Bullenbrüder: Tote haben kalte Füße - Hans Rath - E-Book

Bullenbrüder: Tote haben kalte Füße E-Book

Hans Rath

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Beschreibung

Privatschnüffler Charlie Brinks ist unter die Bodyguards gegangen. Er kutschiert den CEO der insolventen Air Brandenburg durch die Gegend, weil der gerade tausende von Mitarbeitern entlassen musste und nun Fracksausen hat. Zu Hause bei Charlies Bruder, Kommissar Holger Brinks, treibt Mutter Anita alle in den Wahnsinn. Sie hat einen neuen Lover: Jean-Pierre, einen Steward,der gerade bei Air Brandenburg entlassen wurde. Holger ist dankbar für einen neuen Fall. Ein Maik Schuster hat Selbstmord begangen. Dann wird der CEO, den Charlie bewacht, mit einer Waffe angeschossen, die auf eben diesen Maik Schuster zugelassen war ... Und schon ist klar: Die beiden Brüder haben wieder einen gemeinsamen Fall, ob sie wollen oder nicht.

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Seitenzahl: 317

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Hans Rath • Edgar Rai

Bullenbrüder

Tote haben kalte Füße

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Kriminalkommissar Holger Brinks wird mit einem Vermisstenfall betraut: Victoria Sommer, eine der drei Gründerinnen der «Smooth Sisters» – ein Smoothie-Start-up kurz vor dem Durchbruch – ist verschwunden. Privatschnüffler Charlie Brinks soll derweil für eine alte Flamme deren Ehemann Robert beim Seitensprung ertappen und langweilt sich zu Tode. Dann jedoch verschwindet auch Robert auf mysteriöse Weise. Holger und Charlie erkennen nicht nur, dass die beiden Fälle zusammengehören, sie hegen auch den Verdacht, dass die verbliebenen Sommer-Schwestern etwas mit dem Verschwinden von Robert und Victoria zu tun haben. Leider gibt es nur Indizien und keine handfesten Beweise. Als Charlie versucht, diese zu beschaffen, gerät er in eine tödliche Falle.

Erschwert werden die Ermittlungen auf privater Seite durch das Auftauchen von Charlies und Holgers Mutter Anita und ihrem 20 Jahre jüngeren Verlobten Rodrigo, den sie zu ihrem fünften Ehemann machen möchte. Anita hat einen Herzenswunsch: Holger und Charlie sollen die Hochzeit ausrichten, und zwar in Holgers Garten – in dem fortan ein organisatorischer Albtraum seinen Lauf nimmt …

Vita

Hans Rath, geboren 1965, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bonn. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er unter anderem als Drehbuchautor tätig ist. Zwei Bände seiner Romantrilogie um den Mittvierziger Paul Schubert wurden fürs Kino adaptiert. Seine aktuellen Bücher aus der Reihe «Und Gott sprach» sind ebenfalls Bestseller.

Edgar Rai, geboren 1967, wurde mehrerer Schulen verwiesen, ging ein Jahr nach Amerika und studierte Musikwissenschaften und Anglistik in Marburg und Berlin. Er arbeitete unter anderem als Drehbuchautor, Basketballtrainer, Chorleiter, Handwerker und Onlineredakteur. Seit 2001 ist er freier Schriftsteller und hat neben weiteren die Romane «Nächsten Sommer» und «Etwas bleibt immer» veröffentlicht. Edgar Rai hat drei Kinder und lebt in Berlin.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Umschlagillustration: Peter Bartels

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-22351-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

1

In schmalen Rinnsalen läuft der Regen an dem Fenster herab, durch das Holger nach Osten sieht. So geht das seit Tagen. Der Hauptkommissar sucht nach den richtigen Worten für seinen Abschlussbericht, was ihn jedes Mal Nerven kostet. Formulieren war noch nie seine Stärke. Irgendwie holpert das immer, ganz egal, wie sehr er sich auch abmüht. Nicht, dass es auf Eleganz ankäme, schließlich ist das Opfer tot und wird den Bericht niemals zu lesen bekommen. Aber wenn du schon ermordet wirst, dann willst du wenigstens einen ordentlichen Bericht.

Als es klopft, wird sofort darauf die Tür geöffnet, und der Kopf der Dezernatsleiterin Doktor Beate Niermeyer erscheint. Sie wirft sich ihre beachtliche Löwenmähne über die Schulter und sieht Holger an, als habe sie ein Geschenk für ihn.

«Herr Brinks!»

«Frau Niermeyer?»

Ihre Finger verschwinden in den Haarsträhnen. «Ich hab da etwas, worüber ich gerne mit Ihnen reden würde. Könnten Sie vielleicht in mein Büro kommen? Sagen wir so in … zehn Minuten?»

«Worum geht’s denn?»

«Ach, nur ein kleines Anliegen. Ist eher … privater Natur.»

Ach du liebes bisschen, denkt Holger. «Sicher.»

 

Das Büro der Dezernatsleiterin wirkt freundlicher als sein eigenes. Kunststück, der Raum ist größer und geschmackvoller eingerichtet. Der Teppichboden ist zwar derselbe wie überall im Dezernat, er wirkt aber irgendwie sauberer. Die Wandfarbe ist die gleiche, sie strahlt aber mehr. Und es riecht auch besser.

«Bitte – setzen Sie sich doch.»

Holger setzt sich.

Frau Niermeyer – intern gerne Quotenchefin genannt – wirft einen prüfenden Blick zur Tür. «Wie geht es Ihnen?»

Holger kann sich nicht erinnern, das jemals von seiner Chefin gefragt worden zu sein. Langsam, denkt er, wird’s spannend. «Gut.»

«Gut», wiederholt sie. «Das ist gut.»

Holger sagt nichts.

«Schön. Also …» Sie prüft den Sitz ihrer Lockenpracht. «Weshalb ich Sie hergebeten habe …»

Holger lehnt sich zurück.

«Ich wollte Sie um eine Gefälligkeit bitten.»

Der Hauptkommissar unterdrückt ein Schmunzeln und versucht, möglichst neutral dreinzublicken.

«Es geht um eine vermisste Person», erklärt Frau Niermeyer. «Ich bin mir bewusst, dass so etwas eigentlich nicht in Ihren Aufgabenbereich fällt, aber die vermisste Person ist durchaus prominent, weshalb mir daran gelegen ist, die Nachricht ihres Verschwindens nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Es gibt auch keine offizielle Anzeige. Ich möchte Sie also bitten, die ganze Angelegenheit mit äußerster» – Betonung auf «äu» – «Diskretion zu behandeln.»

