlichen Mann wie mir ins Bett zu gehen.«

Er beugte sich etwas vor und drohte dem anderen spielerisch mit dem erhobenen Zeigefinger.

»Und das würde ich Ihnen nun wirklich nicht verzeihen.«

Sanfftleben zuckte in schlecht gespieltem Erschrecken etwas dichter an die Wand zurück und brach dabei in ein schepperndes Lachen aus. Froelich lachte mit, ließ sich von dem Alten dessen Tasse geben und trug beides zur Küche hinauf.

* * *

Der Leichenwagen rollte langsam vor den mehrstöckigen Wohnblock im Friedrich-Schelling-Weg und blieb entlang des gegenüberliegenden Gehwegs hinter einem silberfarbenen Sportcoupé mit dem Kennzeichen »LB-DR …« stehen. Auf einem der Stellplätze direkt vor dem Gebäude stand ein Streifenwagen. Achim Fischer stieg aus. Durch das hintere Fenster des Sportcoupés sah er auf der engen Rückbank eine Schachtel mit Verbandszeug und Plastikspritzen liegen. An einem Kleiderhaken hinter der Beifahrertür hing das Spielkreuz einer Marionette, die Figur selbst – ein hölzerner Schlaks in weißem Arztkittel – war vorsichtig neben der Schachtel auf die Sitzbank gebettet.

Dr. Bernhard Bille, dem der Flitzer gehörte, war Allgemeinmediziner, hatte seine Praxis in dieser Besigheimer Wohnsiedlung, die südöstlich der Stadt auf einem Plateau mit herrlichem Blick übers Neckartal lag, und außerhalb seiner Sprechzeiten tingelte er mit seiner Marionette »Dr. Hahnemann« durch die Schulen der Umgebung, um Kindern die Angst vor Impfungen oder medizinischen Untersuchungen zu nehmen.

»Hallo, Herr Fischer.«

Der Bestatter hatte den Arzt gar nicht kommen hören. Bille war ein hochgewachsener, sportlicher Typ, und in seinen Sportschuhen federte er die letzten Meter auf Fischer zu.

»Sie werden noch ein wenig warten müssen«, sagte er und schüttelte dem Bestatter die Hand. »Die Kriminaltechniker wollen sich das noch ansehen. Die müssten jeden Moment eintreffen.«

Fischers Frau Lena war inzwischen auch ausgestiegen und begrüßte Bille ebenfalls. Der Arzt lehnte sich an seinen Wagen, schloss für einen Moment die Augen und massierte sich die Schläfen. Er sah übernächtigt aus.

»Mick liegt noch dort, wo er vorher sang.«

Bille unterbrach sich für einen Moment und sah den Bestatter fragend an.

»Sie meinen Michael Jäger, nehme ich an«, sagte Achim Fischer. »Zu dem sind wir jedenfalls bestellt worden. Ich kannte diesen ›Mick‹ zwar nicht persönlich, aber meine Frau Lena hat mir oft genug von ihm vorgeschwärmt, als begnadetem Musiker, Chorleiter und was-weiß-ich-sonst-noch-alles.«

Seine Stimme war etwas schärfer geworden. Bille warf Lena Fischer einen kurzen Blick zu. Sie lächelte und zuckte mit den Schultern.

»Wie auch immer: Er liegt mitten im Wohnzimmer. Mick wollte wohl was aufnehmen. Diese Single-Wohnungen mischen Arbeiten und Wohnen ja fröhlich durch – man könnte neidisch werden.«

Der Arzt, verheiratet, vier Kinder, schaute etwas wehmütig drein. Dann fuhr er fort.

»Allem Anschein nach hat ihm sein Mikrofon einen Stromschlag verpasst.«

Bille fasste sich mit der rechten Hand an die Schläfe und machte eine Bewegung, als würde er einen dieser alten Stromschalter drehen.

