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Eine Frau in den Vierzigern will ihr Leben noch mal rocken. Die allgemein verbreitete Ansicht über Schönheitsideale und Vergänglichkeit können ihr gestohlen bleiben. Midlifelust statt Midlifefrust ist angesagt und dabei fällt sie einem Hollywoodstar vor die Füsse. Unter der Sonne Kaliforniens findet sie ein kaum zu fassendes Glück.
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Veröffentlichungsjahr: 2014
Schönheit ist, was berührt
Copyright by Kirsty Israel
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1. Auflage September 2013
Copyright by Kirsty Israel
Lektorat by Matthias Büge
und Angelika Fleckenstein
Covergestaltung by Alexander Maisch
Coverfoto by Kirsty Israel
Verlag: tredition, GmbH
Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind der Autorin vorbehalten. Dies gilt ebenso für das Recht der mechanischen, elektronischen und fotografischen Vervielfältigung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Roman ist eine Fiktion. Die Handlung und handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden und/oder realen Personen ist rein zufällig.
Inhalt
Wie alles begann...
Tom und Jenny
Hanna
Zwei Ladies shoppen
Jenny allein zuhause
Lass es rocken
Mann und Frau – was nun?
Szenen einer Ehe
Madonna-Syndrom
Coming home
Forever young
Das letzte Abendmahl
Part Two
Begegnungen in Beverly Hills
Hotel Hotel
Hollywood
Lunch im „Ivy“
Viggo und Jenny
Shooting mit einer Grande Dame
Auf dem Wohltätigkeits-Ding!
Gefühlter Alltag
Surprise surprise
Zwei Männer – eine Frau
Vernissage
Hör auf dein Herz
Anders als gedacht
Epilog
Jenny, eine Frau in den Vierzigern, lebt gut situiert im Berlin der Zehner-Jahre.
Tom, ihr geliebter Ehemann, ist als charmanter Direktor der Filmfestspiele von Schönheit und Perfektion umgeben. So kommt auch Jenny nicht umhin, sich den Anforderungen der vom Jugendwahn völlig besessenen Zeit zu stellen und will ihr Leben noch mal rocken.
Um ihrer Ehe den ultimativen Kick zu verleihen, beschließt sie Tom zu überraschen. Sie überrascht ihn in der Tat – allerdings anders als erhofft!
Was zunächst als Katastrophe erscheint, entpuppt sich als Chance ihres Lebens. Sie fällt einem Hollywoodstar vor die Füße. In Los Angeles blüht Jenny filmreif an der Seite ihres Retters auf und findet unter der Sonne Kaliforniens ein kaum zu fassendes Glück.
Jenny wurde plötzlich heiß. Sie lachte nervös und dachte: „Das ist besser als ein Orgasmus, der ja bekanntlich von recht kurzer Dauer ist. Ein schnelles Aufbäumen der Glücksgefühle, und ehe man sich versieht, ist alles wieder wie vorher.”
Dieser Anruf eben versprach Lust auf mehr. Die volle Packung Glückshormone und vor lauter Aufregung musste Jenny aufs Klo. Sie überlegte, was da gerade mit ihr passierte. Konnte es sein, dass die Aussicht auf einen Job, solche Gefühle in ihr auslösten? Sie war vor ein paar Tagen zur richtigen Zeit am richtigen Ort und bekam nun die Chance, das Richtige zu tun.
Roger, ein Studienfreund aus den Achtzigern, mit dem Jenny in einer Wohngemeinschaft auf einem Berliner Hinterhof ihre großen Träume teilte, hatte nicht zu viel versprochen.
Es geschah an einem dieser verregneten Nachmittage, als sie durch Peter Lindberghs „On Street“- Ausstellung schlenderte und sie unwillkürlich an Roger denken musste. Schon damals liebten sie beide Lindberghs Schwarz-Weiß-Fotografien, die den unaufhaltsamen Verfall müder Häuser, schäbiger Räume und die Vergänglichkeit in den Fokus rücken. Lindbergh, der Erfinder des Supermodels, nutzte die tägliche Normalität ohne Aufgesetztes und fotografierte seine Models traurig schön und sehnsuchtsvoll. Beim Betrachten der Bilder kam Jenny nicht umhin, über die Ödnis ihrer verbrachten Zeit nachzudenken und plötzlich stand Roger da. Sie erkannte ihn sofort wieder. Cool und rockig, die Haare lässig und der etwas verwegene Drei-Tage-Bart, waren immer noch sein Markenzeichen. Er war keiner dieser geleckten Typen, nur weil er für die Vogue arbeitete. Das machte ihn ungeheuer sympathisch. Um es gleich vorweg zu nehmen, Roger und Jenny waren nie ein Paar. Immer nur Best Friends! Roger hatte sie beim anschließenden Kaffeetrinken total heiß gemacht. Jenny sollte doch endlich wieder als Fotografin arbeiten und am besten gleich mit ihm. Er hätte einen Wahnsinnsauftrag und könnte ihre Hilfe gut gebrauchen, da die Zeit ihm quasi davonrannte. Jennys Freude war überirdisch und sie hoffte insgeheim, dass er nicht nur rumlabern würde. Und tatsächlich hatte er sein Versprechen eingelöst.
Während Jenny ihr Dasein über zwanzig Jahre lang nicht ihrem Ego gewidmet hatte, bereiste Roger mit seiner Kamera die Welt der Schönen und Reichen rund um den Globus. Aus einschlägigen Hochglanzmagazinen wusste Jenny, dass Roger mittlerweile als erfolgreicher Fotograf in der Szene hoch gehandelt wurde und sich vor Aufträgen und Anfragen kaum retten konnte. Alles, wirklich alles, was Rang und Namen hatte, wurde von ihm schon fotografiert oder wollte von ihm fotografiert werden. Roger war eben einer der Besten und einfach angesagt. Jenny, die Süße, wie er sie früher immer nannte, musste ihm irrsinnig leidgetan haben. Das sah sie an seinem Blick. Mit seinen Fragen, wie es ihr gehe und was sie denn so mache, hatte er einen Stein ins Rollen gebracht der nun nicht mehr aufzuhalten war. Jenny war ehrlich, und zwar so ehrlich, dass es direkt peinlich war, und sie sich im Nachhinein darüber etwas schämte. Sie hatte Roger unverblümt gesagt, dass sie vor lauter Selbstmitleid über die verpassten Chancen bald umkomme, die Arbeit als Fotografin wahnsinnig vermisse und dass sie einfach nur noch frustriert sei. Eine verheiratete Frau macht so etwas nicht, dachte sie immer. In der Öffentlichkeit ihrer Unzufriedenheit einfach so freien Lauf zu lassen, egal wie unglücklich man gerade ist. Es passte einfach nicht zum Kodex der oberflächlichen Bussi-Bussi-Gesellschaft. Aber jeder Mensch hat nun mal sein ganz persönliches Verhältnis zum Glück. Bei manchen ist es erstaunlicherweise Dauergast, nicht wenige Dumpfbacken erkennen ihr Glück erst gar nicht und lassen es wie Sand zwischen ihren Finger durchrieseln. Und andere Schwachköpfe jagen dem Glück erfolglos hinterher.