«Wenn niemand die Person als vermisst gemeldet hat, wie haben Sie dann von ihrem Verschwinden erfahren?»

«Sehen Sie, Herr Brinks: Die Eltern dieser Person – ebenfalls sehr prominent – sind Freunde meiner Eltern, und zudem ist er mein Patenonkel … Na ja, Sie wissen, wie das ist.»

Weiß Holger natürlich nicht. «Ich kann es mir denken», erwidert er. «Die prominenten Eltern der ebenfalls prominenten vermissten Person möchten nicht, dass irgendetwas an die Öffentlichkeit dringt, und haben daher Ihre Eltern gefragt, ob die nicht die Tochter – also Sie – fragen könnten …»

«Nicht ganz», unterbricht Frau Niermeyer. «Es waren die Schwestern der vermissten Person, die sich an mich gewandt haben.»

«Lassen Sie mich raten: Auch die Schwestern sind prominent.»

«Sehr.»

«Und mit Ihnen befreundet.»

«Wir kennen uns – naturgemäß.»

«Vielleicht wäre das der geeignete Zeitpunkt, mir zu verraten, um wen es sich bei der vermissten Person handelt?»

Frau Niermeyer wirft einen weiteren prüfenden Blick zur Tür und beugt sich vor.

Helene Fischer, denkt Holger. Gleich sagt sie: Helene Fischer.

«Victoria Sommer.»

Holgers Gesicht sieht aus, als hätte eine Umzugsfirma sein Gehirn ausgeräumt, besenrein.

«Von den Sommer-Schwestern?», versucht es Frau Niermeyer.

Leere. So weit das Auge reicht.

«Victoria Sommer von den Sommer-Schwestern?»

«Hm.»

«Die Eltern sind Friedhelm und Renata Sommer?»

«Ah.»

«Das berühmte Botschafterpaar?»

«Hm.»

 

Die Sommer-Schwestern und deren Eltern lösen bei Google ein mittelschweres Beben aus. Friedhelm und Renata sind ein Diplomat und eine ehemalige Beauty-Queen. Holger erinnert sich, ihnen in unregelmäßigen Abständen in der Zeitung begegnet zu sein. Die Liste der Stationen dieser Botschafterkarriere liest sich wie eine globale Verfolgungsjagd: Papua-Neuguinea, Kenia, Thailand, Tansania, Schweden. Entsprechend illuster stellt sich die Bildauswahl dar: Die Sommers in einer Wiener Opernloge mit Pupillen, groß wie Bowlingkugeln; die Sommers auf Safari vor Savannenidyll-Kulisse; die Sommers auf Skiern und mit Champagner-Gläsern in der Hand, im Hintergrund die Schweizer Alpen … Und so jemand ist mit den Niermeyers befreundet. Na ja, Sie wissen, wie das ist.

Von den Kindern, den drei Sommer-Schwestern, verfügt Eloise, 29, über den größten Promifaktor. Google findet in 0,24 Sekunden 503000 Einträge. In der Presse hat sich offenbar der Name «Lou» durchgesetzt, wenn die Bild über sie berichtet, auch gerne «Luder-Lou». Ob es etwas an ihr gibt, das echt ist, ist ungewiss. Auf jeden Fall nicht das Blond ihrer Haare und auch nicht Nase oder Lippen – und die Brüste … Nein, ebenfalls nicht. Etwa im Monatsrhythmus wird ihr eine neue Affäre mit einem Schauspieler oder Fußballer nachgesagt. Inzwischen ist die Luft – zumindest was die Schauspieler betrifft – dünn geworden. Aber da Eloise im kommenden Jahr dreißig wird, ist nicht ausgeschlossen, dass sie demnächst ins Visier von Wirtschaftsbossen und Politikern gerät. Vielleicht ist sogar noch eine Karriere als Talkshow-Moderatorin drin.

Zu Pamela Sommer, 31, findet Google immerhin noch halb so viele Einträge. Eine Reihe von Bildern zeigt sie gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester, Pam & Lou einträchtig in die Kameras grinsend, darum wetteifernd, wer das weiter ausgeschnittene Dekolleté tragen kann, ohne das die Brüste herausfallen. Filmpremieren, Celeb-Partys, Modemessen. Pams Haare sind eine Spur weniger blond als die ihrer kleinen Schwester, die Lippen eine Spur weniger aufgespritzt. Dezent wäre das falsche Wort, aber neben Lou würde sich sogar ein Pfau dezent ausnehmen.

Im Gegensatz zu ihrer Schwester scheint Pamela tatsächlich einen Beruf auszuüben und sogar eigenes Geld zu verdienen. Holger findet einen Artikel, in dem davon die Rede ist, dass sie ihr BWL-Studium abgebrochen habe und nach London gegangen sei, um dort erfolgreich für eine Privatbank Aktienderivate zu handeln. Vor drei Jahren hat sie dann mit ihren Schwestern Lou und Victoria die «Smooth Sisters GmbH» gegründet. Und in dem Moment fällt es Holger wie Schuppen von den Augen: «Ach, die sind das», murmelt er in seinen Laptop.

Superfrische Smoothies & Superfoods – frühmorgens an die Tür geliefert. Für die Jungen, Hippen, Erfolgreichen und Getriebenen dieser Stadt. Oder für jene, die sich gerne jung, hip, erfolgreich und getrieben fühlen möchten. Das ist die Geschäftsidee der Smooth Sisters. Holgers Frau ernährt sich seit Wochen von praktisch nichts anderem. Sandra sagt, sie fühle sich seitdem wie energetisch aufgeladen. Neulich öffnete Holger morgens den Kühlschrank und erblickte Reihen kleiner Flaschen grünen, roten und gelblichen Inhalts, die einander gegenüberstanden wie verfeindete Armeen. Käse und Wurst waren vertrieben worden, von der Evolution überrollt und vergessen. In seiner Not griff sich Holger eine der grünen Flaschen – er erinnert sich, etwas von Datteln, Babyspinat und irgendeiner tropischen Baumwurzel gelesen zu haben – und hätte sich beinahe übergeben.

Aber Holger zählt nicht, schon lange nicht mehr. Bald wird die Evolution auch ihn hinweggefegt haben, und es wird nur noch Menschen geben, die nicht mehr als zwei Stunden Schlaf pro Tag brauchen und eine implantierte Allergie gegen alles Ungesunde und Sinnliche haben und die automatisch von ihrer Uhr zur nächsten Blutverdünnungsstation geschickt werden, sobald ihr Blutdruck steigt. Holger blickt hinaus in den Nieselregen, betrachtet die Rinnsale auf der Scheibe, dann greift er zum Hörer, Kurzwahltaste 9.

