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Business-Romantiker E-Book

Tim Leberecht

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Beschreibung

Erfüllung im Berufsleben ist möglich. Der Marketing-Guru Tim Leberecht zeigt neue Trends in der Wirtschaft, die diesem großen Bedürfnis Rechnung tragen. Das Ziel: mit Engagement und Leidenschaft sinnvolle Produkte und begehrenswerte Marken schaffen. Denn jeder will sich mit seiner Arbeit identifizieren und Außergewöhnliches bewirken. Das ist das Selbstverständnis der Business-Romantiker. Tim Leberecht beschreibt den fundamentalen Wertewandel in der Wirtschaft und präsentiert überraschende Einsichten in die Gefühlswelt des Business. Es geht nicht nur um Effizienz und Exzellenz – der Erfolg eines Unternehmens hängt unmittelbar an der Zufriedenheit der Angestellten wie der Kunden. Kontinuierliches Wachstum ist nur möglich, wenn Mitarbeiter ihre Tätigkeit wertschätzen und aus diesem Geist gute Produkte entwickeln.

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Seitenzahl: 445

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Tim Leberecht

Business-Romantiker

Von der Sehnsucht nach einem anderen Wirtschaftsleben

Aus dem Amerikanischen von Niklas Hofmann

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungMottoEinleitungI1. KapitelDie verunsicherte MarktgesellschaftSelbstquantifizierungWild und wundersamErster Job, erste Liebe2. KapitelDas PaarDie StimmeDer PatronDer StimmungsmacherDie VermittlerinDer DauerbrennerDer GläubigeStellenausschreibungLasst die Flamme nicht ausgehenII3. Kapitel4. KapitelFremde im HausDie Augen eines anderenZiehe ohne Landkarte umherVerkaufen5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelUneindeutigkeit (oder auch nicht)Limitierte AusgabenNegativer Raum9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelIII13. Kapitel14. KapitelDas Business-Romantiker-EinsteigersetDie Business-Romantiker-PlaylistDie Business-Romantiker-FilmografieDie Business-Romantiker-LeselisteDie Business-Romantiker-ReisezieleDie Business-Romantiker-To-do-ListeDanksagung
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Meinen Eltern, Edith und Volker Leberecht

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Die Welt muss romantisiert werden.

So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.

Novalis

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Einleitung

Die Flamme

Die Flamme darf nie ausgehen – das hatten uns die Ausbilder während des Trainings immer wieder eingeschärft. Protokoll, Logistik und Etikette, an die wir uns zu halten hatten, glichen denen eines amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs. Jeder in dem Team, das die Flamme begleitete, musste stets pünktlich sein, ihre Botschaft und ihre Werte ganz und gar verinnerlicht haben und jederzeit eine Topleistung erbringen. Immerhin ging es hier um die Olympischen Spiele, und die würden nur dann ihrem Ideal gerecht werden und mit Hilfe des Sports eine bessere Welt schaffen können, wenn wir uns von unserer besten Seite zeigten. Es kam nicht nur darauf an, was wir taten, sondern vor allem auch, wie wir es taten – auch unter Druck professionell bleiben, sich an die Regeln halten, sich jeden Morgen rasieren, keinen Alkohol trinken und eben jederzeit pünktlich sein; wichtiger aber noch: dabei dem olympischen Geist treu bleiben. Diesen Job konnte man nicht per Autopilot erledigen, und es gab hier keinen Platz für Egos. Die olympische Flamme war der Star. Die olympischen Werte (»Höchstleistung, Freundschaft und Respekt«) waren unser Produkt.

Das Angebot, hier sechs Wochen lang mitzuarbeiten, hatte ich direkt nach meinem Studienabschluss durch reinen Zufall bekommen. Angenommen hatte ich, weil mich der Nervenkitzel reizte und die Chance auf ein unvergessliches Erlebnis (das mir noch den kleinen Extra-Thrill verschaffte, im Rathaus von Montreal eine Rede vollständig auf Französisch halten zu müssen; ich las sie von einem in Lautschrift verfassten Spickzettel ab, den ein einheimischer PR-Kollege für mich vorbereitet hatte). Die Bezahlung war eher symbolisch, und ich musste auf meiner Reise-um-die-Welt-in-sechs-Wochen in der Holzklasse fliegen, aber diese Aspekte der Arbeit störten mich nicht. Und auch sonst keinen von uns. Wir waren um der Sache willen dabei. Und der Stolz, den wir empfanden, wirkte auf alle ansteckend. Es war der beste Job, den ich je hatte.

Der olympische Fackellauf soll die Olympia-Fans zusammenschweißen und einen spannenden Vorlauf für die Eröffnung der Spiele abgeben. Aber in jenem Jahr war alles ganz besonders. Bevor die Flamme nach Athen zurückkehrte, an den Geburtsort der Olympischen Spiele und Austragungsort der Sommerspiele 2004, sollte sie in 32 früheren olympischen Gastgeberstädten Station machen, darunter Tokio, Los Angeles, Montreal, Paris, London, München und Moskau. Und die Flamme sollte zum ersten Mal in der Geschichte auf afrikanischem Boden landen und durch Kairo ziehen, eine Stadt, die erstmals in der olympischen Geschichte einen Platz bekam. Ich war einer jener Advance Press Chiefs, die im Vorfeld für die Pressearbeit verantwortlich waren. Im Morgengrauen stand ich auf, um am Flughafen von Kairo auf die gecharterte Boeing 747 zu warten, die die Flamme transportierte. Es war nicht nur meine erste Begegnung mit der Flamme und mit ihrer Entourage, zu der zwei Security-Männer gehörten, die rund um die Uhr im Einsatz waren.

Als die Flamme endlich das Flugzeug in Kairo verlassen hatte, wurde sie von Offiziellen, Teammitgliedern und VIPs begrüßt. Ein Sonderbus, der von einer schwer gesicherten Wagenkolonne begleitet und von einem Journalistenpulk verfolgt wurde, brachte die Flamme ins Stadtzentrum, wo seit Stunden die ersten Fackelläufer auf ihren Einsatz warteten. Jeder dieser Läufer hatte sich lange im Voraus auf seine fünf Minuten Ruhm bewerben müssen, und jeder von ihnen folgte einem minutiösen Zeitplan, der – bis zu dem Abstecher nach Kairo – auch penibel eingehalten worden war. Eine Stunde nach Ankunft der Flamme standen wir alle in der Mitte des Tahrir-Platzes, auf dem Zehntausende Ägypter Sprechchöre riefen und feierten und auf dem die Grenze zwischen Ordnung und Chaos sich immer mehr auflöste. Ich begegnete Fremden, redete mit Fremden, gab Fremden Anweisungen, und uns alle verband die Kraft des olympischen Feuers. Während ich mich auf die logistischen Aufgaben meines Jobs konzentrierte – nämlich Reporter, Teammitglieder und Transportfahrzeuge Kilometer für Kilometer und Aussichtspunkt für Aussichtspunkt weiterzutreiben –, konnte ich spüren, wie die Flamme sich ihren Weg durch die Menge bahnte und die Herzen der Menschen von Kairo wärmte. Meine Mahlzeiten bestanden aus Energieriegeln und Wasser, und der Schweiß lief mir über Stirn und Nacken; aber trotz alledem spürte ich den Rausch der Euphorie. Ich war dabei und gehörte dazu, war mittendrin im Leben.

Schließlich kamen die ganze Karawane und ihr Begleittross irgendwo in den Außenbezirken der Megastadt zum Halt. Im Hintergrund ragten die Pyramiden auf. Die übliche Feier am Ende eines jeden Tages begann; eine offizielle Zeremonie, bei der Vertreter der Stadt (meist der Bürgermeister), Repräsentanten des Athener Organisationskomitees und lokale Prominente auftraten.

Während das Programm begann, konnte ich sehen, wie einige Kollegen davonschlenderten, langsam aus meinem Blick gerieten und in der sich ausbreitenden Dunkelheit verschwanden, wie sie eins wurden mit den Pyramiden und den diesigen Konturen der Wüste. Im Schutze des Sonnenuntergangs bemühte ich mich, den Reden zu lauschen, aber das Spektakel nahm surreale Züge an: eine Fata Morgana aus hellerleuchteten Gesichtern, die sich in fiebrigen, unruhigen Rhythmen bewegten und unverständliche Silben hervorstießen. Da stand ich nun also, mit Sand in den Schuhen und im Mund, war umgeben von hupenden Autos, von den antiken Monumenten, der Hitze, dem Benzingeruch und der ägyptischen Polizei; ein Deutscher in Kairo, der die Spiele von Athen repräsentierte; der für eine amerikanische Firma in Denver arbeitete, die den Fackellauf produzierte – und all das vor den omnipräsenten Logos von Coca-Cola und Samsung, den beiden Hauptsponsoren.