Bei Jenny traf irgendwie gar nichts so richtig zu. Sie war weder glücklich noch unglücklich, dafür ging es ihr im Wesentlichen zu gut. Vielleicht hielt sie auch nur die Messlatte zu hoch, und ihr Anspruch auf Glück stand in keinem Verhältnis zur Realität? Man neigt ja mittlerweile dazu, Glück als Maximierung von Lust anzusehen und nur das Größte, Schönste dabei gelten zu lassen, dachte sie insgeheim. Traurigkeit und Schmerz wird mal eben ausgeschaltet und das Glück als Dauerzustand angestrebt. Und ehe man sich versieht, ist er auch schon da, der negative Stress! Zsa Zsa Gabor, eine Hollywood-Diva aus goldenen Zeiten, sagte einmal: „Nur Idioten sind immer glücklich!” Diese Aussage fand Jenny witzig. Aber es stimmte. Glück ist immer nur ein Moment! Und das sollten auch Idioten zur Kenntnis nehmen. Kurzum, Jenny fehlten einfach die Herausforderung und der Erfolg. Und genau da lag der Hase im Pfeffer. Wie sollte man sich auch fühlen, wenn immer andere die Hauptrolle spielten und die Selbstzweifel einen step-by-step kleiner und hässlicher machten? Denk positiv, hörte sie immer. Visionen sollte sie haben, über den Tellerrand schauen, sich Ziele stecken und ihre Träume leben. Gut und schön, die Frage war nur, wie? Einen Fuß vor den anderen setzen und die großen Fragen auf die großen Tage mit den großen Momenten und den großen Gefühlen verschieben? Egal, Roger hatte sie tatsächlich gefragt, ob sie ihn bei einem Foto-Shooting unterstützen könnte. Das Honorar sei für sie nicht hoch, der Wiedereinstieg nach jahrelanger Abstinenz allerdings spektakulär. Der Auftrag bestand darin, Models im Rahmen einer exklusiven Fotokampagne lasziv in Alltagssituationen darzustellen. Das hieß: Mit verwuschelten Haaren in einem Hauch von Nichts z.B. Gemüse putzen. Den morgendlichen Espresso trinken im Negligé. Im „Kleinen Schwarzen“ den Küchenboden schrubben und das bitte schön so, als wäre dies die normalste Sache auf der Welt. Schließlich sollten diese sexy Fotos in einem limitierten Kalender, der selbstverständlich nur für VIPs erhältlich war, erscheinen. Und nichts Aufregenderes, Schöneres konnte sich Jenny derzeit vorstellen, als endlich wieder hinter der Kamera zu stehen, um unwiderrufliche Momente für die Ewigkeit festzuhalten.
Am verabredeten Morgen stieg Jenny in ihren geliebten alten schwarzen Golf und fuhr über die Stadtautobahn rein nach Berlin zum Prenzlauer Berg. Der Prenzel-Berg, wie die Berliner ihn gern nannten, mit seinem ausgeprägten Nachtleben, unzähligen Kneipen, Cafés und Stammclubs von Rammstein bis Rosenstolz, war immer schon das Szeneviertel Berlins. Sie erinnerte sich an früher, als sie hier in einem heruntergekommenen Altbau mit Ofenheizung und der Toilette auf dem Hof lebte und einfach happy war, Teil des Ganzen zu sein, denn schon damals galt das Viertel als Tummelplatz der alternativen Szene. Leute, wie Nina Hagen oder die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley lebten hier und selbst die mächtigste Frau der Welt, unsereAngela, fand hier lange Zeit ein Zuhause. Heute, nach dem Fall der Berliner Mauer, ist alles schick und teuer. Der düstere Charme von damals wurde durch notwendige Sanierungen verdrängt, und so bietet Prenzlauer Berg ein Bohemien-Lebensgefühl de Luxe, an dem auch Promis ihren Gefallen gefunden haben.
Logischerweise erwies sich die Parkplatzsuche, wie in jeder Millionen-Metropole, äußerst nervenaufreibend. Endlich eingeparkt, stakste Jenny bewaffnet mit ihrer Fotoausrüstung und auf Stöckelschuhen in das von Roger beschriebene Loft. Die Füße taten ihr schon nach kurzer Zeit höllisch weh, denn Jenny war nur noch an diese Langlauf-Birkenstocktreter gewöhnt, und zu allem Überfluss plagten sie auch noch hämmernde Kopfschmerzen. Als sie jedoch das Studio betrat, empfing sie, wie in alten Zeiten, diese hektisch-flirrende Atmosphäre. Madonna´s „Like a virgin“ dröhnte aus den Boxen und die vielen schönen Menschen wirkten sofort aufregend, prickelnd, ja fast wie ein Aphrodisiakum auf Jenny, und ihre Kopfschmerzen waren im Nu wie weggeblasen. Roger begrüßte sie in Bussi-Bussi-Art und meinte: „Gott sei Dank, dass du gekommen bist. Glaub mir, Süße, ich krieg hier gleich einen Tobsuchtsanfall. Komm, lass uns gleich anfangen. Zeit ist Geld.”
Jenny lächelte und sagte ziemlich cool: „Keine Panik. Das schaffen wir schon.” Sie kickte ihre Schuhe von den Füßen und war von nun an in ihrem Element.
In alter Routine, als ob sie jahrelang nichts anderes getan hätte, machte sie die Fotoausrüstung startklar, prüfte mit ihren feinen Sinnen den Raum, das Licht, die Stimmung – versammelte die Models um sich, stellte kurz und präzise ihre Ideen vor und gab die ersten Anweisungen. Die Mädchen waren Profis und konnten auf Befehl erotisch aussehen. Das hieß: Kinn nach unten, Augenaufschlag nach oben, die Stirn dabei um Himmelswillen nicht in Falten ziehen und ein halb geöffneter Mund. Genau das war es, was der Kunde sehen wollte. Purer angedeuteter Sexappeal, festgehalten auf Zelluloid.
