Bundesautobahn - Johannes W. Betz - E-Book

Bundesautobahn E-Book

Johannes W. Betz

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Beschreibung

Zerstreite dich nicht mit deinen Eltern. Kaufe nie einen Gebrauchtwagen, ohne zu überprüfen, was im Kofferraum ist. Nimm nie eine Anhalterin mit, auch wenn es dein 22. Geburtstag ist. Kurz: Komm nie vom rechten Weg ab. Sonst jagen sie dich, und du verlierst deine Unschuld.

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Seitenzahl: 532

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Johannes W. Betz

Bundesautobahn

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Über dieses Buch

Zerstreite dich nicht mit deinen Eltern. Kaufe nie einen Gebrauchtwagen, ohne zu überprüfen, was im Kofferraum ist. Nimm nie eine Anhalterin mit, auch wenn es dein 22. Geburtstag ist. Kurz: Komm nie vom rechten Weg ab. Sonst jagen sie dich, und du verlierst deine Unschuld.

Über Johannes W. Betz

Johannes W. Betz, geboren 1965, arbeitete als Werbetexter und Konzeptioner, bevor er an der Filmakademie in Ludwigsburg studierte. Er schrieb zahlreiche Drehbücher für Fernseh- und Kinofilme.

Inhaltsübersicht

Für AriFaust: Was ist das …1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. KapitelDanksagungen

Für Ari

Faust:

Was ist das Schnellste auf Erden?

Geist:

Nicht mehr und nicht weniger als der Übergang vom Guten zum Bösen.

Lessing, Faust-Fragment

1

Einen solchen Regen hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Der Himmel spie Abertausende Tonnen bleischweren Wassers hinunter auf die Großstadt, als hätte sich ein ihr überdrüssiger Gott dazu entschieden, endlich alles zu ersäufen. Seit einer Stunde schon prasselte es auf Asphalt und Stein, auf Stahl und Glas, doch die Quecksilbersäulen der Außenthermometer weigerten sich, unter die 25-Grad-Marke zu fallen. Der Staub, der sich in den Tagen der Dürre über die Straßen, Häuser und Autos gelegt hatte, verschwand als gurgelnde Brühe in den Tiefen der Gullys. Schon bald würde die Stadt wieder in der Fahlheit der Hundstage erstarren. Seit Wochen hatte kein Tiefdruckgebiet eine nennenswerte Chance gehabt, und die Menschen hatten sich an die Hitze gewöhnt. So wie man sich an Stechmücken oder irgendeinen Radiosender gewöhnt.

 

Die Boeing 747 der Singapore Airlines war von Bangkok aus gestartet, hatte den indischen Subkontinent, den Mittleren Osten, den Balkan, die Adria und die Alpen mit trägem Gleichmut überquert. Jetzt quälte sie sich mit brüllenden Turbinen durch die kochende Wolkendecke, entlang am Leitstrahl des Instrumentenlandungs-Systems der Landebahn 2 des Münchner Flughafens. Die beiden Piloten wussten nichts von dem Wackelkontakt in dem kleinen Relais, das die Steuerungsimpulse an die komplexe Mechanik des Höhenruders weiterleitete. Sie hatten auch keine Ahnung von den 15 Kilo feinsten Heroins, das ihr Vogel in einem Catering-Trolley mit sich führte, irgendwo zwischen den von müden Stewardessen eingesammelten Resten der über 350 Bordmahlzeiten. Die Piloten konnten bereits die Lichter der Landebahn durch den Regenschleier wahrnehmen. Die Maschine tauchte aus den letzten Wolkenfetzen und schwebte über das Autobahnkreuz im Norden der Stadt hinweg. Weitläufig lag es im flachen Land wie eine gigantische Geschenkschleife aus Stahl, vom Regen blank gepeitscht. Die Autos rollten die Bänder der Schleife entlang wie aufgezogenes Blechspielzeug: LKW, deren Reifen wie Sirenen heulten und feine Gischt versprühten, Personenwagen mit atemlos über getönte Scheiben hin- und herhastenden Wischblättern.

 

Peter Erwin Lüttger saß in seinem Dienstmercedes und fuhr mental automatisiert, wie es Leute zu tun pflegen, die 50000 oder mehr Kilometer im Jahr auf der Piste sind. Er starrte auf die Boeing, die schräg über ihm im Landeanflug war, unnatürlich langsam irgendwie, den Gesetzen der Schwerkraft höhnend. Dabei monologisierte er in die Freisprecheinrichtung, und am anderen Ende der Leitung schrieb seine Sekretärin alles getreulich in Kurzschrift nieder, um es später in ein gestochen formuliertes Memo zu transformieren:

«Laut Planungsamt beträgt der Normrohrdurchmesser 12,5 Zentimeter. Die Zwölffünfer kosten uns im Einkauf sieben Prozent mehr als die Elffünfer. Das macht in der Kalkulation einen Fehlbetrag von 50000 plus, der über den Kundenvertrag nicht abgesichert ist und den die Einkaufsabteilung rechtfertigen muss …»

Sein Jackett baumelte hinten im Fond am Haken. Ihn fröstelte, weshalb er die Klimaanlage von 20 auf 23 Grad einstellte – auch das instinktiv, während er sprach. Mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Nämlich bei seinem Sohn Karl, der mit knapp 22 immer noch zu Hause in seinem Kinderzimmer wohnte, Medizin studierte und soeben die Gelegenheit eines Stipendiums verstreichen ließ, das es ihm ermöglichen würde, zwei Semester an der Illinois State University zu verbringen, was seiner Karriere und nicht zuletzt seiner persönlichen Entwicklung gewiss förderlich sein könnte. Stattdessen machte der Junge gerade seine Führerscheinprüfung. Mit knapp 22. Morgen würde er Geburtstag haben, und Peter Erwin Lüttger dachte nach, welches Geschenk wohl geeignet wäre, seinen Sohn davor zu bewahren, womöglich noch Schimmel anzusetzen. Er selbst war schließlich auch mal jung, vielversprechend und antriebslos gewesen, und so hatte er bereits eine Idee.

 

Karl bemerkte nicht, dass er soeben von seinem Alten Herrn mit Warpgeschwindigkeit überholt worden war. Jemand im Wagen hatte lautlos gefurzt. Der säuerliche, muffige Darmgeruch hing hartnäckig im Innenraum, und niemand öffnete das Fenster oder sagte auch nur etwas, um den Verdacht nicht unnötig auf sich selbst zu lenken. Karl klammerte sich verbissen ans Lenkrad und spielte mit dem Gedanken, den Scheibenwischer auf Stufe drei hochzustellen. Doch aus Angst, dieses Vorhaben könnte irgendwie unsouverän auf die Fahrprüferin wirken, die von der Rückbank aus jede seiner Bewegungen und deren Auswirkungen auf die Fahrweise mit Argusaugen überwachte, ließ er es bleiben und schaute stur zwischen Straße, Rückspiegel und Tacho hin und her. Fahrlehrer Lüders neben ihm war ein von jeher einsilbig veranlagter Mann, und so gestaltete sich die Fahrprüfung, Abschnitt Autobahnfahrt, ausgesprochen zäh. Die Prüferin, ein vierschrötiges, welkendes Wesen in Jeans und – trotz schwüler Hitze – gelbem Jackett, unter dem sich Brüste nicht mal erahnen ließen, nahm also den Kugelschreiber aus ihrem Mund und fragte aufs Geratewohl:

«Wie alt sind Sie eigentlich, Herr, äh, Lüttger?»

Karl sah sekundenlang durch den Rückspiegel auf ihre Konquistadorenhelmfrisur.

«Einundzwanzig», antwortete er tonlos und räusperte sich.

«Aha», bemerkte sie. «Erstaunlich vorsichtig für Ihr Alter.»

Karl sah auf den Tacho. Die Nadel stand stur auf 110. Er zuckte mit den Schultern.

«Sie könnten ruhig mal auf die Tube drücken. Ich hab heute noch andere Termine», flötete sie.

Karl nickte ergebenst. Die Tachonadel quälte sich zur 120er-Marke und blieb knapp darunter stehen. Er spürte schon seit geraumer Zeit im Nacken, wie lüstern sie durch den Rückspiegel Maß nahm, und vermied es sorgfältig, den Blick zu erwidern. Die Konversation war beendet, und die Prüferin befahl:

«Nächste Ausfahrt raus, bitte schön.»

Die 300-Meter-Bake tauchte aus dem Regenschleier auf. Karl guckte durch den Rückspiegel an der Prüferin vorbei, um den erlernten Vorschriften Genüge zu tun, und setzte den Blinker. Sie schrieb mit ihrem speichelbenetzten Kuli irgendein Geheimnis in ihre Kladde.

 

Im selben Augenblick röhrte ein altertümlicher schwarzer Ford Sierra jenseits der Doppelleitplanke in entgegengesetzter Richtung an ihnen vorbei. Den Auspuff plagte der Rostfraß, und die Scheiben waren von innen nikotinverschmiert.

«Blödes Arschloch!»

Helmut betätigte die Lichthupe, aber der Wagen vor ihm ignorierte das. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit 110 hinterherzukriechen, bis der Überholvorgang beendet war.

«Was regst du dich eigentlich immer so auf?», fragte Karolin.

«Ich reg mich doch nicht auf. Du solltest mich mal sehen, wenn ich mich aufrege.»

Karolin machte bloß «Pff!» und drückte ihre Zigarette im übervollen Ascher aus. Helmut war eigentlich Phlegmatiker, passend zu seinem leichten Übergewicht, aber seit zwei Monaten stand er unter Strom. Endlich hatte er einen Plan gehabt. Hatte daran gefeilt, bis es keine Fragen mehr gab, sondern nur noch Antworten. Tag und Nacht dieses eine Thema, über das er nur mit Karolin reden konnte.