»Das hat ihm das Bewusstsein ausgeknipst. Er ist nach hinten gekippt und mit dem Kopf ungebremst auf den Parkettboden geknallt. Schädeltrauma, Hirnblutung, Tod nach zwei Stunden, so ungefähr. Im Fallen hat er seine teure akustische Gitarre, die seitlich hinter ihm auf dem Ständer hing, voll erwischt. Die hat seinen Sturz nicht gut weggesteckt, wie Sie sich denken können. Schade, war ein schönes Instrument.«

Fischer schluckte. An die schnoddrige Art des Arztes hatte er sich in den drei Jahren, die er nun schon das hiesige Bestattungsinstitut leitete, noch nicht gewöhnen können. Da drin lag ein toter Mensch, ein Geschöpf des Herrn – und Bille hatte Kummer wegen dieser blöden Gitarre, die durch den Sturz gelitten hatte! Lena Fischer dagegen konnte ein amüsiertes Glucksen nur mühsam unterdrücken. Er sah zu ihr hin und fing ihr entschuldigendes Lächeln auf.

»War wirklich ein schönes Instrument, Achim«, sagte sie dann noch. »Toller, warmer Klang – wenn er damit unseren Chor begleitet hat, war das immer sehr …«

Sein ungläubiger Blick und die tiefer werdenden Stirnfalten brachten sie zum Verstummen. Bille wollte gerade etwas sagen, da fuhr der Transporter der Spurensicherung heran und der Arzt entschuldigte sich eilig bei dem Bestatterehepaar und eilte zu den Kripobeamten hinüber.

»Seid ihr beide dann jetzt bitte mal fertig mit dieser blöden Gitarre?«, zischte Fischer seiner Frau zu. »Da drinnen liegt ein Toter, ja?«

»Jetzt sei doch nicht so ein Spießer, Achim!«

»Ich bin kein Spießer«, brauste er auf. »Ich bin pietätvoll. Übrigens nicht die schlechteste Eigenschaft in unserem Beruf.«

Sie zog einen Schmollmund, und es tat ihm schon wieder leid, dass er etwas heftiger geworden war als beabsichtigt. Aber hatte er nicht recht? War es nicht geschmacklos, solche Details zu bereden, wenn ein Mensch gestorben war?

»Ich geh rüber zum Lädle und hol uns was zu essen«, brummte er schließlich. »Wenn die erst noch alles unter die Lupe nehmen, kann es ja wirklich eine Weile dauern.«

Er sah den Kriminaltechnikern nach, die dem Arzt ins Haus folgten.

»Magst du was Bestimmtes, Lena?«

»Du wirst schon was Leckeres mitbringen«, sagte sie, legte eine Hand auf seinen Arm und lächelte ihn an.

Es durchfuhr ihn ganz warm. Lena wusste ihn halt zu nehmen. Er nickte ihr zu und wünschte sich, er hätte dabei ein Lächeln zustande gebracht. Dann richtete er sich etwas auf und stakste auf den kleinen Laden zu, der knapp hundert Meter entfernt in einem Container am Fuß des Wasserturms eingerichtet war. Allzu groß war die Auswahl so kurz vor der Mittagspause nicht mehr, aber alles sah lecker aus, und was er für sich und seine Frau kaufte, sollte die Wartezeit hinreichend überbrücken helfen.

* * *

Mit Inge hatte Froelich verabredet, dass sie erst am Abend warm essen würden, also tat’s über Mittag eine Suppe und eine Scheibe Brot. Danach schnürte er seine Laufschuhe, steckte ein wenig Geld ein und marschierte aus dem Haus. Als er den Hof überquert hatte, drehte er sich noch einmal um. Die kräftigen Sonnenstrahlen ließen das Schild »Bestattungsinstitut Sanfftleben, Inh. Gottfried Froelich« schimmern wie frisch poliert, darunter sah er Sanfftleben hinter einem der Fenster stehen.