Stundenlang wurden die Models geschminkt, frisiert, an- und wieder ausgezogen, in Positur geschubst, an ihnen herumgepudert und herumgezupft. Jenny arbeitete wie besessen und motivierte die Mädchen in ihren hauchdünnen Fummeln immer wieder aufs Neue, wirklich alles zu geben. Es funktionierte. Mit ihrer Euphorie steckte sie nach kurzer Zeit das ganze Studio an, und Roger meinte hoch erfreut: „Jenny, du bringst hier richtig Leben in die Bude. Mann, hab‘ ich das vermisst!” Am Abend waren die Fotos im Kasten und Jenny kaputt und glücklich zugleich. Sie setzte sich im Schneidersitz aufs Sofa. Roger legte ein Madonna-Video ein und brachte ihr - wie früher - eine Tasse Tee. Beide zündeten sich eine Zigarette an und Jenny sagte: „Mhm ..., genau das brauche ich jetzt. Du bist ein Schatz.”
Roger lächelte sie an. „Du hast deinen Job heute richtig gut gemacht. Ohne dich hätte ich den Abgabetermin voll knicken können. Ich danke dir!”
„Immer wieder gern!”, warf Jenny sofort ein. „War echt klasse mit dir zu arbeiten. Ein bisschen wie früher, erinnerst du dich?” Roger blickte sie an. „Mhm, ich muss schon sagen, du bist wirklich eine tolle Frau.”
Sie sah ihn mit großen Augen an.
„Ja, das ist mein Ernst. Wann hat dir das jemand das letzte Mal gesagt?”
Jenny runzelte die Stirn. „Ach, Roger, ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ist schon lange her.” Etwas verlegen über dieses schöne Kompliment, lehnte sich Jenny zurück und nippte an ihrem Tee. Schon allein der Geruch von frisch aufgebrühtem Jasmin-Tee löste in ihr eine geistige Entrücktheit aus, und mit einem Mal war sie da. Die Erinnerung! Vor ihrem geistigen Auge sah Jenny wie im Zeitraffer ihre Jugend, ja, es fühlte sich seltsam für sie an, denn Jenny sah sich selbst wie einen Geist aus der Tasse Tee aufsteigen, und sie kam nicht umhin, sich zu fragen, was eigentlich schiefgelaufen war. Hatte sie ihre Sehnsüchte jemals verwirklicht? Natürlich nicht, nicht mal ansatzweise. Da hätte sie einen ganz anderen Weg einschlagen müssen. Und zwar den, der eigentlich vorgesehen war. Roger und Jenny wollten gemeinsam ihren Traum leben und New York erobern. Aber nein, sie lernte ihre große Liebe Tom kennen, blieb in Berlin und bekam ihre Tochter. Die eigenen Wünsche wurden erst einmal beiseitegeschoben, damit Tom Karriere machen konnte. Im Prinzip eine schöne Idee. Einer hält alles zusammen und sorgt für die nötige Nestwärme, während der andere die Brötchen nach Hause bringt. Nur leider bleibt bei dieser Rollenverteilung im Laufe der Zeit meistens einer auf der Strecke. Warum? Weil sich Lebensumstände ändern, Prioritäten verschieben und ruck-zuck, ehe man sich versieht, ist der Zug ohne einen abgefahren. Gut, mögen manche denken, dass mit der Selbstverwirklichung sei so eine Art Luxusproblem. Und Jammern auf hohem Niveau ist undankbar, rief sich Jenny manchmal ins Gedächtnis zurück, wenn der simple Alltag sie aus der Bahn warf und der Frust sie zu übermannen drohte.
Der heutige Auftrag hatte Jennys Ego auf Hochtouren gebracht. Ein beflügelndes Gefühl, etwas geschafft zu haben, machte sich in ihr breit. Ab heute war Schluss mit dieser Negativ-Denke und ihrer Schüchternheit, redete sie sich gut zu. Denn dieses Unter-Den-Dielen-Entlang-Laufen brachte sie auch nicht weiter. Selbst wenn sie schon Jahre aus dem Geschäft war, hieß das doch noch lange nicht, dass andere besser waren. Jenny freute sich kurzzeitig über ihren Mut, aber was, um Himmelswillen, war nur mit ihr passiert?
War sie im Kern noch immer eine Optimistin oder doch schon so eine miesepetrige Pessimistin? Diese Frage quälte sie in letzter Zeit immer häufiger, Kursschwankungen mit eingerechnet. Eigentlich war gar nichts passiert, wenn man von der banalen Tatsache mal absah, dass Jenny einfach älter geworden war, nicht mehr gut schlief und gelegentlich diese anfallartigen Hitzewallungen bekam. Das ging schon eine ganze Weile so, aber irgendwie versuchte sie, mal mehr oder mal weniger, die Anzeichen der Umstellung zu ignorieren. Schlimmer hingegen erschien ihr die Tatsache, den Puls der Zeit verpasst zu haben. Das war eine böse Falle, in die sie einfach so hineingeschliddert war. Sie hatte es versäumt sich anzupassen an diese schnelllebige, hektische, vom Jugendwahn völlig besessene Zeit. Andere Frauen hatten da mehr drauf. Die fackelten nicht lange herum. Jenny starrte auf die Leinwand. Und plötzlich, beim Anblick von Madonna, die sich wunderschön mit vollem Körpereinsatz in ihrem Musikvideo auf dem Boden herumrekelte, dachte Jenny an die vielen Superlative, wenn es um die größte Pop-Ikone aller Zeiten ging. Madonna war die Pionierin. Die Frontfrau! Sie hatte damals in den Achtzigern jungen Frauen gelehrt, feminin und sexy zu sein, ohne dabei die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren. Mittlerweile ist sie über fünfzig, also mitten im Klimawandel, sieht immer noch blendend aus, ist erfolgreicher denn je und sexy. Und hier zeigte sich das Phänomen. Egal, ob Vamp, Mutter, Muskelpaket, Diva, Businessfrau oder Spirituelle. Diese Frau ist wirklich eine Madonna. Eine unantastbare Heilige im absolut perfektionierten Ausnahmezustand. Sie allein steht für die Religion der Moderne: Ewige Jugend, Schönheit und Selbstbewusstsein. Und Jenny dachte ein bisschen neidisch: Was soll‘s? Jede Frau eine eigene Madonna! Auch wenn Madonna all diese Attribute in sich vereinte, hieß das für normale Frauen noch lange nicht, dass auch sie über ihren eigenen Schatten der Selbstzweifel einfach so hinwegspringen könnten. Selbst wenn sie es anstrebten. Die Vorstellung, dass sich die Frau aus der chemischen Reinigung, die Krankenschwester aus dem Altenheim oder die Kassiererin beim Aldi als Madonna fühlt, wenn sie