Bühne frei: Ein Auftrittscoaching für Leib und Seele - Dirk Kutting - E-Book

Bühne frei: Ein Auftrittscoaching für Leib und Seele E-Book

Dirk Kutting

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Beschreibung

Wir schauen uns Lernvideos für einen perfekten Auftritt an und haben trotzdem den Eindruck, gehemmt und unzureichend vorbereitet in Präsentationen zu gehen. Oft setzen Trainings dabei an, etwas darzustellen, was wir nicht sind. Dieser Ratgeber verspricht nicht, alles anders und besser zu machen, aber eines kann er zeigen: wie nämlich seine Klientin Frau Adam die Bühne eroberte. Schritt für Schritt begleitet Dirk Kutting nicht nur Frau Adam, sondern auch Sie auf dem Weg zu bühnenreifen professionellen Auftritten und Vorträgen. Er zeigt unterhaltsam und tiefgründig, wie wir unsere Ängste und Schwächen in Stärken verwandeln, wie wir Sicherheit und Souveränität verkörpern können. Das Geheimnis liegt in der Verbindung von Introvision, Embodiment und Storytelling: Ängste werden heruntergefahren, Stärken körperlich verankert, Persönlichkeit wird performt. Zahlreiche sofort umsetzbare Übungen, Fragebögen und Meditationen unterstützen Sie in Ihrem Selbstcoachingprozess.

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Dirk Kutting

Bühne frei:Ein Auftrittscoachingfür Leib und Seele

Mit einer Abbildung

Vandenhoeck & Ruprecht

Meiner Frau Uliund unseren TöchternEva, Paula und Katja

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Sergey Nivens / Shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99455-0

Inhalt

Ein paar Worte vorab

Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf

»Ich möchte souverän wirken wie Petra Gerster!«: Durch Erwartungsklippen steuern

»Du darfst dich nicht verhaspeln!«: Stressauslöser unter die Lupen nehmen

»Ich muss dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!«: Die Alarmglocken zum Verstummen bringen

»Da hätten wir lieber eine andere genommen!«: Die Achtsamkeitsstufen erklimmen

»Ich bin hier die Vorsitzende!«: Die mentale und körperliche Haltung stärken

»Hör auf! Lass das!«: Sich gegen Störmanöver abgrenzen

»Das sind die schönsten Momente, wenn man weiß, was man schafft und dass man es auch schafft!«: Sich vor Belastungen schützen

»Ich schreibe meine Heldinnengeschichte!«: Die Kraft der Erzählungen nutzen

Teil zwei: Hinter den Kulissen – Stark auftreten und bei sich bleiben

Nachdenken über den eigenen Auftritt: Erfahrung

Gewissheit, die Unsichtbares sichtbar macht: Spiritualität

Mentale Stärke, die der Muße entwächst: Meditation

Lösungen, die Muster überwinden: Systemisches Denken

Kraft, die hilft, nicht aufzugeben: Kampfsport

Imperative, die aufgelöst werden: Introvision

Verkörperungen, die standfest machen: Embodiment

Geschichten, die mich neu erfinden: Storytelling

Teil drei: Und jetzt Sie – Anregungen zum Selbstcoaching

Wer möchte ich im Vortrag sein?

Wie nehme ich Stress beim Vortrag wahr?

Wie lösche ich behindernde Imperative?

Was trage ich dazu bei, mich selbst zu blockieren?

Wie positioniere ich mich neu?

Wie lasse ich Kritik an meinem Auftritt ins Leere laufen?

Wie bleibe ich auch in Ausnahmesituationen dennoch bei mir?

Wie erstelle ich einen bühnenreifen Vortrag?

Ein paar Worte danach

Literatur

Ein paar Worte vorab

Wir können viele Bücher über sichere Performance lesen und lassen uns in bestimmten Situationen doch mehr gefallen, als uns lieb ist. Wir lernen Theorien über Achtsamkeit und fahren trotzdem manchmal bei Kleinigkeiten aus der Haut. Wir schauen uns Youtube-Videos zum perfekten Auftritt an und haben trotzdem den Eindruck, gehemmt und unzureichend vorbereitet in Präsentationen zu gehen. Oft setzen Trainings dabei an, etwas zu verkörpern, was wir nicht sind. Es bleibt manchem von uns fremd, wenn wir den Tiger in uns wecken sollen und doch das Gefühl haben, uns lächerlich zu machen. Es mutet mitunter komisch an, auf einen Tiger zu setzen und uns im Spiegel anzuschauen.

Dieser Ratgeber verspricht nicht, alles anders und besser zu machen, aber eines kann er zeigen. Er zeigt, wie Frau Adam die Bühne erobert. Frau Adam wird in einem Einzelcoaching begleitet und die Beratungsschritte werden jeweils erläutert. Das Konzept, das im Coaching beschritten wird, nimmt Vortragsängste und Unsicherheit beim Auftritt ernst und zeigt auf, wie wir Sicherheit und Stärke verkörpern können. Ich nenne das »M8sam« sein. »M8sam« ist zunächst ein Wortspiel, das auf die Verbindung von verkörperter Stärke und einem achtsamen Umgang mit unseren Ängsten hinweisen will. Macht wird dabei in dem Sinne verstanden, dem eigenen Können zu vertrauen, Stärke zu spüren und sie auch zu zeigen. Achtsamkeit wird verstanden als Fähigkeit, sich selbst auf verschiedenen Ebenen wahrzunehmen und sich wohltuend und wohlwollend mitteilen zu können. Dass dieses Coaching- oder Trainingsprogramm auch noch in acht Schritten vollzogen wird, ist ein Nebeneffekt.