Der Alte hatte noch ein wenig im Sarglager und im Kühlraum aufräumen wollen. Nun nickte er ihm durch die Scheibe zu und hielt beide knochigen Daumen erhoben. Froelich winkte ihm noch kurz zu, zupfte den Kragen seines Laufshirts zurecht, schob die Schultern ein wenig nach vorn und machte sich auf den Weg die Geiselbachstraße hinunter und danach vorbei an St. Peter und den Neckarhaldenweg hinauf in die Weinberge.

Unter dem schön renovierten Steintor blieb er kurz stehen. Hier konnte er im Schatten noch einmal verschnaufen. Er sah auf die Stadt hinunter, die ein wenig schläfrig in der Mittagssonne lag. Ein paar Minuten stand er so da, dann gab er sich einen Ruck, zupfte noch einmal am Shirtkragen und marschierte los. Bald spürte er den Schweiß überall, aber das lag mehr an der körperlichen Anstrengung als am angenehm warmen Tag.

Fünfeinhalb Kilometer. Froelich hatte die Strecke hinüber nach Uhlbach schon mit einem Schrittzähler vermessen. Fünfeinhalb Kilometer, und dann war Halbzeit. Ein kurzes Lächeln spielte um seinen Mund, und die Vorfreude verlieh ihm Flügel.

Alles musste Inge ja auch nicht wissen.

* * *

Alexander Maigerle schlenderte durch das Blühende Barock. Er blieb mal an dieser, mal an jener Bühne stehen, schaute den Technikern und ihren Helfern zu und zog immer wieder das Faltblatt mit den Bands und Solisten hervor, die für die einzelnen Locations im Park angekündigt waren.

Er hatte das Ludwigsburger Straßenmusikfestival erst vor drei Jahren für sich entdeckt, aber seither verpasste er keinen Tag der Veranstaltung. Freitag, Samstag, Sonntag – die drei Tage am Pfingstwochenende hielt er sich inzwischen eisern frei, auch wenn der eine oder andere Kollege im Kriminaldauerdienst etwas murrte, dass schon wieder Maigerle als Erster Urlaub eingetragen hatte, obwohl er keine schulpflichtigen Kinder hatte. Maigerle verwies dann zwar gern auf die Kleinen seiner Lebensgefährtin Heidi, aber jeder bei der Kripo wusste, dass Heidi alles selbst im Griff hatte und er sich um die Kinder nicht weiter kümmern musste. Und in die Ferien fuhr er mit ihnen an Pfingsten ja auch nie.

Das Festival war ihm die alljährliche Kabbelei mit den Kollegen wert. Von sechs Uhr abends bis zum letzten Auftritt gegen elf trieb er sich an den drei Festivaltagen im Blühenden Barock herum, genoss die entspannte Atmosphäre, applaudierte den Musikern und hatte immer genügend kleine Scheine in der Tasche, um den Bands etwas in den Hut zu stecken. Nur manchmal packte ihn die Wehmut … wenn er daran dachte, wie gern er selbst mal hier auftreten würde. Aber seine Band – seine eigene Band! – hatte ihn vor gut einem Jahr rausgeworfen, nachdem er aufgrund der Schichten im Kriminaldauerdienst ein paar Proben zu viel verpasst hatte. Jetzt spielte er zu Hause für sich, schrieb Songs – und versuchte, eine neue Gruppe zusammenzustellen. So richtig geklappt hatte das bisher nicht, aber immerhin hatte er seinen Freund Gottfried Froelich und dessen Lebensgefährtin überreden können, mit ihm zusammen an zwei, drei Nachmittagen auf der Stuttgarter Königstraße für die Passanten zu spielen.

Es hatte ihn einige Überredungskunst gekostet. Inge war schon ewig nicht mehr Teil einer Band gewesen, und ihre Bassgitarre – eine wunderschöne alte Rickenbacker – war nur noch für den Hausgebrauch gedacht. Froelich wiederum war ein begnadeter Pianist, spielte aber am liebsten ungestört im Kühlraum seines Bestattungsinstituts. Also war er eines Abends nach Esslingen gefahren, hatte Inge und Froelich zu deren Lieblingsitaliener eingeladen und ließ ihnen »Once« auf DVD da – einen irischen Film um einen Straßenmusiker, der sich ein bisschen verliebt, aber dann doch der Musik und seinem Traum von der Sängerkarriere treu bleibt.