nach ihrem Acht-Stunden-Tag noch den Haushalt schmeißt, einkaufen geht, gesund kocht, wäscht, bügelt und ihre Kinder versorgt, kam Jenny so absurd vor, dass sie innerlich ausflippte. Frauen hatten einfach zu viel an der Backe, egal ob alleinerziehend oder nicht. Dieser ganze Stress lässt Frauen selbstverständlich schneller altern, und wenn der Lack erst mal ab ist, dann hat man noch ein Problem. Ab Vierzig ist der Aufwand nämlich größer als das Ergebnis, und das Leben erscheint einem irgendwie nicht fair. Der Trend zum oberflächlichen Schein macht uns ganz meschugge im Kopf, und die Massenmedien präsentieren uns täglich bis zum Erbrechen die ewige Jugend und Schönheit. Egal, was vermarktet wird. Ob Autoreifen, Schokolade, Meister Propper oder eine Versicherung! Alles kommt in Form von manipulierten, makellosen Gesichtern und straffen Körpern daher, von denen man nur träumen kann. Fazit: Die Schönheitsideale unserer Zeit sind Models und Schauspielerinnen, deren Gesichter für Werbeanzeigen dank Photoshop glatt retuschiert werden wie ein Babypopo. Sie haben weder geweitete Poren noch Falten. Und für die Realität muss dann eben Botox ran. Das wirkt immer! Darauf kann man sich mehr verlassen, als auf einen Mann. Denn die Botox-Falten-Therapie basiert auf einem Gift, das eine gewisse Lähmung der Muskulatur bewirkt. Der Trick bei dieser Therapie ist, dass die Stirn nicht in Denkerfalten gelegt werden kann, weshalb auch keine hässlichen Riefen zurückbleiben. Manchmal, aber nur manchmal dachte Jenny auch daran, nicht in diese übliche Denkerpose zu verfallen, doch Fehlanzeige. Ihr Spiegelbild zeigte eine Querfalte über die gesamte Stirn hinweg. Tom, Jennys Ehemann, versuchte sie manchmal ein wenig darüber hinwegzutrösten. Für ihn war es eben eine Staunefalte und keine Ackerfurche.
Warum lassen sich Frauen Schlauchbootlippen aufspritzen, und warum fühlen sich Frauen auf einmal nur noch mit Körbchengröße D, Samba-Popo und dem süßesten Bauchnabel der Welt als vollwertig, dachte Jenny genervt? Wobei das allein nicht die gesamte Palette der Schönheitschirurgie ausmachte. Es wurde ja immer verrückter. Der letzte Schrei für die Frau mittleren Alters sei nun mehr die Schamlippenstraffung, damit sie sich auch unten herum wie ein junges Ding fühlen konnte. Irgendwie war das doch alles abartig. Und Jenny? Sie unterstützte diesen ganzen Zirkus um scheinbare Vollkommenheit. Ein riesiger Aufwand wurde betrieben und das alles für Menschen, die eigentlich nichts zu sagen haben. Sie waren einfach nur jung, schön zurechtgemacht und hatten allesamt ein Ziel: Groß herauszukommen! Wo und wie und als was auch immer, total egal! Hauptsache die Medien würden sie beachten und am besten auf schnellstem Wege in den Himmel der Supermodels katapultieren. Aber was regte sich Jenny eigentlich so auf? Sobald sie sich aufregte, durchfuhren sie kurzzeitig diese Hitzewallungen. Also versuchte sie sich zu disziplinieren und richtete ihren Fokus auf die jungen durchgestylten Frauen mit leeren Gesichtern plus einer dicken Schicht Make-up, die sie in gleißendes Licht gesetzt und fotografiert hatte. Dass sie später am Computer bis zum absoluten Perfektionismus retuschiert wurden, war en vogue. Angeblich will der Endverbraucher genau das sehen. Jenny empfand diese Art der Werbung unehrlich und irreführend und ärgerte sich über die Werbeleute. Meistens waren das ja Männer, und die hielten die Zielgruppe „Frau“ anscheinend für so minderbemittelt, dass diese in ihrem Wahn nach Schönheit, nicht mal mehr zwischen echten und künstlichen Wimpern unterscheiden konnten? Selbst wenn sie wie bei JLo aus Nerz sind! Warum also dürfen Wimperntuschen mit dem Versprechen nach Dichte und Fülle angepriesen werden, wo selbst der ungeübteste Betrachter sieht, dass das wohl nicht mit rechten Dingen zugehen kann? Und wieder kräuselte sich Jennys Stirn, und sie spürte ein gewisses Unbehagen. Was empfanden wohl diese Frauen, die zu nichts anderen geboren schienen, als schön zu sein? Frauen, die mit ärztlicher Hilfe zum physischen Wunder einer superschlanken Silhouette mit riesigen Brüsten mutierten! Was dachten sie wirklich, wenn sie sich auf dem Titelblatt eines Hochglanzmagazins wiederfanden? Das würde Jenny natürlich nie erfahren. Aber allein die Vorstellung, dass Frauen aus New York, Paris, London, Berlin oder Klein-Siehste-Mich-Nicht sie kauften, nach Hause trugen und sich insgeheim wünschten so auszusehen, musste faszinierend für die Mädchen sein. Roger riss Jenny aus ihren Gedanken, als er mit seiner Kamera vor ihr hockte, auf den Auslöser drückte und fragte: „Was ist los mit dir? Du sitzt da, als hättest du einen Geist gesehen.” Verlegen versuchte Jenny ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern, welches aber im selben Moment auch schon wieder erstarb. Einen Geist hatte sie tatsächlich gesehen. Allerdings ihren eigenen. „Ach, weißt du, Roger”, begann sie resigniert. „Ich habe gerade über die Vergänglichkeit nachgedacht und was wir hier eigentlich machen...?”
Bevor er antworten konnte, redete sie schon weiter: „Sorry, versteh mich nicht falsch, ja. Ich bin total happy, dass du mich für das Shooting gebucht hast.
„Vergänglichkeit ist in unseren Job nicht angesagt, Baby. Wir verkaufen Schönheit und Style.”
„Ich weiß. Aber Schönheit ist für mein Empfinden doch die Harmonie der vielen kleinen Unregelmäßigkeiten. Wenn alles perfekt ist, wird es auf Dauer doch langweilig, findest du das nicht auch?” Rogers Mund umspielte ein vielsagendes Lächeln. Er lag nun vor ihr auf dem Boden und versuchte, ihren Blick einzufangen. „Wenn du mich fragst, sollte eine Frau Persönlichkeit, Charakter und eine gewisse Natürlichkeit haben.”
„Genau”, stimmte sie ihm zu.