«Bist du aufgeregt?»

«Was denkst du denn.» Natürlich war sie aufgeregt. «Wieso sollte ich diesem Frederik trauen? Wieso traust du ihm?»

«Wir müssen ihm trauen, verstehst du das denn nicht?» Helmut konnte seine Ungeduld kaum zügeln. Nach seinem Dafürhalten lag das Risiko des Unternehmens keineswegs bei Frederik, sondern bei Karolin. Er hütete sich jedoch, das zu sagen. Es ging um die gemeinsame Zukunft, der war alles unterzuordnen, auch die dumpfe Angst im Bauch.

«Wieso hat er uns die Pässe nicht schon längst gegeben?»

Helmut hatte diese Frage schon oft beantwortet in den letzten Tagen.

«Weil wir sie nicht bezahlen können. Noch nicht. Morgen ist alles anders. Morgen gegen Mittag sind wir bei Frederik. Wir kriegen unsere Pässe, bezahlen ihn und hauen ab.»

Karolin nickte, und der Gesamteindruck, den sie hinterließ, mit ihren abgekauten Fingernägeln, dem Hin- und Herrutschen auf dem Sitz und den zugekniffenen Lippen, ließ Helmut befürchten, sie könnte im letzten Moment noch alles absagen. Er nahm ihre Hand und drückte sie.

«Gehen wir alles nochmal durch.»

«Nein. Es ist alles klar.»

«Sicher?»

«Es ist alles klar. Ich hab bloß Angst.»

Na also. Endlich mal eine klare Aussage. «Ich auch», sagte Helmut. Und: «Ich liebe dich.»

Karolin erwiderte den Druck seiner Hand. Sonst verkündete sie jedes Mal, wenn er das sagte: «Das sagst du viel zu selten.» Doch jetzt schwieg sie.

Helmut setzte den Blinker und überholte eine lange Autoschlange, die hinter einem Streifenwagen herkroch, der mit nicht mal 90 Stundenkilometern fuhr, obwohl 100 erlaubt waren. Feiglinge, dachte er.

 

Harald Grüner sah im Rückspiegel die Autoschlange und genoss seine Macht. Er hatte Erfahrung in solchen Dingen: 90 war die magische Grenze. Sollte er das Tempo nur um ein, zwei Sachen drosseln, würde es nicht lange dauern, und irgendeiner würde ausscheren und vorbeiziehen. Die anderen würden unweigerlich folgen. Aber bei 90 würde alles so bleiben: dein Freund und Helfer als psychologischer Leithammel. Der gute Hirte. Die paar Aufmüpfigen, die mit 110 an der Prozession vorbeizogen, gehörten zum System. Die Raser, die auf breiten schwarzen Niederquerschnittsschlappen mit 160 herankamen, ebenfalls. Sie bremsten in dem Moment, in dem sie merkten, wer die Kolonne anführte, auf unverfängliche 110 ab. Das war sehr, sehr befriedigend. Sein Streifenwagen war ein schon etwas betagter BMW 325i, allerdings ohne Modellkennung am Heck. Ein gut gewartetes Auto, dem auf den ersten Blick alles zuzutrauen war. Dieses Auto war Haralds wirkliches Zuhause gewesen, jedenfalls bis ihm Henry Schnappauf als Teamkollege zugeteilt worden war. Henry war ein Eindringling. Ein Alien.

Der Tag war bis jetzt nicht sehr erheiternd gewesen. Seit Harald mit Henry Schnappauf zusammen Streife fuhr, und das war seit immerhin drei Wochen, quälte er sich durch seine Schichten wie ein Maulwurf durch Lehm. Henry, der seit einer halben Stunde schweigend neben ihm saß, war ein Pedant und Nörgler. Er wusste alles besser. Er war der bessere Polizist, er war der bessere Autofahrer, er war der bessere Deutsche. Er dünstete eine ständige Aura des stummen Vorwurfs aus wie ein penetrantes, billiges Rasierwasser, das einem die Luft zum Atmen nahm. Beide waren 28, beide bekleideten den Rang des Hauptmeisters, beide warteten verzweifelt auf die Gelegenheit, sich für eine Beförderung zu empfehlen, denn das Geld reichte hinten und vorne nicht. Harald war verheiratet, hatte zwei Kinder im Alter von zwei und vier, musste ein 120-Quadratmeter-Reihenhaus in einer der westlichen Trabantensiedlungen abzahlen und lag sich ständig mit seiner Frau in der Wolle, die dieses Haus nie wirklich gewollt hatte und jetzt mit den Kindern da draußen gestrandet war. Henry war geschieden. Und zwar ohne Kinder. Das musste ihm erst mal einer nachmachen. Harald konnte sich nur einen Grund für eine Scheidung vorstellen: eine unzufriedene Frau mit zwei Bälgern am Hals in einem Reihenhaus auf dem platten Land. Seit ihm Henry zugeteilt worden war, war auch der andere Teil seines Lebens zur Hölle geworden. Ein Mann ohne Initiative, ohne Rückgrat, mit einem Gehirn, dessen größter Teil von der Dienstvorschrift in Beschlag genommen war. Ein Bremser. Ein Blödmann. Jetzt rutschte er gerade auf dem Beifahrersitz herum und wartete darauf, dass Harald in den Fünften schaltete, weil bei 90 im Fünften der Spritverbrauch um 25 Prozent niedriger lag als im Vierten. Diesen Gefallen tat Harald ihm nicht. Wenn Henry endlich das Maul aufkriegte, würde er auf 120 beschleunigen und dann in den Fünften schalten. Und zwar wortlos.

Ruhe hatte Harald nur in den sieben Stunden, in denen er schlief. Er sah aus den Augenwinkeln auf die Uhr am Armaturenbrett: noch drei Stunden bis Dienstschluss. Heute war nicht viel los. Ein paar Auffahrunfälle, Blechschäden, Schleudertraumata, Platzwunden und gelegentliche Tränen. Ein toter Dobermann bei Kilometer 25, ein veritables Verkehrshindernis, das es wegzuräumen galt, an den Fahrbahnrand zumindest, wo dann die Vorbeifahrenden einen Blick erhaschen und sich fragen: Was war denn das mal? Innereien, Blut und Scheiße blieben kleben, aber das fuhr sich fest. Die Orangen würden den Kadaver in den nächsten Tagen einsammeln. In der Woche kam auf einem normalen Autobahnabschnitt eine gute Wagenladung zusammen, für die Abdeckerei. In den guten alten Zeiten hatten sie Tiermehl daraus gemacht und verfüttert.

«Warum fährst du im Vierten?»

Na also.

«Weil es so schön röhrt.»

«Im Fünften wäre der Spritverbrauch ein Viertel niedriger. Warum schaltest du nicht in den Fünften?»

Harald gab Gas. Die Schlange hinter ihm verschwand in einer Wolke grauer Gischt. Als die Tachometernadel sich bei 120 einpendelte, schaltete er in den Fünften. Noch zwei Stunden und achtundfünfzig Minuten bis Dienstschluss. Noch drei Stunden und dreizehn Minuten bis «Wer wird Millionär?». Noch vier Stunden und achtundzwanzig Minuten bis zum Bett. Morgen die zweite Schicht, in genau 14 Stunden und 57 Minuten.

2

«Follow Me.»

Die Boeing 747–400 bummelte hinter den Lichtorgeln eines gelbschwarzen Lotsenwagens her über die Beton- und Wasserwüste des Rollfelds in Richtung des Terminals, wie ein dicker König auf Stippvisite beim gemeinen Volk. Es regnete immer noch, obgleich am Horizont bereits die ersten amorphen Fetzen blauen Himmels das brodelnde Wolkengetümmel durchsetzten. Hinter der Panoramascheibe des Flughafenrestaurants saß Ronald Herzfeld bei einem halb vollen, längst erkalteten Glas Tee und verfolgte den Weg der Maschine durch einen kleinen Feldstecher, der auf den ersten Blick einem Opernglas glich, jedoch ungemein leistungsfähig war. Ronald war einer dieser begnadeten Menschen, die durch bloße Anwesenheit einen bleibenden Eindruck hinterließen. Man kannte ihn hier bereits, obwohl er in diesem Jahr erst dreimal hier gesessen hatte: immer an genau diesem Tisch, immer bei einem Glas Tee, immer mit einem Feldstecher. Er machte auf die anderen Gäste und die Angestellten des Restaurants den Eindruck eines Tagträumers, der schon viel Außergewöhnliches erlebt haben mochte, richtige Abenteuer womöglich, der jetzt sein Geld für sich arbeiten lässt und sich hier die Zeit vertreibt: akkurat geschnittene dunkelbraune Haare, glatt rasiert, in einem perfekt sitzenden grauen Businessanzug, zu dem die bordeauxrote Seidenkrawatte mit Windsorknoten vorzüglich passte. Sein Gesicht war hager, von klarer Direktheit und latenter Brutalität, aber mit einem melancholischen, friedlichen Zug um die Augen, und allein die Tatsache, dass er hier saß und guckte, ließ ihn ungemein vielschichtig erscheinen. Kein Aktenkoffer, der ihn als Geschäftsmann ausweisen würde, keine Zigarette, die Ungeduld oder Unsicherheit vermitteln mochte. Er schien alle Zeit der Welt zu haben, und aus den Reihen der braun gebrannten und doch grauen Gesichter an den anderen Tischen streifte ihn ab und zu ein neidvoller Blick: Was der da wohl macht? Ob der denn nichts Besseres zu tun hat?

