Bunker - Andrea Maria Schenkel - E-Book

Bunker E-Book

Andrea Maria Schenkel

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Beschreibung

Ein Mann überfällt abends eine Autovermietung. Als die einzige noch anwesende Angestellte den erhofften Schlüssel zum Tresor nicht hat, verschleppt er sie in einen Luftschutzbunker unter einer abgelegenen, verfallenen Mühle. Will er sie als Geisel nehmen? Oder einfach seine Macht über die Gefangene auskosten? Wovon wird er selbst getrieben? Ist es jemand aus ihrer Vergangenheit, die sich bald als weniger unschuldig erweist, als es zunächst schien? In der Abgeschiedenheit des Waldes entspinnt sich ein grausames Spiel. Andrea Maria Schenkel erweist sich in ihrem dritten Roman ein weiteres Mal als Meisterin des Unheimlichen und der menschlichen Abgründe.

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Seitenzahl: 164

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Andrea Maria Schenkel

Bunker

Hoffmann und Campe

Ich muss noch die Schlüssel holen. Sie sind im Schlafraum auf dem Bett. Rein in den Bunker. Verdammt, die Petroleumlampen sind leer gebrannt, dabei hatte ich doch zwei für jeden Raum. Komisch, ich dachte, die Dinger halten länger. Eine Verschwendung! Sechs Lampen in drei Räumen. Alle aus! Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe noch eine Taschenlampe im Auto. Vorn im Handschuhfach müsste die liegen, hab aber keine Lust, sie zu holen. Wenn ich die Tür weit offen lasse, müsste das Licht vom Treppenflur ausreichen, bis hinten in den letzten Raum.

Hier vorne ist es noch hell genug. Die Zwischentür ganz weit offen lassen! Im zweiten Zimmer ist es schon dunkel. Die Armaturen der kleinen Küchenzeile spiegeln das einfallende Licht kaum. Im dritten Raum ist es stockfinster. Ich stoße mit den Füßen gegen den Plastiksack, muss mich an der Bettkante entlangtasten. Warum sind die blöden Lampen bloß schon ausgegangen, ich hab sie doch gefüllt, oder hab ich das vergessen? Bringt jetzt auch nichts. Ich brauch die verdammten Schlüssel. Wo liegen die? Auf dem Bett. Ich taste das Kopfkissen ab, hier auf dem Kissen, nichts. Das Betttuch darunter, auch nichts! Okay, bleib ruhig. Die Schlüssel müssen hier sein! Bleib ruhig! Die Steppdecke von oben bis zum Fußteil, nichts. Die Scheißteile müssen hier sein. Ich habe sie doch deutlich gesehen! Hab sie mit dem anderen Kram aus dem Sakko auf das Bett geworfen. Jetzt reicht’s, ich reiß einfach die ganze Bettdecke herunter. Vielleicht fallen die Schlüssel dann auf den Boden. Nichts! Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ich durchwühle alles noch mal – nichts!

Wo sind diese blöden Dinger? Bleib ruhig. Nachdenken, nachdenken. Klar, ich hab sie unters Bett gestoßen. Kriech runter! Pfui Teufel, überall Staub und Dreck. Und diese krümeligen Haufen. Was sind das für Haufen? Mäusedreck, kann nur Mäusescheiße sein. Hier wimmelt es bestimmt von diesen kleinen Mistviechern. Es stinkt hier auch so nach Mäusepisse, und ich lieg auf dem Bauch in dem ganzen Dreck und taste mit den Händen in der Dunkelheit nach diesen verdammten Schlüsseln. Ich schiebe mich so weit es geht unter das Bett, mit den Fingerspitzen kann ich schon die Wand berühren, kalt und schmierig. Kein Wunder, die ganze Wand schimmelt, alles ist feucht und kalt hier unten. Staub, Dreck, Mäusepisse und Schimmel. Das bringt so überhaupt nichts, ich muss raus und die Taschenlampe holen, sonst geht gar nichts, absolut gar nichts. Ich schiebe mich langsam wieder unter dem Bett hervor.

Was ist das für ein Geräusch? Ist da einer an der Tür? Quatsch, wer sollte das sein. Der Fettsack ist tot. Aber einer macht sich an der Tür zu schaffen. Nein, nein! Verdammt, da ist einer. Sie kann es nicht sein! Wer ist da! Scheiße, Scheiße! Alles geht schief! Wer kann das sein? Jetzt bloß kein Quietschen der Tür, bitte kein Quietschen!

