Caretta - Renate Henstedt - E-Book

Caretta E-Book

Renate Henstedt

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Beschreibung

Eine vor Jahren abgetauchte Mörderin wird in Istanbul wiedererkannt. Die Journalistin Jennifer Arends wittert darin ihre Chance auf eine große Story. Sie reist in die Türkei und folgt der Spur der Flüchtigen — die entlang der Route der Meeresschildkröten durch die Ägäis hinüber auf die griechische Insel Lesbos führt. Doch dort nehmen die Dinge eine dramatische Wende …

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Renate Henstedt

CARETTA

Ein Lesbos-Krimi

eBook: ISBN 978-3-89741-972-8

Print: ISBN 978-3-89741-349-8

© 2017 eBook nach der Originalausgabe

Originalausgabe in CRiMiNA.

CRiMiNA ist ein Imprint des Ulrike Helmer Verlags, Sulzbach/Taunus

© 2013 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier KatarinaS unter Verwendung des Fotos

»Hawskbill Turtle« © lilithlita – Fotolia.com

Gesetzt aus der Sabon

E-Mail: [email protected]

Besuchen Sie uns im Internet:www.ulrike-helmer-verlag.de

Inhalt

MAI

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

OKTOBER

MAI

Montag

Ihre Füße trafen rhythmisch auf den Boden. Eins zwei drei vier eins zwei drei vier – der Takt hallte in ihrem Kopf wider. Sie starrte auf den Grasrand, der unter ihr hindurchglitt wie ein lichtgrünes Band, sah einzelne lange Gräser vorbeifliegen.

Heute hatte sie keinen Blick für das im Licht schimmernde Wasser der Alster, das sie bei ihren abendlichen Läufen so oft begeisterte. Die Anspannung saß ihr im Nacken. Sie zog die starren Schultern hoch und versuchte im Laufen die Muskulatur zu lockern. Die Anspannung blieb. Sie spürte sie, seit Biskup nein gesagt hatte. Seit dem Gespräch mit ihm trug sie diese Bandage aus verkrampften Muskelsträngen. Ein Insekt traf ihre Nase. Wütend schüttelte sie es ab. Biskup konnte sagen, was er wollte, ihre Idee war gut. Sie war und blieb vielversprechend.

Aber Biskup hatte nein gesagt.

Von Trotz beflügelt, spürte sie die Kraft in ihren Beinen und beschleunigte das Tempo. Allmählich fing sie an, den Wind auf ihrer Haut zu genießen. Ihr Blut hatte zu rauschen begonnen, ein Moment, der ihr immenses Vergnügen bereitete. Jetzt fühlte sie sich fast, als ob sie fliegen könnte; in ihrem Kopf erhob sich das fantastische Bild eines Adlers, der über den dicht stehenden Bäumen und dem See schwebte, die Flügel ausgebreitet, erhaben herabspähend auf alles, was sich dort unten bewegte.

Der Auftrag bedeutete ihr so viel! Damit hätte sie zum ersten Mal, seit sie in der Redaktion arbeitete, einer echten Sensation auf die Spur kommen können, einer Geschichte, die einfach alles bot, was eine gute Story ausmachte: Horror, Gefühle, Liebe, Verrat. Aber nein: Ihr Ressortleiter hatte sie dazu abgestellt, über Arschwackeleien zu recherchieren. Eine Hintergrundgeschichte ausgerechnet über Burlesque – wer nahm so etwas noch ernst?! Und wer kannte ein Hurdy-Gurdy-Girl namens Mira Globos? Jennifer schüttelte unwirsch den Kopf, als sie sich die Antwort gab: Zumindest sie selbst würde die Dame bald kennenlernen. Denn sie sollte sie für Publik interviewen, wenn die Tänzerin im nächsten Monat nach Hamburg kam.

»Noch Fragen?«, hatte Biskup in dieser herablassenden Art gesagt, die er an den Tag legte, wenn er auf ganz und gar unzugänglich schaltete.