Ronald hatte in der Tat nichts Besseres zu tun. Bis jetzt war niemandem aufgefallen, dass es merkwürdige Überschneidungen seiner sporadischen Anwesenheit mit der Ankunftszeit der Fernflugverbindung aus Bangkok gab. Er sah zu, wie der Gangwayfinger zum Gate A 24 an die vordere Einstiegsluke der Maschine angedockt wurde, wie das andere Ende des Fingers Menschen in den Glasbau spuckte, von denen mindestens ein Drittel Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen gehabt hatte, von denen wiederum ein Drittel sich was Ansteckendes geholt hatte. Ronald musste lächeln. Thailand befriedigte viele geheime Bedürfnisse der Durchschnittsdeutschen, und für eins davon war er zuständig. Der LKW einer Cateringfirma stand bereits am Heck der Maschine, fuhr seinen Containeraufbau per Scherenmechanik hoch und dockte ihn an die hintere Tür an wie ein Parasit. Was dort vor sich ging, musste Ronald nicht sehen. Er wusste es auch so: Die zahlreichen Serviertrolleys wurden aufgenommen und zum Catering-Logistikzentrum gefahren, wo sie entleert, gereinigt und neu bestückt werden würden. Ein gut bezahlter Mitarbeiter der Cateringfirma würde einen versiegelten, knapp 20 Kilogramm schweren Sack aus blauem, strapazierfähigem Kunststoffgewebe, auf den jemand mit Sprühfarbe an beiden Seiten ein rotes «Z» gemalt hatte, aus der Recyclingstrecke nehmen und ihn in einen bestimmten Restmüllcontainer schmeißen. Am frühen Morgen würde dieser Restmüllcontainer von einem Entsorgungsfahrzeug abgeholt und zur großen Halde am Nordostrand der Stadt gebracht.

Alles Routine. Ronald ging noch einmal den Zeitplan durch, der minuziös funktionieren musste, denn morgen waren zahlreiche Termine mit der Hochzeit seiner kleinen Schwester Ramona in Einklang zu bringen, und das auf eine Weise, die den Verdacht, die Hochzeit wäre nicht das herausragende Ereignis des Jahres in der Familie Herzfeld, bei niemandem aufkommen lassen sollte. Wer die Herzfelds kannte, wusste um Ronalds ausgeprägten Familiensinn, der sich vor allem im Bemühen zeigte, seinen Vater und seinen kleinen Bruder vor größeren Dummheiten zu bewahren. Unter seiner auf Diplomatie bedachten Führung war aus dem Gebrauchtwagenhandel Herzfeld & Söhne ein florierendes Familienunternehmen geworden, mit gelegentlichen geschäftlichen Ausflügen in Gefilde, die man gemeinhin unter «Import-Export» zusammenzufassen pflegt. Er saß bei Familienfeiern immer lächelnd vor einer Tasse Kaffee und tanzte nur, wenn er dazu aufgefordert wurde.

Alles war geregelt, für die Unwägbarkeiten hatte er Ausweichszenarien parat. Theoretisch lief es wie geschmiert. Er winkte der Bedienung und zahlte. Dass er wortlos und ohne ein Trinkgeld zu geben aufstand und ging, verursachte bei der Kellnerin nicht einmal ein inneres Achselzucken. Sie kannte ihre Pappenheimer. Draußen hörte es plötzlich auf zu regnen, und die Wolkendecke riss endgültig auf. Die Abendsonne tauchte vom Horizont aus alles in kupfernes Licht, und die plötzliche Kontrastschärfe schmerzte in Ronalds Augen. Während die Gäste um ihn herum ihre Sonnenbrillen so routiniert aufsetzten, als hätten sie diesen Moment sehnsüchtig erwartet, sah er einfach weg.

3

Der Asphalt des Verkehrsübungsplatzes im Westend, zwischen begrüntem Wohnviertel aus den Achtzigern und nagelneuem Gewerbegebiet, glänzte noch, obwohl sich schon Inseln staubiger Trockenheit darauf bildeten. Die Fahrprüferin unterschrieb das Führerscheinantragsformular auf der Motorhaube des Golfs und händigte es Karl aus, der, mit den Daumen im Gürtel, hinter ihr geduldig gewartet hatte. Er überflog es, faltete es zusammen und steckte es in die Gesäßtasche.

«Na dann, vielen Dank», sagte er, um nicht unnötig stumm zu bleiben.

«Keine Ursache. Sie sind vorbildlich gefahren.» Sie schien einen Gedanken zu fassen, und Karl befürchtete das Schlimmste. Die Frage kam dann auch ein bisschen zu gewollt beiläufig: «Wie wär’s mit einem Kaffee?»

Karl grinste. «Hatten Sie nicht noch andere Termine?»

Er sah ihr direkt auf die spitze Nase, gespannt auf eine schlagfertige Antwort wartend.

Sie blitzte ihn an. «Na, dann eben nicht», flötete sie kalt.

Karl zuckte mit den Schultern. «Wiedersehen.»

Er drehte sich um, hob die Hand grüßend in Richtung Herrn Lüders, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte – er kannte das schon und fragte sich, ob dieses Frauenzimmer jemals begreifen würde, dass so eine Nummer nicht zieht. Karl indes schloss sein altes Miele-Fahrrad auf, das an einen Laternenpfahl gekettet war, schwang sich in den Sattel und glitt vom Gelände, den giftigen Blick der Prüferin in seinem Rücken.

 

Peter Erwin Lüttger stieg aus seinem E-Klasse-Mercedes und nahm den Aktenkoffer vom Rücksitz. Dann warf er beide Türen zu und drückte auf den Schlüssel. Es zwitscherte, das Auto blinzelte zweimal mit den Blinkern, und der Wagen verriegelte sich automatisch. Eben hatte er ihn noch durch die Waschanlage gefahren, und er glänzte wie neu. Das erfüllte ihn mit Zufriedenheit, die allerdings durch die Erkenntnis getrübt war, ein Spießer zu sein. Egal, sagte er sich, wie beinahe jeden Abend an derselben Stelle: dann bin ich eben ein Spießer. Hauptsache glücklich. Er ging vorbei an Karls Miele-Fahrrad, das an der Hauswand lehnte, zur Eingangstür seines großen, bereits zu zwei Dritteln abbezahlten Einfamilienhauses, schloss sie auf und kiekste spielerisch in die Diele:

«Huhu!»

Ein lahmes «Huhu!» antwortete aus dem Wohnzimmer, wo der Fernseher lief: «Explosiv». Frau Eligmann echauffierte sich über ein von Kampfhunden zerfleischtes Kind, und Lüttgers Frau Cora lümmelte im Ledersessel davor und schlürfte eine selbst gemixte Pina Colada. Diese Vorliebe, den Alltag mit exotischen Mixgetränken zu würzen, deren Alkoholgehalt von der jeweiligen Stimmungslage abhing, stand in einem gewissen Gegensatz zu den verschiedenen Brigitte-Diäten, die sie schon beinahe hobbymäßig in Angriff nahm. Peter Erwin Lüttger sah das Ganze mit Humor. Wenn es sich einrichten ließ, pflegte er außer Haus zu speisen, und er mochte Coras notorische Pummeligkeit. Sie war nach wie vor für Überraschungen gut und hatte sich durch zwanzig Jahre Hausfrauendasein in ihrem Erlebnishunger und ihrem sporadischen Hang zur Faulheit nicht zermürben lassen. Auch wenn sie ihren Hintern zu dick fand, hieß das nicht, dass sie sich in der Sauna oder im Freibad dafür schämte, und das rechnete er ihr hoch an.

Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange, den sie nicht erwiderte, was so viel bedeuten mochte wie: dicke Luft im Hause Lüttger. Da war also etwas zu besprechen. Etwas Privates, Familieninternes. Lüttger konnte solche Besprechungen nicht leiden. Sie endeten meistens auf die gleiche Art: ihm gingen die Argumente aus. Oder aber er hielt sich mit seiner wirklichen Sicht der Dinge zurück, weil die Besprechung sonst in offenen Streit ausarten würde, mit Sätzen wie: «Das ist mir aber neu», «Gestern hast du noch genau das Gegenteil gesagt» oder «Werd jetzt nicht unsachlich». In letzter Zeit drehte es sich bei solchen Besprechungen häufig um Karl. Über Karl zu streiten hatte nun wirklich keinen Sinn, weil sie ja eigentlich der gleichen Meinung waren: Er musste raus aus dem Haus, am besten raus aus der Stadt, sich möglichst weit weg eine Wohnung suchen, lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, solche Dinge. Karl hatte nicht einmal eine Freundin. Aber was gab es da zu diskutieren? Karl war eben, wie er war: schon immer ein Spätzünder gewesen, aber kein hoffnungsloser Fall. Wenigstens studierte er Medizin im zweiten Semester. Also stellte Lüttger seine Tasche ab und sah unschlüssig die Magazinsendung einige Minuten mit an, die Hände in den Hosentaschen, genau hinter Cora stehend. Schließlich fauchte sie:

«Jetzt setz dich schon hin, das hält ja kein Mensch aus.»

Er setzte sich, und da gerade der Werbeblock anfing, gab er sich einen Ruck, schnappte sich die Fernbedienung und schaltete ab. Ganz Mann der Tat. Es herrschte Stille.

«Also, was ist?»

Cora rülpste. «Am besten, du redest mit ihm. Er geht mir auf die Nerven.»

Lüttger nickte resigniert, klaute den Rest von ihrem klebrigen Drink, gab ihr die Fernbedienung zurück, stand auf und ging nach oben.