Mit Ausnahme der Fußballweltmeisterschaft hat kein anderes sportliches Ereignis eine derart universale Anziehungskraft – und kein anderes sportliches Ereignis ist so durchkommerzialisiert. Darum wird den Olympischen Spielen oft moralischer Bankrott vorgeworfen, und ihr Image ist zumindest widersprüchlich. Aber in jenem Moment unter der ägyptischen Sonne war die olympische Idee sehr lebendig, sehr rein. Etwas Heiliges lag noch in den profansten Momenten. Niels Bohr, der legendäre dänische Quantenphysiker, sagte einmal, es sei das Kennzeichen einer großen Wahrheit, dass ihr Gegenteil ebenfalls eine große Wahrheit sei. Man könnte die Widersprüche im Herzen der Olympischen Spiele wohl kaum besser beschreiben. Die Spiele sind Business as usual, aber sie sind zugleich immer noch die romantischste Idee, das romantischste Unterfangen, das man sich nur vorstellen kann. Politische Minenfelder, harte Arbeit, Dreck, Staub und Schweiß, Markenrichtlinien, Ambush-Marketing, Sendezeiten, Talking Points, Excel-Tabellen, überteuert und überverkauft – ja, es war all das und doch so viel mehr. In der Flamme und in den Gesichtern der Ägypter, die mir begegneten, erblickte ich den olympischen Geist: die Idee, dass ein friedlicher Wettstreit es uns erlaubt, alle Möglichkeiten des Menschen zu entfesseln und als Weltbürger miteinander in Kontakt zu treten.

Die olympische Idee ist, was wir in ihr sehen und aus ihr machen. Wie bei allen wahrhaft großartigen Erfahrungen sind es gerade ihre Unzulänglichkeiten, die ihr ihre Romantik verleihen. Sie lassen unserer Vorstellungskraft Raum. Sie erwecken in uns die Sehnsucht nach mehr, eine Sehnsucht nach allem.

 

Geld und Sinngehalt, Kommerz und Kultur, Transaktion und Transzendenz: Diese Spannungsfelder haben mich schon immer angezogen. Mein Großvater war Filmemacher, und mein Vater leitet ein Institut für die Weiterbildung von Führungskräften. Als ich sechs Jahre alt war, habe ich mir meine eigene imaginäre Firma erschaffen und im Alter von 21 meinen eigenen Musikverlag gegründet (wobei das erste Unternehmen weit erfolgreicher war). Mit Anfang zwanzig habe ich in einer Band gespielt und zwei Alben herausgebracht, und dabei habe ich mehr über Zusammenarbeit gelernt als durch irgendeine andere Station in meiner Karriere. Ich habe sowohl Geisteswissenschaften als auch Betriebswirtschaft studiert. Als Student habe ich die Werke deutscher Philosophen gelesen; als Geschäftsmann lese ich das Wall Street Journal. Ich wollte immer Künstler werden – und wurde am Ende doch ein »Marketing-Typ«.

In der Wirtschaft habe ich dieselbe Schönheit und Intensität entdecken können, die ich verspürt habe, wenn ich mir bei einem Konzert die Seele aus dem Leib sang. Ich spiele heutzutage in keiner Band mehr und sehe mich nicht mal mehr als Musiker; meine Bühne ist das Business. Ich schreibe keine Songs mehr; ich schreibe E-Mails, Memos, Artikel, Präsentationen und Strategiepläne. In Kunden-Pitches und bei Diskussionsveranstaltungen, bei Konferenzen und Networking-Events, bei Brainstorming-Sitzungen im Team oder alleine an meinem Schreibtisch: Viele Augenblicke größter Transzendenz erlebe ich inzwischen in meiner Arbeit.

Als Marketingmanager ist die Wirtschaft für mich eines der größten Abenteuer menschlichen Handelns – wenn nicht sogar das größte. Aber ich bin nicht nur ein Mann der Wirtschaft – ich bin auch ein unverbesserlicher Romantiker. Ich glaube daran, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn es mehr Romantik in unserem Leben gäbe. Ich glaube daran, dass die Verheißung über die Erfüllung siegt. Ich glaube daran, dass das Gefühl den Verstand schon zum Frühstück verputzt. Ich bin kein Tagträumer, Idealist oder Aktivist. Ich bin ein Business-Romantiker.

In meiner Karriere – als Chief Marketing Officer einer Produktdesign- und Strategiefirma (Frog Design), eines Unternehmens für IT-Outsourcing (Aricent) oder derzeit eines globalen Architektur- und Designbüros (NBBJ) – habe ich gelernt, Märkte über das Erleichtern von Transaktionen hinaus als kraftvolle Vehikel dafür zu sehen, in Kontakt zu kommen mit anderen und Werte zu schaffen. In den am ehesten greifbaren Formen des Warenaustauschs – sagen wir auf einem Wochenmarkt oder auf einem Online-Marktplatz wie Etsy – tauschen wir uns über unsere Bedürfnisse und Wünsche mit Menschen aus, denen diese genauso wichtig sind. Wir unterhalten uns. Wir finden Gemeinsamkeiten. Wir nutzen die Märkte, um zu kommunizieren. Am besten hat das der Philosoph Robert C. Solomon ausgedrückt:

Marktsysteme rechtfertigen sich nicht durch Effizienz und Profite, sondern weil Menschen zuallererst soziale und emotionale Wesen sind, denen Märkte eine gleichgesinnte Gemeinschaft für den sozialen Austausch bieten.[1]

Wenn wir auf den Markt gehen, zeigen wir uns der Welt: Das ist der Anfang jedes Wirtschaftens, der Anfang jeder Romantik.

Nun werden Sie vielleicht sagen: »Moment mal! Das ist doch naiv. Sie romantisieren die Geschäftswelt. Wo in der Weltwirtschaft so vieles im Argen liegt, wo die Politik handlungsunfähig ist, da ist es doch geradezu unverantwortlich, einen derart romantischen Blick auf die Wirtschaft zu haben. Wie können wir in einem so deprimierenden Umfeld Romantiker sein? Die Kluft zwischen Markt und Sinngebung ist schlicht zu tief, um überbrückt zu werden.«

Aber ist sie das wirklich? Und sollte sie es sein? Warum muss denn das Geschäftsleben unter ausschließlich transaktionalen Rahmenbedingungen stattfinden? Was, wenn der Prozess wichtiger wäre als das Endergebnis? Können wir die Profitmargen erhalten und gleichzeitig Erfahrungen machen, die uns mit dem Wundersamen, dem Sinnlichen und dem Geheimnisvollen in Berührung bringen? Ist es nicht an der Zeit, dass wir uns mit Leib und Seele in unsere Arbeit einbringen? Was, wenn wir Romantik im und durch das Business finden könnten?

»Business« und »Romantik« – diese beiden Begriffe rühren an dem Konflikt in uns allen: Welche Rolle kann und sollte die Wirtschaft in unserem Leben spielen? Sprechen wir nur über Märkte nach menschlichem Maß, dann mag uns diese unwahrscheinliche Paarung noch ganz intuitiv und irgendwie tröstlich erscheinen; aber sobald die Märkte eine abstraktere Größe erreichen, sobald sie Systemen gleichen und die Menschen in ihnen die Dimensionen einer Erwerbsbevölkerung oder einer Industrie annehmen, dann klingen die Wörter »Business« und »Romantik« verdächtig.

Wir müssen aber gar nicht versuchen, diesen Konflikt völlig aufzulösen, sofern wir daran glauben, dass der Nutzen von Märkten im Allgemeinen ihre Schwächen ausgleicht. Mit Ausnahme von Regierungen gibt es nur wenige Ausprägungsformen menschlicher Kultur, die einen größeren Einfluss auf uns haben als die Wirtschaft – auf uns als Angestellte, Verbraucher und sogar als Staatsbürger. Wir leben in einer Marktgesellschaft, ob uns das gefällt oder nicht. Was wir uns kaufen und womit wir unseren Lebensunterhalt bestreiten, das spiegelt wider (oder bestimmt sogar darüber), wer wir sind. Unsere beruflichen Laufbahnen bieten uns einige wichtige, wenn nicht sogar die wichtigsten Gelegenheiten zur Selbstverwirklichung, und die meisten von uns verbringen den größten Teil ihres Lebens mit Arbeit. Für manche von uns sind unsere Kollegen enger in unser Leben eingebunden als unsere Nachbarn, Freunde oder sogar Familien. Studien legen nahe, dass Freundschaft die am weitesten verbreitete Beziehung am Arbeitsplatz ist (vor Chef-Untergebener oder Mentor-Protégé).[2] Solche »vermischten Beziehungen« – die Arbeit mit nach Hause zu bringen und das Zuhause mit zur Arbeit – sind eines der Markenzeichen unseres vernetzten Zeitalters.