Der Dreh- und Angelpunkt unseres Auftritts liegt darin, dass wir unsere Fähigkeiten verkörpern. Am besten lassen sich Vorstellungen verkörpern, die wir selbst erfahren haben und die wir anderen Menschen überzeugend erzählen können. Um dies effektiv umsetzen zu können, müssen wir alte, persönliche Glaubenssätze, die uns gehemmt haben, erkennen und überwinden. Unsere bisherige Wetterseite bekommt einen dichten Regenschutz, wenn wir unsere Ängste und Hemmungen anschauen und wirksam überwinden. Dann sind wir frei, mit unseren Erfahrungen eine Erfolgsgeschichte zu schreiben. Die Lichtblicke unseres Lebens verdichten sich zu einem Sonnendurchbruch. Uns wird es gelingen, unsere Geschichte in unsere Performance zu verwandeln. Unvergesslich wird unsere Geschichte zur Verkörperung unserer Führungsstärke. Applaus!

Warum das funktioniert?! Erfahrung ist besser als Theorie. Unsere eigene Erfahrung ist besser als eine fremde Erfahrung. Unser Handeln aufgrund unserer Erfahrung ist besser als auswendig gelerntes Verhalten. Wir nehmen eine neuronale Vernetzung vor, die uns niemand mehr nehmen kann. Immer wenn wir künftig unseren » Executive Mode« verkörpern, werden unsere Gesprächspartnerinnen und -partner unsere Professionalität spüren.

Dieses Auftrittsprogramm ist entstanden, weil ich im Coaching Menschen erlebe, die beruflich sehr erfolgreich sind, aber dennoch bei öffentlichen Auftritten in Stress geraten. Sie haben Hemmungen, sich zu zeigen, wie sie sind. Oft stehen ihnen dabei Bilder im Weg, aus denen sie entnehmen, wie sie sein wollen. Noch schlimmer, oft orientieren sie sich an Vorbildern, die ihnen vermitteln: So sollst du sein. Und am schlimmsten: So bist du nicht! Du entsprichst nicht dem Bild für eine gute Performance. Nicht deinem Anspruch gemäß und schon gar nicht unseren vermeintlichen Ansprüchen. Oft reicht eine unangenehme Erfahrung aus, um sie in entsprechenden Situationen immer wieder zu aktivieren. Bei einem Vortrag gestottert zu haben, rot geworden zu sein oder den Faden verloren zu haben, wird zu einer Wiederholungsfalle. Schon der Gedanke an den künftigen Auftritt löst Angst machende Gefühle mit den dazugehörenden körperlichen Reaktionen aus.

Dem kann dieses Auftrittstraining wirksam entgegensteuern oder besser gesagt, es kann helfen, statt Stress Lust am Auftritt und Vortrag zu finden. Dem Stress wird die Spitze gebrochen und gute Erfahrungen können an seine Stelle treten.

Das Auftrittsprogramm stellt ein mentales Training dar, bei dem nicht über die eigenen Grenzen gesprungen wird wie bei vielen »Denk positiv«-Programmen. Es findet keine Konditionierung statt, sondern die Coachees beschreiten einen Weg, bei dem sie sich selbst und ihren Ängsten begegnen und auf dem sie vorankommen. Sie schauen unangenehme Selbstwahrnehmungen liebevoll an und gewinnen leibhaftig, das heißt seelisch und körperlich, Stärke.

Nicht Optimierung und Perfektion sind Leitbegriffe, sondern die Fähigkeit, Kraft und Stärke unter Einschluss persönlicher Grenzen darzustellen. Dies kann als lustvoll erlebt werden. Dieses Programm ist nichts Neues. Einzig für die besondere inhaltliche Kombination und Abfolge der methodischen Schritte beanspruche ich die Urheberschaft. Das inhaltliche Gerüst geht auf die systemische Beratung zurück. Die methodischen Schritte beruhen auf der Verbindung von Introvision, Embodiment, mentalem Training und Storytelling. Jeder dieser Schritte wird im Kontext des Coachings mit Frau Adam erklärt.1

Die einzelnen Schritte werden immer mit »Fürs Mindset« abgeschlossen. Ein Mindset hat jeder Mensch, und das immer. Gemeint ist damit unsere durch Erfahrungen geprägte Haltung oder Einstellung. Das einfachste und grundlegende Mindset ist die Reaktion auf Bedrohung: Fliehe ich oder kämpfe ich, vermeide ich Herausforderungen oder gehe ich diese an? Unser Mindset begleitet und beeinflusst meist unbewusst unsere Handlungen. Da das Mindset nichts Statisches sein muss, lässt es sich ändern. Wir können Neues ausprobieren und ein dynamisches Selbstbild entwickeln. Dazu sollen die Mindset-Impulse kleine Wegmarken sein.

Eine Chefin sagte mal zu mir, ich träte auf wie »Jung Siegfried«. Das hat mich überrascht, mein Selbstbild sah nämlich ganz anders aus. Ich halte mich für einen ruhigen, vorsichtigen Menschen. Aber vielleicht habe ich mich diesem scheiternden Helden doch ein wenig angenähert. Ich bin zwar Lehrer, Pfarrer und Seelsorger, treibe aber seit einigen Jahren Kampfsport. Zwar bin ich seit dreißig Jahren Beamter, habe mich aber vergeblich auf kirchliche und staatliche Leitungsfunktionen beworben. Zwar liebe ich die Sicherheit meines Berufs, aber habe mich immer jenseits des Laufställchens bewegt und nebenbei promoviert und eine mehrjährige Weiterbildung zum systemischen Berater gemacht. Inzwischen habe ich meine Dienstpflichten ein wenig reduziert, um meiner Liebe zur Arbeit mit Erwachsenen selbstständig nachzugehen. Ich bin sehr darauf versessen, Menschen in ihrem beruflichen Kontext zu unterstützen. Hier will ich leidenschaftlich Seelsorger sein – und auch ein Kämpfer für größere Zufriedenheit im Beruf. Mein Thema ist die Verbindung von Körper und Seele, Leib und Geist.