Keine Fragen mehr. Jennifer war aufgestanden, hatte ihre Mappe ergriffen und das Büro verlassen. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, hatte sie die aufsteigende Wut in sich gespürt. Diese Niederlage kam völlig unerwartet. In den nahezu vier Jahren, in denen sie nun schon bei diesem Magazin arbeitete, hatte sie sich stets darauf verlassen können, dass Biskup sie ihre Ideen umsetzen ließ.

Voller Empörung war sie über den eleganten grauen Teppich zum Lift gestapft, dessen Tür sich gerade öffnete. Nie war sie im Erdgeschoss schneller über den breiten Korridor zur Eingangshalle geeilt, wo ihr Marty, der Portier, fröhlich zuwinkte, und nach einem kurzen Nicken in seine Richtung durch die Drehtür hinaus ins Freie verschwunden. Frische Luft! Zu lange hatte sie den Atem angehalten. Viel zu lange.

Zu Hause hatte sie sich gleich umgezogen und war den kurzen Weg zur Alster hinübergehastet. Nun, nach einer guten Stunde, bemerkte sie die langsam einsetzende Entspannung. Es gab wieder Fluss und Himmel, und sie konnte sich jetzt sogar auf den Gesang der Vögel konzentrieren, der in der Dämmerung lauter wurde: Das schrille Lied eines Zaunkönigs, über das sich die Melodie einer Amsel legte. Energisch strich sie sich eine kurze blondierte Haarsträhne aus dem Gesicht und lief auf eine kleine Lichtung zu. Sie nutzte den dort liegenden Holzstamm, um Dehnungsübungen zu machen, und trabte in gemäßigtem Tempo zurück nach Hause. Die Nachbarin, die unten im Hausflur damit beschäftigt war, einen riesigen Einkaufsbeutel aus dem Kinderwagen zu zerren, schaute ihr verwundert nach, als sie nonstop die Treppen hinaufspurtete.

In ihr war noch so viel Energie! Mehr als genug. So eine Verschwendung, dachte sie. Ich bin unterfordert, ich will mehr!

Es musste einen Weg geben, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Immer wieder stellte sie mit Überraschung fest, wie groß Gerd war. Sie bemerkte ihn gleich, wie er aus einer Zweierecke aufstand und sie anstrahlte, als sie eine Stunde später das Café in der Innenstadt betrat. Sein braunes Haar sah etwas ungepflegt aus und konnte einen neuen Schnitt gebrauchen. Sie hatte ihn länger nicht gesehen und sich schon auf die Verabredung gefreut. Eigentlich kannten sie sich erst seit etwa einem Jahr, was ihnen jedoch viel länger erschien, denn beide kamen aus der Lüneburger Heide und hatten in Hamburg Jura studiert.

Das Café war einer von Jennifers Lieblingsplätzen. Es bestand aus einem Glastresen, an dem man bei sehr jungen, sehr hübschen, aufwendig gestylten Frauen Kuchen, Eis oder Snacks bestellen konnte, und einem Bereich dahinter, der in den Farben Braun und Creme gehalten war, wo zwei gemütliche Ecken mit großen Ledersofas und Sesseln zum Verweilen einluden. An der mit modischem Barockmuster gestalteten Wand hingen Regale, in denen CDs mit Jazz und World Music präsentiert wurden. Über den Sitzplätzen gab es Kopfhörer. Wenn Jennifer allein in das Café ging, nahm sie sich manchmal eine CD aus dem Regal und schob sie in den Player über ihrem Platz. So konnte sie selbst ausgewählte Musik hören und sich weniger allein fühlen.

Heute war sie nicht allein.