So schlägt uns die Wirtschaft in vielerlei Hinsicht in ihre Bedeutungsketten. Wenn wir also mehr Romantik in unser Leben bringen wollen, warum dann nicht hier anfangen?

Wenn ich Freunde oder Kollegen danach frage, wie sie sich bei der Arbeit fühlen, dann kriege ich Dinge wie diese zu hören:

»Ich bin ein Bürowesen; ich blühe in diesem starren Umfeld auf.«

»Bei der Arbeit kann ich meine Witze reißen, kann ich auf den Fluren herumwandern und überhaupt eine Art von Geselligkeit pflegen, die ich mir in meiner Nachbarschaft oder irgendwo auf der Straße nie erlauben würde.«

»Ich hätte immer die Möglichkeit, zu Hause zu arbeiten, aber warum sollte ich? Ich gehöre ins Büro.«

Auf der Suche nach Erfüllung wird der Arbeitsplatz zu unserer Arena. David Whyte, Dichter und Unternehmensberater, hat den Kern dieses Gedankens perfekt erfasst: »Arbeit ist Schwierigkeit und Drama, ein Spiel mit hohen Einsätzen, bei dem unsere Identität, unser Selbstwertgefühl und unsere Fähigkeit, für unsere Familie zu sorgen, sich in uns selbst in stets veränderlicher und manchmal explosiver Weise miteinander vermischen«, schreibt er. »Bei der Arbeit können wir uns selbst erschaffen; bei der Arbeit können wir uns selbst zerstören.«[3]

Genau das ist der Grund dafür, dass so viele von uns im Geschäftsleben derart leiden. Wir leiden unter den Beschränkungen des traditionellen Marktsystems und der Entscheidungsfindungsmodelle, die davon ausgehen, dass wir völlig rationale Wesen seien. Und wir leiden, wenn wir fortlaufend falsche Unterscheidungen zwischen unseren Rollen im Business und den anderen Aspekten unseres Menschseins treffen; wenn wir die Wirtschaft von unseren emotionalen, intellektuellen und spirituellen Bedürfnissen trennen.

Viele von uns sehnen sich nach mehr. Wir sind im Business, ob als Konsumenten, Angestellte und Unternehmer, weil wir das Business lieben. Wir lieben den Drive; wir lieben die Möglichkeiten, mit anderen in Kontakt zu kommen und uns auszutauschen. Manche von uns gründen ihr eigenes Unternehmen; andere arbeiten in innovativen Bereichen oder im Management. Wieder andere arbeiten im Bereich der Musik oder im Verlagswesen – in Branchen also, die seit je einen Drahtseilakt zwischen Kommerz und Kultur vollführen müssen. Gleichzeitig sind zu viele von uns noch viel zu leise – wenn sie sich überhaupt zu Wort melden. Wenn wir morgens unsere Plätze im Großraumbüro einnehmen, verbergen wir unser sehnsüchtiges Verlangen danach, unser wahres Selbst bei der Arbeit zum Ausdruck bringen zu können – danach, uns in unseren Jobs und Karrieren ganz und gar lebendig fühlen zu können.

Dieses Buch spricht uns alle an – jeden Einzelnen von uns, der das Gefühl hat, dass das Business as usual alles entzaubert, was an unseren täglichen Erlebnissen im Beruf oder als Konsumenten magisch und bedeutungsvoll sein kann.

 

Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie mehr Wege kennen, sich selbst für die Freuden, die Geheimnisse, die Momente der Transzendenz und auch für den hart erarbeiteten Kummer des Alltags in der Geschäftswelt zu öffnen. Sie werden besser verstehen, wie Sie derartigen Erfahrungen Räume verschaffen können sowohl im Umgang mit Ihren Kollegen als auch mit Ihren Kunden. Sie werden Regeln mit auf den Weg nehmen, die Ihnen zeigen, wie Sie Ihren romantischen Überzeugungen folgen und sie anderen gegenüber ausdrücken können. Und Sie werden überrascht sein, wie dieser Perspektiv- und Haltungswechsel Ihnen ringsherum ungeahnte Möglichkeiten eröffnet – mit Partnern, die Sie am wenigsten erwartet haben. Sie werden die Flamme neu entfachen.

Dieses Buch präsentiert zwar keine neue Managementlehre oder ökonomische Theorie, aber es will doch wirtschaftliche Paradigmen auf den Kopf stellen. Es ist ein Fanfarenstoß für alle, denen hervorragende Leistungen und Effizienz im Geschäftsleben nicht genügen. In diesem Sinne ist es ein kleines Brevier für jeden Einzelnen. Es ermuntert Sie, einen romantischen Blick auf die Wirtschaft zu werfen – anders zu handeln; aber in allererster Linie anders zu sehen, zu fühlen und zu sein. Das fängt auf der persönlichen Ebene an. Aber dieser Wandel hat in letzter Konsequenz das Potenzial, einen weiter reichenden institutionellen und systemischen Wandel anzuregen. Wir Romantiker spielen kein komplett anderes Spiel, aber wenn wir es nach anderen Regeln spielen, dann wird es womöglich besser.

Im folgenden Kapitel, »Die Sehnsucht nach Romantik«, werfe ich einen genaueren Blick auf den Zeitgeist der Gegenwart. Warum brauchen wir mehr Romantik, und wie können wir den Zauber unserer ersten Liebe und unseres ersten Jobs auf unseren Alltag übertragen? Anschließend stelle ich in »Begegnung mit Business-Romantikern« sechs Einzelpersonen und ein Paar vor, die in ihrem Verhältnis zum Geschäftsleben diese Romantik gefunden und erhalten haben. Auch Sie werden lernen, die romantischen Eigenschaften in anderen Menschen und in Ihnen selbst zu erkennen und zu schätzen.

Auf diese Kapitel folgen die »Regeln der Business-Romantiker«. Wie können wir kleine Akte der Sinngebung und Rituale nutzen, um unser Leben als Arbeitnehmer und Konsument bedeutungsvoller werden zu lassen? An welchen Stellen kultivieren wir romantische Erfahrungen von Reibung, Konflikt, Mysterium und Vieldeutigkeit? Wie können wir ein Stück »Lebenskunst« zurück in unseren Arbeitsalltag bringen? Und wie schaffen wir es, uns immer wieder neu in unseren Job zu verlieben?

Wenn Sie im letzten Kapitel, »Im Zweifel Mut«, angekommen sind, werden Sie bestens dafür gerüstet sein, Ihre eigene Flamme am Lodern zu halten und gleichzeitig die Flammen anderer zu entzünden. Und ich werde – Romantik ist kein Kinderspiel – über einige der Vorbehalte, Dilemmas und Herausforderungen sprechen, die sich ergeben, wenn wir den Gedanken der Business-Romantik ausweiten wollen. Außerdem werden Sie mehr über die Rolle des Business-Romantikers in der Gesellschaft erfahren und darüber, wie Sie einen Wandel unterstützen können, der über das Leben der Einzelnen weit hinausgeht und ein neues, romantisches Zeitalter einläutet. Zu guter Letzt wird Ihnen der Anhang – »Das Business-Romantiker-Einsteigerset« – praktische Hilfsmittel und Tipps liefern.

Mit diesem Buch hoffe ich, eine stille, subtile Revolution anzuzetteln. Es ist an der Zeit, dass wir zusammenstehen. Es ist an der Zeit, dass wir uns Gehör verschaffen. Wer sind wir? Wir sind die Männer und Frauen der Wirtschaft, die bereit sind für mehr. Wir sind die Business-Romantiker.

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I

Aufbruch

1

Die Sehnsucht nach Romantik

Die verunsicherte Marktgesellschaft

Laut einer Gallup-Umfrage, die 2013 in 140 Ländern durchgeführt wurde, sind nur 13 Prozent der Angestellten weltweit mit vollem Einsatz und Begeisterung bei der Arbeit. 63 Prozent sind »teilnahmslos«, und es »fehlt ihnen an Motivation«. Mehr als 24 Prozent haben sich »aktiv abgekoppelt«, womit gemeint ist, dass »sie am Arbeitsplatz unglücklich und unproduktiv sind und dazu neigen, ihre negative Einstellung auf die Kollegen zu übertragen«.