Ich liebe es, zu predigen und Vorträge zu halten. Jedoch war es ein langer, herausfordernder Weg, mich dabei wirklich wohlzufühlen und keinen trockenen Mund zu bekommen, nicht mit der Stimme zu zittern, keine weichen Knie oder das Gefühl von Blackouts zu haben, wenn ich ein paar Sätze frei sprechen wollte. Oft dachte ich dann, mein Gehirn ist wie eine ausgedrückte Zahnpastatube. Ich musste mich im Studium, im Pfarramt, im Schuldienst oder bei wissenschaftlichen Kolloquien ständig überwinden und lernen, den Stier bei den Hörnern zu packen. Ich hatte keine Chance, meine Vortragsangst zu vermeiden. Mein Vorteil: Ich konnte diese beängstigenden Herausforderungen Hunderte Male angehen. Langsam verbesserte sich mein Gefühl in solchen Situationen. Ich schwamm mich frei, wie man sagt. Danach erst fand die Reflexion über die Veränderung statt, die ich wahrnehmen konnte. Das Ergebnis dieser Reflexion und ihre praktischen Auswirkungen halten Sie nun in der Hand. Es ist möglich, die Bühne zu erobern. Viel Spaß dabei!

1Ich danke meinen Klientinnen und Klienten und insbesondere natürlich der »echten« Frau Adam für viele inspirierende Begegnungen und gemeinsam entwickelte Gedanken, die Niederschlag in diesem Buch gefunden haben.

Teil eins: Bühne frei – Frau Adam tritt auf

»Ich möchte souverän wirken wie Petra Gerster!«: Durch Erwartungsklippen steuern

Frau Adam wollte an einem meiner Coaching-Workshops »Kein Stress mit Auftritt und Vortrag!« teilnehmen, brach sich aber leider den Arm und musste operiert werden. Deswegen vereinbarten wir ein Einzeltreffen in Frau Adams Büro.

Frau Adam holt mich vom Bahnhof ab. Natürlich hat mein Zug Verspätung. Umso besser, dass mir am Bahnhofsausgang eine gut gelaunte Dame mit ihrem gebrochenen Arm zuwinkt, unser Erkennungszeichen. Frau Adam ist seit sieben Jahren Vorsitzende einer Berufsorganisation und hat deren Jahrestagung vorzubereiten und natürlich als Vorsitzende das Eingangsreferat zu halten. Dieses will sie mit mir durchgehen und ihren Auftritt proben, dazu soll ich einige Tipps geben. Soweit ihre Erwartung. Von meiner Vorgehensweise weiß sie nichts, aber sie ist bereit, mit mir nach meinen Vorgaben an ihrem Thema zu arbeiten. Das Spannende dabei ist zu sehen, wie es gelingt, mit meinen Werkzeugen bei ihr und ihrem Anliegen zu bleiben. Ich sehe mich wie ein Lotse, der Frau Adam hilft, durch die Rheinenge der Loreley zu navigieren und bei starker Fließgeschwindigkeit an den gefährlichen Felsen sicher vorbeizukommen.

Ohne Warm-up, Kaffeepause und weitere Begrüßungspräliminarien geht es gleich los. Ich bitte Frau Adam, ihren Vortrag zu halten. Zunächst geht sie etwas zur Seite, sammelt sich für einen Augenblick und kommt dann in die Mitte des Raumes. Sie hat eine recht gut sichtbare Sanduhr in der Hand. Nach einer kurzen Begrüßung weist sie auf die Sanduhr hin: »Sie fragen sich vielleicht, warum ich eine Sanduhr in der Hand halte. Das hat zwei Gründe: Sie wissen, wir haben uns in unserem Verband in einem begrenzten Zeitrahmen auf die neue gesetzliche Lage einzustellen. Außerdem bin ich, wenn ich etwas in der Hand halte, nicht so nervös …«

Im weiteren Verlauf des Vortrags scheint Frau Adam unentschieden, ob sie auf das Manuskript schauen soll oder zu mir, ob sie ablesen darf oder frei sprechen soll. Anschließend besprechen wir ihre und meine Wahrnehmung. Sie selbst fühlte sich unsicher und hadert mit einem Versprecher und einem Haspler. Sie teilt mit, dass es ihr Anspruch sei, frei zu sprechen, daher klappten die ersten Sätze gut, aber sobald sie zu überlegen beginne, falle ihr das freie Sprechen schwer. Sie schwanke dann zwischen Manuskript und Publikum hin und her. Ich kann ihre Wahrnehmung nur bedingt bestätigen, für mich als Außenstehenden sah es so aus, dass Frau Adam, nachdem sie sich gesammelt hatte und ihre Anspannung spürbar gewesen war, einen guten Start hingelegt hatte. Eine gewisse Verlegenheit zeigte sich mir erst, nachdem das Wort »nervös« gefallen war. Also beginne ich mit der Formulierung »nicht so nervös« und frage, ob es einen Unterschied ausmache, wenn sie gesagt hätte: »Außerdem bin ich, wenn ich etwas in der Hand halte, ruhiger.« Daran schließt sich ein kleiner Exkurs über unsere Suggestionen an. Obwohl wir wissen, dass unser Gehirn keine Negationen kennt, arbeiten wir unwillkürlich oft mit diesen. »Sei nicht nervös!« Sicher kennen Sie das Beispiel: »Denken Sie nicht an eine lila Milka-Kuh!« Automatisch steht uns die alte Schokoladenwerbung mit ihren lilafarbigen Kühen vor Augen. Genauso gilt auch: Wir können uns nicht beruhigen, wenn wir uns sagen, dass wir nicht nervös sein sollen. Diese Befehle verstärken das Übel, das es zu beseitigen gilt. Wie in einem hypnoiden Zauber lassen wir die Geister aufsteigen, die wir bannen möchten: Nervosität, Angst und Unsicherheit.