„Rede weiter, Jenny. Das ist gut so. Genauso will ich dich haben.” Jenny musste lachen. „Aber das lässt sich nicht verkaufen.”
„Naja“, murmelte er kaum hörbar und dann fügte er hinzu: „Für die Werbung eben nicht. Also machen wir den ganzen Wahnsinn mit und fotografieren die Mädchen so, wie der Kunde sie haben möchte. Ein perfekter Hochglanztraum.”
Jenny schaute direkt in die Kamera, verdrehte die Augen und sagte: „Du meinst wohl eher eine Illusion!”
„Ja, Süße, genauso ist es. Aber soll ich dir noch was sagen?”
„Sag schon!“
„Du warst immer mein Lieblingsmotiv.“
„Ehrlich?“, fragte Jenny doch etwas erstaunt, zumal er die Schönsten der Schönen schon vor der Kamera hatte.
„Ja, meine Lieblingsfrau!”
Oh Gott! Jenny wurde verlegen und errötete leicht. Roger stand auf und sagte: „Na komm, lass uns noch was trinken gehen.”
Jenny zog die High Heels an, warf ihre Prada über die Schulter, und Roger schaltete die Lampen aus.
Sie betraten ein Szenelokal. Jenny nahm zumindest an, dass diese Location gerade angesagt war, in dem viele junge hübsche Mädchen herumlungerten. Im Vorbeigehen nahm Jenny einige Wortfetzen auf und wunderte sich. „Was Frauen so alles aushalten!“ dachte sie. „Sie hängen buchstäblich an den Lippen von jungen oder auch alten angeberischen Männern, hören sich dumme Geschichten an, werfen den Kopf nach hinten, lachen laut und lassen sich tätscheln. Sie verbindet anscheinend alle die gleiche Hoffnung, dass sich durch irgendeine Bekanntschaft ihr Leben über Nacht schlagartig ändern könnte. Für eine Einladung zu einem Event, wo vielleicht noch interessantere Männer ihnen Türen öffnen könnten, nehmen sie einiges in Kauf. Der Traum von Ruhm und Reichtum hat eben seinen Preis“, vermutete Jenny und pustete sich gestresst eine Haarsträhne aus der Stirn. Kaum, dass sie saßen, gesellten sich auch schon ein paar von den Mädchen um ihren Tisch herum, und Roger ließ seinen geschulten Model-Blick auf die Verwertbarkeit ihrer Körper schweifen. Roger kannte dieses Spiel. Egal, wo er sich blicken ließ, sofort umlagerten ihn die Frauen jeden Alters, um von ihm entdeckt zu werden. Mit herablassenden Blicken wurde Jenny kurz taxiert, dann wandten sie sich wieder Roger zu. Angesichts dieser geballten Power-Jugend fühlte sie sich ziemlich deplatziert. Das hier war einfach nicht ihr Ding, und deshalb nahm sie ihre Handtasche und ging erst mal auf die Toilette. Dort musste sie ungewollt mit anhören, wie sich „Eine“ routiniert die Seele aus dem Leib kotzte. Kopfschüttelnd wusch sich Jenny die Hände, ordnete ihr Haar und legte etwas Lipgloss auf. Plötzlich stand die junge Frau, die sich soeben über der Kloschüssel übergeben hatte, hinter ihr.
Sie wusch ihre Hände, sprühte sich Odol in den Mund, schminkte ihre Lippen knallrot und bevor Jenny auch nur ansatzweise irgendetwas Mitfühlendes sagen konnte, war sie auch schon wieder verschwunden.
Jenny drängte sich durch das volle Lokal an ihren Tisch zurück, der mittlerweile von noch mehr jungen Frauen umlagert wurde. Roger schrieb sich gerade eine Telefonnummer auf und sagte aufblickend zu dem Mädchen: „Bei Bedarf melde ich mich. Aber nur dann, wenn dein Typ gefragt ist. Das kann morgen oder auch nie sein, ok.” Dankbar schaute das junge Ding ihn an. Roger widmete sich wieder Jenny: „Na, Süße? Alles ok?”
„Ja, ja”, sagte sie schnell. „Du, sag mal, die war doch höchstens 15!” „Sie sagte 17!”
„Oh Mann, kaum zu fassen. Die werden immer jünger. Und dann stehen sie Patin für ein Antifaltenprodukt.”
„Du glaubst gar nicht, was ich in diesem Geschäft alles erlebe...! Romane könnte ich schreiben..., Romane...!”
„Kann ich mir vorstellen. Aber mal ganz ehrlich“, begann sie erneut. Roger grinste. „Oh, nein Jenny, das Thema hatten wir vorhin. Wenn du mitmachen willst, musst du die Bedingungen des Marktes akzeptieren und persönliche Befindlichkeiten ausschalten.”
Jenny wollte trotzdem ihre Einwände preisgeben, doch Roger unterbrach sie.
„Ich stimme mit dir völlig überein, aber du musst dich anpassen. Wenn nicht, bist du schneller wieder draußen, als dir lieb ist.“
„Hör mal Roger, ich bin dir wirklich sehr dankbar für den heutigen Tag, aber das hier...“, dabei machte sie eine fragende Handgeste. „Das hier ist heute Abend echt zu viel für mich. Ich bin kaputt und will nur noch ins Bett.”
„Na gut, ich bleibe noch ein bisschen, aber ein Glas Schampus ist doch noch drin?“
Jenny nickte und prostete Roger gerade zu, als dieses junge Ding aus der Toilette an ihren Tisch stürmte. Sie umarmte ihn von hinten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Alles klar. Ich schau was ich machen kann. Aber warum baggerst du nicht diesen Typen an? Der sitzt doch an der Quelle.”
„Ja, schon”, säuselte sie. „Aber der ist doch verheiratet. Wahrscheinlich nimmt er sein Anhängsel mit.”
„Na, und? Du bist doch sonst nicht so schüchtern. Sag ihm, dass du auf die Party des Jahres willst.”
„Ich weiß nicht”, nuschelte sie gelangweilt. Jenny musterte in der Zwischenzeit die beachtliche Oberweite dieser jungen Frau, die absolut die Harmonie ihres schlanken Körpers auseinander riss. Wie eine Giraffe mit Riesenbrüsten, dachte Jenny, aber doch hübsch.
„Komm schon, Yvette. Lass dir was einfallen.”
„Vielleicht hast du Recht. Morgen gehe ich in sein Büro und werde meine Verführungskünste diplomatisch einsetzen.” Dabei lachte sie gönnerhaft und setzte noch einen drauf.