Noch düsterer sieht es in den Chefetagen aus. Das Vertrauensbarometer 2013 der PR-Agentur Edelman zeigt, dass Akademikern, technischen Fachleuten und Angehörigen des mittleren Managements beinahe doppelt so viel Vertrauen entgegengebracht wird wie Vorständen.[4] In seinem Outlook on the Global Agenda 2014, einer Umfrage unter mehr als 1500 Führungspersönlichkeiten aus Staat, Wissenschaft und Wirtschaft, hat das Weltwirtschaftsforum »einen Wertemangel in den Führungsebenen«, »schwindendes Vertrauen in die Wirtschaftspolitik« und »eine sich öffnende Einkommensschere« als die drei Haupttrends identifiziert, die weltweit die Gesellschaften beeinflussen.[5]

Mit demselben Tenor stellt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fest, dass die soziale Ungleichheit in den am stärksten industrialisierten Nationen seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008 signifikant zugenommen hat, wobei 2010 die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung ihren Wohlstand neuneinhalbmal stärker steigern konnten als die ärmsten 10 Prozent.[6] In seinem vieldiskutierten Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert behauptet der französische Ökonom Thomas Piketty, dass wir uns zu einem »auf Vererbung beruhenden Kapitalismus« zurückentwickelt hätten, der an das 19. Jahrhundert erinnere, als sich der Wohlstand auf Familiendynastien konzentrierte.[7] In den Vereinigten Staaten führte die Occupy-Wall-Street-Bewegung für die Einkommensschere das Bild von den 99 Prozent und dem einen Prozent ein. Die Forschung zeigt aber, dass sich das Verhältnis in Wahrheit noch stärker zugunsten der Superreichen verschoben hat – den 0,1 Prozent. Während das oberste Prozent der amerikanischen Haushalte ungefähr 22 Prozent aller Einkommen einstreicht (inklusive der Kapitalgewinne), gehört 0,1 Prozent der Haushalte ein Fünftel des Reichtums im Lande.[8] Ein Report des Aspen Institute aus dem Jahr 2013 kommt zu dem Schluss, dass die USA sich zu einer »Pareto-Verteilungs-Gesellschaft« entwickeln könnten, in der der Wohlstand sich nicht mehr nach einer Gaußschen Glockenkurve verteilt, sondern sich stattdessen in den oberen Schichten einer nach dem »The winner takes it all«-Prinzip funktionierenden Gesellschaft anhäuft.[9] Und solche Ungleichheit, hält die Studie weiter fest, »nimmt selbst in Ländern zu, die historisch gesehen relativ egalitär waren«.

Die Innovationen der digitalen Ökonomie verstärken diesen Trend noch. Nicht nur die Zukunft ist ungleich verteilt, sondern auch die Wertschöpfung. Als Facebook im Februar 2014 für 19 Milliarden US-Dollar Whatsapp kaufte, da entsprach der Preis 345 Millionen Dollar für jeden einzelnen der 55 Angestellten.[10] In seinem Buch Wem gehört die Zukunft? betont der Autor Jaron Lanier die Auswirkungen dieser Entwicklungen für die Arbeitnehmerschaft: »Kodak hat 140000 Menschen beschäftigt, Instagram 13.«[11]

Wir sind in ein binäres Zeitalter eingetreten, in dem die Software nicht nur »die Welt auffrisst«, wie Marc Andreessen, der Risikokapital-Anleger aus dem Silicon Valley, verkündet[12], sondern anscheinend auch die Mittelschicht. Täglich erscheinen in den USA neue Zeitungsartikel über das Thema soziale Ungleichheit. Sei es über das Wegbrechen des Marktes für Konsumgüter der Mittelklasse[13] oder darüber, dass Präsident Obama die wachsenden Einkommensunterschiede als die »entscheidende Herausforderung unserer Zeit« bezeichnet.[14] Die Einkommensungleichheit wächst weltweit, aber im Vergleich mit anderen Industrieländern ist die Lage in den USA besonders dramatisch.[15]

Auch die Wall Street hat das mitbekommen: Zwar erhalten die Investmentbanker immer noch exorbitante Boni, aber sie haben viel von ihrer Aura als »Masters of the Universe« verloren. Plötzlich sind die Medien voll mit Lebensbeichten, die Titel wie »Warum ich Goldman Sachs verlasse«[16] tragen, und mit Geschichten über ehemalige Finanzmenschen, die jetzt Wiedergutmachung für ihre Sucht nach Geld leisten wollen, indem sie im Non-Profit-Bereich arbeiten.[17]

Aber die Amerikaner brauchen ja nicht die Medien dafür, um etwas zu erkennen, das sie tagtäglich auch selbst sehen können – auf den Straßen, in den U-Bahnen, in den Universitäten und Schulen und in den Büros. Überall wächst die Verdrossenheit. Das Land hat die Finanzkrise überlebt und ist jetzt in der schönen neuen Welt des aktuellen Aufschwungs angekommen. Doch viele Amerikaner haben das Gefühl, dass sie zwar immer mehr geben, aber dafür immer weniger zurückbekommen.

Selbst in Deutschland, das wesentlich glimpflicher durch die Wirtschaftskrise gekommen ist als viele andere Länder, ist das Klima der Verunsicherung spürbar. Auch hier klafft die Einkommens- und Vermögensschere immer weiter auseinander, und die Mittelschicht schrumpft – allein zwischen 1997 und 2010 um 5,5 Millionen Menschen.[18] Inflationsbereinigt sind die Realeinkommen der Deutschen seit anderthalb Jahrzehnten nicht mehr gewachsen.[19] Natürlich ist das Land reicher geworden. Aber von dem neu gewonnenen Wohlstand hat zuletzt nur noch »eine Elite in der Gesellschaft« profitiert, wie die Bertelsmann-Stiftung ganz nüchtern konstatiert.[20] Und dabei geht es den Deutschen, wie gesagt, noch gut. Der Blick auf die Verheerungen, die die Finanz-, Schulden- und Eurokrise anderswo in Europa, vor allem bei der jüngeren Generation, angerichtet hat, lässt die Zweifel am bestehenden Wirtschaftsmodell wachsen. Der Exodus der jungen Spanier, Griechen und Italiener, die vor der Perspektivlosigkeit in ihren Heimatländern fliehen, wirkt wie ein Menetekel.

Auch in den USA trägt die Jugend die Hauptlast der Krise. Für die Millennials, also die Altersgruppe zwischen 18 und 33 Jahren, sind die Arbeitslosenrate und die Armutsquote höher, die Wohlstands- und Einkommensraten niedriger, als sie es für die beiden unmittelbar vorangegangenen Generationen (die Generation X und die Babyboomer) zum gleichen Zeitpunkt in ihren Biografien waren.[21] Zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen macht eine Generation wirtschaftliche Rückschritte.

Das Silicon Valley, dessen Kultur von den Edikten des Tech-Optimismus indoktriniert ist, verspricht durch neue soziale Technologien jene Lücken zu schließen, die ein geschrumpfter Staat, schwindende zivilgesellschaftliche Strukturen und angeschlagene Medienunternehmen hinterlassen haben, die seit der Krise von 2008 allesamt noch darum ringen, ihre Rollen neu zu bestimmen. Aber glauben wir wirklich, dass Softwarefirmen wie Amazon, Facebook, Google und all ihre jüngeren Nachzügler die Antworten auf unsere drängendsten sozialen und ethischen Fragen finden? Eine wachsende Riege von Kulturkritikern und Philosophen bringt ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass staatsbürgerliche Verantwortung durch einen kurzsichtigen Glauben an Technologie ersetzt wird. Evgeny Morozov, einer der scharfzüngigsten dieser Kritiker, spöttelt über derartigen »Solutionismus«, einen Lösbarkeitsfetischismus, den er als »eine intellektuelle Symptomatik« bezeichnet, bei der man Probleme »nur auf der Basis eines einzigen Kriteriums betrachtet: ob sie mit Hilfe einer uns zur Verfügung stehenden hübschen und sauberen technologischen Lösung ›lösbar‹ sind«.

Zudem hängt die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung unsere Institutionen und unsere moralischen Kapazitäten weit ab. Wir leben in einer Zeit, in der wir schon Science-Fiction-Filme produzieren müssen, um zu unserer Realität aufzuschließen. Täglich wird von uns erwartet, uns stichhaltige Meinungen zu Entwicklungen zu bilden, die von Überwachung – sei es durch Unternehmen oder durch Regierungen – über Cyberkrieg, Bioterrorismus und Gentechnik bis zu den verschiedensten, von Social Media befeuerten Aufständen reichen. Und das waren erst die Frühnachrichten. Bevor wir das Tempo des Wandels noch richtig verdaut haben – geschweige denn, dass wir eine moralische Perspektive auf ihn entwickelt hätten –, haben die Innovationen in der Avantgarde von Wissenschaft und Technologie schon angefangen, uns als Individuen und als Kultur zu verändern.