Gerd trug ein beigefarbenes Sakko über einem schwarzen Hemd, das er mit einer grauen Hose und braunen Schuhen kombiniert hatte, in der Kleidung wie in allem anderen immer etwas eigenwillig. Nach dem Jurastudium hatte er die Polizeilaufbahn einschlagen wollen, aber nach kurzer Zeit war ihm klar geworden, dass er weder ein Teamspieler war noch nach Anweisung von Autoritäten arbeiten wollte. Seitdem schlug er sich als Gerichtsreporter durch.

»Hi, wie geht’s? Schön, dich zu sehen!«, begrüßte er sie und gab ihr das obligatorische Küsschen auf die Wange.

»Willst du eine ehrliche Antwort?«

»Na klar, warum bin ich denn sonst hier? Freue mich schon auf ein neues Drama!«

»Diesmal ist es wirklich eins. Ich hatte vorhin ein völlig entnervendes Gespräch mit dem alten Starrkopf Biskup über eine tolle Idee für eine Recherche. Eine echte Superidee mit Aussicht auf eine richtig geile Story! Aber nein, er sagt, ich sei Redakteurin und nicht Reporterin, er brauche mich für die Geschichte mit einer Burlesque-Tänzerin. Meine Idee hat er sich erst gar nicht richtig angehört.«

Gerd rührte in seinem Latte Macchiato. Jennifer hatte einen kleinen gemischten Salat bestellt und dazu einen Espresso, den sie nervös herunterstürzte, kaum dass die Kellnerin ihn vor ihr abgesetzt hatte.

Gerd schaute sie aufmerksam an.

»Was ist das denn für eine Idee?«, fragte er.

Jennifer legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich weit zu ihm vor. Ihre Augen leuchteten.

»Du weißt doch, montags suchen wir alle immer besonders intensiv nach einer neuen Story. Also sitze ich heute früh in meinem Büro und lese Zeitungen aus aller Welt, auch Lokalzeitungen, immer auf der Suche nach einer Notiz, die es wert ist, genauer nachrecherchiert zu werden. Natürlich wusste ich, dass ich eigentlich an meiner Recherche zu dieser Mira Globos weiterarbeiten sollte. Aber wen interessiert schon Burlesque? Ich brauchte etwas Ablenkung. Also stöberte ich in dieser Lokalzeitung und fand eine kurze Nachricht. Jemand aus der Gegend will im Urlaub in Istanbul eine Frau erkannt haben, deren Foto vor zwei Jahren einmal auf unserem Titelblatt war!«

»Na und?«, meinte Gerd. »Irgend so eine alte Geschichte. Was ist daran denn so aufregend?«

»Die Sache ging damals durch alle Zeitungen. Wir kannten uns da noch gar nicht, sonst hätte ich dir garantiert davon erzählt. Die Frau hat bei McCleary, einem großen Flugzeugbauer gearbeitet, war dort Sicherheitsingenieurin, hat eines Abends offensichtlich einen Mitarbeiter getötet und ist dann geflüchtet. Irgendwie war in der Zeitung auch von Erpressung die Rede. Das war eine ganz große Sache, und Interpol hat sie lange gesucht, bis ein paar Wochen später ihr ausgebrannter Wagen in Kroatien gefunden wurde. Es gab zwar keine Leiche, aber einige verkohlte Stofffetzen mit ihren DNA-Spuren daran. Man glaubte an eine Entführung oder einen Racheakt.«

Gerd hatte ihre Geschichte mit steigender Aufmerksamkeit verfolgt. Er lehnte sich zu ihr hinüber, bis seine Ellenbogen auf der Tischplatte lagen. Seine Hände hielten das Glas umklammert und in seinen Augen lag ein Funkeln.

»Und diese Frau soll jetzt in Istanbul wieder aufgetaucht sein?«

»Ja, die Touristin hat sich bei der deutschen Polizei gemeldet und dazu Angaben gemacht.« Jennifer konnte Gerds Interesse nun deutlich spüren.

»Du weißt aber schon, wie unzuverlässig Zeugenaussagen sind?«, wandte er ein.