„Er ist nicht mehr der Jüngste, aber immer noch wahnsinnig sexy und hat eine alte frustrierte Frau zu Hause sitzen.“
Jenny horchte auf. Wie sich das aus dem Mund des jungen Dings anhörte..., einfach schrecklich! Indes plapperte Yvette fröhlich weiter. „Und mich braucht er eben für gewisse Dinge”, dabei guckte sie so borniert, dass Jenny ihr am liebsten eine reingehauen hätte. Roger provozierte ein wenig und fragte: „Was denn für Dinge, Yvette?”
„Na, du weißt schon! Ich bin sein Jungbrunnen. Und wenn für mich genug dabei herausspringt, mache ich alles mit ihm.” Jenny und Roger sahen sich erstaunt an. Diese Yvette war so gut drauf und wollte partout noch mehr zum Besten zu geben. Sie beugte sich näher an Roger heran, flüsterte allerdings so, dass Jenny es auch hören konnte. „Schmutzigen, geilen Sex, darauf steht er!”
„Na, siehst du!”, sagte Roger und grinste in sich hinein. „Wenn du den Typen so fest im Griff hast, ist doch alles palletti.”
„Oh ja, das habe ich“, trumpfte Yvette auf. „Man muss die Typen nur an den Eiern packen, und du bekommst alles von ihnen!”
„Puuuh“, entfuhr es selbst Roger sichtlich verlegen und meinte: „Pass auf, du musst ihm sagen, was du willst und dann bekommst du es auch.”
„Danke für den Tipp”, beendete Yvette das kurze Gespräch. Jenny verdrehte die Augen und dachte dabei mitfühlend an das frustrierte alte Anhängsel. Die arme, nichts ahnende Ehefrau, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht den leisesten Schimmer von den außerehelichen schmutzigen, geilen Aktivitäten ihres Gatten hatte. Sie stand auf. Roger erhob sich ebenfalls. Er war immer noch ganz „Gentleman“. „Jenny, wir bleiben in Kontakt, ja!”
Sie nickte, küsste ihn rechts und links und ging nach draußen. Die frische Luft tat ihr gut, und während der Autofahrt nach Hause fuhren ihre Gedanken Achterbahn. Sie dachte an die Zeit zurück, in der die Jugend kein Ende zu nehmen schien, man sich wahnsinnig stark fühlte und keine Gedanken daran verschwendete, wie es einmal sein könnte, wenn man nicht mehr jung wäre. Das einzig Tröstende an der Sache ist, dass es jeden erwischt, dachte Jenny mit diebischer Freude und drehte das Radio lauter. Früher oder später sind sie alle dran. Die Zeit rennt uns davon, und selbst eine Botox-Injektion bringt die Jugend nicht zurück. Jenny hatte die Wahl: Weiter Frust schieben oder Vorhandenes aus sich herauszuholen. Eine Frau um die Vierzig ist doch noch ein vielseitiges Wesen. Sie kann zwischen verschiedenen Rollen als Single, Karrierefrau, Ehefrau und Mutter wählen. Weder die Gesellschaft noch der gefürchtete Biorhythmus zwingen sie in traditionelle Bahnen. Die Powerjahre für Frauen fangen angeblich jetzt erst an. Das Haltbarkeitsdatum von Frauen - nicht von Models wohlgemerkt - hat sich durch bewusste Ernährung, Sport, Anti-Aging-Produkte, geschicktes Make-up, Mode und natürlich die Schönheitschirurgie deutlich nach hinten verschoben. Also kein Midlife-Frust, sondern Midlife-Lust hat sich laut Forsa-Umfrage in unseren Köpfen festgesetzt. Aus der Regenbogenpresse wusste Jenny, dass viele Forty-Somethings, sich so unglaublich souverän, unabhängig, stark, sexy und begehrenswert fühlten. Das konnte Jenny überhaupt nicht nachempfinden. Denn Jenny fühlte sich seit ihrem vierzigsten Geburtstag weder souverän, noch unabhängig, noch stark, noch begehrenswert. Aber genau da wollte sie wieder hin. Sie musste einfach daran arbeiten.
Jenny, neununddreißig G – wie good! In Wirklichkeit 46 Jahre jung. Aus rein gefühlstechnischen Gründen hatte sie an ihrem vierzigsten Geburtstag beschlossen, so zu zählen. Denn jenseits der 40 glich die Geburtstagstorte eher einem Fackelzug, und außerdem gingen mit zunehmenden Alter Frauen noch ein paar ganz andere Lichter auf. Das freundschaftliche Verhältnis zu ihrem Körper gestaltete sich immer schwieriger und ging allmählich den Bach runter. Anstatt sich einfach damit abzufinden, grübelte Jenny neuerdings immer öfter darüber nach, wie sie den Verfall ein bisschen aufhalten könnte. Bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten, die sich Jenny boten, dachte sie darüber nach. Ja, selbst jetzt, genau in diesem Augenblick, als Tom endlich mit lautem Stöhnen auf ihr kam...
Neulich hatte sie einen Artikel in einem Star-Magazin gelesen, dass es eine Frau auf dieser Welt gibt, die ihr wertvolles Hinterteil für mehrere Millionen Dollar versichern ließ, und Jenny kam in den Sinn, was wohl ihr Allerwertester wert sei, während Tom sie heftig in die Kissen drückte.
„Oh Jenny, das war gut”, keuchte Tom in ihr Ohr. Jenny drehte sich weg von ihm und fing an, zu lachen. Sie empfand die soeben durchlebte Situation zu komisch, und Tom fragte etwas irritiert: „Sag mal, hab ich eben irgendwas verpasst oder warum lachst du?”
„Nein Tom. Alles ist gut.“
„Du wirkst so distanziert.“
„Distanziert?“, hinterfragte sie knapp. „Du bist noch in mir.“ Er rollte sich zur Seite. Jenny stand auf und wickelte kunstvoll die dünne Bettdecke um ihre Hüften. Tom musste ja nicht so genau sehen, dass auch an ihrem Po der Zahn der Zeit genagt und ihr einige unschöne, leichte Dellen beschert hatte. Es waren zwar nicht die typischen Reiterhosen, die absolut nicht in das Bild des perfekten Körpers passten, aber die ungeliebte Orangenhaut würde früher oder später auch sie nicht verschonen. Orangenhaut: Ein Begriff, der erst mit dem Einzug des Schönheitswahns in das Bewusstsein der Frauen eingedrungen ist. Wie ungerecht, denn Rubens hatte seine Frauen mit Dellen und Wellen an den Oberschenkeln gemalt - und dies galt damals, zu seiner Zeit, als absolutes Schönheitsideal. Offenbar betrachtete man früher die waffelartige Haut an den sogenannten Problemzonen als Normalzustand. Rundungen waren schön und begehrenswert. Ja, sie strahlen auf den Gemälden eine zufriedene Wollust aus, und Jenny konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Frauen im Stillen gelitten und gegen ihre Pfunde rebelliert haben sollten. Heute jedoch soll der Po knackig sein. Was immer das heißen mag. Auf keinen Fall birnenförmig oder wassermelonenartig. Am besten hübsch gerundet wie ein Pfirsich einschließlich samtener Haut.