Am nächsten Morgen hatte Froelich angerufen, und zwei Tage später spielten sie auf der Königstraße neben dem Eingang zu einem Modeladen. Inge und Froelich hatten sich eigens einen kleinen tragbaren Verstärker gekauft, der mit einem Akku ausgestattet war und über den sie Bass und E-Piano verstärkten. Maigerle spielte dazu Gitarre und sang ohne Mikro – für die Straße reichte das. Während ihres zweiten Auftritts setzte sich ein etwas flippiger Percussionist zu ihnen und spielte einfach mit. Hinterher verabschiedete man sich voneinander, der Trommler stellte sich mit seinem Spitznamen »Dollar« vor, nahm ein paar der eingespielten Scheine aus dem Hut und hinterließ ihnen seine Handynummer. Seitdem war er Bestandteil ihrer Auftritte. Keiner von ihnen kannte seinen richtigen Namen – aber in den Spielpausen ließ er durchblicken, dass er sein Leben nicht recht auf die Reihe bekam. Egal: An seinen Trommeln und Rasseln war er jedenfalls ein Ass.

Für Samstag hatte sich Maigerle mit Froelich und Inge hier auf dem Straßenmusikfestival verabredet. Auch Dollar hatte er angerufen, aber der hatte sich seltsam verhalten – fast kam es Maigerle so vor, als fürchtete der Percussionist, im Blühenden Barock jemandem zu begegnen, dem er lieber aus dem Weg ging.

Froelich und Inge aber wollte er unbedingt seinem alten Freund Kalli vorstellen. Kalli war eine Art Faktotum des Festivals, und auch wenn er nicht wirklich zu bestimmen hatte, wer im Blühenden Barock auftreten durfte und wer nicht, so hatte sein Wort doch auf jeden Fall einiges Gewicht bei den Veranstaltern. Kalli hatte er im vorigen Jahr zufällig hier getroffen, sie hatten nach dem letzten Konzert ein paar Bier im Künstlercamp getrunken, und diesmal hatte es Kalli für ihn eingefädelt, dass er in der Jugendherberge am Neckarufer übernachten durfte, in der auch die meisten Musiker untergebracht waren.

Maigerle hatte seinen Kombi auf dem Parkplatz der Jugendherberge abgestellt – die meisten Bands waren so früh am Nachmittag noch gar nicht eingetroffen. Sein Waschzeug, eine kleine Reisetasche und seine Gitarre hatte er dort gelassen, für die Fahrt zum Blühenden Barock war er in einen der beiden Shuttlebusse geklettert, die unentwegt zwischen Musikercamp und Festivalgelände pendelten, und nun freute er sich wie ein Schneekönig, dass er sich vor und hinter den Kulissen des Festivals bewegen durfte, als wäre er ebenfalls für Auftritte gebucht.

Ganz in Gedanken versunken, hatte Maigerle inzwischen einen sonnigen Platz an der nordöstlichen Ecke des Schlosses erreicht. An einer Wegkreuzung unter ihm war unter den ausladenden Ästen eines großen Baums eine Bühne aufgebaut, und ein Gitarrist im karierten Baumwollhemd schob einige Fußpedale hin und her, verkabelte seine Effektgeräte und bereitete sich ganz entspannt auf seinen Auftritt vor. Er war sehr früh dran, aber dass es noch eine Weile hin war bis zur Eröffnung des Festivals, schien ihn nicht weiter zu stören. Er spielte auf seinem Instrument einige Riffs an und bediente mit seinem linken Schuh die Effektgeräte, die er vor sich auf dem Bühnenboden ausgebreitet hatte. Zwischendurch atmete er tief ein und aus, ließ lächelnd den Blick über den Park und die Wiesenböschung zum Schloss hinauf schweifen und nahm ab und zu einen Schluck aus einer Thermosflasche.