«Pizzeria Federico, buon giorno. Was kann isch für Sie tun?»

«Guten Tag, Brinks hier, vom LKA …»

«Ah, Signor Brinks!»

«Ich würde gerne etwas bestellen.»

«Naturlisch, sehr gerne …»

Während Holger auf seine Pizza Quattro Stagioni mit extra Käse und seine Cola wartet, vertieft er sich in die Erfolgsgeschichte der Smooth Sisters. Ihr Konzept scheint aufgegangen zu sein. Lou ist das Gesicht der Company: jung, straff, begehrt und morgens um fünf noch sexhungrig. So ein Superfood will jeder. Pam ist Controllerin und Geschäftsführerin in Personalunion: streng, erfolgreich und ebenfalls hot. Und Victoria? Ist, was in die Flaschen gefüllt wird: gequirltes Gemüse. Anders gesagt, sie verantwortet die Produktentwicklung. Studium der Lebensmitteltechnologie und Chemie in Bonn, und dann noch «Molecular, Cellular and Developmental Biology» in Yale. The Brain. Wenn es stimmt, was die Zeit über sie schreibt, tüftelt sie monate- oder gar jahrelang an einem neuen Smoothie herum, bevor er von ihr für marktreif befunden wird. Das wundert Holger nicht. Auf diese Mischung aus Datteln, Babyspinat und tropischen Baumwurzeln würde er in seinem ganzen Leben nicht kommen.

Im gesamten WWW finden sich genau drei Bilder von Victoria. Eines zeigt sie im Kreis ihrer Familie auf einer Terrasse in Tansania, die Eltern auf einem geflochtenen Sofa mit überdimensionierter Rückenlehne, rechts und links am Bildrand jeweils eine dunkelhäutige Schönheit mit Spitzenschürze und Silbertablett. Die zweite Aufnahme ist drei Jahre alt und zeigt Victoria gemeinsam mit ihren Schwestern vor einer Edelstahlanrichte mit den ersten abgefüllten Smoothies. Das offizielle Pressefoto der Firmengründung. Victoria trägt einen Businessanzug, eine randlose Brille, hat geschminkte Lippen und gestylte Haare. Sie gibt alles, weiß aber genau, dass ihr neben ihren Schwestern niemals eine andere Rolle zufallen wird als die des hässlichen Entleins. Während Pam und Lou alles zur Schau stellen, was die moderne Chirurgie zu bieten hat, sieht Victoria aus, als würde sie sich am liebsten unsichtbar machen. Es ist offensichtlich, dass sie sich in diesem Aufzug verkleidet vorkommt und einen Lockenstab nur an sich heranlässt, wenn man ihr eine Pistole auf die Brust setzt. Auf dem dritten Foto ist Victoria nur deshalb zu erkennen, weil ihr Name darunter steht. Sie trägt Latzhose und Gummistiefel, eine Laborbrille und Latexhandschuhe. Die Haare sind unter einer grünen Haube verborgen. In dieser Montur schneidet sie mit einem Skalpell ein Stück Rinde aus einem knotigen Baumstamm, in der anderen Hand hält sie ein Reagenzglas bereit. Um sie herum undurchdringliches Grün. Auf diesem Foto scheint sie ganz in ihrem Element und völlig eins mit sich zu sein.

Und seit gestern ist sie verschwunden – behaupten ihre Schwestern.

Holger lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück. Seine Gedanken wandern zu seiner Chefin. Frau Doktor Niermeyer ist im Umgang mit ihren Mitarbeitern stets darauf bedacht, die hierarchischen Ebenen durchscheinen und keinen Zweifel an ihrer Autorität aufkommen zu lassen. Direkte Kommunikation nur mit direkt Untergebenen, bei Gesprächsbedarf die Mitarbeiter zu sich ins Büro bestellen, wichtige Telefonate nur im Stehen führen … Was man aus Seminaren für Führungskräfte eben so mitnimmt. Aus ihrer Handschrift aber spricht ein kleines, verletzliches Mädchen. Der Zettel, auf dem sie die Anschriften und Telefonnummern der Sommer-Schwestern für Holger notiert hat, sieht aus wie ein Eintrag ins Poesiealbum. Erst am unteren Rand hat ihre Position sie wieder eingeholt. Diagonal, unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen versehen steht da: Diskretion! Ist kein leichtes Leben als Quotenchefin. Holger wollte ihren Job nicht für eine Sekunde.

Er wartet, bis der Pförtner anruft und ihm sagt, dass die Pizza eingetroffen ist. Nachdem er das erste Stück zerkaut und geschluckt und zweimal an seiner Cola genippt hat, klickt er sich ein Foto von Eloise Sommer in den Vordergrund und wählt ihre Nummer.

«Hallo?» Sie klingt, als habe der Chirurg sogar an ihren Stimmbändern herumgeschnippelt.

«Guten Tag, mein Name ist Holger Brinks. Ich bi…»

«Wer sind Sie?»

«Holger Brinks. Ich bin Hauptkommissar beim Landeskriminalamt für Delikte am Menschen. Ich habe Ihre Nummer v…»

«Und woher haben Sie meine Privatnummer?»

«Das wollte ich Ihnen gerade erklären. Frau Doktor Niermeyer hat …»

«Die Babs hat Ihnen meine Privatnummer gegeben?»

«Es hat den Anschein, ja.» Babs – die Quotenchefin. Holgers Mundwinkel bewegen sich unwillkürlich nach oben. «Ich rufe an, w…»

«Die kann Ihnen doch nicht einfach so meine Privatnummer geben – die ist geheim!»

«Was soll ich sagen – jetzt hab ich sie.»

«Und wieso rufen Sie mich an?»

«Es geht um das Verschwinden Ihrer Schwester Victoria.»

«Woher wissen Sie das denn?»

«Von Frau Niermeyer – die mir ja auch Ihre Telefonnummer …»

«Meine Privatnummer!»

«… Ihre Privatnummer gegeben hat.»

«Und jetzt rufen Sie mich einfach so an?»

«Nein, einfach so rufe ich nicht an. Es geht, wie gesagt, um das Verschwinden Ihrer Schwester.»

«Und was haben Sie damit zu tun?»

«Frau Niermeyer hat mich gebeten, Nachforschungen anzustellen. Deshalb denke ich, es wäre gut, wir …»

«Und wie kommt die dazu?»