So wie diese technologischen Innovationen zu wirtschaftlichen Brüchen führen, so destabilisieren sie auch unser Wertesystem. Papst Franziskus, für Time die »Person des Jahres 2013«, wettert gegen die »Tyrannei des ungebremsten Kapitalismus«, gegen die »Trickle down«-Wirtschaftspolitik, die Gier der Finanzmärkte und gegen die Konsumgesellschaft. Das Oberhaupt der katholischen Kirche hat deutlich gemacht, dass wir in ernster Gefahr sind, unseren moralischen Kompass zu verlieren, wenn wir uns nur vor den Götzen des Geldes verneigen.[22] Der Geschäftsgedanke hat sich selbst in die privatesten Aspekte unseres Lebens eingeschlichen, Stück für Stück, wie du mir, so ich dir. Wir geben voreinander mit unseren Terminkalendern an, um uns selbst unseres Erfolgs zu vergewissern, und die einzige Ekstase, die wir noch finden, rührt aus dem Gefühl permanenten Überwältigtseins.[23]

Darunter leiden inzwischen sogar unsere Freundschaften. In den USA hat eine Gruppe namens Lifeboat, die sich selbst als Bewegung bezeichnet, die »tiefe Freundschaften zelebriert«, kürzlich eine großangelegte Studie zur Lage von Freundschaften durchgeführt.[24] Die Ergebnisse dieses ersten Reports seiner Art sind ernüchternd. Nur ein Viertel der Erwachsenen sind mit ihren Freundschaften wirklich zufrieden. Trotz der wachsenden Bedeutung der Social Networks und der zunehmenden Möglichkeiten von Online-Kontakten haben die meisten Amerikaner Lifeboat gegenüber erklärt, dass sie lieber weniger, aber intensivere Kontakte hätten als eine größere Zahl an Freunden. Der Studie zufolge stecken Freundschaften in den USA in einer »Krise«. In Deutschland hat die Medienwissenschaftlerin und Publizistin Miriam Meckel, seit 2014 Chefredakteurin der WirtschaftsWoche, schon vor Jahren die Kommerzialisierung und die damit einhergehende Entwertung des Freundschaftsbegriffs in der digitalen Welt, vor allem bei Facebook, beklagt. Wahre Freundschaft werde dort durch die Ware Freundschaft ersetzt: »Wer utilitaristisch dabei denkt und darin eine ökonomische Beziehung aus Angebot und Nachfrage sieht, ist kein Schelm, sondern schlau und hat die Prinzipien digitaler Freundschaften durchschaut. ›Gefällst du mir, gefall ich dir.‹«[25]

In unserer sich immer weiter entwickelnden digitalen Landschaft erlebt man das Gefühl der Isolation wie in einem Spiegelkabinett. Facebook und andere soziale Medien wurden entwickelt, damit wir uns enger miteinander verbunden fühlen. Aber unsere Sorgen, die wir uns über Einkommensungleichheit und Arbeitsunzufriedenheit machen, werden auf den digitalen Allmenden nur immer größer. Immer hat jemand anderes in unserem Netzwerk mehr Spaß, verdient mehr Geld oder schöpft mehr aus seinen Kontakten. Die Millennials ziehen sich in den Individualismus zurück und entfernen sich immer mehr von Institutionen wie Religion, Ehe und politischen Parteien. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew aus dem Jahr 2014[26] hat gezeigt, dass das soziale Kapital der Digital Natives hauptsächlich durch die Netzwerke sozialer Medien generiert wird. Das Bedürfnis nach Selbstdarstellung und nach Kontakten ist hoch (55 Prozent der Millennials haben schon online ein »Selfie« gepostet), aber das Vertrauen in andere ist gering: Nur 19 Prozent der Millennials glauben, dass man anderen Menschen trauen könne, verglichen mit 31 Prozent in der Generation X und 40 Prozent der Babyboomer.

Angesichts von so viel Unsicherheit suchen die Millennials nach einem stärkeren Sinn- und Gemeinschaftsgefühl in der Arbeit. Und damit sind sie nicht alleine. In einem Gastkommentar in der New York Times hat der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs für diesen zeithistorischen Augenblick den Begriff des »New Progressivism«[27] geprägt – eine Antwort auf die mit Schulden erkaufte Überfülle jener neuen Belle Époque, die in der Krise zu Ende gegangen ist. Der veränderte Zeitgeist lässt überall neue Formen des Geschäftshandelns aufkommen. In den USA gibt es seit wenigen Jahren das Modell der »B Corps«, das sind profitorientierte Unternehmen, die ein Mandat haben, soziale oder Umweltprobleme zu lösen,[28] und anders als gemeinnützige GmbHs in Deutschland auch Gewinn ausschütten dürfen; sie bringen daher die Interessen der Anteilseigner und den Gemeinnutzen unter einen Hut. Non-Profit-Organisationen wie Ashoka tun sich mit einem DAX-Unternehmen wie SAP zusammen, um »sozialunternehmerischen Nachwuchs« zu fördern;[29] die Maker-Bewegung findet ihre größten Unterstützer in großen Einzelhandelsunternehmen;[30] erfolreiche »alternative« Kapitalisten wie Sir Richard Branson oder der frühere Puma-Chef Jochen Zeitz haben das B-Team gegründet – eine Gruppe, die Wirtschaftsführer zusammenbringen will, um hehre soziale und Umweltziele anzugehen;[31] der Mitgründer und Vorstandschef der Biomarktkette Whole Foods, John Mackey, predigt die Idee des »bewussten Kapitalismus«;[32] der Unternehmensberater und frühere Telekom-Vorstand Bernd Kolb versucht in seinem Netzwerk »Club of Marrakesh«, neue Wege für ein nachhaltiges und ethisches Wirtschaftshandeln zu beschreiben;[33] und das Energy Project des Journalisten und Unternehmensberaters Tony Schwartz wirbt für eine zielbewusstere Mitarbeiterbindung, die auf dem Konzept der »Energie« einer jeden Person aufbaut.[34]

Was läuft da ab?

Aaron Hurst ist ein Mann mit großer Erfahrung im Bereich der sozialen Innovation. 2001 hat er im reifen Alter von 16 Jahren an der University of Michigan sein erstes Projekt ins Leben gerufen, die Taproot Foundation. Die Idee war simpel, aber für ihre Zeit revolutionär: Businessprofis sollten Möglichkeiten gezeigt werden, wie sie Pro-bono-Arbeit leisten können. Während seiner vielen Jahre bei Taproot hat Hurst mehr als 25000 Briefe von Wirtschaftsfachleuten aus aller Welt erhalten, die ihm alle erklärt haben, was sie aus der Erfahrung der Pro-bono-Tätigkeit zu ziehen hofften. Aber warum um alles in der Welt sollten anderweitig erfolgreiche Businessprofis händeringend nach Gelegenheiten suchen, ihre Zeit zu verschenken?

Würde man eine solche Frage im zivilgesellschaftlichen oder religiösen Bereich stellen, würde sie absurd wirken. Anderen zu dienen und sich engere, tiefer gehende Bindungen zu den Mitmenschen zu wünschen, liegt geradezu in der DNS dieser Lebensbereiche. In der Geschäftswelt wird uns hingegen beigebracht, uns selbst als Maschinen zu sehen, als Agenten von Eigeninteresse, Optimierung, Effizienz und Produktivität. Demgegenüber hat Hurst vier zutiefst menschliche Triebkräfte ausgemacht, die hinter der starken Nachfrage nach Pro-bono-Tätigkeiten stecken: (1) neue Leute kennenlernen; (2) besser werden in dem, was man macht; (3) wichtige gesellschaftliche Herausforderungen angehen; und (4) Beziehungen mit anderen pflegen.

Später hat Hurst seine Thesen in ein Buch und in ein Programm gegossen, das er The Purpose Economy[35], also »Wirtschaft mit Sinn«, genannt hat, und sich mit der Social-Design-Firma Imperative zusammengetan, um ein solches »sinnstiftendes Business« zu fördern. Die Purpose Economy, so behauptet Hurst, werde das nächste Paradigma nach dem Niedergang der Informationsökonomie. In seinen Worten versetzt sinnstiftendes Business »Menschen in den Stand, eine erfolgreiche Karriere und ein erfülltes Leben zu haben, indem sie für sich selbst einen bedeutsamen Mehrwert schaffen«. Das klingt nach einem radikalen Wandel – weg von den Informationen, hin zu etwas noch Vagerem und möglicherweise Esoterischerem. Doch Hurst ist sich sicher, dass unternehmerische Sinnstiftung eine der stärksten Antriebskräfte für die nächste Generation sein werde.

Natürlich verdanken seine Vorstellungen dem Management-Guru Peter Drucker einiges, der schon vor zwei Jahrzehnten das Konzept des »purpose-driven business« etabliert hat, dem zufolge Unternehmen einen Daseinszweck, ein höheres Ziel brauchen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Diese Ideen sind aber auch höchst aktuell.[36] Der demografische Wandel – mehr Frauen in der Arbeitswelt, mehr Zuwanderer und vor allem die wachsende Präsenz der Millennials, die 2020 bereits 50 Prozent der weltweiten Erwerbsbevölkerung stellen werden[37] – führt dazu, dass Arbeitnehmer zunehmend fortschrittlich eingestellt sein werden. In Hursts Worten »hat sich die Generation X für soziale Werte eingesetzt, aber für die Generation Y sind sie eine Notwendigkeit«.