»He, Alex!«

Maigerle schrak hoch. Kalli stakste mit ausgreifenden Schritten auf ihn zu. Er klatschte Maigerle ab und sah ihn mit einem seltsamen Grinsen an. Dann wandte er sich ab, stellte sich neben Maigerle und schaute zu der Bühne mit dem Gitarristen hinunter.

Kalli sah aus wie eine Mischung aus Karl Lagerfeld und Udo Lindenberg: ein hagerer Kerl mit wettergegerbtem Gesicht, mit gut schulterlangem dunkelblondem Haar und einer riesigen orange getönten Sonnenbrille auf der markanten Nase. Er hatte seine dürren Beine in eine enge Jeans gezwängt, aus deren Bund ein weißes Hemd quoll, dessen Ärmel und Kragen mit irritierend altmodischen Rüschchen versehen war. Über dem Hemd trug er eine offenstehende schwarze Anzugweste, und an seinem linken Handgelenk baumelte ein roter Plastikgurt, den ein schwerer Schlüsselbund nach unten zog.

Kalli benahm sich wie einer dieser Berufsjugendlichen aus der Showbranche, die abends in verrauchten Kneipen jedem einen Plattenvertrag versprechen, der ihnen ein Bier spendiert – aber er war ein guter Kerl, und hinter der flapsigen Fassade des großmäuligen Windhunds verbarg sich ein klarer Kopf, der sehr genau wusste, was im Musikgeschäft möglich war und was nicht. Und der auch die nötigen Kontakte hatte, um das Mögliche umzusetzen.

»Schade, dass du deine Gitarre nicht dabei hast«, sagte er nun in seinem typischen näselnden Singsang, während er dem Musiker unter dem Baum zusah, der sich im Moment ganz auf sein Spiel und seine Effektgeräte konzentrierte.

»Die hab ich natürlich dabei. Ist in der Jugendherberge. Ich dachte mir, ich hole sie nachher, falls sie für die Session im Musikercamp gebraucht wird.«

Kalli nickte.

»Das ist gut.«

Er verstummte, und Maigerle wartete, dass er weiterredete. Das dauerte, bis der Mann unter dem Baum ein neues Lied angestimmt hatte.

»Magst du sie vielleicht schon früher holen?«

Maigerle sah ihn fragend an.

»Uns ist eine Band abgesprungen. Drei Sängerinnen, die nebenbei ein bisschen Percussion machen, begleitet von einem Musiker an Gitarre und Bass. Der ist … nun ja … verhindert, und ohne ihn wollen unsere drei Grazien nicht auftreten.«

»Hm …«, machte Maigerle, und es arbeitete in ihm. »Was singen die Mädels denn so?«

»Folk, Liedermacher, Chanson.«

Maigerle nickte betrübt. Es sah nicht danach aus, als würde er mit Kalli ins Geschäft kommen.

»Das ist nicht so meins«, murmelte er, »tut mir leid.«

»Du hast mich falsch verstanden, Alex: Die Mädels wollen in diesem Jahr überhaupt nicht mehr bei uns auftreten – die sind ziemlich im Eimer. Ihr Begleitmusiker ist nicht einfach so ausgefallen. Der ist tot.«

»Oh.«

Kalli zuckte mit seinen knochigen Schultern.

»Das passiert. Aber wir haben jetzt einen Platz im Programm frei.«

Kalli sah unbewegt zu dem Musiker hinüber. Offenbar hatte er ein Gemüt wie ein Fleischerhund – und Nerven wie breite Nudeln. Immerhin begann das Festival in wenigen Stunden, und er stand hier ganz ruhig neben Maigerle.

»Hm …«

Jetzt wandte sich Kalli dem nachdenklich gewordenen Maigerle zu. Ein leichtes Grinsen umspielte seine dünnen Lippen.