«Ich bin Kriminalkommissar. Offenbar hielt mich Frau Niermeyer für ge…»

«Sagen Sie das doch gleich! Wie schnell können Sie hier sein? Ach, egal. Fahren Sie einfach sofort los.»

Holger ermahnt sich, seine Pizza langsam zu essen, mit Genuss, Bissen für Bissen. Und sich die Cola gut einzuteilen. Könnte schwierig werden, denkt er, als die Schachtel zur Hälfte geleert ist und er die verbliebenen vier Pizzastücke wie die Speichen eines Rades anordnet. Also Lous Karriere als Moderatorin. Auch die einflussreichsten Beziehungen halten einen nur bis zu einem bestimmten Punkt über Wasser.

2

«Charlie? Hier ist Carmen. Carmen Bergvogel.»

«Hallo, Carmen.»

«Bei dir hieß ich noch Winterstein. Du erinnerst dich?»

Gute Frage. Charlie sitzt auf der Terrasse, genießt die spätsommerlichen Sonnenstrahlen und sieht den Äpfeln auf dem Nachbargrundstück beim Fallen zu. Carmen. Winterstein. Er weiß, der Name sollte ihm etwas sagen, weshalb er hektisch seine Erinnerungen durchstöbert, was, wie er selbst am besten weiß, keine erfolgversprechende Strategie ist – in dem Teil seines Gehirns, der die Erinnerungen speichert, sieht es nämlich aus wie in der Hertha-Fankurve nach dem Pokalfinale. Doch dann blitzt zwischen den zertretenen Plastikbechern etwas auf, und als sich Charlie hinunterbeugt, ist es tatsächlich:

«Carmen!»

«Du brauchst aber ganz schön lange, um dich zu erinnern. Eigentlich müsste ich jetzt beleidigt sein.»

Geht ja gut los, denkt Charlie, und sofort weiß er wieder, warum es damals mit ihnen nicht funktioniert hat: Ständig erwartete Carmen etwas von ihm, und nie schien er zu wissen, was. Aber der Sex mit ihr war Hammer. «Entschuldige», sagt er, «hab an der falschen Stelle gesucht.»

«Na, dann muss ich wohl dankbar sein, dass du mich überhaupt gefunden hast.»

«Ja, äh – nein.» Puh. «Wie geht’s dir?»

«Um ehrlich zu sein: Es geht so.»

Daher also weht der Wind. «Tut mir leid, das zu hören.»

Im Nachbargarten fällt der nächste Apfel vom Baum. Wenn das so weitergeht, feiern die Würmer und Maden in Tempelhof heute Abend großes Erntedankfest.

«Charlie?»

«Ja?»

«Du bist doch Privatdetektiv.»

«Von Zeit zu Zeit.» Wenn mir jemand einen Job gibt. «Wieso – willst du mich engagieren?»

«Ich fürchte, ja.»

 

Als Charlie seinen Wagen unter einem herrschaftlichen Baum in der Baseler Straße abstellt, kommt er sich unwillkürlich beobachtet vor. Die Villen in dieser Gegend sind zwar alle mindestens ein Jahrhundert alt, aber von den in der Straße geparkten Autos ist keins älter als drei Jahre. Charlies 75er Gran Torino nimmt sich aus wie ein Altrocker auf einer Adelshochzeit.

Das Haus der Familie Winterstein ruht auf einem soliden Fundament: altes Geld, über Generationen gewachsen, selbstverständliche Privilegien. Charlie erinnert sich daran, dass er seit einem halben Jahr im Gartenhaus seines Bruders wohnt. Er blickt zum schmiedeeisernen Balkongeländer empor. Hätte seins sein können. Genau wie die an ihn gerichteten Erwartungen. Der tägliche Luxus, die täglichen Erwartungen. Dann lieber Holgers Gartenhaus. Aber der Sex war Hammer.

«Schön, dass du so schnell kommen konntest.»

Carmen begrüßt Charlie mit einer Umarmung, die inniger ausfällt, als man nach fünfzehn Jahren erwarten würde. Er versucht, sich daran zu erinnern, wie sie damals zusammengekommen waren. Auf einer Party. Carmen war von einer Freundin mitgenommen worden – Nora oder so? –, Charlie von seinem Freund Achmed. Achmed kannte Nora. Achmed kannte jede. Irgendwann landeten die vier ziemlich angetrunken an einem Kickertisch. «Ich spiel mit dir», entschied Carmen und zog Charlie hinter sich her um den Tisch. Sie blitzte ihn an: «Ich spiel im Sturm. Ist das okay für dich?» – «Total», erwiderte Charlie.

Er war beeindruckt von der Wucht, die Carmen hinter den Ball brachte. Bei jedem Tor juchzte sie auf, dass die Umstehenden amüsiert die Köpfe drehten. Charlie stellte sich nicht besonders geschickt an, aber dank Carmen gewannen sie zumindest in seiner Erinnerung ein Spiel nach dem anderen. Jedes Mal fiel sie ihm anschließend um den Hals und verkündete: «Noch eins!», und: «Ich hol neue Drinks.»

Als sie am nächsten Morgen erzählte, sie habe gerade ihr Jurastudium mit Prädikatsexamen abgeschlossen, war Charlie einigermaßen überrascht. Paragraphen büffelnd über Gesetzeswälzer gebeugt konnte er sie sich nur schwer vorstellen. So ein lebensfrohes Wesen. Aber sie musste den Ton angeben. Immer. Nach ungefähr sechs Wochen hatten sie ein Einsehen und beendeten ihre Beziehung. Jetzt, fünfzehn Jahre später, hat sie einen Mann, zwei schulpflichtige Kinder und arbeitet Teilzeit in der Kanzlei ihres Vaters, wo ihr Mann inzwischen Partner ist. Aber sie sieht noch immer so aus, als könne man einen launigen Abend mit ihr verbringen.

«Und», Carmen setzt sich Charlie gegenüber in einen der cremefarbenen Ledersessel und schlägt die Beine übereinander, «wie ist dein Leben in den letzten fünfzehn Jahren so verlaufen?»

Charlie lässt den Blick durchs Wohnzimmer schweifen, über den Kamin mit dem blauen Marmorsims, den Tropenholz-Couchtisch, den liebevoll restaurierten Stuck. «Nicht besonders geradlinig, würde ich sagen.»

«Keine Frau?»

Charlie schüttelt den Kopf.

Carmen schmunzelt. «Keine private Altersvorsorge?»