Ich stoße mich von der Wand ab, robbe unter dem Bett hervor. Das dauert viel zu lange. Ich schaff’s noch, schaff’s noch zur Tür. Lauf, lauf! Auf allen Vieren krabble ich los, versuche im Krabbeln aufzustehen, zur Tür! Durch den zweiten Raum durch. Ich kann die Tür sehen! Die Bunkertür schließt sich langsam, ganz langsam. Quietschend.

Dunkelheit. Ich strauchle, stürze zu Boden. Mein Gesicht schlägt auf den Betonboden, hart, kalt und klamm fühlt er sich an. Meine Handflächen brennen vom Sturz, ich versuche mich abzustützen, hebe meinen Kopf, Richtung Tür. Die ist zu. Alles schwarz um mich herum, nur ein schmaler Lichtstreifen unter der Bunkertür. Ich robbe nach vorne auf den Lichtstreifen zu. Ich höre meinen Atem, ziehe die Luft durch den geöffneten Mund ein, laut. Ich atme schnell, mein Brustkorb hebt und senkt sich bei jedem Atemzug. Ich lege mich flach vor den Lichtstreifen auf den Boden. Versuche mit meinem Gesicht ganz nahe heranzurücken. Ich spüre die kalte Zugluft, die durch den Spalt in den Bunker strömt. Vielleicht kann ich durch ihn nach draußen sehen? Ich muss mich noch stärker mit dem Gesicht an den Boden pressen. Ganz nahe an den Spalt heran, ganz nahe. Der Schatten zweier Füße. Der Schatten verschwindet.

Ich höre einen dumpfen Schlag, die hölzerne Falltür ist zugefallen, der Lichtspalt ist weg. Völlige Dunkelheit. Alles ist schwarz, alles! Überall Finsternis.

Ich liege noch immer vor der Tür. Die rechte Hälfte meines Gesichts auf dem kalten Betonboden, Mund und Nase fest an den Spalt unter der Metalltür gepresst. Wie ein Fisch auf dem Trockenen, schnappe panisch nach Luft.

Ich liege da. Eigentlich müsste ich aufspringen, schreien, wie wild gegen die Tür schlagen. Doch ich liege da, erschöpft, leer. Verliere in der Dunkelheit jedes Gefühl für Zeit. Spüre, wie die Kälte des Bodens langsam in meinen Körper dringt, wie ich auskühle. Mir ist, als falle ich in ein tiefes Loch. Ich sauge die Luft ein, und mit jedem Atemzug zieht es mich tiefer hinab. Ich schließe die Augen, oder habe ich sie geöffnet? Es spielt keine Rolle, die Finsternis ist dieselbe. Ich liege da, fühle mich leer, furchtbar leer.

Der Raum ist in rotes Licht gehüllt. Ich kann nicht erkennen, woher das Licht kommt, sehe mir selbst dabei zu, wie ich aufstehe, mich langsam umsehe. Ich bin nicht alleine, ich höre Schritte. Ich gehe durch dieses Meer aus rotem Licht, folge den Schritten in den mittleren Raum. Da sehe ich ihn, ein großer, kräftiger Mann. Die Haare ganz kurz rasiert, Jeans und Army-Jacke. Er geht durch den Raum bis ins hinterste Zimmer des Bunkers. Vor der hinteren Wand bleibt er stehen, dreht sich zu mir um. Ich sehe sein Gesicht, die markante Sattelnase, hervortretende Wangenknochen, tief in den Höhlen liegende Augen. Die Lider etwas hängend, die Augen strahlen Selbstsicherheit und Bestimmtheit aus. Er stößt sich mit einem Bein von der Wand ab, läuft auf die verschlossene Stahltür zu, dreht ihr seine rechte Schulter zu, rammt sie. Mit ohrenbetäubendem Lärm springt die Tür auf, grelles weißes Licht blendet mich, schmerzt in meinen Augen. Ich reiße die Hände hoch, halte sie schützend vor mein Gesicht. Er muss über mich hinweggesprungen sein. Ich nehme meine Hände herab, öffne vorsichtig die Augen.

Der Raum ist stockdunkel, die Bunkertür geschlossen, ich liege immer noch vor der Tür auf dem kalten Boden, bin in diesem Kellerloch gefangen.