»Sicher. Das dachte die Polizei wohl auch. Sie haben nichts weiter unternommen. Darum hat sich die Frau ja an ihre Lokalzeitung gewandt, und so kam die Notiz dort hinein.« Jennifer setzte sich zurück und spießte ein Salatblatt auf.

»Und was willst du nun tun?«

»Ich habe Biskup gebeten, mich aus dem Tagesgeschäft abzuziehen und mir ein paar Wochen zu geben, um mich auf ihre Spur zu setzen. Es wäre doch traumhaft, wenn wir herausbekämen, dass sie gar nicht tot ist, und sie fänden!«

»Aber er war nicht interessiert?«

»Absolut nicht. Viel zu aufwendig und zu unwahrscheinlich, dass wir Erfolg haben werden, sagt er.« Jennifer spürte wieder die Enttäuschung von vor einigen Stunden in sich aufsteigen.

»Das sieht mir allerdings auch sehr nach Ente aus.« Gerd wurde nachdenklich, aber sein gespannter Gesichtsausdruck verriet, wie sehr er sich dennoch für die Geschichte interessierte. »Und nur auf den Hinweis einer Zeugin hin – gerade was das Wiedererkennen von Personen angeht, sind Zeugen so was von unzuverlässig! Wenn man sie festlegen will, verheddern sie sich in Widersprüche. Der Mensch kann Gesichter und körperliche Merkmale, wenn er sie nur für kurze Zeit sieht, einfach nicht vernünftig speichern.«

Jennifer ließ ihren Rücken gegen die Lehne fallen und entspannte sich wieder.

»Klar, das weiß ich auch. Eine Erfolgsgarantie hätte das natürlich nicht. Aber stell dir vor, was das für ein Abenteuer wäre! Ich könnte versuchen, ihren Weg zu verfolgen. Vielleicht ist sie wirklich entführt worden, hat sich wieder befreit und lebt jetzt ganz unbehelligt ein neues Leben? Oder sie arbeitet undercover bei der Konkurrenzfirma! Oder irgendwelche Gangster haben ihr alles entrissen und sie krebst jetzt, immer in der Angst, erkannt zu werden, irgendwo in der Türkei am Existenzminimum herum. Und ich könnte es herausfinden, sie stellen und eine Wahnsinnsgeschichte schreiben!«

»Ach Jennifer, träum weiter. So eine Chance bekommt man als angestellte Journalistin nicht. Du musst dich schon darauf einstellen, noch einige Jahre Fußvolk zu spielen, bis du genug Dienstjahre hast, um anspruchsvollere Aufträge zu bekommen.«

»Na, das ist ja eine tolle Unterstützung, die du mir da gibst. Was für ein Freund bist du eigentlich?«

Gerd wehrte lachend ab. »Ich unterstütze dich lieber bei deiner Freizeitgestaltung. Wie wär’s noch mit Disco?«

»Geht leider nicht«, entgegnete Jennifer betrübt. »Ich gehe mal lieber nach Hause. Rufe dich morgen an, wenn ich das Ganze verarbeitet habe.«

»Okay, mach’s gut. Ich bleibe noch ein wenig.«

Sie nickte ihm zu, zog die Jacke über und ging. Am Tresen drehte sie sich noch einmal um, um ihm kurz zuzuwinken, doch Gerd sah durch sie hindurch. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und schien angestrengt nachzudenken.

Es war 22.20 Uhr, als Jennifer zu Hause ankam. Müde öffnete sie die Tür zu ihrer Wohnung, die im dritten Stock eines großen Hauses aus der Zeit der Jahrhundertwende lag. Die Wohnung war recht eigenwillig geschnitten und gehörte zum rückwärtigen Teil des Gebäudes, so dass man erst einige Meter durch einen dunklen Flur gehen musste, bevor man die einzelnen Zimmer erreichte. Den Flur hatte Jennifer mit Bildern und kleinen Lampen ausgestattet. Vom Ende dieses langen Ganges ging nach links die Küche ab, dahinter das Wohnzimmer und rechts dann ihr Schlafzimmer, gleich daneben lag ein kleines, innen liegendes Bad.