«Guter Witz.»

«Kinder?»

«Nicht dass ich wüsste.» Charlie nippt an dem Cappuccino, den Carmen ihm serviert hat. Dann blickt er sie an: «Sag mir jetzt nicht, dass ich hier sitze, weil eins deiner Kinder von mir ist.»

«Keine Sorge.» Sie beugt sich vor, nimmt die Unter- samt Cappuccino-Tasse, trinkt einen Schluck und behält beides im Schoß.

Charlie wartet. Carmen sieht ihn an, zieht eine Augenbraue in die Höhe, verzieht die Mundwinkel.

«Soll ich raten?», fragt er schließlich.

«Nicht nötig.» Carmen nimmt noch einen Schluck, stellt die Tasse zurück auf die Untertasse. «Ich werde mich scheiden lassen.»

Durch die geöffnete Flügeltür blickt Charlie ins Nachbarzimmer. Über dem Esstisch schwebt eine Art Mobile, das ihn entfernt an ein Walskelett erinnert und dessen Einzelteile sich zeitlupenartig gegeneinander bewegen. Davon abgesehen bewegt sich nichts.

«Tut mir leid.»

Carmen zuckt mit den Schultern und stellt die Tasse zurück auf den Tisch. «Ich hatte mir das auch anders vorgestellt. Aber das gilt für alle Frauen, die sich scheiden lassen. Nicht schön, aber nicht zu ändern.»

Die Teile des Mobiles ziehen unbeirrt ihre Bahnen. «Jetzt weiß ich noch immer nicht, weshalb ich hier bin.»

Carmen beugt sich vor. «Die Scheidung wird eine ziemlich schmutzige Angelegenheit werden, Charlie. Robert ist kein schlechter Anwalt. Und er ist gierig. Er wird versuchen zu bekommen, was er kriegen kann. Das Haus, das Grundstück – alles alter Familienbesitz. Und damit meine ich nicht seine Familie. Erst hat er mich so lange umgarnt, bis ich ihn geheiratet habe, dann hat er meinen Vater so lange umgarnt, bis er ihn zum Partner in der Kanzlei gemacht hat. Egal, wie schlecht die Sache für ihn ausgeht – er wird gut gepolstert sein. Allerdings möchte ich am Ende ungern diejenige sein, die aus diesem Haus ausziehen und für sich und die Kinder eine Dreizimmerwohnung suchen muss.»

«Du willst etwas, das ihn kompromittiert und in eine schlechte Verhandlungsposition bringt.»

Sie schweigt. Ist nicht angenehm, wenn man sich eingestehen muss, dass man dem Mann, den man geheiratet hat, in den Rücken fallen will.

«Hat er eine Affäre?»

«Selbstverständlich hat er eine Affäre. Seit ein paar Monaten. Und davor hatte er eine andere und davor noch eine andere. Männer wie er haben immer Affären. Sonst werden sie Alkoholiker – oder bringen sich um.»

Charlie glaubt zu wissen, was sie meint. Gibt so Typen. Ohne permanente Fremdbestätigung fallen die in sich zusammen.

«Weißt du, wer sie ist?»

Carmens Fußspitze beginnt zu kreisen. «Es hat mich nicht genug interessiert, um das herauszufinden. Aber sie scheint ihm ganz schön den Kopf zu verdrehen. Er hat wieder angefangen zu joggen. Und er trinkt neuerdings Gemüse-Smoothies – Rote Bete, Ingwer, Sellerie … Alles Sachen, die er vorher nicht mit der Kneifzange angefasst hätte.»

«Und wieso jetzt?», fragt Charlie.

«Du meinst: Warum nicht schon früher?»

«Ja.»

«Eine Zeitlang haben wir uns ganz gut arrangiert. Er machte seins, ich machte meins. Er hat sich anständig benommen. Aber einen Mann, der sich nicht einmal mehr die Mühe macht, sich einen Vorwand auszudenken, wenn er morgens nur noch zum Wäschewechseln nach Hause kommt, kann ich nicht akzeptieren. Schau nicht so traurig, Charlie, sonst fange ich noch an, mich selbst zu bemitleiden. Ich hab aufs falsche Pferd gesetzt und es zu spät gemerkt. Damit befinde ich mich in bester Gesellschaft.»

Carmens Entschlossenheit, sich nicht unterkriegen zu lassen – egal von was – imponiert Charlie. Hätten sie es nicht am ersten Abend schon als Liebespaar probiert, wären sie vielleicht Freunde geworden. Er erinnert sich an einen Spruch von ihr, den sie damals bei sich trug wie andere die Bilder ihrer Kinder: «Am Ende wird alles gut», sagt er.

Carmen schmunzelt. «Und wenn es nicht gut wird …»

«… ist es noch nicht das Ende.»

«Tja …» Sie blickt ihm offen ins Gesicht. «Ich schätze, dann ist es wohl noch nicht das Ende.»

«Irgendein Vorschlag, wo ich ansetzen soll?»

«Das überlasse ich dir. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass dir der Job besondere Fähigkeiten abverlangen wird.»

«Gut. Ich bekomme fünfhundert pro Tag plus Spesen.»

«Ich würde dir auch mehr zahlen.»

«Ich weiß. Aber das ist mein Tagessatz.»

«Sonst noch etwas?»

«Ich könnte einen Vorschuss gebrauchen.»

Sie hängt das quadratische Bild eines zeitgenössischen Künstlers ab – eins von der Sorte, die man unmöglich erwirbt, weil sie einem gefallen, sondern weil man sie für eine gute Wertanlage hält – und öffnet den in der Wand eingelassenen Tresor. Guter alter Wandtresor. Ist ja heute auch eher selten geworden. Eine Minute später sieht alles so aus wie vorher, mit dem Unterschied, dass Carmen einen Umschlag mit tausend Euro in der Hand hält.

«Brauchst du eine Quittung?», fragt Charlie.

«Nicht nötig. Das Geld, das dadrin ist, vermisst niemand.»

Sie begleitet Charlie ans Gartentor, wo sie sich zum Abschied auf die Wangen küssen.

«War nett mit dir – damals», erinnert sich Carmen.

Nett. «Klingt nach einem guten Zeitvertreib», erwidert Charlie.

Carmen lächelt. «Das war es auf jeden Fall.»