 

Karl lag reglos auf seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, starrte an die Decke und hörte Musik über Kopfhörer. Ein Roman lag aufgeschlagen auf seiner Brust. Das Klopfen an der Tür konnte er also gar nicht wahrnehmen. Als sein Vater eintrat, das fast leere Glas in der Hand, zuckte er leicht zusammen. Dann nahm er widerwillig den Kopfhörer ab.

Lüttger fragte knapp und erwartungsvoll: «Und?»

Karl nickte in Richtung seines Schreibtischs. Zwischen dem Chaos medizinischer und anatomischer Fachbücher, Kladden und i-Book lag der nagelneue Führerschein. Herr Lüttger nahm ihn und betrachtete ihn von allen Seiten.

«Gott sei Dank», murmelte er, «ich dachte schon, mein einziger Sohn sei bescheuert.»

«Die Prüferin fand mich sympathisch», grinste Karl.

«War sie hübsch?»

«Nein.»

Nähere Informationen waren nicht zu erwarten. Herr Lüttger sah sich um. Wie sich ein Vater im Zimmer seines Sohnes umsieht, dessen Ideale die der nächsten Generation sind und deshalb für ihn schwer durchschaubar. Mit dem Unterschied, dass andere Väter wenigstens handfeste Rätsel präsentiert bekommen. Doch die Oberfläche dieses Raumes bot nichts, woran man sich festhaken konnte. Das Zimmer war unpersönlich. Keine Poster, keine Souvenirs, keine Fotos. Weiße Wände. Auf einem Schemel ein Fernseher, Marke Samsung, auf einem zweiten Schemel daneben die Komponenten der Stereoanlage, beiläufig übereinander gestapelt. Dahinter staubiges Kabelgewirr. In den Regalen der eine oder andere Bestseller sowie Büchergilde-Ausgaben der deutschen Klassiker. Ob Karl sie je gelesen hatte, war nicht auszumachen. Da war nichts, was auf einen besonderen Geschmack hinwies, ein Erlebnis oder eine Erfahrung. Die Möbel hatten er und Cora vor sieben Jahren bei Ikea gekauft, konnten also schwerlich dazu beitragen, den Nebel zu lichten. Da war das Buch auf Karls Brust: einer dieser neumodischen französischen Autoren. Lüttger dachte sich, dass er das auch mal lesen müsste: ob sich da vielleicht eine Welt erschließt?

 

Das Fenster war offen. Ein Auto fuhr vorbei. Das Geräusch holte Lüttger aus seinen Gedanken, und er zog einen Briefumschlag aus der Tasche. Er legte ihn mit dem Führerschein auf den Schreibtisch. Karl sah ihn fragend an.

Lüttger sagte etwas zu jovial: «Nicht vor zwölf öffnen.»

Karl nickte und lächelte matt. Er setzte sich seinen Kopfhörer wieder auf, legte das Buch weg und schloss die Augen. Auch eine Art, jemanden rauszuekeln, dachte sich Lüttger und ging. Es war definitiv zu spät, seinem Sohn eine zu scheuern. Zehn, fünfzehn Jahre zu spät.

 

Karl lauschte. Es war eine alte Platte, relativ alt jedenfalls, von Ian Pooley. Elektronische Mantras, gefällig und exakt so bedeutungsschwanger, wie der jeweilige Hörer sie haben wollte. Doch da störte etwas. Ein kühler Luftzug von einer unangenehmen, feuchten Klammheit. Unwillkürlich drängte sich ihm eine Konnotation auf: Camping im November. Er öffnete die Augen. Das Fenster war offen, natürlich. Die letzten Reste des Abendrots färbten den Himmel hinter den halbstarken Kastanien, die nur wenig älter waren als das Viertel. Die Kindheit quasi in Baumschulen vertrödelt. Es leuchteten bereits ein paar vorwitzige Sterne. Alles normal. Dennoch spürte Karl eine Unruhe, einen störenden Drang, den Kopfhörer abzusetzen, aufzustehen und durchs Fenster nach draußen zu sehen. Nicht auf die Straße. Sondern nach oben. Da war nichts außer den üblichen schrill fiependen Mauerseglern. Er lehnte sich hinaus, spähte hinauf zum Dachfirst.

Nichts.

Unten: Nur die ruhige Vorstadt. Einfamilienhäuser, Oberklassewagen am Straßenrand, Bäume, in denen der Wind sachte rauschte, keckernde Rufe spielender Kinder von irgendwo her.

Karl wollte gerade das Fenster schließen, da entdeckte er auf dem schmalen Fensterbrett eine große weiße Flaumfeder. Er nahm sie mit spitzen Fingern, bevor der nächste Windhauch sie forttragen konnte, hielt sie ins Licht und betrachtete sie. Das Gefühl der Unruhe verschwand so unvermittelt, wie es gekommen war.

Er schnippte die Daune zurück ins Zwielicht, schloss das Fenster und schaltete den Fernseher ein.

 

Ein bisschen Zeit musste er noch totschlagen. Karl setzte den Kopfhörer wieder auf und guckte, ob der Rhythmus der stummen TV-Bilder mit dem der Musik in irgendeinen Einklang zu bringen war. Er zappte sich durch das Angebot, bis sich etwas ergab: etwa eine Schnittfolge in exakt den 120 Beats per Minute der Ian-Pooley-Musik, einige Sekunden lang womöglich, oder eine optische Anmutung, die dem Charakter der Musik entsprach, ein zufälliges Stück Film zur Filmmusik, oder Mundbewegungen von Talkgästen, die witzigerweise auf die Gesangslinie passten. MTV und Viva galten nicht, das wäre zu einfach. So verschaffte er sich ein paar fade Erfolgserlebnisse, bis die Platte zu Ende war, und schaltete dann per Fernbedienung auf TV-Ton um. Er nahm den Kopfhörer ab, um sicherzugehen, dass der Ton auch wirklich nicht über die Boxen lief, und ärgerte sich sogleich über sich selbst: warum dieses Misstrauen in die Technik, in tausendfach erprobte Handgriffe, die eigene Routine? Die Paranoia gehörte zum Ritual: jeden Abend dieselbe Sorgfalt darauf verwandt, seinen Eltern sein Tun, seine Fernseh- und Musikvorlieben, sein ganzes Leben vorzuenthalten. Irgendwie restpubertär: das Abtrotzen einer Privatsphäre, eines eigenständigen Lebens, so erstarrt es auch sein mochte. Er hatte Träume von etwas anderem, ohne das andere genauer beschreiben zu können. Da draußen gab es Jungs und Mädchen, die waren fünf Jahre jünger als er und standen bereits auf eigenen Füßen, folgten einer Eingebung, erfüllten sich ein Bedürfnis nach dem anderen, benutzten die Welt als ihre Spielwiese, legten sich aus Launen oder purer Abenteuerlust auf Richtungen fest, ohne genau wissen zu müssen, wohin die gewählten Wege führen mochten. Karl wusste auch ganz genau, warum das so war: Ihr Leidensdruck war größer als der seinige. Wenn er seinen Eltern etwas vorwerfen konnte, dann die Tatsache, dass sie ihn in Watte gebettet hatten, in vorstadtweiche Mittelschichtwatte, und sei es durch die Kombination der Gene, aus denen er bestand. Diese Gene versicherten ihm: Was du zum Überleben brauchst, hast du bereits, und der Rest fällt dir zu. Diese Gene befahlen ihm: Nimm den Weg des geringsten Widerstandes. Erspar dir jegliches Leid, es würde dich ohne Not überfordern und du würdest platzen wie ein Laubfrosch unter Starkstrom. Was du auch immer ersehnst: suche es in dir selbst und nicht da draußen.

 

So wartete Karl auf seinen 22. Geburtstag. Er wartete auf ihn wie auf jeden anderen Tag, mit einer gewissen neutralen Erwartung, doch ohne Vorsätze oder Pläne. Er würde heute Nacht gut schlafen, wie jede Nacht. Der vergangene Tag hatte ihm nichts mitgegeben, was er verarbeiten oder rekapitulieren müsste, und der kommende Tag würde nichts bringen, wovor er Angst haben müsste oder worauf er sich freuen könnte. Auf Pro Sieben begann der zweite Film des Abends, hohle Billigaction mit Michael Dudikoff, einem Schauspieler, der wohl extra für Pro Sieben erfunden worden war. Es war der richtige Film auf dem richtigen Sender. Noch bestand die Mixtur der Eindrücke aus Dudikoff, Adidas, Allianz und Snickers. Karls Lider wurden schwer, und ihn fröstelte. Er zog Hose und T-Shirt aus, dimmte das Licht herunter und kuschelte sich in die leichte, sommerliche Steppdecke, die erst heute von seiner Mutter frisch bezogen worden war und nach Waschmittel duftete. Vorstadtwatte. Er schloss die Augen. Synchronstimmen und synthetische Orchestermusik waberten nebelartig durch seinen Kopf. Doch einschlafen wollte er nicht. Er wartete, stemmte sich gegen den Schlaf, genoss seinen Dämmerzustand und die wachsende Wärme des Bettzeugs. Gegen zwanzig nach elf schreckte er hoch, weil er eine Frau gehört hatte, die sich als versautes Luder anpries. Sofort war er hellwach und rieb sich die Augen, um wieder klar zu sehen. Der Kopfhörer war verrutscht. Er rückte ihn gerade und guckte. Keine dicken Titten interessierten ihn, keine erfahrenen Sekretärinnen, keine Lederbraut mit knallender Peitsche, kein Schaum in der Badewanne. Er wartete auf dieses eine Mädchen.