Michael Norton, Professor für Managementlehre an der Harvard Business School und Koautor des Buchs Happy Money,[38] sagte mir: »In den Personalabteilungen ging es früher mal um Boni und Gehaltserhöhungen, um Hire and Fire und um die Auswahl neuer Mitarbeiter. Heutzutage aber hat die Personalabteilung Aufgaben wie ›Wellness‹ oder ›Wie machen wir unsere Mitarbeiter glücklicher?‹. Menschen sind zwar glücklicher, wenn sie mehr Geld bekommen, aber es ist zunehmend unsicher, dass harte ökonomische Anreize wirklich das Mittel der Wahl sind.«

Norton und seine Kollegen arbeiten aktuell an Experimenten, die einige alternative Anreize untersuchen. In einem dieser Experimente haben die Angestellten einer australischen Bank, denen man die Möglichkeit gegeben hatte, einer Wohltätigkeitsorganisation Geld zu spenden, anschließend von einer signifikant höheren Zufriedenheit und einem größeren Glücksgefühl bei der Arbeit berichtet. In einem anderen Experiment erbrachten die Angestellten eines belgischen Pharmaunternehmens bessere Leistungen, nachdem sie ihren Teamkollegen Geld geschenkt hatten. Diese und andere »prosoziale« Anreize erweisen sich effektiver als monetäre Anreize, um die Produktivität zu erhöhen. Untersuchungen der Harvard Business Review und des Energy Project legen den Schluss nahe, dass Angestellte, die an die Mission ihres Unternehmens glauben, mit höherer Wahrscheinlichkeit ihrem Arbeitgeber treu bleiben, von einer höheren Zufriedenheit im Beruf berichten und stärker engagiert sind.[39] Einer Deloitte-Studie aus dem Jahr 2014 zufolge haben Führungskräfte und Arbeitnehmer, die für ein Unternehmen arbeiten, das ihnen in hohem Maße das Gefühl eines weiterführenden Sinns vermittelt, ein größeres Vertrauen in die Wettbewerbsfähigkeit und die Wachstumsperspektiven des Unternehmens als solche, denen dieses Gefühl fehlt.[40]

 

Die Social-Designerin und Mitgründerin von Imperative Kyla Fullenwider hingegen sagte mir, dass sie es als »antiquiert« empfinde, soziale Mission, Sinnstiftung, Glück und andere alternative Messgrößen durch betriebswirtschaftliche Argumente wie höhere Produktivität und größeres Wachstum zu rechtfertigen: »Die wahren Erneuerer und Early Adopter benutzen nicht mal mehr den Begriff ›Business Case‹«, sagte sie. »Es ist viel einfacher. Wir bemühen uns, unsere Angestellten glücklich zu machen, weil wir alle Menschen sind. Dieser Grund liegt doch auf der Hand. Oder er sollte es zumindest. Das ist das Ziel.«

Folgerichtig ist für aufgeklärte Wirtschaftswissenschaftler Glück kein Mittel zum Zweck mehr; es ist der Zweck. Die Vereinten Nationen haben eine Glücksresolution verabschiedet und einen Internationalen Tag des Glücks ins Leben gerufen;[41] die Harvard Business Review hat den »Glücks-Faktor« 2012 auf ihr Cover genommen,[42] Unternehmen wie der Online-Einzelhändler Zappos haben einen »Mitarbeiterglücksindex« eingeführt, der vom Bruttoinlandsglücksindex des Königreichs Bhutan inspiriert ist. Das Unternehmen hat daraus ein komplettes Programm zur »Glücksvermittlung« entwickelt, zu dem sogar ein »Chief Happiness Officer« gehört.[43]

Aber die Debatte geht über bloßes Glück hinaus und verweist auf etwas, das noch hochfliegender klingt: Sinn. Sinnsuche unterscheidet sich in bemerkenswerter Weise vom Streben nach Glück, wie Forschungen von Roy F. Baumeister und anderen belegt haben.[44] Man kann ein glückliches Leben führen, dem es an jedem höheren Sinn fehlt, und man kann ein sinnerfülltes Leben führen, ohne sich glücklich zu fühlen. Glück ist zart, individualistisch und episodenhaft; Sinn ist tiefgründig, gemeinschaftsorientiert und transzendent. Letzten Endes suggeriert Sinnhaftigkeit fast immer eine Verbindung zu einem größeren Gemeinschaftsgefühl, sei es real oder nur imaginiert. Sinnhaftigkeit ist spirituell unterfüttert.

Und sie hat längst auch im wirtschaftlichen Mainstream Einzug gehalten. In der Technologiebranche wird von »Heilung« gesprochen, Führungskräfte greifen das Konzept der Mindfulness auf, und das offizielle Programm des Weltwirtschaftsforums in Davos umfasste zuletzt sogar frühmorgendliche Meditationssitzungen, zu denen ein buddhistischer Mönch geladen hatte. Das Konferenznetzwerk Wisdom 2.0 verbindet technologische Innovationen mit den neuesten Erkenntnissen über den menschlichen Geist und bringt einen anregenden Dialog über die Frage in Gang, wie man spirituelle Einsichten, Meditationen, emotionale Intelligenz und andere Formen der »Seelennahrung« in die Agenden von Unternehmen einbinden kann. Firmen wie SAP, Nike, Adidas und Target beginnen ihre Arbeitstage mit Meditation oder Yoga, und Google bietet seinen Mitarbeitern regelmäßig ein Seminar über die »Suche in dir selbst« an, das stets sofort ausgebucht sein soll. Eine neue Generation von Führungskräften lotet derweil die »dritte Messgröße« aus – alternative Methoden, mit denen man ein erfolgreiches oder besser gesagt sinnerfülltes Leben erfassen kann, das sich durch Freigiebigkeit und Dankbarkeit, durch die Fähigkeit zu staunen, durch Wohlgefühl und Weisheit auszeichnet.[45]

Mehr als sechzig Jahre nach dem Erscheinen von Viktor Frankls bahnbrechendem Werk Der Mensch auf der Suche nach Sinn[46] scheint »Sinn« zum größten gemeinsamen Nenner einer ganzen Generation geworden zu sein. Eine 2011 vom Career Advisory Board der DeVry University herausgegebene Studie kam zu dem Schluss, dass für die Generation Y ein »Sinngefühl« der wichtigste Indikator einer erfolgreichen Karriere sei. Diese Sehnsucht nach mehr Sinn steht in Zusammenhang mit einem neuen Optimismus. In einer Telefonica-Umfrage unter 12000 Millennials in 72 Ländern fanden 62 Prozent der Befragten, dass sie dort, wo sie leben, etwas verändern könnten, und 40 Prozent glaubten, auf globaler Ebene etwas verändern zu können.[47] Während ihre Vorgänger aus der Generation X sich über Bürokratie und über die Korrumpierung von Firmen und Institutionen beklagten, tun die Millennials sie einfach als irrelevant ab. Ihre Generation macht sich das zu eigen, was der Zukunftsforscher Alvin Toffler einmal als »Adhocracy«[48] beschrieben hat: nach dem Baukastenprinzip aufgebaute und bewegliche Netzwerkstrukturen, die leicht zueinanderfinden und auch wieder auseinandergehen. Das Schwergewicht des Einflusses verschiebt sich dynamisch innerhalb des Netzwerks, anstatt in einer einzelnen Institution oder Organisation statisch zu bleiben.

Aber in welchem Verhältnis steht nun die Romantik zu diesen Netzwerkkonzepten von Bedeutung, Glück und Sinn? Kann ein sinnorientiertes Leben romantisch sein? Ist Romantik eine Voraussetzung für Sinn? Bedeutet mehr Romantik mehr Glück? Bevor ich fortfahre, müssen wir einige wichtige Unterscheidungen zwischen den Grundlagen dieser breiteren kulturellen Strömungen und den Themen dieses Buchs treffen. Business-Romantiker streben sicherlich nach einem größeren Sinngehalt in ihrer Arbeit, und sie finden auch, dass materielle Anreize nur einen kleinen Teil dessen ausmachen, was Arbeit bereichernd macht. Aber ihr Wertegerüst ist ein grundsätzlich anderes. Wo ein missions-getriebenes Unternehmen nur dann Erfolg haben wird, wenn es das klar bestimmte »Gute« in der Welt identifiziert, messen die Business-Romantiker dem Prozess genauso viel Wert bei wie dem Endprodukt. Um mit Konfuzius zu sprechen: »Der Weg ist das Ziel.« Und so geben Romantiker dem Erlebnis selbst den Vorrang vor der Erfüllung des institutionellen Ziels. Ein guter Freund von mir arbeitet zum Beispiel für eine Firma, bei der soziale Verantwortung ganz zentral ist, und hat mir von seinem überraschenden – wenn auch rein privaten – Frust berichtet: »Manchmal merke ich, dass ich demoralisiert bin. Ich liebe die Marketingwelt, aber diese Firma bestraft mich geradezu für meine Leidenschaft. Mir wird auf subtile Weise signalisiert, dass ich unsere Produkte gar nicht verkaufen soll. Ich fühle mich, als säße ich in einem Provinznest voller ›Weltverbesserer‹ fest: Alles, was innovativ und aufregend ist, findet auf stärker konkurrenzorientierten Feldern statt.«