3

Als Holger am Kottbusser Tor an der Ampel steht, beobachtet er zwei Kollegen in Zivil, die einem hageren Typen den Arm auf den Rücken drehen und ihn auf die Knie zwingen. Die Tauben hoppeln ein Stück zur Seite, ohne eine Feder zu spreizen. Die bringt hier nichts mehr aus der Ruhe. In sicherer Entfernung steht eine Gruppe Touristen mit Döner und Dosenbier und betrachtet angeregt, wie die Polizisten dem Mann ein Messer und einen Schlagring aus den Taschen ziehen. Einer filmt das Ganze mit seinem Handy.

Gibt ja nicht wenige, die Kreuzberg 36 seit einigen Jahren total «inspirierend» finden. Also den Teil von Kreuzberg, der früher 36 hieß, 1000 Berlin 36. Westzeiten. Holger dagegen versteht den Stadtteil immer weniger. Kreuzberg in den 80ern, das hat er verstanden. War nicht seins, aber verstanden hat er’s. Kreuzberg in den 90ern – dito. Seither allerdings hat sich der Bezirk zunehmend von ihm entfremdet. Die Oranienstraße zum Beispiel besteht, soweit Holger das beurteilen kann, seit Jahren vor allem aus Spaniern, Schweden und Amerikanern, die sich freitagabends von Billigfliegern in Schönefeld absetzen lassen, die S-Bahn-Fahrt in die Stadt nutzen, um möglichst schnell möglichst viel Alkohol in sich hineinzuschütten und anschließend bis Montag früh die Bürgersteige vollzukotzen. Zu was einen das inspiriert? Collagen aus To-go-Pappbechern vielleicht. Aber die jungen, hippen Kreativen lieben es. Solche wie die Smooth Sisters.

Holger findet die richtige Einfahrt, hält vor einer Schranke und fühlt sich bestätigt. In der Durchfahrt hängt eine Tafel mit zwei Dutzend Firmenschildern. Hier tummelt sich alles, was jung und hipp und kreativ ist: eine Casting-Agentur, ein Klavierbauer, eine Craft-Beer-Manufaktur, eine Content-Management GmbH, ein Tonstudio, eine post-production company, ein international future digiboard, was auch immer Holger sich darunter vorzustellen hat. Im dritten Hinterhof, Aufgang G, residieren die Smooth Sisters.

«Kann ich Ihnen helfen?», fragt eine weibliche Stimme.

Holger sieht sich um und stellt fest, dass es der Kasten neben der Schranke ist, der zu ihm spricht. «Ja. Indem Sie die Schranke aufmachen.»

«Zu wem möchten Sie denn?»

«Den Schmuseschwestern.»

«Zu wem, bitte?»

«Den Smoothie-Sisters.»

«Den Smooth Sisters, aha. Und Sie sind wer, bitte?»

«Die Kriminalpolizei.»

Der Automat scheint zu überlegen, ob er gerade verarscht wird. «Können Sie sich ausweisen?»

Wortlos zieht Holger seinen Dienstausweis aus dem Portemonnaie und streckt ihn dem Automaten entgegen. Ebenso wortlos öffnet sich die Schranke.

 

Die Geschäftsräume der Smooth Sisters im ersten Stock des dritten Hinterhofs sind großzügig bemessen. Auf einer Fabriketage von grob geschätzten 250 Quadratmetern verteilen sich neben einigen Regalen mit Aktenordnern eine in Hufeisenform angeordnete Sofagruppe, fünf Schreibtische, von denen zwei Rücken an Rücken stehen, sowie eine Handvoll Rollcontainer. Der Rest ist Freifläche.

Eine Frau Anfang zwanzig begrüßt Holger, indem sie um ihren Tisch herum auf ihn zukommt. Sie ist groß und schlank, sieht zum Fürchten gesund aus und strahlt die Souveränität einer Chefärztin aus. Grundsätzlich begrüßt es Holger, dass junge Frauen heute selbstbewusster sind als noch vor zwanzig Jahren, aber in Hochmut, findet er, sollte es nicht umschlagen.

«Ich bring Sie zu ihnen», sagt sie, nachdem Holger sich vorgestellt hat, und geht ihm voraus quer durch den Raum, was irgendwie albern ist, denn es ist ja nur ein Raum, und die einzigen anderen darin befindlichen Personen sind Eloise und Pamela Sommer, von denen eine hinter ihrem Schreibtisch sitzt und in Holgers Richtung blickt, die andere mit dem Rücken zu ihm auf der Kante.

«Pam? Lou?» Die junge Frau macht eine Kopfbewegung, als werde sie gerade für ein Modemagazin abgelichtet. Eloise, die auf der Kante sitzt, dreht sich um und sieht tatsächlich exakt so gephotoshoppt aus wie auf den Bildern, die Holger im Internet von ihr gesehen hat. Nur eben in echt. «Das hier ist der Mann von der Kriminalpolizei», stellt die junge Frau ihn vor.

Eloise gleitet von der Tischkante und scannt Holger, wie sie jeden Mann scannt, der ihren Weg kreuzt: Geld, sozialer Status, Attraktivität, Schuhe, Uhr, Aufstieg oder Niedergang. Holger ist nach anderthalb Sekunden aus dem Rennen und froh darüber.

«Mein Name ist Brinks», stellt er sich vor.

Pamela steht auf und umrundet den Tisch. Sie ist deutlich kleiner als ihre jüngere Schwester und reicht Holger die Hand. «Ich bin Pamela. Das ist meine Schwester Eloise. Schön, dass Sie da sind.»

«Hi», sagt Eloise und hebt die Hand, wie um einen Angriff abzuwehren.

An der Seite der Schwestern durchquert Holger ein weiteres Mal den Raum, diesmal geht’s zur lindgrünen Hufeisen-Sitzgruppe. Pam und Lou lassen sich auf dem rechten Sofa nieder, Holger setzt sich ihnen gegenüber. Wie auf ein Zeichen überschlagen sie simultan die Beine und sehen mittelschwer betroffen aus.

«Wasser?», fragt Pamela.

Auf einem Wallnussholz-Tablett in der Mitte des Tischs stehen eine bläulich schimmernde Karaffe aus papierdünnem Glas sowie ein halbes Dutzend passender Gläser.

Holger lehnt sich zurück. «Gerne.»

Umständlich schenkt Pamela jedem von ihnen ein Glas ein. Holger nimmt einen Schluck und erwartet eine Geschmacksexplosion, doch es ist tatsächlich nur Wasser.

«Also», sagt er, «was ich bis jetzt weiß, ist: Sie vermissen Ihre Schwester.»

«Victoria», erwidert Pamela, «genau.»

«Haben Sie noch mehr?», fragt Holger.