Verdammt, ich fange an verrückt zu werden. Meine rechte Körperhälfte schmerzt vom Liegen auf dem Betonboden. Ich friere, ich muss hier raus! Raus!

Freitagnachmittag, Feierabendverkehr, ein Auto hinter dem anderen, Stoßstange an Stoßstange, die ganze Straße entlang. Die Luft stickig durch die Abgase der Fahrzeuge. Sie schmeckt abgestanden bei jedem Atemzug. Straßenlärm, Hupen, dazwischen ungeduldige, genervte Fußgänger, jeder will nach Hause. Eine Frau läuft zwischen den stehenden Autos hindurch, quer über die Straße. Radfahrer schlängeln sich durch die Reihen. Fahren rechts und links an den Autos vorbei, wo immer sich eine Lücke findet. Drängeln sich zur Ampel vor. Einer, der es gar nicht abwarten kann, fährt mit seinem Fahrrad über den Gehweg. Zwängt sich zwischen den Fußgängern hindurch. Dabei fährt er einen fast um. Der springt gerade noch zur Seite, ruft dem Radfahrer schimpfend hinterher. Der Fahrradfahrer fährt weiter, kümmert sich nicht um den Fußgänger. Ich stehe auf dem Gehweg und schaue zu. Beide Straßenränder sind zugeparkt. In zweiter Reihe abgestellte Fahrzeuge behindern den Verkehr zusätzlich. Ich sehe hinüber zum Parkplatz der Autovermietung. Lauter ältere Modelle, alle gewaschen und poliert. Das Gebäude hinter dem Fuhrpark ein Betonbau mit großen Fenstern ohne sichtbaren Rahmen, eingelassen in Betonplatten mit dunklen Fugen. Durch das getönte Glas der Fenster kann ich nicht in das Gebäude hineinsehen. Ein Kunde betritt das Geschäft. Die Glastür an der Frontseite öffnet sich automatisch. Durch die offene Tür sehe ich für einen Moment ins Innere. Hinter dem Empfangstresen aus dunklem Holz steht sie.

Sie ist mit dem Sortieren eines Stapels Papier beschäftigt. Niemand sonst im Raum. Die Tür schließt sich, öffnet sich wenig später wieder. Sie begleitet den Kunden nach draußen, gibt ihm die Autoschlüssel. Ich sehe den roten Anhänger der Schlüssel, ein kurzer Wortwechsel, Hände schütteln, der Mann steigt in einen grauen BMW. Sie winkt ihn aus der Parklücke, lächelt kurz, nickt und geht zurück in das Gebäude.

Ich überquere die Fahrbahn, schlängele mich mit den anderen Fußgängern durch die Reihe der stehenden Autos hindurch. Ich gehe über den Parkplatz. Der Weg ist mit Waschbetonsteinen gepflastert.

Die automatische Glastür öffnet sich. Ich gehe hinein. Sie ist wieder mit ihren Geschäftspapieren beschäftigt. Sie hebt nicht einmal den Kopf. Grüßt nicht. Ordnet weiter ihre Unterlagen, als wäre sie noch immer alleine im Raum.

Ich bleibe vor dem Tresen stehen. Warte, lasse sie dabei nicht aus den Augen.

»Wir schließen in zwei Minuten!«

»Ich weiß.«

Sie kniet vor mir, ihre Hände sind mit einem Stück Wäscheleine um die Handgelenke auf dem Rücken gefesselt. Ihr Rücken ist gekrümmt, so dass die Schultern überhängen. Der Kopf ist nach vorne geneigt, die halblangen dunklen Haare hängen ihr fransig ins Gesicht. Ich höre ihren Atem, höre sie ein- und ausatmen. Sie holt Luft, stößt sie mit einem leisen zischenden Geräusch zwischen den aufeinandergepressten Lippen wieder aus. Kniend reicht sie mir knapp bis zum Gürtel. Ich gehe einen Schritt zurück. Ihre Brüste heben und senken sich mit jedem Atemzug. Sie hat Angst, ich kann sie spüren, die Angst. Ein kleiner glänzender Schweißtropfen rinnt über ihre Brust. Ich sehe dem Tropfen zu, wie er langsam über die nackte Haut läuft und im Ausschnitt verschwindet.