Eine romantische Firma zu sein ist nicht gleichbedeutend damit, zweckgeleitet oder sozial verantwortungsvoll zu handeln. Für einen Romantiker ist ein gesellschaftlicher Zweck wichtig, aber Lernerfahrungen, Aufregung und Abenteuer sind es ebenfalls, wenn nicht noch wichtiger. Romantik ist auch nicht unbedingt mit Moral gleichzusetzen. Wir werden sogar feststellen, dass Romantik manchmal, in Momenten höchster Intensität, größter Ungewissheit, stärksten Konflikts und größter Unruhe, ihre dunkle Seite offenbaren kann. Vielleicht arbeiten Sie für eine allseits angesehene Firma und widmen sich einer bedeutsamen sozialen Mission, aber verspüren doch einen völligen Mangel an Romantik. Und andererseits finden Sie vielleicht mehr Romantik in der Arbeit bei Goldman Sachs als bei einer humanitären Hilfsorganisation. Man kann Gutes tun, ohne sich gut zu fühlen. Und umgekehrt. Business-Romantiker haben Verständnis für das Streben nach Glück und Sinn, aber sie sind letzten Endes auf der Suche nach etwas anderem, nach etwas, das schwerer fassbar ist und potenziell brandgefährlich sein kann. Eine noble Mission, bei der man sich einer sozialen Aufgabe verschreibt, ist nur einer von vielen Wegen, außergewöhnliche Erfahrungen zu machen.

Wenn ich an meine Arbeit beim olympischen Fackellauf in Kairo zurückdenke, dann war das eine romantische Erfahrung, gerade weil ich von ihr so hin- und hergerissen war inmitten all der Widersprüche. Ich hatte das starke Gefühl, einem höheren Zweck zu dienen, auch wenn mir dabei die Sponsoren im Nacken saßen. Wir waren konfrontiert mit dem Heiligen wie mit dem Profanen und mussten dabei stets dafür sorgen, dass die Flamme weiterlodert. Diese Aufgabe hatte eine Intensität, die meinem Leben einen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt hat. Hat das die Welt zu einem besseren Ort gemacht? Wer weiß. War es eine Erfahrung, bei der ich mich in jeder Sekunde ganz und gar lebendig fühlte? Absolut.

Selbstquantifizierung

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts prägte der Soziologe und Nationalökonom Max Weber den Begriff von der »Entzauberung der Welt«, um die vorherrschende Ordnung der modernen Industriegesellschaft zu beschreiben, die einen bürokratischen, intellektualisierten und säkularisierten Blick auf die Welt einnahm.[49] Weber bedauerte, dass wissenschaftliches Verständnis und technische Rationalität einen »eisernen Käfig« geschaffen hätten, der die Spiritualität in die Randbereiche unseres Lebens verdrängt habe. Er beobachtete, »dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander«. Im Rückblick erscheint einem Webers Beschreibung der Menschheit in seinem wegweisenden Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus so düster wie prophetisch: »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.«

Über ein Jahrhundert später durchläuft die Menschheit erneut eine Phase der Entzauberung – die aber diesmal nicht von der Industrialisierung vorangetrieben wird, sondern von der Datifizierung unserer Märkte, Gesellschaften, Arbeitsplätze und Beziehungen. Sie haben die verblüffenden Zahlen vermutlich schon einmal gehört: Die Menschheit produziert heute in zwei Tagen so viele Daten, wie sie es in ihrer gesamten Geschichte bis zum Jahr 2003 getan hat. Und die gesamte Datenmenge verdoppelt sich alle zwei Jahre, so dass sie im Jahr 2020 bei 40000 Exabyte (40 Billionen Gigabyte) liegen wird. (Nur um Ihnen eine Bezugsgröße zu geben: Ein einzelnes Exabyte entspricht dem Speicherplatz von 250 Millionen DVDs.) In der Zeit, die Sie brauchen, um dieses Kapitel zu lesen, wird die Menschheit die gleiche Datenmenge produzieren, die derzeit in der amerikanischen Kongressbibliothek gelagert wird. Das ist Big Data im wahrsten Sinne des Wortes.

Im Herbst 2012 habe ich eine Stunde mit Yossi Matias, dem geschäftsführenden Direktor von Googles Forschungs- und Entwicklungszentrum in Israel, verbracht. Unser Gespräch drehte sich um Algorithmen und Intuition. »Die Intuition ist selbst ein Algorithmus«, behauptete der Google-Manager, ein bestens ausgebildeter Ingenieur. »Sie besteht aus den Millionen von Eindrücken, mit denen wir unser Gehirn füttern.« Er empfahl, diesen Prozess nachzubilden und nachzuahmen. Das Ziel war es seiner Ansicht nach schlicht, bessere Algorithmen zu schaffen. Seine Argumentation klang überzeugend und entwaffnend, aber als ich mich verabschiedete, spürte ich eine gewisse Leere.

Von zahlenfressenden Kolossen wie Google und Amazon, die gigantische Depots von Nutzerdaten generieren, um maßgeschneiderte Transaktionen anbieten zu können, bis zur »Quantified Self«-Bewegung, die durch eine Palette neuer Geräte und Apps angetrieben wird, die Konsumenten helfen sollen, ihre Produktivität, Gesundheit und Fitness zu verbessern: Die großen und kleinen Datenlieferanten versprechen uns, unser Leben besser zu machen. Und sie tun es auch. In gewisser Weise. Es ist schon bemerkenswert, dass wir heutzutage präzise katalogisieren können, wann genau wir am besten schlafen und welche Proteinriegel uns zu den schnellsten Splits beim Lauftraining verhelfen. Und noch wichtiger ist es, dass technologische Durchbrüche an Fronten wie denen der personalisierten Medizin und des Katastrophenmanagements bereits jetzt Leben retten. Aber die Fixierung auf Daten lässt auch eine gewisse Wehmut, vielleicht sogar ein wenig Melancholie aufkommen. Wenn die Algorithmen erst in den letzten Winkel unseres Lebens eingedrungen sind, bis nichts Unerklärliches mehr übrig ist, dann wird das einen immensen Verlust bedeuten. Je rascher wir von der automatisierten Produktion zur automatisierten Entscheidungsfindung übergehen, desto mehr menschliche Handlungsfähigkeit riskieren wir dabei aufzugeben. Je stärker wir unsere Erlebnisse – ob von Transzendenz, Anspannung, Freude oder Furcht – auf eine Reihe von nüchternen Datenpunkten und technisierten Touchpoints reduzieren, umso mehr treiben wir ihnen ihre so schwer fassbare Magie aus.

Als 2014 der Malaysia-Airlines-Flug 370 auf mysteriöse Weise vom Radar verschwand und die Angehörigen der Passagiere sowie die ganze Weltöffentlichkeit über das Schicksal des Flugs im Dunkeln tappten, schrieb der Essayist und Autor Pico Iyer eine scharfsinnige Kolumne, in der er uns an den »Wahn des Wissens« erinnerte: »Egal, was unser jeweiliges Fachgebiet ist: Die meisten von uns erkennen doch, dass wir oft immer weniger wissen, je mehr Daten wir sammeln. Das Universum ist keine feststehende Summe, bei der wir einfach die Menge dessen, was wir wissen, von dem abziehen können, was wir nicht wissen.«[50] Trotz Big Data, trotz immer weiter ausufernder Überwachung und unseres brennenden Drangs, alles zu wissen, rät uns Iyer, uns in aller Bescheidenheit mit den Grenzen unseres Wissens abzufinden und dem Unbekannten seinen Raum zu lassen: »Selbst wenn wir mehr über das Schicksal des Fliegers erfahren sollten, ist es unwahrscheinlich, dass jemals alle unsere Fragen beantwortet werden. Und die Erinnerung daran, wie viel wir nicht wussten – und wie lange wir es nicht wussten –, sollte etwas ernüchternd auf uns wirken, wenn wir uns für die nächste Heimsuchung durch das Unerklärliche wappnen.«

In der Geschäftswelt gibt es kaum Platz für Unerklärliches. Wissen wird oft mit exakten Messwerten gleichgesetzt, und das herrschende Mantra lautet: »Man kann nur managen, was man misst.« Big Data hat inzwischen auch am Arbeitsplatz Einzug gehalten. Nicht nur die Produktivität der Mitarbeiter wird kontrolliert, sondern auch ihre sozialen Interaktionen werden überwacht – »Sozialphysik« nennt der Computerwissenschaftler Alex Pentland diese neue Gattung soziometrischer Daten.[51] Er bezieht sich damit zum Beispiel auf eine Smartphone-App namens Meeting Mediator[52], die zeigen kann, wer in einer Besprechung das Gespräch dominiert. Es überrascht nicht, dass manche Forscher angesichts solcher neuen Möglichkeiten der Mitarbeiterüberwachung besorgt sind und sogar von einem »digitalen Taylorismus« sprechen.[53]

Gewiss werden die Messungen der Algorithmen dem Management neue Erkenntnisse liefern. Aber wir müssen ja nur auf die jüngste Finanzkrise blicken, um festzustellen, wie schlecht wir das managen, was wir glauben messen zu können. Gescheiterte Fusionen, verpatzte Produkteinführungen, Imagekrisen und Social-Media-PR-Desaster – gerade solche kulturellen Schaltfehler und Brüche zwischen Organisationen und ihren Stakeholdern, zwischen Marken und ihren Zielgruppen zeigen uns, wie wichtig es ist, das besser zu managen, was wir nicht messen können.