Frau Adam hat einen noch besseren Vorschlag, als das Wort »nervös« durch das Wort »ruhiger« zu ersetzen: »Ich lasse es ganz weg, weil mich auch das Wort ›ruhig‹ unbewusst an meine Nervosität erinnern könnte. Ich halte einfach die Sanduhr in der Hand, weil mich das eben ruhiger macht, das muss ich gar nicht sagen.«

Ein erster Hinweis auf die Verbindung von Körper und Geist, der mich freut. Dann spricht sie ihr Dilemma an. Sie will frei sprechen, fühlt sich aber mit Manuskript einfach sicherer. »Ich möchte gern so sicher und souverän wirken wie Petra Gerster!« Ich mache ihr Mut, vom freien souveränen Auftritt einer geschulten Journalistin Abschied zu nehmen. Das ist nicht ihre Profession und ein Bild, dem sie nicht entsprechen kann, wenn sie kein außergewöhnliches Naturtalent ist. Erleichtert verabschiedet sich Frau Adam von ihrer Vorgabe, frei sprechen zu müssen.

Wir erarbeiten folgendes Vorgehen: Sie wird ihr Stehpult, von dem aus sie sprechen wird, vorbereiten. Sie wird nicht mit Manuskript und Sanduhr in der Hand vor das Publikum treten, sondern beides hat sie vorher für sie gut sichtbar, aber für die Zuschauenden verborgen hingelegt bzw. aufgestellt. Ohne etwas in der Hand wird sie zum Pult gehen und die Sanduhr ohne Erläuterung umgekehrt aufstellen, dass der Sand rieseln kann. Dann wird sie ihre Brille aufsetzen und mit der Begrüßung beginnen. Sie wird zwar genau am Manuskript bleiben, aber durch es hindurchlesen. Heißt, sie wird immer aufs Manuskript schauen und dann den gelesenen Satz sprechen, während sie ins Publikum blickt. Falls sie unsicher wird, wird sie sich für eine Sekunde lang einen bestimmten Punkt im Raum ansehen und kurz ausatmen. So wird sie sich wieder fokussieren. Im besten Fall wird sie die Sätze, die sie liest, immer auch denken, weil jeder Satz, der durch das Manuskript hindurchgelesen wird, eben nicht vorgelesen, sondern zuvor gelesen war, jeder Satz wird frei gesprochen mit Blickkontakt. Um die Zeile nicht zu verlieren, fährt Frau Adam mit dem Finger am Zeilenende entlang. Sie wird die Blätter nicht umblättern, sondern Blatt für Blatt unbemerkt von den Zuhörenden weiterschieben. Damit nichts durcheinandergerät, hat sie groß und gut sichtbar unten rechts die Seitenzahl notiert. Suggestiv verstärken wird sie ihre Sicherheit, indem sie sich eine Person aus dem professionellen Kontext, die ihr freundlich gesinnt ist, vorstellt bzw. diese, wenn sie anwesend ist, im Geiste anspricht.

All das kann Frau Adam für sich adaptieren und üben. Dennoch hadert sie mit etwas. Es ist ihre Vorstellung von der souveränen Journalistin, wie zum Beispiel Petra Gerster, die sie sehr bewundert und von der sie sich gern ein Stück weit deren sichere Authentizität abgucken würde. Frau Adam ist irritiert, als ich sage, dass Frau Gerster äußerst professionell sei und keineswegs authentisch. All ihre Souveränität beruht in einer professionellen Haltung, sie nimmt genau die Position ein, die von ihr verlangt wird, das wirkt authentisch, ist aber voll und ganz die Ausfüllung der Erwartung an ihre Professionalität. Ich frage Frau Adam, was das für sie bedeuten würde, wenn sie professionell die Bühne betritt. Antwort: »Ich würde klar als Vorsitzende die Tagung eröffnen, nicht primär als Frau Adam.«

Genau! Damit könnte das Coaching beendet sein, jetzt aber fängt es erst an.

Frei sprechen?

Wenn wir frei sprechen wollen, kann das in der Regel nur gelingen, wenn wir aus Erfahrung sprechen. Dazu ist es nötig, szenische Erinnerungen vor Augen zu haben, die wir mündlich wiedergeben. Das kann unter Umständen auch mit theoretischen Sachverhalten gelingen, wenn wir diese nachvollziehen können. Wenn ich die Inhalte ähnlich einer Bauanleitung oder einem Kochrezept Schritt für Schritt präsent habe, ist ein freier Vortrag kein Problem. Leider werden jedoch freie Vorträge oft auswendig gelernt, was das Publikum merkt. Der Vortrag wirkt dann doch auswendig gelernt, obwohl er als freie Rede bei den Hörerinnen und Hörern ankommen soll. Das liegt daran, dass die Vortragenden versuchen, sich an die Worte zu erinnern und eben nicht an die vorausgehenden szenischen Erinnerungen. Der Unterschied ist sofort spürbar, ob ein Bräutigam erzählt, wie er seine Frau kennenlernte, und sich beim Erzählen daran erinnert oder ob er versucht sich an das zu erinnern, was er zuvor über das Kennenlernen aufgeschrieben hat.