 

Fünf Sekunden erschien sie im Bild, zusammen mit einer 0190-Nummer. Sie kniete auf einem Futonbett, wiegte ihren ausgestreckten Hintern hin und her und guckte direkt in die Kamera. Sie trug nichts weiter als einen schneeweißen Schlüpfer. Ihre blassen Brüste baumelten im Takt ihrer Bewegungen, nicht besonders groß, aber auch nicht gerade klein. Sie hatten sozusagen ein Eigengewicht, das sich der Schwerkraft auf anmutige Weise hingab. Die braunen Brustwarzen hatten große Höfe. Das Mädchen war nicht gerade wunderschön, wahrscheinlich auch nicht mehr so blutjung, wie es der lasziv bis gelangweilt klingende Offtext weismachen wollte: Blutjunge Mäuschen profitieren von deiner Erfahrung. Ruf an. Ihre langen braunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Das Gesicht lag frei, mit den leicht abstehenden Ohren, der knolligen Himmelfahrtsnase und den großen, etwas zu nah beieinander liegenden Augen, blassblauen Augen, die so hilflos, nach Hilfe rufend in die Kamera blickten, dass es Karls Herz in Aufruhr versetzte. Dieses Mädchen war von dieser Welt und hatte dort überhaupt nichts zu suchen. Es musste sich verirrt haben.

 

So unvermittelt sich dieses Fenster der Unschuld auftat, so brutal schloss es sich wieder zugunsten einer dummen Kuh, die sich in der Badewanne verrenkte und mit dem Zeigefinger lockte. Karl starrte noch minutenlang auf den Schirm, denn manchmal wiederholten sie die Spots im selben Block. Reminder nannte man das, und er wollte remindet werden, oh ja, noch einmal bitte. Schon kam der Trailer zum morgigen Spielfilm-Highlight, und alles war vorbei, auch die Hoffnung. Karl setzte den Kopfhörer ab und schloss die Augen. Melancholie und Sehnsucht hatten ihn übermannt, die er sich noch eine Weile erhalten wollte. Gott ja, es war eine Illusion, eine billige dazu, doch er musste sich vor niemandem rechtfertigen. Dieses Mädchen zu trösten war alles, was er wollte, vom Leben erwartete. Sie wollte er erretten, ihren Hilferuf erhören. Er hoffte, dass er der Einzige wäre in diesem Land, den dieser Hilferuf erreichte, wie viele andere sie auch gesehen haben mochten. Er allein verstand die Botschaft, er allein war ihre letzte Rettung, und sie allein war die seine. Die anderen mochten eine 0190-Nummer anrufen, er aber wollte sie in den Arm nehmen, sie streicheln, ihr die Tränen wegküssen von den eng beieinander liegenden Augen und ihr zuflüstern: Alles wird gut. Ich bin bei dir. Vertraue mir. Vertraue mir grenzenlos, und ich werde dir die Welt zu Füßen legen, heute Abend, wie schon an einem Dutzend Sommerabenden zuvor. Nur langsam löste sich die Vorstellung in Nebel auf, wurde von der Realität gefressen, der Realität eines Traumes in einem frisch bezogenen Bett in einem Jugendzimmer in einem Einfamilienhaus am Rande der Stadt, der Realität eines fast 22-Jährigen, der noch nie irgendeiner Frau, ja irgendeinem Menschen jemals helfen konnte. Er sah sich selbst in diesem Bett liegen, die Augen geschlossen, doch die zugepressten Lider konnten die Tränen nicht zurückhalten, die er um seiner selbst willen vergoss. Er selbst wollte gerettet werden. Er setzte die Kopfhörer ab, und es war still. Seine Eltern waren längst zu Bett. Das melancholische Gefühl verflüchtigte sich. Endlich.

 

Als Karl die Augen geöffnet und mit der Bettdecke sein Gesicht von unangenehmer Schweissnässe befreit hatte, überprüfte Dudikoff, zum Handeln fest entschlossen, soeben sein Waffenarsenal. Karl zappte sich durch zu Eurosport, weil dort die Wahrscheinlichkeit, sie wiederzusehen, am größten war. Eine Viertelstunde sah er so genannten Monstertrucks zu, deren Reifen irgendwie an silikonfette Titten erinnerten, wie sie in einer Halle über hintereinander gestapelte Autowracks kletterten. Das Publikum in der Halle johlte. Eine Jury vergab Noten. Einmal, ein einziges Mal noch wollte er sie sehen. Für fünf Sekunden. Er überlegte, ob er den Videorekorder mitlaufen lassen sollte. Dann könnte er ein Band schneiden, immer wieder diese fünf Sekunden hintereinander, stundenlang. Doch das würde ihn seiner Sehnsucht berauben. Er würde sich an sie gewöhnen. Im nächsten Werbeblock war sie nicht mehr dabei. Er onanierte, um auf andere Gedanken zu kommen und endlich einschlafen zu können.

4

In dieser Nacht fuhr ein roter Mazda MX-6 die Ausfallstraße in Richtung der nordöstlichen Industriebrachen entlang, ein altes Sportcoupé, das noch aus der Zeit stammte, als die Japaner selbstbewusst geworden waren. Dieses Exemplar hatte gefälschte Nummernschilder. War also ein Geschäftswagen für besondere Zwecke. Ronald Herzfeld steuerte den Wagen, wie aus dem Ei gepellt, in feinstem britischem Tuch, leichte Sommerqualität, in unauffälligem Grau. Dazu ein weißes Button-Down-Hemd und eine Krawatte aus blauer Seide mit feinen Nadelstreifen. Der Mann auf dem Beifahrersitz hieß René Herzfeld. Er war in vielerlei Hinsicht das krasse Gegenstück zu seinem älteren Bruder. Er hatte einen Lockenkopf, hinten lang nach Landjugendmode, und trug einen gepflegten, doch zu lichten Oberlippenbart. Seine Bemühungen, den souveränen Stil seines Bruders zu kopieren und mit eigenen Geschmacksnoten in Einklang zu bringen, führte zu einer Vorliebe für silbrig schimmernde Anzüge, die andererseits recht gut zu seiner stählernen Rolex mit Diamantbesatz passten, die er jede halbe Minute theatralisch betrachtete. Überhaupt war René ein nervöser Mensch, ständig hibbelig und fahrig. Jeden Tag warf er mindestens ein Weinglas um, mindestens alle zwei Tage trat er mit seinen Nappalederslippern in Hundekot. Ronald, der sich viel mit alternativen Heilmethoden beschäftigte, seit er mit traditioneller chinesischer Medizin seine Schuppenflechte unter Kontrolle gebracht hatte, mutmaßte, dass mit Renés Hormonen etwas nicht in Ordnung war, und hatte für ihn einen Termin bei seinem Heilpraktiker arrangiert – sehr zu Renés Verdruss, denn er hielt nichts von esoterischen Quacksalbern, die sich anmaßten, an seiner Persönlichkeit herumzupfuschen. René steckte sich eine frische Marlboro an und schnaubte den Rauch gegen die Frontscheibe.

«Ich mag den Kerl nicht.»

«Er heiratet deine Schwester, er ist reich, er ist solide. Ob du ihn magst, interessiert niemanden.»

«Hast du seine Uhr gesehen? Total billig!”

«Immer noch teurer als dein Anzug.»

René rückte beleidigt seinen Schlips zurecht (eine Leihgabe seines Bruders, der diesen Schritt längst zutiefst bedauerte, denn es befand sich bereits ein Kaffeefleck darauf) und sah auf die Uhr.

«Und wann soll ich schlafen?», murrte er.

«Dazu hast du noch genug Zeit», entgegnete Ronald und bog nach links ab. Die Scheinwerfer streiften einen weißen Wegweiser mit der Aufschrift «Mülldeponie Nordost». Man konnte schon Möwen kreischen hören, obwohl es finstere Nacht war.

 

Eine Landschaft aus Müll. Eine Planierraupe stand verlassen auf einer Anhöhe. Im Hintergrund die Lichter der Stadt, an der Seite der Müllberg, aus dem im Fünfzig-Meter-Abstand lodernde Methangasfackeln ragten, von Möwen umtobt. Die Scheinwerfer des MX-6 erleuchteten ein Verbotsschild, das lose am mannshohen Maschendrahtzaun klapperte: «Betreten für Unbefugte verboten. Eltern haften für ihre Kinder.» Das Schild war mit roter Sprühfarbe Z-förmig durchgestrichen. Man hätte es für ein phantasieloses Sprayer-Tag halten können. Nichts Außergewöhliches, eben wie von einem aufmüpfigen Nichtsnutz verunstaltet.

«Hier.»

René verzog das Gesicht. «Gott, wie das stinkt. Das setzt sich bestimmt fest. Das bleibt hängen. Kann die Klamotten gleich in die Reinigung geben.»

Ronald zog es vor, nichts zu erwidern. Er stieg aus dem Wagen, und René tat es ihm widerwillig gleich. Ronald streifte sich Arbeitshandschuhe über, zückte eine große Photonenpumpe und begann, um sich leuchtend durch den Müll zu waten. René öffnete den Kofferraum. Eine kreischende Möwe segelte ganz nah an ihm vorbei, als wolle sie ihr Revier gegen die Eindringlinge verteidigen.

«Blödes Viech, blödes!»

«Schrei nicht so», wies Ronald ihn zurecht.

«Und wenn die mich vollkackt? Ach, Scheiße. Ich freu mich schon auf ’ne heiße Dusche.»

Ronald hörte gar nicht hin. Einige Minuten suchten sie wortlos die nächste Umgebung des Schildes ab. Plötzlich blieb Ronald stehen.