Wir haben damit begonnen, alternative Definitionen und Messgrößen für Wertschöpfung wie Glück und Sinn zu betrachten, und nun nutzen wir unsere Analysetools dazu, sie zu quantifizieren und auszubeuten. Ich begrüße es, dass wir andere Arten von Werten messen, aber nur dann, wenn wir nicht den Wert dessen vergessen, was nicht messbar ist.

Es muss neben dem Erklärbaren auch Platz für das Unerklärliche geben und Raum für das Implizite neben dem Expliziten. Gerade die größten Führungspersönlichkeiten müssen im Herzen Business-Romantiker sein. Man kann es kaum besser formulieren als F. Scott Fitzgerald, der einen scharfen Intellekt als die Fähigkeit definiert hat, »zwei einander widersprechende Gedanken gleichzeitig im Kopf zu haben und dabei immer noch zu funktionieren«.[54] Führungspersönlichkeiten brauchen dieses Weite im Denken, um die unvermeidliche Unordnung des Wirtschaftslebens begreifen zu können – die konkurrierenden Realitäten, die die zunehmende Komplexität unserer Gesellschaften widerspiegeln. Wir müssen der Versuchung widerstehen, diese Unordnung auf rein quantitative Größen zu reduzieren.

Erst die Fähigkeit, die Ungewissheit unserer Alltagsexistenz zu ertragen, erlaubt es uns, unsere bedeutsamsten Arbeitsbeziehungen aufzubauen. Als Romantiker sehen wir menschliche Irrtümer als Werkzeuge der Selbsterforschung an, und wir wissen die Launenhaftigkeit des nichtquantifizierten Selbst zu schätzen. Wir freuen uns über Nuanciertheit; wir wissen Absichten ebenso sehr (und vielleicht sogar mehr) zu schätzen wie Resultate; wir akzeptieren die Unausweichlichkeit des Unvorhersehbaren – und des Scheiterns. All diese Glaubenssätze entziehen sich der Formulierung in Algorithmen, und doch bilden sie die Grundlage für einige der genialsten Handlungen von Managern. Wir können das managen, was wir nicht messen können. Wir tun das jeden Tag.

Eine Freundin von mir ist Schriftstellerin und hat vor kurzem vor der Küste von Panama an einer Art Gastprogramm teilgenommen. Sie gehörte zu einer ausgewählten Gruppe von Künstlern und Wissenschaftlern, die eine österreichische Kunstsammlerin auf ihre Jacht eingeladen hatte, um eine Woche lang den kulturellen Austausch zu pflegen. Ziel war es, eine Brücke von Dialog und Verständigung zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften zu bauen, zwischen den Bereichen, die der britische Wissenschaftler und Schriftsteller C.P. Snow einmal als »Die zwei Kulturen« bezeichnet hat.[55] Meine Freundin hatte man mit einer Gruppe von Ingenieursstudenten des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zusammengebracht, und sie beschrieb mir den Drang der Ingenieure, selbst in Gesprächen über Ethik, Identität und Kultur »Problemlösungen« zu finden. »Sie hatten ihre Antworten immer parat, bevor die anderen Teilnehmer überhaupt ihre Fragen formuliert hatten«, erzählte sie mir. Scheitern? Ein »Pivot« auf dem Weg zum schlussendlichen Erfolg. Moral? Eine Kontextfrage und eine Sache der besseren, datengestützten Entscheidungsfindung. Liebe? Ein Algorithmus, wenn es klappt – eine sentimentale Ablenkung, wenn nicht. Meine Freundin fröstelte es angesichts der laserscharfen Rhetorik der Studenten und ihrer an Arroganz grenzenden Selbstsicherheit, die analytischen Grips mit Intellekt verwechselte. Das Erlebnis rief ihr eine Zeile des spanischen Philosophen und Essayisten José Ortega y Gasset ins Gedächtnis: »Ich wünschte, es würde den Ingenieuren aufgehen, dass es nicht genügt, ein Ingenieur zu sein, um ein Ingenieur zu sein.«

Dass die Chemie zwischen den beiden Gruppen auf der Jacht so gar nicht stimmte, verweist auf einen tiefer liegenden Antagonismus in der Gesellschaft: Technologen wissen nicht, was sie nicht wissen, bis sie es wissen. Im Gegensatz dazu leben Künstler – und Romantiker – gerade durch den Charakter ihrer Arbeit mit den Spannungen, die durch Vieldeutigkeit, Konflikt, Zweifel und Zögern entstehen. Die Geisteswissenschaften sind unsere entscheidende Bastion im Abwehrkampf gegen die rein utilitaristische Geisteshaltung der Ingenieure. Sie helfen uns dabei, das zu feiern und hochzuhalten, was wir nicht wissen. Sie geleiten uns, wenn wir uns den existenziellsten aller Fragen stellen: Wer sind wir im Angesicht der Naturgewalten? Wer sind wir im Angesicht unterdrückerischer Regimes? Wer sind wir mit Blick auf unsere berufliche Bestimmung? Was bedeutet die Arbeitsleistung unseres Lebens wirklich?

Bei seiner Rede zur Graduierungsfeier der Brandeis University im Jahr 2012 sprach Leon Wieseltier, der Literaturredakteur des Magazins New Republic, den Absolventenjahrgang als »Mithumanisten« an.[56] In der Begegnung mit großer Kunst – Texten, Bildern und Objekten – machte er ein »Bollwerk gegen die twitternde Beschleunigung des Bewusstseins« aus. Die Kultur, so verkündete er trotzig, sei zur neuen Gegenkultur geworden. Die romantische Tradition – ihre Kunst, Literatur, Philosophie und Geschichte – hatte das Ich einst als eine so launenhafte wie unberührte Seele begriffen. Während wir uns Gedanken über den schleichenden Rückzug der Geisteswissenschaften machen, haben sich die existenziellen Fragen verschoben. Die Harvard University gab kürzlich bekannt, dass die Zahl von Abschlüssen in den Geisteswissenschaften in der Universität massiv gefallen sei – wie ihr Anteil auch in den USA insgesamt zwischen 1966 und 2010 von 14 auf 7 Prozent zurückgegangen sei.[57] Zwar blieben diese Zahlen nicht unwidersprochen[58], doch die Debatte, die folgte, illustriert das grundsätzliche Dilemma: Was die Relevanz der Geisteswissenschaften betrifft, befinden sie sich in einer handfesten Vertrauenskrise. Viele von uns blicken heutzutage erwartungsvoll auf Experten in Laborkitteln; wir suchen nach wissenschaftlichen Gütesiegeln; wir schauen nach Korrelationen, nicht nach Ursachen. Die Fixierung unserer Kultur auf die Wissenschaft hat ältere, romantischere Vorstellungen vom düster-stürmischen Geist durch eine sozusagen keimfreie Version ersetzt; was einst rätselhafte Temperamente und Launen waren, ist durch die Spezifika von Zellen, Neuronen und Synapsen ersetzt worden. Im Windschatten der Quantifizierung ist es so weit gekommen, dass die Geisteswissenschaften heute als ehrenwert, aber unbedeutend gelten. Mag sein, dass sie etwas über unsere Vergangenheit wissen, aber sie haben uns über unsere Zukunft nichts zu sagen. In Deutschland und Europa spiegelt sich die Krise der Geisteswissenschaften zwar bislang nicht in fallenden Studentenzahlen wider. Doch die geisteswissenschaftlichen Fächer haben besonders hohe Abbrecherquoten, ihre Absolventen tun sich beim Berufseinstieg oft schwerer und bekommen weitaus niedrigere Einstiegsgehälter als etwa Ingenieure.[59] Die Professoren wiederum sehen sich im von der Politik angeheizten Wettbewerb um Drittmittel, der das akademische Leben inzwischen bestimmt, dauerhaft als die »armen Verwandten« der Naturwissenschaftler abgestempelt.[60]