Diese Art von Behausung war einer angehenden Starjournalistin nicht wirklich angemessen, dachte sie immer wieder mit Grimm, aber sie hatte dem eigenartigen Charme der Wohnung gleich bei der Besichtigung etwas abgewonnen. Die beiden hinteren Räume verfügten jeweils über einen kleinen Balkon auf der Höhe der Baumkronen alter Eichen und Kastanien, die im Hinterhof des Hauses emporragten. Wenn sie auf einem der Balkone saß, konnte sie die Vögel auf Augenhöhe sehen und sich vorstellen, sie befände sich in den Wipfeln eines Dschungels.

Diese Erfahrungen waren auch der Grund, warum sie sich in den letzten Jahren mit Vogelstimmen beschäftigt hatte. Die häufigsten Gartenvögel konnte sie inzwischen am Gesang erkennen.

Außerdem war die Lage der Wohnung fantastisch, sehr zentral und nicht weit von der Alster gelegen. Die unglaublich hohe Miete zahlte sie daher ohne Groll.

»Hi, Jenny, hier ist Tanja. Magst du gleich noch auf eine Caipi zu mir kommen? Melde dich doch, wenn du da bist.«

Sie lächelte, als sie die erste Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört hatte. Tanja wohnte direkt unter ihr. Sie war zweiundzwanzig, lesbisch und liebte das Leben und die Frauen. Obendrein war sie ausgesprochen unterhaltsam, und Jennifer konnte sich beim Zuhören gut mit ihr entspannen. Heute war ihr aber nicht nach Tanja. Sie würde morgen bei ihr anrufen; jetzt hatte sie einfach Lust, schlafen zu gehen.

Als sie in ihrem dunkelblauen Pyjama auf dem Bett lag, dachte sie noch einmal über den Tag nach. Sie würde beides tun: die Pflichtrecherche abschließen – aber auch der anderen Geschichte nachgehen! Vielleicht bekam sie über die Redaktion der Zeitung die Adresse der Frau, die diese Hana Berger gesehen hatte. Sie müsste es allerdings geschickt anstellen, denn natürlich schützten Journalisten ihre Quellen. Sie würde die Zeugin kontaktieren und die Spur aufnehmen.

Diese Geschichte ließ sie nicht mehr los, es war einfach unausweichlich, dass sie dieses Abenteuer einging. Vier Jahre Teamwork, die für sie hauptsächlich aus Zuarbeiten bestand, waren einfach genug.

Sie hatte immer schon schreiben wollen. Als Zwölfjährige hatte sie die ersten Geschichten verfasst, über Tiere und Zauberer und Banditen und tapfere Kinder. Später hatte sie begonnen, sich für Politik zu interessieren. Sie sah fasziniert den Auslandskorrespondenten im Fernsehen zu, bewunderte sie wegen ihrer klaren, präzisen Sprache und stellte sich deren Leben als glamourös vor, voller Reisen mit wenig Arbeit. Bevor sie dann nach dem Abitur mit dem Jurastudium begonnen hatte, hatte sie sich gründlich über den Beruf der Journalistin informiert. Es war ihr klar, dass es lange dauern würde, bis sie sich auf diesem Feld so viel Ruhm, Ehre und finanzielle Möglichkeiten gesichert haben würde, wie sie es sich wünschte – und wie ihr gebührte, denn sie wusste, dass sie gut war. Das hatten ihr schon die Lehrer gesagt, die ihre Beiträge in der Schülerzeitung jedes Mal besonders hervorhoben, und auch die Redakteure der kleinen Lokalzeitung in ihrem Heimatort waren angetan gewesen von ihrem Schreibstil. Es war klar, dass für eine Karriere bis ganz nach oben ein Jurastudium nötig war, das sie mit verbissenem Fleiß und ohne große Freude in Hamburg absolviert hatte. Nebenbei hatte sie immer wieder für Zeitungen berichtet und nach ihrem Prädikatsexamen tatsächlich eine Stelle als Volontärin bei Publik, einem der größten deutschen Magazine bekommen. Natürlich war viel Glück dabei gewesen; dass ihr Vater in früheren Jahren mit dem Verlagsleiter Golf gespielt und sie bei passender Gelegenheit einmal vorgestellt hatte, erwies sich sicherlich auch als hilfreich. Aber das änderte nichts daran, dass sie eben auch gut war.