«Äh, nein, wieso?»

Das macht Holger gerne: eine kleine Irritation herbeiführen. Für die dicken Pilze, pflegte sein Vater zu sagen, musst du in den Wald gehen. Die wachsen nicht am Wegrand.

«Entschuldigung.» Holger macht eine wegwischende Handbewegung. «Bitte – erzählen Sie weiter.»

«Also gestern Abend, da haben wir uns hier getroffen, weil wir etwas Geschäftliches zu besprechen hatten.»

Holger wendet sich an Eloise, die außer «hi» noch nichts gesagt hat. «Sie waren bei dieser Besprechung ebenfalls dabei?»

Für den Bruchteil einer Sekunde zeigt sich Verunsicherung in Lous Blick. Die nächste Irritation. Holger hat keine Ahnung, wo dieses Gespräch hinführen wird, aber es beginnt, ihm Spaß zu machen.

«Ich … Natürlich! Das ist doch auch meine Firma.»

«Wir sind alle zu gleichen Teilen an der Firma beteiligt», erklärt Pamela.

Interessant, denkt Holger, danach hatte ich gar nicht gefragt. «Sie beide und Ihre Schwester», präzisiert er.

«Victoria, genau.»

«Und Sie drei hatten hier gestern Abend eine geschäftliche Besprechung.»

«Richtig. Mit unserem Anwalt.»

Pamela sieht Holger an, Eloise fingert in ihren Haaren herum und blickt aus dem Fenster.

«Wann genau war das?»

«Also er kam so gegen halb zehn und blieb für eine gute Stunde, würde ich sagen.»

Holger beugt sich vor. «Und dann?»

«Nach der Besprechung sind unser Anwalt und ich nach Hause gefahren – also ich zu mir und unser Anwalt zu sich, ist ja klar –, und Lou ist auf eine Party gegangen. Vicky wollte noch mal runter ins Labor. Sie arbeitet gerade an einem neuen Fermentierungsverfahren. Als ich dann heute Morgen herkam, lag ihr Handy noch hier, aber Vicky war nicht da. Dabei kommt sie nie später als sechs Uhr dreißig, um die Abfüllung zu überwachen – bevor die Kuriere die Bestellungen abholen. Ich hab mir erst nichts dabei gedacht, aber dann kam Bintang aus der Zubereitung hoch und fragte, ob sie heute die Bestellung machen solle, weil Victoria doch nicht da sei. Da hab ich versucht, Vicky auf dem Festnetz zu erreichen. Als sie auch da nicht ranging, bin ich zu ihr gefahren – sie hat hier einen Zweitschlüssel für ihre Wohnung hinterlegt. Zu Hause war sie aber nicht, und so, wie ihre Phalangeridae drauf waren, können die gestern auch kein Futter mehr bekommen haben. Also habe ich daraus geschlossen, dass Vicky nicht nach Hause gekommen ist.»

Holger muss ein Schmunzeln unterdrücken. Eine Singlefrau Mitte dreißig, die eine Nacht nicht nach Hause kommt. Da braucht es schon einen Hauptkommissar der Mordkommission, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er ruft sich das Gespräch mit Frau Niermeyer ins Gedächtnis: Na ja, Sie wissen, wie das ist.

«Könnte sie nicht bei einem Freund oder einer Freundin übernachtet haben?», schlägt er vor.

Eloise wendet ihren Blick von der Fensterreihe ab: «Victoria?» Es klingt wie «Blutegel?»

«Was meine Schwester sagen will», erklärt Pamela, «ist, dass so etwas für Victoria höchst ungewöhnlich wäre. Und wenn, hätte sie nicht ihr Handy hier liegenlassen, und spätestens zur Abfüllung wäre sie wieder hier gewesen.»

«Und jetzt machen Sie sich Sorgen, es könnte ihr etwas zugestoßen sein.»

«Ja, genau», flötet Eloise, «wir machen uns Sorgen.»

Holger bestaunt die Dünnwandigkeit des Glases in seiner Hand. Vorsichtig stellt er es auf dem Tisch ab. «Worum ging es denn – bei der Besprechung mit Ihrem Anwalt.»

«Es ist so, dass» – die Schwestern tauschen Blicke, bevor Pamela fortfährt – «wir vor einiger Zeit ein Patent angemeldet haben.»

«Sie haben sich ein Copyright auf einen Smoothie geben lassen?», fragt Holger.

«Könnte man sagen, ja. Es ist ziemlich kompliziert, und ich möchte Sie nicht mit Details langweilen, auf jeden Fall ist seitdem einiges passiert, und jetzt haben wir ein Angebot von einem international operierenden Lebensmittelkonzern erhalten.»

«Da möchte jemand Ihr Rezept kaufen?»

«Alle Rezepte, Trademark inklusive. Die gesamte Firma, alles.»

«Und das Angebot ist derart beschaffen, dass Sie es mit ihrem Anwalt besprechen wollten.»

«So ist es.»

«Darf ich fragen, was dieser Lebensmittelkonzern für die Smoothie-Sisters zu zahlen bereit ist?»

«Smooth Sisters. Wir sind die Smooth Sisters.»

Holger schenkt sich Wasser nach. Dieses Gespräch beginnt, ihn durstig zu machen. «Schön. Und wie hoch ist das Angebot?»

Wieder tauschen die Schwestern einen Blick. Eloise zieht die Schultern hoch. Pamela reibt die Handflächen gegeneinander: «Es bewegt sich im zweistelligen Millionenbereich.»

Irgendwie gelingt es Holger, nicht aus Versehen das Glas zu zerdrücken. «Da zahlt jemand zehn Millionen für ein Smoothie-Rezept?»

«Also, es sind etwas mehr als zehn Millionen. Und es ist mehr als nur ein Rezept.»

«Was kann er denn, Ihr Smoothie – dass jemand so viel Geld dafür bietet? Macht er mir die Steuererklärung? Oder mäht er meinen Garten?»

Eloise und Holger sitzen einander gegenüber, gleiche Höhe. Ihr Blick gleitet trotzdem von oben nach unten. «Er verbrennt Ihr Fett.»

Jetzt ist es Holger, bei dem sich die Irritation einstellt. «Von allein?»