»Es gibt da ein paar Musiker«, begann Maigerle nach einer Pause, »mit denen ich schon ein paar Mal in Stuttgart gespielt habe.«

»Du meinst den Dicken am Klavier, die Kleine am Rickenbacker und Dollar an der Percussion?«

Maigerle sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

»Mensch, Alex: Was wär ich denn für ein Strippenzieher, wenn ich das nicht mitbekommen hätte? Und ich bin ja auch nicht zufällig hier – um ehrlich zu sein, zähle ich eigentlich schon fest auf dich und deine kleine Band.«

Er grinste jetzt sehr breit und fuhr sich mit den Fingern durch das untere Ende seines Pferdeschwanzes.

»Seppi hat mir von euch erzählt. Der hat euch in der Königstraße gehört und fand euch gut. Den Dicken kennt er von früher her – Seppi stammt aus Weil der Stadt, da hat der wohl eines seiner Bestattungsinstitute. Und den guten Dollar kennt ohnehin jeder von uns.«

»Ach? Und woher?«

Kalli winkte ab.

»Lange Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie dir mal, aber dazu reicht die Zeit jetzt nicht mehr. Magst du deine Leute mal anrufen? Wenn ihr wollt, könnt ihr gleich heute bei uns einsteigen.«

Er sah auf seine altmodische Uhr.

»Um sechs geht es drüben auf Bühne D los.«

Kalli deutete am Schloss vorbei zum südlichen Teil des Parks hinüber. Dann zog er einen Lageplan des Festivalgeländes aus der Hosentasche.

»Und falls ihr es bis um sechs nicht schafft, fangt ihr halt mit der zweiten Runde an – das wäre hier.«

Er tippte auf eine Stelle des Plans, die mit einem grauen Viereck markiert war, in dem »K« stand, und dann hinunter zu der Bühne, auf der in diesem Moment der Gitarrist sein Instrument wieder einpackte.

»Es gibt auch einen kleinen Haken«, fuhr Kalli fort. »Normalerweise spielen bei uns alle Acts über die drei Festivaltage verteilt sechsmal – damit alle dieselben Chancen haben, unseren Festivalpreis zu gewinnen. Mick wollte mit seinen Mädels aber möglichst oft spielen, also haben wir mit ihm einen Deal gemacht: Er darf insgesamt achtmal auftreten, dafür bekommt er keine Startnummer und spielt sozusagen außer Konkurrenz.«

Maigerle zögerte.

»Sag bloß nicht«, warnte Kalli ihn, »dass es dich stört, dass ihr keine Chance auf den ersten Platz habt! Ich meine: Hier treten richtig gute Bands und Musiker auf, da könnt ihr vermutlich eh nichts reißen. Aber spielen könntet ihr, und das vor richtig großem Publikum.«

Er beobachtete sein Gegenüber, Maigerle schien mit sich zu ringen.

»Jetzt reiß dich mal am Riemen, Alex«, drängte Kalli. »Dass du gern hier spielen würdest, seh ich dir an der Nasenspitze an. Das ist deine Chance. Also: Ruf an oder lass es.«

Er zog ein Handy hervor und hielt es hoch.

»Den Leuten von der Agentur, die das Festival veranstaltet, hab ich euch angeboten wie Sauerbier. Aber wenn du nicht willst, ruf ich sie kurz an – die haben sicher auch andere Musiker in petto.«

Maigerle gab sich einen Ruck.