Aus eigener Erfahrung wusste Jenny wie Millionen anderer Frauen, dass die gewünschte knackige Rundlichkeit dem Gesetz der Schwerkraft unterworfen war. Dabei spielte die Größe absolut keine Rolle dafür, wie schnell der Po ins Hängen kam. Es war eben alles eine Frage der Hormone. Senkt sich der Östrogenspiegel, geht es nur noch bergab.
Jenny setzte sich auf die Bettkante und sah ihren Mann an. Tom stützte sich mit einem Arm auf.
„Wie war das Shooting? Hat es dir Spaß gemacht?”
„Oh, ja! Es hat mir schon Spaß gemacht. War richtig toll. Aber ganz ehrlich, ich habe ein Problem damit, was aus den Frauen gemacht wird.”
„Was meinst du damit?”
„Ganz einfach. Ich meine, dass das, was wir in der Werbung sehen, einfach nicht echt ist. Wir werden im Grunde genommen total verarscht.”
„Und deshalb hast du vorhin gelacht?”
Jenny zierte sich und sagte dann schließlich: „Nein, nicht deshalb.“ Sie hielt inne.
„Komm schon, worüber hast du gelacht?“, drämmelte Tom weiter.
„Als du auf mir gelegen hast, habe ich über Cellulite nachgedacht.” Ein Begriff, so empfand ihn Jenny, der heutzutage eher wie eine Krankheit gehandhabt wurde, obwohl er eine rein erfundene Krankheit ist. Die gedellte Plage, welche in leichten Fällen einer Orange ähnelt, in schweren Fällen jedoch eher an Hüttenkäse beziehungsweise eine abgesteppte Matratze erinnert.
„Das ist doch nicht dein Ernst? Das glaube ich jetzt nicht!” entrüstete sich Tom.
Jenny zuckte mit den Schultern.
„Also...”, er schnappte kurz nach Luft. „Während ich versuche, dich glücklich zu machen, bist du mit deinen Gedanken sonstwo?” Er sah sie an. „Du denkst dabei an Cellulite? Nicht zu fassen!” Dabei schüttelte er seinen Kopf.
„Heute schon. Du bist ein Mann und wirst das nie verstehen”, äußerte sich Jenny ziemlich gelassen auf seinen Vorwurf hin.
„Was werde ich nie verstehen?“
„Dass eine Frau während des Beischlafs im Geiste ganze Doktorarbeiten schreiben oder über ein tolles Outfit nachdenken kann. Und was heißt hier eigentlich mich glücklich machen?“, startete sie die Gegenattacke. „Seien wir doch mal ehrlich, Tom...“
„Ja!“
„Im Grunde genommen hast du dich glücklich gemacht. Wann hast du mich das letzte Mal gefragt, ob ich glücklich mit dir bin?” Sie sah ihren Mann fragend an. „Im Bett zum Beispiel!”
Jetzt warf er sich genervt in die Kissen zurück. Jenny erhob sich, ließ die Decke fallen, drehte ihren Körper so, dass sie ihren Po im Spiegel begutachten konnte und stand nackt vor ihrem Mann. Ein Umstand, den es so schon lange nicht mehr gegeben hatte. Aber jetzt war ihr alles schnuppe. Er sollte sie ruhig sehen, so wie Gott sie schuf. Sie nahm die Haut zwischen die Finger und schnippte sie zurück. „Sieh her, Tom! Guck dir meinen Po an.“
„Ja, und was ist damit?“
„Cellulite im ersten Stadium. Das heißt, es ist noch nicht so schlimm”, beruhigte sie sich selbst und dachte kurz daran, wie viel Geld sie jährlich in remodellierende Körperlotion investierte. Denn auch Jenny verfiel den in der Werbung angepriesenen ultimativen Wundermitteln. Angefangen von einfachen Kräutermixturen bis hin zu hoch komplizierten Wirkstoffen, die im Endeffekt lediglich das Hautbild oberflächlich verbesserten statt das Übel an der Wurzel zu packen und zu beseitigen.
„Nichts wird im Alter besser” redete sie weiter wie aufgezogen. „Die Haut wird schlaff, die Nägel brüchig, das Zahnfleisch bildet sich zurück, die Haare werden dünner, und doch soll uns durch geschickte Manipulation Glauben gemacht werden, dass es für alles ein Gegenmittel gibt. Selbst gegen den natürlichen Alterungsprozess. Und hier beginnt das Dilemma.”
Tom sah sie entgeistert an und verstand offenbar überhaupt nicht, worum es im Moment ging. Wie sollte er auch? Männer ticken ganz anders. Wie heißt es doch so schön: „Frauen kommen von der Venus und Männer vom Mars“! Schließlich äußerte er sich doch: „Wenn du mich fragst, ich finde, du hast dich für dein Alter super gehalten. Guck dir mal andere an. Du hast eben gute Gene.”
Jenny verschlug es für einen kurzen Moment die Sprache. Tom hatte doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. „So, so”, meinte sie schnippisch. „Ich habe also gute Gene. Ganz ehrlich, da wird mir gleich ganz warm ums Herz. Du meinst wohl eher, ich bin noch ganz rüstig, mhm?” Ob Jenny nun wollte oder nicht, dieser verdammte Jugendwahn, den die Massenmedien geradezu zelebrierten, zwang sie indirekt irgendwie schon mit den jungen Lolitas in Konkurrenz zu treten. Zumal Tom in einer Branche arbeitete, wo er täglich mit Schönheit, Jugend und Perfektion konfrontiert wurde. Und Jenny fühlte sich immer mehr als Aschenputtel. Tom wollte die Diskussion beenden und sagte: „Komm mal her!“
Jenny dachte nicht im Traum daran und kriegte sich auf einmal überhaupt nicht mehr ein. Leicht hysterisch setzte sie zum Monolog an. „Bei euch Männern ist das selbstverständlich anders. Ihr werdet im Alter immer interessanter. Erfolg macht euch sexy. Selbst ein Grottenolm mit Glatze und Wohlstandsbauch kann bei einem jungen Ding noch punkten. Aber wehe, eine Frau gerät in Versuchung, sich einen jungen Knackarsch an Land zu ziehen. Dann schreit die Öffentlichkeit, dass das ja nicht gutgehen kann. Entweder hält sie ihn aus, oder der Jüngling ist ein Ödipussi! Kannst du dir vorstellen, dass sich ein Mann auch in eine Frau mit weniger Spannkraft am Arsch verlieben kann?”