«Na also.»

Der Lichtkegel erfasste einen dicken, blauen Kunststoffsack. Das rote Z war gut sichtbar. René kam herbei, stolperte, strauchelte und fiel auf die Knie in den Müll.

«Scheiße! Ich hab’s ja gesagt! Der Anzug kann in die Reinigung!»

«Papa kauft dir einen neuen. Mit Applikationen, straffen Bündchen und allem. Fass mal mit an.»

«Ist er noch heile?»

«Natürlich.»

Sie packten den Sack von beiden Seiten und hoben ihn hoch.

«Schwer», sagte René.

«Ja», sagte Ronald.

Sie trugen ihn die sechs oder sieben Meter zurück zum Wagen und ließen ihn in den Kofferraum fallen. Beide zuckten unwillkürlich zusammen, als sie diese scharfe, humorlose Stimme hörten.

«Darf ich fragen, was Sie da machen?»

Ronald und René sahen auf. Hinter ihnen, mitten auf dem Zufahrtsweg, stand ein Mann in speckigen Jeans und signaloranger Arbeitsjacke und blendete sie mit seiner übertrieben großen Taschenlampe. Der Mann machte wohl Überstunden, anders war das nicht zu erklären. Er sollte nicht hier sein. Niemand sollte jetzt hier sein. Ronald seufzte. René, der immer nach der Devise handelte, dass Angriff die beste Verteidigung sei, fragte aufmüpfig zurück:

«Und was machen Sie da?»

Der Mann dachte gar nicht daran, darauf zu antworten, und fragte unbeirrt: «Haben Sie das Schloss geknackt da vorne am Gatter?»

Eine gute Frage. Eine bedeutsame Frage. René sah seinen Bruder unsicher an.

Ronald merkte, dass dieser Mann hier in seinem Element war. Er war zuständig und fühlte sich wichtig wie sonst selten. Er würde sich nicht einfach zuquatschen oder einschüchtern lassen.

«Ja», sagte Ronald mit genau akzentuierter Demut in der Stimme, «verzeihen Sie. Wir werden das Schloss natürlich ersetzen. An was hatten Sie denn dabei gedacht?»

Der Mann glotzte ihn voll Misstrauen an: «Wie, dabei gedacht?»

Ronald blieb geduldig. «Was dürfte ein solches Schloss denn wert sein, in Ihren Augen?»

Der Mann hörte gar nicht auf zu glotzen. Er war offensichtlich ein bisschen dumm, und das Ganze schien ihm Spaß zu machen. Autorität zeigen.

«Scheiß auf das blöde Schloss! Können Sie sich ausweisen?»

Ronald merkte, dass hier kein Weiterkommen war. Das Spielchen könnte jetzt noch minutenlang so weitergehen, und herauskommen würde doch nur Halbgares. Er fasste also einen Entschluss, denn es stand viel auf dem Spiel.

«Theoretisch schon. Aber wir würden das lieber nicht tun. Wir sind nämlich kriminell. Sehr kriminell.»

René blieb der Mund offen stehen. Der Mann wollte darauf antworten, doch seine Taschenlampe funktionierte recht gut, und ihm entging nicht das kalte Schimmern in Ronalds starrem Blick. Ronald konnte an seinem Mienenspiel gut beobachten, wie er begann, die Situation in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Der Mann schluckte und räusperte sich dann.

«Ich hab nichts gesehen, okay?»

Dummerweise starrte er dabei direkt auf das Nummernschild des Mazda.

Ronald antwortete nicht und rührte sich nicht. René sah belustigt zwischen seinem Bruder und dem Mann in der orangefarbenen Jacke hin und her, der begann, in Erkenntnis seiner brandgefährlichen Situation unsicher rückwärts zu gehen. Langsam, als sei er gelähmt, wie in einem Albtraum. Ronald indes nahm seine .44er Magnum aus dem Gürtel, fingerte einen Schalldämpfer aus der Jacketttasche und schraubte ihn auf.

«Ich hasse das», murmelte er.

René konnte nicht recht glauben, was er da sah. Er war sich erst nicht sicher, ob sein Bruder dem Kerl nur einen Schrecken einjagen wollte, aber für solche Scherze war Ronald eigentlich nicht zu haben.

«He, he, he», sagte er beschwichtigend und etwas verwirrt, als der Mann in der orangefarbenen Jacke sich umdrehte und Fersengeld gab.

Er kam nur zehn Schritte weit. Ronald lud die Waffe fertig, zielte sorgfältig und schoss ihm in den Rücken. Es machte nur «plopp». Der Mann wirbelte herum und fiel weich in einen Haufen vergammelter, von scharfen Schnäbeln aufgehackter Müllsäcke. Die Möwen kreischten. Im Funzelrot der Rücklichter sah René, wie sein rechter Arm epileptisch zuckte.

«Der lebt ja noch!», rief René. «Der ist ja gar nicht tot!»

Warum er das sagte, warum er überhaupt etwas sagte, war ihm nicht eigentlich klar.

«Moment», sagte Ronald und stakste auf den Mann in der orangefarbenen Jacke zu, sehr vorsichtig, ob aus Widerwillen oder nur, um seine Schuhe nicht zu ruinieren, konnte René nicht erkennen. Ronald sah auf den Sterbenden herab und seufzte:

«Scheiße.»

Etwa so, wie man eine überfahrene Katze kommentiert. Er schoss ihm noch zweimal in den Kopf. Plopp, plopp. Dann schraubte er den Schalldämpfer wieder ab und sagte zu René:

«Hol doch mal bitte den Klappspaten.»

 

Blut rauschte in Renés Ohren, und Adrenalin schoss in Sturzbächen durch seine Adern. Er hatte noch nie gesehen, wie jemand stirbt. Er hatte nie gedacht, dass sein Bruder zu so etwas fähig sein könnte. Das Image der Gefährlichkeit zu pflegen war etwas anderes als gefährlich zu sein. Das wurde ihm schlagartig klar. Auf seiner Anzughose breitete sich ein nasser Fleck aus: Erst jetzt begann er, den Schließmuskel zu kontrahieren, oh Gott, oh Gott. René Herzfeld wurde gerade erwachsen. Wie ihm schien, direkt aus dem unbeschwerten Dasein eines Kleinkinds heraus. Jetzt würde sich alles ändern. Jetzt war er ein anderer Mensch, einer, der er nicht sein wollte. Mit diesem Teil des Geschäfts wollte er nichts zu tun haben. Er wollte seine Unschuld behalten, festhalten, behüten, mit Klauen und Zähnen verteidigen, aber sie war in tausend kleine scharfe Splitter zerplatzt und würde nie mehr heil werden. Eine Suppe überhitzter Gefühle kochte auf und verdichtete sich zur traurigen, dumpfen Wut. Wut auf Ronald. Wut darüber, ihm so etwas anzutun. Wut über die Schlucht, die sich gerade zwischen ihnen auftat. René fühlte sich wie ein kleiner behüteter Hosenscheißer, der erkennt, dass er bislang gar nichts kapiert hat, und nun geschockt ist über die Schlechtigkeit der Welt. Ein Kind, das noch nie dazugehört hat, das die unendliche Schmach der Erkenntnis überforderte, das sich gerade in die Hosen gepisst hat, während der geliebte, bewunderte, gerechte große Bruder einfach mal eben einen Frosch zertreten hat. Er war der einsamste Mensch auf der ganzen Welt. Er zitterte, und das war ihm peinlich. Er schluchzte laut auf vor Einsamkeit, die Tränen rollten ihm über das Gesicht. Eine durch und durch peinliche Angelegenheit, nicht wieder gutzumachen, unmöglich unter den Teppich zu kehren.

«Er ist unter dem Sack.»

«Was!?»

«Der Spaten. Unter dem blauen Sack.»

René wollte funktionieren, dazugehören, stolperte mechanisch zum Wagen, wuchtete den Sack auf die Kante, rutschte ab, riss sich einen Fingernagel ein, sagte «Aua» und bereute es im selben Moment, wühlte den Klappspaten heraus, noch nie benutzt, grün lackiert und eigentlich zu klein für den anstehenden Zweck; er klemmte unter dem Sack, René zerrte am Stiel, der Widerstand gab nach, und er taumelte mit dem blöden Spaten in den Fäusten rückwärts, stolperte und landete mit dem Gesäß im Müll, rappelte sich hoch, während Ronald die Leiche von den Müllsäcken herunterzog. Es war erniedrigend.

«So eine Scheiße, Mann. So eine blöde Scheiße. So eine blöde, verdammte Megascheiße, Mann.»

«Sei still und hilf mir, na los.»

Ronalds Tonfall beinhaltete ein joviales Schulterklopfen, und René hatte gute Lust, ihn mit dem Spaten niederzustrecken. Einen Moment lang sahen sie sich fremd in die Augen. Ronald erkannte, dass er keine Hilfe erwarten konnte, und streckte den Arm aus. René drückte ihm den Spaten in die Hand und sah starr und verstört zu, wie sein Bruder begann, Unrat über den Körper zu häufen.

«Was soll denn der Blödsinn, die finden ihn ja doch.»

«Natürlich finden sie ihn. Weil sie nach ihm suchen werden. Aber sie müssen ihn ja nicht unbedingt gleich morgen früh finden.»

Ronald erwartete nicht, dass René ihm zur Hand ginge. Er wäre schon zufrieden gewesen, wenn er ruhig bliebe. Das tat er nicht. Er begann zu flennen und sich zu entschuldigen, und zu allem Überfluss kriegte er auch noch einen Schluckauf. Hicksend trat er von einem Bein aufs andere. Ein Häufchen Elend. Doch plötzlich wurde er ruhig. So plötzlich, dass Ronald aufsah. Sein Bruder stand vor dem Auto und starrte mit offenem Mund hinauf zu den Methanfackeln.