»Wart kurz, ich versuche, meine Leute zu erreichen. Vielleicht klappt’s ja doch.«

* * *

Die Fischers hatten ausreichend Zeit, die Donuts und Kekse aus dem Kiosk am Besigheimer Wasserturm zu verzehren. Danach gab es Kaffee aus der Thermoskanne, und Lena ließ sich von Achim sogar davon abbringen, die Heckklappe zu öffnen, um sich auf die Ladefläche des Leichenwagens zu setzen. Zu gerne hätte sie ein wenig in die Sonne geblinzelt, während sie langsam ihren Trinkbecher leerte, aber Achim ließ ihr keine Ruhe: Das gehöre sich nicht, das könne ihnen hier oben in der Wohnsiedlung einen schlechten Ruf bescheren. Sie zwinkerte ihm schelmisch zu, gab aber nach. Ohnehin war es im Wagen bequemer. Lena Fischer streckte ihre Beine aus, ließ das Seitenfenster hochfahren und begann leise einige der Lieder zu singen, die sie im Chor gesungen hatte. Unter der Leitung jenes Mannes, der jetzt tot in seiner Wohnung lag. Achim Fischer warf ihr einen missbilligenden Blick zu, als sie zur ersten Melodie ansetzte. Er schloss das Fenster auf seiner Seite ebenfalls, aber schwieg und stierte nur genervt zur Windschutzscheibe hinaus.

Schließlich kam einer der Kriminaltechniker herüber und teilte ihnen mit, dass sie den Leichnam nun wegbringen könnten. Er gab ihnen seine Visitenkarte und kritzelte noch schnell den Namen einer Rechtsmedizinerin darauf, nach der sie im Robert-Bosch-Krankenhaus fragen sollten. Das war zwar überflüssig, weil Achim Fischer nicht zum ersten Mal jemanden zur Obduktion nach Stuttgart brachte und sich dort ohnehin immer zuerst an die beiden Sektionsgehilfen wandte, die er längst gut kannte. Aber er sagte nichts, nickte nur, steckte die Karte ein und folgte dem Kriminalbeamten ins Haus, um sich alles erst einmal anzusehen, bevor er den Toten im Transportsarg zum Wagen bringen würde.

Auf der Treppe kam ihm ein Techniker im weißen Ganzkörperanzug entgegen. Er trug eine Plastikkiste hinunter, in der einige elektrische Geräte lagen, jedes einzelne fein säuberlich in einer eigenen Tüte verpackt. Ein Mikrofon konnte er erkennen, auch einige Kabel, die anderen Geräte sagten ihm nichts.

Im zweiten Stock stand eine Wohnungstür offen, und auf dem Weg hinein deutete der Kriminaltechniker auf die Trassierbänder, die knapp über dem Boden hingen und einen schmalen Korridor markierten. »Nur hier rein und raus, ja?«, brummte er, und nun war Achim Fischer doch ein wenig beleidigt. Offensichtlich hielt ihn der Kripomann für nicht besonders helle. Selbst wenn er das Procedere nach einem möglicherweise nicht natürlichen Todesfall noch nicht gekannt hätte: Die Täfelchen überall auf dem Boden und die behutsam Spuren sichernden Beamten in ihren weißen Ganzkörperanzügen waren auch jedem Laien aus zahllosen Fernsehkrimis vertraut.

Michael Jäger, der rücklings mitten im Wohnzimmer lag, verscheuchte seinen Ärger aber sofort wieder. Ein ganz leichtes Lächeln legte sich auf Achim Fischers Züge.

In den ersten Jahren hatte es ihn ein wenig irritiert, dass Leichname eine so große Faszination auf ihn ausübten. Schon zu Beginn seiner Ausbildung zum Bestatter hatte er festgestellt, dass er mit Toten besser zurechtkam als mit vielen Lebenden, und als er und Lena die Leitung des Bestattungsinstituts in Besigheim übernahmen, hatten sie sich dementsprechend auf eine klare Aufgabenteilung geeinigt: Sie kümmerte sich um die Angehörigen, er um die Verstorbenen. Das klappte gut. Aus einer gut gehenden Filiale von »Fürchtegott Froelich & Söhne« mit Sitz mitten in der Altstadt hatten sie eine noch besser gehende gemacht, und wann immer der heutige Besitzer, ein Enkel von Fürchtegott selig, die Bücher durchsah, sparte er nicht mit Lob für ihre Arbeit.