Jenny straffte ihren Rücken und schämte sich. Wie konnte sie nur so furienhaft sein? Das passte so gar nicht zu ihr. Diese ganze Aktion diente nur dem einen Zweck, ihrem Frust Luft zu verschaffen. Das musste mal raus. Der Zeitpunkt war vielleicht nicht der richtige. Aber wann ist er das schon? Das eheliche Kriegsbeil war ausgegraben und sie sah ihren Tom herausfordernd an.
„Jenny, was redest du für einen Schwachsinn? Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man meinen, ich sitze hier bei Britt am Mittag.“
„Nee, du sitzt nicht bei Britt. Du sitzt in unserem Ehebett!”
„Komm schon”, versuchte Tom das Thema zu wechseln.
„Versteh doch, ich möchte einfach in Würde altern dürfen. Ich will nicht ständig darüber nachdenken müssen, ob du mich noch attraktiv genug findest”, unterbrach sie ihn. Jenny dachte an diese Yvette aus diesem Szene-Laden, wie die so lax über das betrogene alte Anhängsel dahergeredet hatte und meinte zu Tom. „Sie kann es nicht!”
„Was – Kann – Wer - Nicht?”
„Frauen können nicht in Würde altern. Wir müssen uns ständig anstrengen, damit wir überhaupt noch wahrgenommen werden. Besonders, wenn man mal schön war, wird man immer daran gemessen.”
„Jenny, du bist noch schön. Hör auf, dich verrückt zu machen.”
„Tom, es geht mir nicht nur um Schönheit. Es geht um mein Leben. Du hast dich weiterentwickeln können, und ich habe die Arschkarte.” Ihre Blicke trafen sich. Er sagte: „Wir waren uns doch damals einig. Ich mache Karriere, verdiene die Kohle, und du kümmerst dich um die Familie. Ich dachte, dass du mit deiner Rolle glücklich warst!”
„Ja, das war ich auch, und ich würde es immer wieder so wollen”, gab sie kleinlaut zu.
„Was ist dann dein Problem?”
„Das ist ganz einfach zu erklären. Ich werde nicht mehr gebraucht. Marie ist erwachsen und ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie ich die Kurve kriegen soll.”
„Das musst du doch nicht. ICH brauche dich Jenny”, sagte er liebevoll.
„Ja, schon, aber das reicht mir nicht mehr.”
„Wie, das reicht dir nicht mehr?” fragte er nun doch etwas einfältig.
„Ich möchte Karriere machen.”
Er verzog sein Gesicht. „Ich will dir ja nicht zu nahe treten, Jenny, aber...”
„Aber was?”
„Du bist keine zwanzig mehr.”
„Ach ja, wie konnte ich das nur vergessen?“ und sie fasste sich an die Stirn. „Wie gut, dass du mich daran erinnerst... Nein, jetzt mal im Ernst: Wenn man‘s mit Mitte Vierzig noch mal rocken will, erntet man doch nur ein mitleidiges Lächeln, da schon längst die anderen, jungen dynamischen Dinger mit riesigen Brüsten in den Startlöchern stehen.” Jetzt kam es Jenny so vor, als ob er ihr dieses besagte mitleidige Lächeln schenkte. Das brauchte sie nun wirklich nicht. Nicht von ihm.
„Soll ich dir sagen, was bleibt?” fragte sie.
„Ja, sag‘s mir.”
„Ein Minijob, und vor lauter Frust frisst man sich Pfunde an. Glaub mir, das Problem habe ich nicht allein.”
„Mag sein. Aber du bist weder fett, noch musst du hier versauern. Du hast doch deine Kunst. Du malst tolle Bilder, hattest dieses Fotoshooting. Wer weiß, was sich noch alles ergibt?”
„Mensch, Tom, es füllt mich nicht mehr aus, alleine vor der Leinwand zu stehen und Bilder zu malen, die eh keiner sieht. Durch dieses Shooting ist mir klar geworden, wie sehr ich die Arbeit vermisse. Ich möchte wieder als Fotografin arbeiten, verstehst du!”
„Sorry, ich dachte nicht, dass du auf diesem Selbst-Verwirklichungstrip bist.”
Jenny sah Tom wütend an. Für ihn war es also ein Trip? „Versteh mich nicht falsch, aber was wird dann aus mir?” bohrte Tom wie ein ningelndes Kind.
„Du bist ein erwachsener Mann und kannst dir selbst vorstehen.”
„Ich meine ja nur”, quengelte er weiter. „Du weißt, dass ich viel unterwegs bin und wenn du dann auch noch dein Ding machst, geht hier alles drunter und drüber. Ich brauche meine Oase.”
„Hör mal, Tom, jahrelang warst du der Mittelpunkt meines Universums. Alles drehte sich um dich. Deine Probleme, deine Befindlichkeiten. Immer nur Du-Du-Du! Dein-Dein-Dein! Ich habe auch noch Träume und Bedürfnisse. Jetzt bin ich dran.“
„Aber wie soll das aussehen?”
„Das weiß ich noch nicht. Allerdings ist mir bewusst geworden, dass Träume, die ich mal hatte, nach und nach zerplatzt sind. Nein, nein, nein... So geht das nicht weiter.”
„Also, ich weiß wirklich nicht, was das hier alles soll”, reagierte Tom nun zusehends schärfer. „Ich dachte, du hast einen interessanten Tag gehabt. Stattdessen reden wir hier über deine Selbstverwirklichung. Und dieses ganze Cellulite-In-Würde-Altern-Gequatsche, entschuldige Schatz, aber das geht mir jetzt echt zu weit.”
„Siehst du, so ist es immer! Wenn ich mich richtig erinnere, wolltest du dich unterhalten.”
„Schon, ich dachte allerdings nicht, dass unsere Unterhaltung so ausufert.”
„Sag doch, dass ich dich nerve und du deine Ruhe haben willst. Alles soll so bleiben, wie es ist. Du machst dein Ding und ich kann sehen, wo ich bleibe. So ist es doch, oder?”
„Komm Schatz, lass uns schlafen. Ich bin müde. Das wird schon alles!”
„Noch mal zum Mitschreiben, Tom. Mir geht‘s zum Kotzen und du willst schlafen”, fasste Jenny kurz zusammen. Tom stand auf und lief im Zimmer auf und ab.
„Können wir nicht ein anderes Mal darüber reden?”
„Klar, wie immer. Entweder glänzt du durch Abwesenheit, oder du machst völlig zu und ich bin draußen.”