Jetzt war sie Teil des Deutschland-Ressorts, zusammen mit zweiunddreißig anderen gut ausgebildeten, ehrgeizigen Männern und Frauen, die sich in ständiger Konkurrenz belauerten und gegenseitig die Stuhlbeine ansägten. Woche für Woche wurden wesentlich mehr Themen ausgearbeitet, als nachher wirklich im Druck erschienen. Jeden Dienstag wurden sie den Ressortleitern vorgestellt, ausgewählt oder verworfen.

Morgen würde es wieder soweit sein, sie hatte ihr Thema darum strategischerweise schon heute angebracht. Und war glatt gescheitert. Jennifer spürte, wie die Wut ihr von Neuem einen Stich versetzte.

Nein, sie würde sich nicht mehr ärgern, sondern das Beste daraus machen. So konnte sie sich immerhin aus dem morgigen Hauen und Stechen heraushalten und würde die Zeit dafür nutzen, die Burlesque-Recherche weiterzutreiben.

Und sie würde diese Lokalzeitung kontaktieren.

Dienstag

Tief im Tal färbte sich die Erde. Es war ein bräunliches Rosa, das Häuser und Felsen teils in mystische Schatten tauchte, teils hell aufleuchten ließ.

Kristina Reinhart beobachtete das Schauspiel des anbrechenden Tages durch die Frontscheibe des Busses, der sie, von Mytilini, der Hauptstadt der griechischen Insel Lesbos kommend, nach Skala Eressos an der gebirgigen Westküste hinüberbrachte.

Eben noch hatte sich der Bus durch Serpentinen gequält, die letzten braunfelsigen, wüstenhaft kahlen Berge hinab, und nun fiel Kristinas Blick ungehindert in das saftiggrüne Tal, in dem der Ort Skala Eressos lag. Sie sah den von Bäumen bestandenen Flusslauf zur Rechten und dann weiter die Bucht, die zu beiden Seiten von zwei hohen Felszügen begrenzt war. Auch auf ihnen lag intensives rosabraunes Licht, dazwischen schillerte das Meer. Kristina fühlte, wie sich die Harmonie der Landschaft auf ihre Seele übertrug.

Der Bus rollte eine kerzengerade Straße entlang, die im Zentrum endete, bog dann auf den Parkplatz vor dem Ortskern ein und entließ mit einem tiefen Schnaufen den Druck aus den Bremsen. Kristina ergriff ihr Gepäck und die Windjacke, stieg aus und sah sich neugierig um.

Eine Reihe von zweistöckigen weißen Häusern mit flachen Dächern, in deren Vorgärten rote und weiße Oleandersträucher blühten, umrahmte das Asphaltgrau des Platzes. An der Ecke, wo die enge Hauptstraße auf ihn einmündete, lag ein kleiner Supermarkt, in dem gerade einige griechische Touristen verschwanden.