Zwar musste auch dem Enkel schon aufgefallen sein, dass sich sein Geschäftsführer dem Bestatterwesen auf eine etwas morbide Art näherte, aber bisher hatte er dazu noch nichts gesagt. Und Achim Fischer zeigte nach außen hin ja auch nicht mehr Interesse an Leichen als in seinem Beruf üblich. Er war stets pietätvoll, ehrte die Toten, behandelte die Angehörigen zurückhaltend und respektvoll, und niemals hätte man ihn flapsig über einen Kunden reden hören oder mit einem Leichnam umgehen sehen. Im Kühlraum dagegen musste er sich keine weitere Zurückhaltung auferlegen.

Achim Fischer wischte sich mit der Hand über das Gesicht, als er den warnenden Blick seiner Frau auffing, die neben ihm stand und ihn aufmerksam beobachtet hatte. Von den Kriminalbeamten hatte niemand auf sie geachtet. Fischer atmete tief durch und musterte die Szenerie.

Mick Jäger war ein untersetzter Typ mit dünnem Haar. Er lag auf dem Rücken, hatte die Augen geschlossen und den Kopf unnatürlich verrenkt. Zwei benachbarte Stellen an Oberund Unterlippe sahen vertrocknet aus, ein Arm lag über dem Hals einer schwarz lackierten Bassgitarre, der andere stand in einem eigenartigen Winkel vom Körper ab. Der Bass lag auf dem Oberkörper des Toten, war aber durch den Sturz ein wenig nach oben und zur Seite gerutscht. Der Gitarrengurt war noch über eine von Mick Jägers schmalen Schultern geschlungen und wölbte sich darüber in einer weiten Schleife, weil er jetzt kein Gewicht mehr tragen musste. Die Beine waren gespreizt, und zwischen ihnen hatte sich eine kleine Lache ausgebreitet, die einen Teil der Gerüche im Zimmer erklärte. Dazu kamen leichte Röstaromen sowie Duftnoten von Kaffee, Rasierwasser, Männerschweiß und … süßlich-würzig, ein Hauch von Tannennadeln?

Fischer sah sich um. Auf einem improvisierten Computertisch aus einer rohen Schreinerplatte und zwei Holzböcken, knapp einen Meter von Jägers Füßen entfernt, lag neben der PC-Tastatur eine dicke, spitz zulaufende und erloschene Selbstgedrehte auf dem Rand eines Aschenbechers. Dahinter stand ein Täfelchen mit einer Nummer.

Der Hinterkopf Mick Jägers ruhte auf dem Parkettboden, Blut war keines zu sehen. Er hätte schlafen können, wenn nur seine Lage nicht so unbequem gewesen wäre – sie war vor allem auf die Akustikgitarre zurückzuführen, die unter ihm zu Bruch gegangen war. Auf einer Seite seines Oberkörpers lugte der abgeknickte Hals des Instruments hervor, die Enden einiger aus ihren Halterungen gerissenen Saiten kringelten sich neben Jägers Kopf und einer seiner Schultern. Auf der anderen Seite ruhte seine Hüfte auf den Resten des zerborstenen Korpus, und der stählerne Gitarrenständer stützte Hüfte und Hintern so ab, dass der Mann aussah, als wollte er noch im Tod eine dieser typischen Machorockerposen einnehmen.

»Sie können ihn mitnehmen«, sagte der Kriminaltechniker, als er den Bestatter untätig vor der Leiche stehen sah. »Und während Sie ihn hochheben, nehmen wir ihm noch die Bassgitarre ab.«

»Schon klar«, versetzte Fischer, und er gab sich keine große Mühe mehr, seinen Unwillen über das Benehmen des Kripobeamten zu überspielen. »Aber wir wollten uns nur kurz ein Bild machen – damit wir nicht eines Ihrer Täfelchen umstoßen.«

Er fixierte den Polizisten mit einem bösen Funkeln, dann wandte er sich ab und ging mit seiner Frau nach unten, um den Transportsarg zu holen.

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