Pamela setzt ein Verkäuferlächeln auf und dreht die Handflächen nach oben: «Ganz genau. Sie müssen ihn nur trinken. Je nachdem, wie hoch ihr Körperfettanteil ist und was für einen Stoffwechsel Sie haben, verbrennt unser Superslim-Smoothie zwischen 200 und 300 Kalorien. Und das Beste ist: Die dadurch gewonnene Energie will ja irgendwie umgesetzt werden – in Konzentration, körperliche Leistung, Ausdauer, Sex …»

«Verstehe», sagt Holger und denkt an Sandra, die sich neuerdings wie aufgeladen fühlt. «Der Markt ist groß.»

«Mega», sagt Eloise.

Pamela erklärt: «Wir haben drei Jahre lang sehr viel Arbeit und Zeit in unser Unternehmen investiert, haben bei null angefangen und uns langsam nach oben gearbeitet.»

Holger denkt an die Glamour-Fotos, an die Botschafter-Eltern, an die Bediensteten mit Silbertablett. Bei null anfangen, findet er, geht anders. Und was unter «hart arbeiten» zu verstehen ist, da gehen Eloises und seine Ansichten möglicherweise ebenfalls auseinander.

«Im letzten halben Jahr hat sich unser Umsatz vervierfacht.» Pamela legt die Fingerspitzen aneinander. «Das ist erfreulich, zwingt uns aber zu strategischen Entscheidungen.»

«Sie haben sich also gestern hier getroffen, um mit Ihrem Anwalt zu beratschlagen, ob Sie Ihr Baby verkaufen oder ob Sie es alleine großziehen sollen. Ersteres würde eine Menge Geld bedeuten, Letzteres eine Menge Arbeit.»

Schon bei der Erwähnung besagter Arbeit muss Eloise sich Luft zufächeln. Pamela zählt auf: «Zunächst einmal bräuchten wir ein neues Vertriebsnetz. Streng genommen müssten wir eine eigene Logistik-Firma gründen. Dann müsste die Produktion grundlegend umstrukturiert werden.» Sie deutet mit einem Finger unter sich. «Unsere Produktion und das Labor sind im Erdgeschoss, sechs Leute, die alles noch per Hand in die Mixer werfen. Die Räume sind zu klein. Die Produktionsbedingungen aber müssen strengsten Anforderungen entsprechen. Da unten ist es sauberer als in jedem OP. Unsere Smoothies sind frei von jeglichen Konservierungsstoffen, das bedeutet: Die Kühlkette darf nirgends unterbrochen werden – bis zum Endverbraucher. Wir könnten im zweiten Hinterhof noch etwas dazumieten, aber um den notwendigen Hygienestandard zu erreichen, müssten wir allein für die Renovierung eine Viertelmillion ausgeben, und da ist noch kein Mixer, keine Abfüll- oder Etikettiermaschine von angeschafft. Steuerlich macht das Sinn, aber wie lange werden uns diese Räume reichen? Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sollten wir einen Kredit aufnehmen und irgendwo in Zentrumsnähe eine Fabrikhalle kaufen …» Kurzfristig geht ihr die Luft aus.

«Eine Menge Konjunktiv», schließt Holger, «dem eine Menge Geld gegenübersteht.»

Die Schwestern sagen nichts. Die Antwort liegt auf der Hand.

«Wie haben Sie entschieden?»

«Noch gar nicht», erklärt Pamela. «Zunächst werden unser Anwalt und ich den Verhandlungsspielraum ausloten. Aber wenn das Angebot stimmt …»

Holger blickt von Pamela zu Eloise und zurück. «Nehmen wir mal an», sagt er, «Ihrer Schwester ist tatsächlich etwas zugestoßen. Könnte ihr Verschwinden mit dem möglichen Verkauf der Firma zusammenhängen?»

Pamela zupft an ihrer Unterlippe: «Ich wüsste nicht, wie.»

«Ich auch nicht», sagt Eloise.

Holger lässt sich Pamelas Arbeitsplatz zeigen. Die zweite Tischgruppe ist für die Buchhaltung. Als er Eloise fragt, wo ihr Schreibtisch sei, antwortet die: «Was soll ich mit einem Schreibtisch?» Anschließend führt Pamela den Kommissar hinunter ins Erdgeschoss.

Vor dem Betreten der Produktionsstätte muss Holger Haube, Mundschutz, Hand- und Überschuhe anziehen. In dieser Montur könnte er direkt bei der Spurensicherung anfangen. Tatsächlich sind die Räume so sauber, dass sich Holger unwillkürlich an eine Pathologie erinnert fühlt. Manches ist aus Kunststoff, das meiste jedoch aus Edelstahl. Nicht einmal die Messer haben Holzgriffe. Einzig die beiden Paletten mit dem Leergut sind aus Holz. Pamela erklärt, dass die Flaschen nach der Abfüllung in eine Schleuse kommen, die wiederum vom Hof aus zugänglich ist. Dort müssen sich die Kuriere die Kundenorder nur noch aus den Regalen nehmen.

Im hinteren Bereich – vom Produktionsraum durch eine Glaswand getrennt – befindet sich das Labor. Holger sieht UV-Licht, beugt sich über Petrischalen und beäugt Reagenzgläser mit unterschiedlichen Flüssigkeiten in gläsernen Kühlschränken. Wann hat Essen eigentlich aufgehört, Spaß zu machen? Wieder was verpasst.

«Bitte nichts anfassen», weist Pamela ihn an, als er sich einer golfballgroßen Knolle mit spiraligen Tentakeln nähert. «Vicky hasst es, wenn jemand in ihrem Labor etwas durcheinanderbringt.»

Zum Abschluss des Rundgangs streckt Holger seinen Kopf in die beiden begehbaren Kühlschränke, deren Türen selbstredend ebenfalls aus Edelstahl und außerdem so dick wie seine Unterarme sind. Neben der einen leuchtet +4 auf dem Display, neben der anderen –25. Möhren, Bananen, Äpfel, diverses Grünzeug. Beinahe ist Holger erleichtert, das meiste davon als ganz normales Essen wiederzuerkennen.

«Empfindliches und saisonales Obst und Gemüse wird gefroren verarbeitet», erklärt Pamela. «Ebenso wie einige unserer speziellen Zutaten. Unser Ziel ist es, immer die bestmögliche Nährstoffausbeute zu erreichen.»

Als Pamela die Tür verriegelt, blinkt das Display und zeigt –24 an. «Extrem empfindlich», erklärt sie. «Registriert die kleinste Temperaturschwankung. Bei minus siebzehn fängt er an, höllisch zu piepsen.»

«Ihr Anwalt», sagt Holger, «wer ist das?»

«Robert. Doktor Robert Bergvogel.»

«Und weiß Doktor Bergvogel bereits, dass Ihre Schwester verschwunden ist?»