Daher empfehle ich für einen Vortrag, der wenige szenische Erinnerungen enthält, das folgende Vorgehen.

Mut, ohne PowerPoint zu sprechen

Wenn jemand Ihre fehlende PowerPoint-Präsentation bemängelt, sagen Sie: »Ich komme mit Power zum Point!« Es nervt, wenn die PowerPoint-Präsentation nur das wiedergibt, was ohnehin gesagt wird. Es verhindert zudem das konzentrierte Zuhören. Wenn die PowerPoint-Präsentation wirklich eine Präsentation neuer Inhalte ist, dann sollte diese natürlich alleiniger Gegenstand des Vortrags sein. Sie werden aber mehr Eindruck machen, wenn Sie einen guten Vortrag ohne mediale Unterstützung halten. Oder haben Sie schon einmal die Neujahrsansprache des Bundespräsidenten mit Power-Point im Hintergrund verfolgt?

Die Person wirken lassen

Sie wissen, dass die nonverbale Botschaft sowie Tonfall und Stimme stärker wahrgenommen werden als der Inhalt. Es heißt, dass nur 7 Prozent des Inhalts in Erinnerung bleiben (Pyczak, 2019, S. 77). Wenn der Auftritt, die Stimme und der Tonfall stimmen, dann trägt die referierende Person den Inhalt. Ich empfehle nicht, die Person mit ihrem Auftritt den Inhalt verdrängen zu lassen, weil das peinlich ist und ebenfalls vom Publikum gelesen wird. Mir ist völlig schleierhaft, warum mit Headset versehene Vortragende, die auf einer Bühne hin und her tigern, tolle Rednerinnen und Redner sein sollen. Anscheinend haben diese die Zahl 7 Prozent verinnerlicht und 93 Prozent ihres Inhalts von vornherein gestrichen (oder gar nicht erst bedacht). In solchen Fällen überwiegt die Form des Auftritts die Inhalte, weil es keine gibt oder das Publikum für dumm gehalten wird. Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es ohne Abstriche, wenn nicht, lassen Sie es sein. Ein ruhiger, gesammelter Auftritt einer greifbaren Person ist wertvoller als eine durchschaubare Show.

Die Rolle ausfüllen

Als wichtigster Grund für die Wahlentscheidung amerikanischer Wählerinnen und Wähler, die einst Donald Trump wählten, wurde genannt, dass er authentisch sei. Er ist authentisch, wenn er sexistisch, rassistisch ist und gegen Minderheiten wettert, ja, er scheint sogar ehrlich zu sein, wenn er lügt. Er lässt wie kein anderer seine Person wirken. Aber nimmt er auch seine Rolle ein? Authentizität ist ein Mythos. Wir können so wenig willentlich authentisch sein, wie wir willentlich cool sein können. Entweder wir sind es oder wir sind es nicht, also brauchen wir uns darum auch nicht zu kümmern. Wichtiger ist es für einen Redner oder eine Rednerin, sich klar zu sein, in welchem Verhältnis Person und Rolle stehen. Es sollte selbstverständlich sein, dass, wenn ich ein Amt bekleide, ich dieses auch ausfüllen muss. Nur in Ausnahmefällen sollte ich privat werden. Für die Rolle einzustehen, aus der heraus ich sprechen soll, ist die einzige Chance, dass ich Sicherheit ausstrahle. Es ist auch die einzige Chance, dass beim Publikum keine unangenehmen peinlichen Reaktionen entstehen. Dennoch bleiben Person und Rolle eng verbunden, weil die Rolle ohne die Person schnell zum Klischee verkommt. Dann spiele ich Vorsitzender und bin es nicht. Als öffentlich auftretende Person ist es entscheidend, dass ich meine Rolle verantwortlich ausfülle. Das kann authentisch wirken, machbar ist es nicht. Im Gegenteil, der Versuch, authentisch zu wirken, bedeutet einen Ausstieg aus der Verantwortung, die wir für unseren professionellen Auftritt tragen und übernehmen sollten.

Inhalte zur Sprache bringen

Ich bin mir sicher, dass es in jedem Publikum viele Menschen gibt, die sich nach guten Inhalten sehnen. Oft begegnen uns in den Medien Moderierende und Fachleute, die Zahlen, Daten, Fakten nennen, ohne dass klar wird, was eigentlich mit diesen transportiert werden soll. Worum geht es eigentlich?, fragen wir uns. Das andere Extrem sind die Geschichtenerzählerinnen und -erzähler, die uns bestens unterhalten, aber auch das Gefühl hinterlassen: Ja, und was nun? Es gilt: Inhalte müssen sorgfältig und genau überprüfbar sein, nämlich richtig. Aber was sind »matters of fact«, wenn sie nicht auch »matters of concern« sind? Richtig: bedeutungslos. Warum wird etwas gesagt? Welche Botschaft habe ich? Wozu möchte ich meine Zuhörenden motivieren? All das gehört zu einem guten Inhalt: seine Relevanz und Wichtigkeit. Und wenn dann der Vortrag noch unterhaltsame Beispiele enthält, umso besser. Machen Sie es nicht wie in vielen Youtube-Tutorials zum freien Reden, die uns die Zeit stehlen, weil wir auf die oft hoch angepriesenen, aber nur angekündigten Inhalte warten. Wirklich gute Inhalte sollten klar und deutlich kommuniziert und auf den Leuchter gestellt werden. Jedes Umzingeln der Inhalte, ohne sie auch zu benennen, wirkt wie ein stolzer Cowboy auf seinem Hengst, dessen Lasso nichts fängt. Schön anzusehen, aber nichts weiter.