Mit meiner linken Hand greife ich in ihr Haar, packe fest zu, ziehe ihren Kopf mit einem Ruck nach hinten. Sie schreit kurz auf. Verdammt, sie soll mir ins Gesicht sehen. Ihr Blick weicht mir aus. Sie richtet die Augen starr nach unten. Die Stirn ist nass vom Schweiß, die Schminke um die Augen verschmiert, ihre Wimperntusche läuft in Schlieren über die Wangen. Die Konturen ihres Gesichts verwischen durch die zerlaufende Schminke. Sie wimmert, schnieft, zieht die Luft laut durch die Nase ein.

Mit der linken Hand ziehe ich den Kopf weiter nach hinten. Meine rechte umgreift ihr Kinn, drückt es zusammen.

»Wo ist der Schlüssel? Sag mir, wo ist der Schlüssel?«

Wieder zieht sie Rotz durch die Nase hoch. Mit der Hand, die eben noch ihr Kinn zusammendrückte, hole ich aus und schlage ihr ins Gesicht. Sie stöhnt. Obwohl ich den Kopf noch immer an den Haaren festhalte, fliegt er ein Stück zur Seite. Die Ränder eines Nasenlochs färben sich rot, eine dünne Blutspur zieht von der Nase übers Kinn. Sie heult leise.

»Den Schlüssel, sofort!«

Meine linke Hand rüttelt den Kopf vor und zurück. Blutströpfchen verteilen sich fächerförmig auf meinem Hemd. Ekel steigt in mir hoch. Und Wut. Warum sagt sie nichts? Warum heult sie nur vor sich hin?

Ich balle meine Hand zur Faust und schlage noch mal in ihr Gesicht. Wieder fliegt ihr Kopf zur Seite. Um gleich darauf mit zusammengepressten Augen und gespitztem Mund nach vorne zu fallen. Sie bleibt kurz auf der Schulter liegen, rutscht dann langsam wieder zur Mitte. Ich sehe in ihr Gesicht, mit Kussmund und Schlitzaugen sieht sie einfach lächerlich aus.

»Den Schlüssel, sonst …«

Ich knie vor ihm, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er tippelt nervös vor mir herum, dabei wippt er mit dem Oberkörper vor und zurück. Ich versuche ihn nicht anzusehen, halte meinen Blick starr auf seine Schuhe gerichtet. Turnschuhe. Er versucht cool zu sein, dieses Arschloch. Den Typen bloß nicht anschauen, schau auf seine Schuhe, schau ihm nicht in die Augen. Nicht ins Gesicht. Immer nur auf die Schuhe. Die Schuhe.

Er zieht mit einer Hand meinen Kopf an den Haaren weit nach hinten. Holt aus. Ich spüre einen tiefen, durchdringenden Schmerz, mein Schädel scheint zu platzen. Er hat mir ins Gesicht geschlagen, dieses Schwein. Mein ganzer Körper tut mir weh! Der Kopf, die Schultern, die Hände, die Knie. Dieses Schwein, dieses verdammte dreckige Schwein! Den Schlüssel, sonst … den Schlüssel … Ich hab den Schlüssel nicht!

Er holt erneut aus, schlägt mir wieder ins Gesicht. Vor meinen Augen grelle Lichtblitze. Mein linkes Auge pocht. Ich halte es kaum aus. Das Stechen einer langen spitzen Nadel durch meinen Schädel. Tiefer mit jedem Herzschlag, tiefer und tiefer. Ich versuche die Augen zu öffnen. Mach die Augen auf! Mensch, mach die Augen auf! Es geht nicht! Ich kann die Augen nicht öffnen. Der Schmerz! Mach die Augen auf! Reiß dich zusammen, mach sie auf! Das Licht hell, unglaublich grell. Ich kann die Augen nicht offen halten. Kann nicht! Ich versuche es wieder. Das linke Auge bleibt zu, das rechte lässt sich einen Spalt öffnen. Alles verschwommen. Die Hand in meinem Haar zieht meinen Kopf mit einem Ruck nach hinten in den Nacken. Wieder Schmerzen, mein Kopf platzt.