«Ist was?», fragte Ronald misstrauisch.

«Hast du das denn nicht gehört?», röchelte René.

«Was?»

«Flügel.»

«Was für Flügel?»

René antwortete nicht. Er starrte auf den Mann im weißen Gewand, der auf halber Höhe des Müllbergs stand, umgeben von in Windböen fauchenden Fackeln, mit mächtigen Flügeln, die er gerade einklappte. Als Silhouette zeichnete er sich vor dem flackernden Gegenlicht ab; das Gesicht war nicht zu erkennen. Und dennoch spürte René, dass diese Gestalt ihn ansah, aus toten Augen. Kälte kroch aus Renés Magengegend in alle Richtungen, schneidend wie gestoßenes Eis. Er begann zu zittern, trotz der schwülwarmen, mülldunstigen Nachtluft.

«Da ist ein Engel.»

Ronald stand mit seinem Spaten über der halb mit Abfall bedeckten Leiche und beobachtete seinen Bruder. René sah aus, als würden ihm jeden Moment die Beine wegknicken. Noch immer stierte er auf den Müllberg.

«René? Ist dir schwindlig?», fragte Ronald scharf.

René hörte ihn nicht. Er sah, wie der Engel seinen rechten Arm hob und mit runzeligen, altersfleckigen Fingern auf ihn zeigte. Gleichsam nach ihm griff.

«Da ist ein Engel», wiederholte er, «und der zeigt auf mich. Warum zeigt der auf mich?»

Ronald blickte angestrengt über die ganze Anhöhe. Dort fackelte Methan, und Möwen kreischten aus dem Dunkel. Eine der Gewissheiten, die er sich im Laufe seines Lebens angeeignet hatte, war, dass es Engel nicht gab. Für Botschaften war die Post zuständig, für Rache die Wut, für Gesang das Radio und für körperliche Unversehrtheit die planvolle Vorsicht.

«Da ist kein Engel», sagte er schließlich.

René schien wieder zu sich zu kommen. «Eben gerade war er noch da.» Seine Stimme bebte, und er hatte Mühe, seine klappernden Zähne unter Kontrolle zu bringen.

Ronald wurde ungeduldig. «Hast du wieder was geraucht?»

René kreischte beinahe: «Da war ein Engel, Mann!»

Die Knie wurden ihm weich, und er sackte zusammen. Ronald stieg über den Toten, packte seinen Bruder an den Schultern und zog ihn mühsam hoch.

«Bitte», sagte er, «sieh mich an.»

Renés Augen waren geschlossen. Tränen quollen unter den Wimpern hervor. Er hatte lange Wimpern, wie ein Mädchen.

«Du sollst mich ansehen!»

Ronald brüllte fast. René öffnete die Augen. Sein Blick sagte: Hilf mir. Ronald konnte ihm nicht helfen. Solch ein Verhalten war ihm fremd, er konnte mit so etwas nicht umgehen. Auch nicht, wenn es sein Bruder war. Das war nicht der Bruder, den er kannte. Er drückte ihn an seine Schulter, und René weinte bitteren Rotz auf den Sommeranzug.

«Ich musste es tun. Ich kenne die Menschen. Dieser Mann wäre uns sehr, sehr gefährlich geworden. Verstehst du das?»

René nickte zitternd.

«Ich hätte uns beiden das gerne erspart. Es tut mir Leid, und es tut mir weh. He, Bruder. Jetzt mach mal halblang.»

Es klang nicht sehr überzeugend.

René beruhigte sich trotzdem. Verkrampft nickte er. So liebevoll, wie er nur irgend konnte, sah Ronald ihn an. Doch René stieß ihn von sich wie einen aufdringlichen Säufer, wandte sich ab und murmelte:

«Ich werde sterben. Das ist doch klar, ich soll draufgehen!»

Ronald war irritiert. Drehte sein Bruder jetzt völlig durch? Er breitete die Arme aus, ging einen Schritt auf René zu, doch der hob abwehrend die Hand. Ronald blieb stehen.

«Da war kein Engel, und du wirst nicht sterben.»

«Und der da?»

René zeigte mit dem Finger auf die Beine, die unter dem aufgehäuften Matsch aus Müll und faulendem Kompost hervorschauten. Ronald wusste, dass er René verloren hatte. Nichts würde mehr so sein, wie es war. Seine Rolle als großer Bruder war vorbei. Was blieb, war die Familienpflicht. Etwas so viel Beschworenes wie Zerbrechliches.

 

Sie hatten die ganze Fahrt über kein Wort gesprochen.

Das Grau des morgendlichen Horizonts war bereits von einem roten Unterton infiziert, wie eine Herdplatte, die jemand abzustellen vergessen hatte: Ein heißer Tag kündigte sich an. Noch war nichts davon zu spüren. Die Thermometer waren auf angenehme 17 Grad gesunken, doch kühler würde es nicht werden. In der Werkstatt der Firma Herzfeld Exclusive Automobile GmbH, die in einer Ansammlung eilig hochgepfuschter Betonbaracken aus den 1980ern samt einem asphaltierten, wimpelgeschmückten Vorplatz residierte, schraubte René mit zitternden Fingern die falschen Nummernschilder vom Mazda. Nichtstun pflegte ihn am Denken zu hindern, und so flüchtete er sich in die Routine. Er setzte die Waschbürste auf den Schlauch, drehte den Wasserhahn an der Rückwand der Werkstatt auf und begann, den Wagen zu reinigen. Ronald nahm sich inzwischen die Kennzeichen und warf sie in den Müllcontainer.

«Vergiss nicht, den Sack in Papas Büro zu bringen. Mach ihn nicht auf. Bring ihn einfach nur in Papas Büro.»

«Kümmer dich um deinen eigenen Kram.»

René hatte es noch nie leiden können, jeden Schritt seines Tuns und Denkens von Ronald vorgekaut zu bekommen. Das Recht dazu hatte sein Bruder vor einer knappen Stunde verwirkt.

«Zieh dir was anderes an», sagte Ronald unbeirrt. «Deine Schwester heiratet heute. Wir müssen Papa abholen.»

René funkelte ihn hasserfüllt an. Dieser Blick tat Ronald weh. Er wollte, dass René ihn verstand, aber er wusste natürlich, dass das unmöglich war. René war ein Mann des Herzens. Was er tat, war von seinen Gefühlen geprägt. Wer ihn steuern wollte, musste seine Gefühle beeinflussen. Er hingegen war schon immer seinem Verstand verpflichtet gewesen. Der hatte ihm gesagt, diesen Mann zu töten, also hatte er es getan. Ärger würde es sowieso geben, aber auf diese Weise hatte er sich für das kleinere Übel entschieden und damit auch René einen Gefallen getan. Es war für die Familie. Es war logisch.

Aber was auch immer Ronald sagen würde: René war kein Mann für solche Argumente. In diesem Fall war es am besten, ihm zu signalisieren, dass er Recht hatte. Ronald senkte also den Blick, sagte gar nichts, drehte sich um, ging hinaus und drückte auf den Knopf, um das Rolltor zu schließen.

 

Es wurde still in der Werkstatt, nachdem das Rolltor auf den Boden aufschlug und das knirschende Geräusch der zusammenfahrenden Lamellen zwischen den Betonwänden der Werkstatt verhallte. René fing an zu weinen. Er schmiss den Schlauch in die Ecke und schleppte sich schluchzend durch die Zwischentür ins Büro. Die Tür zum Duschraum war offen. Er drehte den Hahn auf und die Temperatur heiß. Dann zog er seine voll gepissten Kleider aus. Unter der Dusche konnte er seiner verlorenen Unschuld nachheulen, so viel und so lange er wollte. Alleine und ungestört.

Nach einer knappen halben Stunde öffnete sich die Tür, und ein sehr schwuchtelig wirkender, kleiner, dürrer Mittvierziger im Anzug schaute herein: Dr. Klöbner. Natürlich war Dr. Klöbner kein Akademiker, er hieß nicht einmal Klöbner, sondern Erwin Schalk. Es war nur sein Spitzname. Dr. Klöbner war stockschwul und wahrscheinlich der beste Autoverkäufer der nördlichen Hemisphäre. Er stand jeden Morgen um sechs auf der Matte und öffnete den Laden um halb acht, obwohl das niemand von ihm verlangte. Es war wohl seine Methode, zu verdrängen, dass er nach Jahrzehnten erfolgloser Suche noch immer Junggeselle war, der nicht einmal ein anständiges Hobby hatte. An den Wochenenden mochte er wohl der einsamste Mensch in der ganzen Stadt sein. Jetzt steckte er seinen quadratischen Schädel in den dampfenden Raum und rief:

«Wer ist denn da, um diese Zeit?»

«Lass mich in Ruhe, Mann!»

«Ach, René, du bist’s! Um die Zeit schon so gelaunt! Soll ich dir einen Kaffee bringen?»

«Ich dusche gerade, du Blödmann! Lass mich einfach in Ruhe!»

Dr. Klöbner zog beleidigt eine Grimasse und ging wieder, um auf dem Firmencomputer bei Kaffee und Zigaretten in Rekordzeit virtuelle Minen zu suchen.

5

«Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, lieber Ka-harl, happy birthday to you!»