Den Auftritt vorbereiten und verkörpern

Falls vorhanden, empfehle ich zum Vortrag die Nutzung eines Stehpults. In der Kirche ist das bekanntlich die Kanzel. Eine Pfarrerin sagte einmal: »Ich benutze keine Kanzel, ich will mich nicht über die Gemeinde stellen!« Genau damit tut sie es, weil sie sich damit wichtiger nimmt als eine gut zu hörende Predigt. Ein Pult erlaubt zunächst, im Stehen zu sprechen und besser gehört zu werden. Sodann erlaubt es, eine aufrechte, gerade Haltung einzunehmen, die deshalb wichtig ist, weil eine krumme Haltung ein Fragezeichen hinter den Inhalt setzt. Ein Pult erlaubt, durch das unsichtbare Manuskript hindurchzusprechen, das kommt einer freien Rede nahe, gibt aber zugleich Schutz und Sicherheit.

Am besten haben wir das Manuskript schon zuvor auf das Pult gelegt. Es sollte aber sichergestellt sein, dass niemand anderes es zufällig verschwinden lässt. Es wirkt einfach gut, wenn wir ohne Papiere in den Händen an das Lesepult gehen können. Zusätzlich verhilft das Pult auch dazu, die Hände frei zu haben. Wir können sie hängen lassen. Eine große Kunst ist es, nichts mit den Händen zu tun. Bitte nicht eine Hand in die Hosentasche stecken, bitte nicht die Arme verschränken, schon gar nicht hinter dem Rücken. Angela Merkel hat dank ihrer berühmten Handraute eine optimale Lösung gefunden, nur ist diese damit schon vergeben. Wir können natürlich auch die Hände auf den Rand des Pults legen und mit ihnen einzelne Dinge unterstreichen. Wir können das üben, aber es muss nicht sein, da dieses »Unterstreichen« oft zu unwillkürlichen Ablenkungsmanövern führt, wenn es gewollt aussieht oder immer die gleiche Bewegung ist. Auch hier gilt: In der Ruhe liegt die Kraft.

Fehler integrieren

Als Thomas Gottschalk noch »Wetten, dass …?« moderierte, baute er in die Generalprobe beim ZDF immer bewusst gleich zu Anfang einen Fehler ein. Er bewies damit eine gute Intuition, die den Psychiatern Milton Erickson (vgl. Haley, 1978) und Viktor Frankl (1993, S. 154 ff.) gefallen haben dürfte. Beide verschrieben nämlich ihren Klientinnen und Klienten Symptome. Genau das, was vermieden werden sollte, sich leider aber immer wieder unwillkürlich einstellte, wurde ihnen empfohlen zu tun. Derjenige, der sich fürchtete, rot zu werden, sollte rot werden wie eine heiße Kochplatte und diejenige, die sich fürchtete, in Schweiß auszubrechen, sollte zehn Liter ausschwitzen. Auf diesem Weg wird das Unbewusste ausgetrickst. Bewusst kann ich unwillkürliche Prozesse nicht herbeiführen. Ich kann mir bewusst vornehmen, in Ohnmacht zu fallen, wenn der nächste Familienstreit ansteht, aber es wird mir nicht gelingen. Welcher Sinn steckt dann in Gottschalks Fehler, immerhin gelingt es ihm ja, bewusst Fehler zu machen? Er hat ganz einfach Spaß daran. Er denkt sich bewusst etwas aus und stellt es dar. Er nimmt sich die Angst vor den unwillkürlichen Fehlern und schafft wohltuende Selbstdistanz. Schaut her, auch ich kann es, Fehler machen!

Vertrauen ins Publikum

Last, but not least: Die Wahrnehmung der Zuhörenden ist nicht deckungsgleich mit der eigenen Wahrnehmung. Schon oft habe ich von Vortragenden die überraschte Frage gehört: »Haben Sie meine Aufregung nicht gemerkt?« Nein, oft wirklich nicht. Die Aufregung ist zwar nicht gut, weil sie uns hemmt, uns selbst öfter dem Stress eines Vortrags auszusetzen, aber für andere ist diese oft weniger sichtbar, als wir annehmen. Und wenn sie sichtbar werden sollte, dann mag dies zwar vom Vortrag ablenken, würde aber in den meisten Fällen weniger Kritik hervorrufen, als wir fürchten, weil diese Gefühle alle kennen. In den seltensten Fällen ist unser Publikum eine Höhle der Löwen und die vermeintlichen Löwen sind oft wohlwollend und im schlechtesten Fall nicht interessiert. Die Zuschauenden nehmen unsere Fehler nicht so ernst, wie wir es tun. Sie haben sie ja auch nicht gemacht. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können auch ein richtiger Segen sein. Einmal hatte ich als Vikar im Gottesdienst beim Glaubensbekenntnis vergessen zu sagen: »Auferstanden von den Toten«, die freundliche Küsterin erklärte mir anschließend, ich hätte es weggelassen wegen der Passionszeit. »Danke«, dachte ich, »ich könnte Sie knutschen!« Es ist kein Fehler, manchmal Fehler bewusst einzuplanen. Ich habe z. B. Angst, Fehler ans Flipchart zu schreiben und mich damit zu plamieren. Warum dies nicht beim Vortragstraining vorführen?

Fürs Mindset: Seien Sie professionell, bereiten Sie sich vor, trauen Sie sich, ein gutes Manuskript vorzulesen, nutzen Sie den Schutz eines Stehpults, stehen Sie aufrecht, machen Sie beim Sprechen Pausen, damit Sie hin und wieder Kontakt zu den Zuhörerinnen und Zuhörern aufnehmen können.