Der Schlüssel … der Schlüssel … Ich habe das Gefühl, der Boden gibt unter mir nach. Hitze steigt in mir hoch über den Rücken, den Nacken, umgreift meinen Kopf von hinten, schlägt wie eine Welle über der Stirn zusammen. Ich sacke langsam in mich zusammen, lasse mich fallen … einfach fallen …

Ich falle durch eine unendliche schwarze Leere. Plötzlich ein Schimmer, mir ist, als werde ich von diesem Licht angezogen, als schwimme ich durch die Leere dem Licht entgegen. Die Helligkeit verdrängt das Dunkel, ich bin in einem Raum. Der Raum ist mir vertraut, ich war bereits hier, unzählige Male war ich hier. Weiß nicht wann. Weiß nicht warum. Ich drehe mich um mich selbst, drehe mich um meine eigene Achse. Sehe den Raum durch meine Augen und sehe mir im gleichen Augenblick dabei zu, wie ich mich drehe und umblicke. Wie aus dem Nichts steht der Junge vor mir, mager und klein. Ich gehe auf ihn zu, ich erkenne ihn nicht, und doch ist er mir irgendwie bekannt, wie der Raum, in dem ich mich befinde. Das Gesicht des Jungen wandelt sich, es wird mir vertrauter mit jedem Schritt, mit dem ich mich auf ihn zu bewege. Joachim? Joachim, es ist Joachim, es muss Joachim sein! Meine Unsicherheit wandelt sich in Bestimmtheit. Daneben ein Mädchen, vielleicht dreizehn Jahre alt, dunkelblond, Zopf. Näher ran, noch näher. Woher kommt das Mädchen so plötzlich? Sie steht im Raum neben mir, nein, nicht neben mir … ich bin in ihr. Ich bin das Mädchen. Ich bin das Mädchen, bin wieder ein Kind. Die Bilder fließen ineinander, eines ergibt sich aus dem anderen. Der Junge, Joachim, wendet sich mir zu. Ich verstehe ihn nicht. Er plappert vor sich hin, viel zu schnell. Ich kann ihn nicht verstehen, es ergibt keinen Sinn. Langsam bildet sich ein Wort.

Ich fange an zu verstehen. »Sparschwein«. Ich blicke zu Boden. Der Boden ist übersät mit tönernen Scherben. Zwischen den Scherben Münzen. Pfennige, Zehnpfennigstücke. Joachim beugt sich hinab, kniet vor mir. Er trägt kurze Hosen, kniet mit nackten Beinen auf den Scherben, die bloßen Knie blutig. Er blickt nach unten auf die Münzen. Meine Hand greift in sein weiches Haar, schüttelt seinen Kopf, zieht seinen Kopf zu mir hoch, das Gesicht nass von Tränen, Rotz läuft aus seiner Nase. »Du kleiner Dieb, du Miststück.« Ich spüre die Wut in mir, spüre eine unglaubliche Wut in mir. Meine freie Hand schlägt wie wild auf seinen kleinen Kopf ein, hört nicht mehr auf. Er blutet, ich schlage weiter, schlage, schlage … bis sein Kopf, sein Körper nun schlaff an meiner Hand hängt. Gleichgültig sehe ich mir selbst dabei zu, wie ich ihn loslasse. Sein Körper sackt zusammen, liegt nun reglos am Boden, auf den Scherben. Blut sickert langsam als dünner roter Faden aus dem Ohr. Neugierig strecke ich die Hand aus, berühre das Rinnsal. Sehe es auf meiner Fingerkuppe glänzen. Ich beuge mich hinab, spüre, wie meine Lippen seine Wangen berühren, küsse sein blutig verschmiertes Haar. Noch während meine Lippen ihn berühren, möchte ich, dass er verschwinden soll. Sein Körper muss weg! Er soll fort! Ich hole die Schubkarre, versuche den Körper auf die Karre zu hieven. Obwohl er so klein und mager ist, ist der Körper unglaublich schwer. Kaum habe ich es geschafft und er liegt oben, rutscht er auf der anderen Seite wieder von der Karre.

»Hallo, Monika, willst du mich eine Runde spazieren fahren?« Ich stutze, drehe mich um. Ich stehe auf einer Wiese, bin nicht mehr in einem geschlossenen Raum. Joachim steht dort an eine Weide gelehnt. Joachim, der eben noch wie tot auf dem Boden lag. Er hält eine Hand an sein Ohr und grinst.