Karl schreckte hoch. Er hatte traumlos und tief geschlafen, ein Zustand, den er gerne noch zwei Stunden aufrechterhalten hätte. Seine Eltern standen in der Tür zu seinem Zimmer. Sein Vater war bereits abmarschbereit, in grauer Hose, weißem Hemd, Krawatte und brauner Nappalederjacke. Seine Mutter trug noch einen monogrammbestickten Morgenmantel um den Leib, hatte die Haare duschfertig hochgesteckt und den zu diesen Anlässen üblichen selbst gebackenen Marmorkuchen mit brennender Mikrokerze in den Händen. Ein Albtraum. Karl pellte sich aus den Federn, setzte sich gähnend auf die Bettkante und ließ sich bereitwillig von beiden umarmen. Seine Mutter stellte den Kuchen auf den Stuhl, da auf dem Schreibtisch kein Platz war. Beide traten zurück und standen erwartungsvoll da. Endlich sagte sein Vater:

«Du hast ihn ja noch gar nicht aufgemacht.»

Karl sah schlaftrunken zum Tisch, auf dem noch immer der Brief lag. Wenn er jetzt den Umschlag nahm und öffnete, bedeutete das seine Zustimmung zum Auslandsstudium. Eine Entscheidung musste her, und Karl fällte sie, als sein Blick auf den Kuchen fiel. Er brachte ächzend seinen leptosomen Körper in die Senkrechte und schlurfte in Unterhosen zum Tisch. Nahm den Umschlag, riss ihn auf und entnahm ihm einen Scheck.

«Geld», murmelte er, «wie praktisch. Danke.»

«Zweckgebunden», sagte Herr Lüttger knapp. «Nach dem Frühstück kaufen wir dir ein Auto.»

Karl verstand. Ein Machtspielchen war soeben eröffnet worden, und er war am Zug. Er blieb beim Standard.

«Ich würde es mir eigentlich gerne selbst kaufen.»

«Du hast so viel technischen Sachverstand wie ein Schäferhund. Keine Widerrede.»

Eins zu null für Papa.

«Los jetzt», sagte Frau Lüttger, «Frühstück ist fertig.»

 

René war von Ronald pünktlich abgeholt worden. Er hatte sich so weit beruhigt, dass es ihm möglich war, den dunkelsten der drei grau glänzenden Anzüge, die er immer in einem der Spinde des Waschraums hängen hatte, anzuziehen und die dreckigen Klamotten in den Müllcontainer auf dem Hof zu werfen, direkt auf die falschen Nummernschilder. Heute würde die Müllabfuhr kommen. Dann waren sie in Ronalds Privatwagen, einem Land Cruiser mit langem Radstand, Acht-Zylinder-Maschine und exklusiver Lederausstattung, zum Flughafen gefahren. Sie hatten auch während dieser Fahrt nicht gesprochen. Das heißt: Ronald hatte versucht, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, aber René hatte ihn einfach ignoriert. Jetzt standen sie im Ankunftsbereich des Terminals C und warteten schweigend auf ihren Vater, der geschäftlich in Usbekistan unterwegs gewesen war. Der Flug HY1063 war von Taschkent kommend planmäßig um 7 Uhr 55 gelandet. Die automatische Schiebetür aus satiniertem Sicherheitsglas öffnete sich, und die Passagiere ergossen sich in die Weiten der Halle. Mirko Herzfeld, ein dicklicher, kleiner Mann von knapp 60 Jahren, teuer gekleidet, mit akkurat gestutztem Schnauzbart, nach Knize Nr. 10 duftend und einen eleganten braunen Lederkoffer in der behaarten Hand, trat heraus und sah sich mit wachen Augen um. Da standen also seine beiden Söhne. Mirko betrachtete missgelaunt Renés mattsilbrig glänzenden Anzug, stellte seinen Koffer ab und ließ sich zuerst von Ronald umarmen.

«Hallo Vater.»

«Mein Sohn.»

«Hattest du Erfolg?»

Mirko nickte. «Die nächste Lieferung kommt übernächste Woche.»

Er wandte sich René zu, um sich ebenfalls von ihm rituell umarmen zu lassen.

«Hallo Vater», sagte René.

Mirko nestelte an Renés schlaffem Jackettrevers herum.

«Was ist das? Was ziehst du für eine Scheiße an?» Er wandte sich Ronald zu. «Du solltest darauf achten, was dein kleiner Bruder anzieht.»

René protestierte matt: «Der Anzug hat zwölfhundert gekostet.»

«Wo? Im Zirkus? Kommt jetzt.»

Mirko ging schnurstracks zur Rolltreppe, die zu den Tiefgaragen führte. Ronald folgte wortlos. René nahm verdrossen den Koffer. Bisher war er die Rolle als ewiger kleiner Bruder und jüngerer Sohn gewohnt. Aber jetzt fühlte er sich wie ein Praktikant, ein ahnungsloser Mitläufer von Geburt an, dem die Familie, für die er arbeitete, völlig fremd war. Er wusste instinktiv, dass sein Vater billigen würde, was letzte Nacht geschehen war. Er wusste, dass es Zeit war, zu gehen. Seine Lehrzeit war beendet; wenn er bliebe, hieße das, ewig der kleine Bruder zu sein. Die Schmach der Unwissenheit würde an ihm haften bleiben wie Pech. René war plötzlich klar geworden, wie viel er noch zu lernen hatte. Er würde heute noch einen Koffer mit dem Nötigsten packen und in die unbekannte Welt hinausgehen, um zu erfahren, wer er war, und neue Heimaterde für seine jäh herausgerissenen Wurzeln zu finden. Noch heute. Direkt nach den Feierlichkeiten.

6

Die Uhr am Bankgebäude zeigte 8 Uhr 50. Schüler mit Scout-Tornistern auf dem Rücken radelten vorbei, die Hausaufgaben von gestern beschnatternd. Alles friedlich. Da bog ein Streifenwagen um die Ecke und hielt vor der Bank. Zwei Polizisten stiegen aus und spähten zum Eingang.

«Was jetzt?», fragte der eine unsicher.

«Na, rein», sagte der andere und öffnete vorschriftsmäßig sein Pistolenholster.

«Das ist keine so gute Idee», sagte der eine.

Der andere wollte keine Diskussion beginnen. Die Vorschriften in einem solchen Fall waren klar: Es hatte Alarm in der Zentrale gegeben, ausgelöst in dieser Bank. Sie waren die Ersten am Tatort. Es war alles ruhig. Ihre Aufgabe war es, sich mit der gebotenen Vorsicht Zutritt zu verschaffen und ansonsten auf Gott zu vertrauen.

«Wir gehen jetzt rein», sagte er.

Sein Kollege nickte. Doch die Dienstvorschrift erübrigte sich in ebendieser Sekunde, denn die Tür flog auf, und zwei mit Strumpfmasken und automatischen Pistolen bewehrte Menschen stürmten nach draußen.

 

Karolin hatte weniger Angst, als sie erwartet hatte. Im Gegensatz zu Helmut hatte sie von Anfang an geargwöhnt, dass sein Plan überhaupt nicht klappen könnte, und sie hatte sich minutenlang gewundert, dass sie es überhaupt so weit geschafft hatten. Jetzt standen sie also draußen. Sie trug in der Linken eine Reisetasche, schwarz, Marke «4YOU», und in der Rechten eine automatische Heckler&Koch. Das Kaliber hatte Helmut mehrfach erwähnt, aber sie hatte es sich nicht merken können. Ist so etwas wichtig? Helmut hatte sie ihr erst vor vier Minuten entsichert und gesagt:

«Wenn es sein muß, schieß einfach. Wenn nicht, dann eben nicht. Du hast jedenfalls neun Schuss.»

Helmut war jetzt vor ihr und schob einen nicht mehr ganz jungen Mann in einem maßgeschneiderten Dreiteiler vor sich her: den Filialleiter, der gerade die schrecklichsten Minuten seines wohl geplanten Lebens erlebte und heulte wie ein ausgesetzter Pudel, aber das war jetzt nicht wichtig. Helmut hatte gesagt, sie solle immer die Augen offen halten. In jede Richtung. Da war dieser Streifenwagen, und er stand direkt vor der Bank, und zwei Polizisten holten gerade ihre Waffen heraus. Das war’s dann wohl. Sie war bereit, den ganzen Kram hinzuschmeißen. Wie gewonnen, so zerronnen. Sie genoss plötzlich eine unendliche Erleichterung, einen Moment, in dem alle Anspannung der letzten Wochen mit einem Mal zerplatzte wie ein überdehnter Luftballon.

Sie genoss diesen köstlichen Moment einen schicksalhaften Augenblick zu lange. Hätte sie eine Sekunde früher diese Waffe weggeworfen und die Hände erhoben oder etwas in dieser Art getan … wer weiß. Helmut blickte nämlich zurück, sah sie mit erhobener Waffe und tat das aus seiner Sicht einzig Richtige: Er eröffnete das Feuer auf die Polizisten. Dabei vergaß er, sich im gebotenen Maße auf seine Geisel zu konzentrieren. Der Filialleiter ließ sich fallen wie ein nasser Sack und rutschte einfach durch Helmuts Klammergriff hindurch auf den polierten Granitboden. Dabei hielt er sich die Ohren zu und kreischte:

«Ich will nicht sterben bitte ich will nicht ich will noch nicht!»

Natürlich nutzten die beiden Polizisten die Gunst der Sekunde und schossen zurück, und sie konnten besser schießen als Helmut. Sie trafen ihn in den linken Oberschenkel und in den Bauch. Es ging alles so schnell, dass Karolin erst nach Sekunden merkte, dass sie unverletzt war. Helmut ging neben dem Filialleiter in die Knie und sagte:

«Hau ab.»