»Du darfst dich nicht verhaspeln!«: Stressauslöser unter die Lupen nehmen

Ich frage Frau Adam, was genau bei ihr Stress auslöst und welche körperlichen Reaktionen sich zeigen. Sie nennt die ungewohnte Rolle, als Vorsitzende aufzutreten und eben nicht die Arbeit zu machen, die sie tagtäglich gut und ohne Nervosität bewältigt. Im alltäglichen Kundenkontakt sei sie überhaupt nicht nervös, da wisse sie genau, was zu tun sei. Bei einem Vortrag jedoch habe sie Angst, sich zu verhaspeln und dadurch noch nervöser zu werden und schließlich nichts mehr rüberbringen zu können, weil sie eine Leere im Kopf oder besser im Gehirn fühle. Die körperlichen Reaktionen seien Schweißausbruch, Erröten und ein Zittern, das von den Beinen aufsteige. Verstärkt werde das alles, weil die Angst zunehme, dass andere ihre Unsicherheit wahrnehmen könnten, zum Beispiel am sichtbaren Achselschweiß, dem roten Gesicht und besonders den roten Ohren und ihrer zeitweise vorhandenen Sprachlosigkeit, die sich manchmal in leichtem Stottern äußere. Ich frage nach dem Imperativ, den sie vor Augen habe, und erkläre: Oft sind es Imperative, die wir in uns gespeichert haben, die als Stressauslöser fungieren. Unsere inneren Gebote, die mit »Du darfst nicht …!« anfangen, bilden die Fallstricke, die uns zum Straucheln bringen. Diese Art von Geboten lösen Angst aus. Wir werden später noch sehen, warum das so ist.

»Steht Ihnen ein Imperativ vor Augen, wenn Sie einen Vortrag halten? Was darf nicht passieren?«

»Du darfst dich nicht verhaspeln!«

»Steckt da noch ein anderer Imperativ dahinter, der sagt, Sie dürfen sich nicht verhaspeln?«

»Na ja, du darfst keinen schlechten Eindruck machen!«

»Und was denken Sie, warum wollen Sie keinen schlechten Eindruck machen? Was denken die anderen?«

»Die anderen denken: ›Sie mag ja unsere Vorsitzende sein, aber eine gute Rednerin ist sie nicht.‹ Also ich denke, der wichtigste Imperativ lautet: ›Du musst dem Bild der perfekten Rednerin entsprechen!‹«

»Können Sie diesen Imperativ noch einmal zusammenfassen?«

»Dann lautet er: ›Sei perfekt!‹«

»Und wenn Sie nicht das Bild einer perfekten Rednerin abgeben und nicht perfekt sind, was macht das mit Ihnen?«

»Es tut richtig weh.« Frau Adam kommen die Tränen.

Nach ein paar Sekunden des Schweigens frage ich: »Was passiert jetzt?«

»Ach, ich denke an meinen Vater, der vor ein paar Monaten gestorben ist. Wenn ich an ihn denke, gerate ich immer durcheinander, da ist die Trauer über den Verlust dieses für mich starken Menschen, der mir viel gegeben hat, und da ist immer das Gefühl, nicht zu genügen, immer könnte man noch mehr tun und besser sein, ohne die Anerkennung zu bekommen, die man sich wünscht.«

»Was wünschen Sie sich? Was soll er Ihnen sagen?«

»Ich bin stolz auf dich! Das hätte ich gern mal klar ausgesprochen gehört!«

»Ich bin mir sicher, dass er sehr stolz auf Sie gewesen ist. Sie können aber auch stolz auf Ihr Gefühl sein. Vielen Dank, dass Sie sich hier so offen zeigen! Was würde passieren, wenn andere das mitbekommen?«

Frau Adam zögert und antwortet fragend: »Dann schäme ich mich?«

»Meinen Sie, Ihre Zuhörerinnen und Zuhörer nehmen es Ihnen übel, wenn sie Ihre Rührung sehen?«

»Na, unpassend ist es schon, auch wenn sie es mir nicht übel nehmen.«

»Könnten Sie den Zuhörenden Ihre Rührung erklären, ohne sich schämen zu müssen? Was könnten Sie sagen, falls dies passiert?«

»Ich weiß nicht!«

»Was wissen Sie nicht?«

»Am liebsten wäre ich gar nicht auf die Bühne gegangen, bevor so etwas passiert!«

»Stellen Sie sich vor, Sie wissen, es kann passieren, dass Ihnen die Tränen beim Vortrag kommen, und deswegen würden Sie Ihren Vortrag von jemand anderem halten lassen. Sie sitzen im Publikum und hören zu. Und nun stellen Sie sich vor, Sie hätten den Vortrag gehalten und Sie hätten Ihre Rührung mit ein paar Tränen gezeigt. Und jetzt ist es Abend, die Tagung ist beendet und Sie wollen sich schlafen legen. Wann geht es Ihnen besser? Wenn Sie den Vortrag mit Rührung gehalten haben oder wenn Sie den Vortrag aus Angst vor Rührung abgesagt haben?«

»Lieber halten«, sagt sie mit dem Tonfall eines trotzigen Mädchens.

»Und was könnten Sie sagen, wenn das passiert?«

Sie überlegt: »Ich könnte sagen, jetzt sehen Sie mich gerührt, ich habe mir gerade vorgestellt, dass mein verstorbener Vater heute hier im Publikum sitzt!«

»Und wie geht es Ihnen damit?«

»Gut!«, antwortet eine Frau, die stolz auf sich ist.