Das Bild verwischt, ich wache aus dem Traum auf, gleite hinüber in die Wirklichkeit. Ich versuche meine Augen zu öffnen. Das klappt nur mit dem rechten und auch mit dem nicht richtig. Ich blinzele, das Licht ist grell, gleißend. Ich schließe das Auge wieder. Versuche es noch einmal. Dieses Mal kann ich es schon etwas länger offen halten, ich habe mich an die Helligkeit gewöhnt. Wo bin ich? Bin ich allein? Ich spüre die Hand in meinem Haar nicht mehr. Ich liege auf der Seite, die Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt. Mein Mantel über mir. Auf dem Teppichboden mit dem Rücken zur Wand, im Flur zwischen Bürotür und Personaltoilette. Wie liegt der Mantel, wo sind die Manteltaschen? Die Taschen sind innen. Er hat den Mantel mit dem Innenfutter nach außen über mich gelegt. Ich versuche mit meinen Fingern den Stoff zu erwischen. Taste mich, so weit dies mit gefesselten Händen auf dem Rücken geht, vor. Die Arme schmerzen, die Hände fühlen sich an, als ob sie eingeschlafen wären. Ich muss die Finger eine Zeit lang bewegen, »aufwecken«, ehe sie mir wieder gehorchen. Irgendwie schaffe ich es, den Stoff zwischen meine Finger zu klemmen. Ich fühle den Rand der Manteltasche. Ertaste den umgeschlagenen Rand des Stoffes. Ziehe ihn an mich heran. Zentimeter für Zentimeter. Der Stoff rutscht mir wieder durch die Finger. Scheiße! Ich versuche es wieder. Einmal, zweimal. In der Tasche ist das Taschenmesser. Ich schaffe es, mit den Fingern in die Tasche zu fassen. Spüre den kalten metallenen Gegenstand. Ich muss das Messer aus der Tasche herausschütteln. Irgendwie muss ich das verdammte Messer aus der Tasche herausschütteln. Ich habe keine Ahnung, wie ich das schaffen soll, aber ich probiere es. Immer wieder, immer wieder. Bis ich es schaffe, das Messer zwischen Zeige- und Mittelfinger einzuklemmen. Ziehe es langsam aus der Tasche heraus. An der Stoffkante der Manteltasche bleibe ich hängen, presse Zeige- und Mittelfinger fester um die Griffschale des Messers. Durch den Druck rutscht es mir wieder aus den Fingern, gleitet zurück in die Manteltasche. Verdammte Scheiße!

Ich höre Geräusche, Schritte, näher, ganz nah. Ich schließe meine Augen, stelle mich schlafend. Er steht direkt vor mir. Ich brauche die Augen nicht aufzumachen, ich weiß, dass er vor mir steht. Ein Schuh bohrt sich unter mein Gesicht, dreht meinen Kopf mit einem Ruck aus der Seitenlage nach oben. Mein Herz pocht. Mein Atem bleibt ruhig. Ich öffne langsam mein rechtes Auge. Ich versuche ihn anzusehen. Die Beleuchtung kommt von hinten, so sehe ich nur seine Umrisse. Sein Körper wirkt massig. Er hat sehr kurzes Haar. Hab ich ihn schon mal gesehen? Kommt er mir bekannt vor? Ein Kunde? Verdammt, ich komme nicht darauf.

»Den Schlüssel!«

Einsatzwagen der Feuerwehr und Polizei, laufende Motoren, Blaulicht, Lärm, der schmale Waldweg ist durch die Fahrzeuge zugeparkt. Ein Fahrzeug steht hinter dem anderen, kein Durchkommen.

Der Wald ist in unruhiges Licht gehüllt.

Vor der Mühle lärmend der Kompressor, dicke Kabel führen hinüber zum Haus. Vor der metallenen Eingangstür wurden zwei große Scheinwerfer aufgebaut. Sie beleuchten den Eingang zur Mühle. Unnatürliches grelles Licht, die ganze Szenerie ist unwirklich, wie auf einer Theaterbühne. Hell erleuchtet auch der Platz vor dem Gebäude. Die alte Holztür über dem dunkel glänzenden Morast, die Büsche entlang des Weges werfen harte Schatten.

In aller Frühe bin ich aufgestanden, habe meine Sachen zusammengepackt und bin losgefahren. Außer mir ist noch niemand unterwegs. Im Autoradio berichtet der Nachrichtensprecher von Randale und Schlägereien zwischen Neonazis und der Polizei vor einem Ausländerwohnheim in Hoyerswerda. Ich schalte das Gerät aus.