Gedanken erzeugen Gefühle und Reaktionen

Wenn wir auf unsere Vortragserfahrung schauen und die damit verbundene unangenehme Selbstwahrnehmung in den Blick nehmen, dann können die meisten von uns Folgendes feststellen: Die Gedanken an die Situation reichen aus, um bei uns Stress auszulösen. Das ist einerseits schlecht, denn Stress möchten wir gern vermeiden, aber andererseits ist das auch schon ein Lösungsschritt. Die Gedanken reichen aus, um die bekannten Angstgefühle entstehen zu lassen und die entsprechenden körperlichen Reaktionen hervorzurufen. Die Lösung lautet, sich klarzumachen, dass dies die Realität der Gedanken ist und nicht die Realität der Situation. Wir sollten nicht sagen, es sind nur Gedanken, da wir ja merken, welche Macht die Gedanken haben. Auch Gedanken sind real, aber sie tauchen außerhalb der beängstigenden Situation auf, zum Beispiel in der Sicherheit unseres heimischen Betts, wenn wir nicht schlafen können. Nachts ist es am besten, Gedanken nicht festzuhalten, sondern sie weiterziehen zu lassen. Ein gutes Mittel ist es, mit geschlossenen Augen nach oben zu gucken und sich zu sagen: »Ich schaue mir Bilder an und werfe sie nach hinten!« Das funktioniert, weil unser Bilderleben ein anderes ist als unser »Gedankenerleben«. Das erste führt uns in Trance, das zweite macht wach. Im Wachzustand am Tag haben wir die Möglichkeit, uns unsere ängstigenden Gedanken anzusehen. Ich kann mir die Angst anschauen! »Hallo Angst, da bist du wieder. Was willst du mir sagen? Setz dich einen Augenblick auf meine Schulter und lass dich genauer wahrnehmen.« Das ist der erste Schritt, der Angst die Spitze zu brechen.

Unsere Imperativketten

Wir hörten vorhin im Gespräch, dass die Gebote, die wir uns geben, Angst machen. Wir fühlen uns schnell schuldig, wenn wir entweder gegen Verbote verstoßen oder sie nicht einhalten können. Bei der Vortragsangst steht zunächst oft ein konkreter Imperativ am Anfang, zum Beispiel »Du darfst dich nicht versprechen!«. Wenn man nach dem Warum fragt, folgt oft ein tiefer liegender Grund: »Ich darf keinen schlechten Eindruck machen!« Das kann man als zentralen Imperativ bezeichnen. Leider gibt es jedoch meist einen Imperativ, der eng mit unserer Persönlichkeit und unserer Bildungsgeschichte verbunden ist. Hier kann er lauten: »Ich darf kein Versager sein!«

So entsteht in unserem Inneren eine Kausalkette: Wenn ich mich verspreche, mache ich einen schlechten Eindruck. Wenn ich einen schlechten Eindruck mache, bin ich ein Versager! – Muss ich mir das anschauen? Fängt jetzt im Coaching die Psychotherapie an?, fragen Sie sich nun vielleicht. Ja, denn was nützt es mir, wenn ich mich nicht verspreche und ich stattdessen den Faden verliere, ein Blackout habe, mir die Stimme versagt oder sich einfach mein Gehirn leer anfühlt? Der Kernimperativ wird sich melden. Also sollten wir uns diese unangenehmen Dinge anschauen.

Die Kraft der unangenehmen Selbstwahrnehmung

Jemandem mitzuteilen, dass uns bestimmte Gefühle oder Situationen unangenehm sind, ist eine nicht hoch genug zu schätzende Leistung. Die Artikulation des Unangenehmen ist hilfreich, weil wir es für uns selbst erkennen und es einem Gegenüber mitteilen (Herms, 1991, S. 40–62). Damit liegen die Sachen offen auf dem Tisch. Das Versteckspiel hört auf. Wichtig ist nun die Reaktion des Gegenübers. Nicht infrage kommt natürlich eine Verurteilung: »Stimmt, gut, dass du das sagst, du hast schon immer …!« Nicht infrage kommt aber auch eine Beschwichtigung: »Du, das passiert jedem einmal, mir ist das auch schon passiert!« Die passende Reaktion ist die gemeinsame Wahrnehmung des Unangenehmen. Jetzt ist es offen ausgesprochen – und wir können das gemeinsam betrachten. Es liegt viel Stärke in einem solchen Moment. Eine Stärke, die bleibt, auch wenn man wieder auseinandergeht. Eben weil es hier ein gemeinsames Tragen gab. Wenn wir eine unangenehme Selbstwahrnehmung im Angesicht eines anderen artikulieren, dann ist das immer hilfreich und heilsam. Ob wir das nun als Coaching, Psychotherapie oder Seelsorge bezeichnen, ist zweitrangig.

Konfliktvermeidung

Am meisten Druck macht uns die Bemühung, Konflikte zu vermeiden. In der Psychologie heißt das Abwehr. Unserer Abwehr steht ein ganzes Arsenal von Mechanismen zur Verfügung. Gegen die Ängste wird aufgeboten: ignorieren, ausblenden, verdrängen, herunterspielen, bagatellisieren, sich selbst beruhigen (»alles nicht so schlimm«), sich selbst täuschen (»eigentlich bin ich super«), neue Imperative (»ab morgen werde ich …«), resignieren (»werde ich eh nie lernen«), sich Mut machen (»das nächste Mal …«). Wir legen den Deckel auf den Schnellkochtopf und verschließen ihn gut. Das Ziel »Ich darf keinen Fehler machen!« wird zu einem Vermeidungsziel. Und leider ist es so: Vermeidungsziele lassen sich nicht verwirklichen. Es lässt sich nicht erreichen, keinen Fehler zu machen, unmöglich, unter keinen Umständen. Wenn wir Vermeidungsziele artikulieren, können wir nur scheitern.

Allmacht und Ohnmacht