Das Hotel, in dem sie vorerst wohnen würde, musste das letzte Gebäude in der Reihe sein, wie Kristina aus dem Internet wusste. Als sie vor dem gepflegten Haus mit den braunen Holzbalkonen ankam, lief auch schon eine kleine, grau gekleidete Frau auf sie zu, strahlte sie an und begrüßte sie: »Jassu, ti kánis?«

Sie antwortete auf Englisch, doch die Frau schien sie nicht zu verstehen, strahlte sie nur weiterhin an und bedeutete ihr mit dem Zeigefinger, ihr zu folgen.

Das Zimmer lag im ersten Stock und enthielt neben dem üblichen Mobiliar einen ausnehmend hübschen kleinen Schreibtisch mit Sessel. Die Frau zeigte ihr wortlos, dass sie alle Türen zum Balkon schließen musste, damit die Klimaanlage funktionierte, dann öffnete sie die Türen wieder, strahlte sie nochmals an und verschwand.

Kristina trat hinaus auf den Balkon und sog die Aussicht, die sich ihr bot, förmlich in sich auf: Eine Felsenkette, in der Ferne unterbrochen von weißen, langgestreckten Landhäusern und grünen Baumgruppen. Linksseits des Hotels lag eine Pension, die ihr zuvor nicht aufgefallen war; das Namensschild über dem Eingang war wie alles andere eingetaucht in jenes fast unwirkliche rosa Licht, dessen Intensität allmählich abnahm.

Von tiefer Zufriedenheit erfüllt, ließ sie ihre rundliche Gestalt auf einen der weißen Plastikstühle sinken, kreuzte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich mit einem tiefen Ausatmen zurück.

Jennifer hastete über die weite Betonplattform, auf der sich das Gebäude ihrer Redaktion erhob. Sie war spät dran. Um neun Uhr war sie mit Dominik Klein verabredet, dem Dokumentar, der für sie Recherchematerial aufbereitete und noch einmal auf Richtigkeit prüfte. Um Falschmeldungen zu vermeiden, wurde alles und jedes mehrfach von verschiedenen Mitarbeitern geprüft und allen Personen, über die berichtet wurde, Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben, bevor der entsprechende Bericht erschien.

Frisch und tatendurstig fühlte sie sich an diesem Morgen, war in der Frühe bereits einige Kilometer gelaufen, hatte dann ein schon fast peinlich gesundes Frühstück mit frisch gepresstem Orangensaft und Brot mit Kräuterquark zu sich genommen und fühlte sich fit und klar für den Tag.

Dominik hockte mit umeinander gezwirbelten Beinen vor dem Bildschirm und war wie meist in die unerschöpflichen Schätze seiner Computerdaten vertieft. Zusätzlich standen in seinem Arbeitsraum Tausende von Büchern, zum großen Teil Nachschlagewerke, aber auch Gegenwartsromane und Fachdokumentationen. Dominik war ein Sprachengenie. Sein Vater war Diplomat gewesen, der Sohn hatte seine Kindheit und Jugend in Australien, der Türkei, Marokko und schließlich Spanien gelebt und von jeder der in all diesen Ländern gesprochenen Sprachen einen beachtlichen Teil mitgenommen.

»Und wie sieht’s aus, hast du etwas für mich?«

Jennifer hatte ihn am vorigen Tag in ihre Suche nach der geheimnisvollen Flüchtigen eingeweiht und ihn gebeten, in der Angelegenheit zu recherchieren.

Dominik hob seinen schwarzen Lockenkopf vom Bildschirm und strahlte sie an. »Hab ich doch immer!«

Er entzwirbelte seine langen Beine, erhob sich und steuerte zielsicher einen der vielen mit Materialien überquellenden Büroschränke an.

»Hier sind deine Unterlagen. Einmal Literatur zum Thema Burlesque, eine CD mit einschlägiger Musik dazu, einige Internet-Adressen und Miras offizieller Lebenslauf. Und zu deiner anderen Sache habe ich dir die Berichte aus der Zeit der Affäre und alles, was ich zu Hana Berger finden konnte, herausgesucht. Informationen über die Firma kannst du ja in deren Internet-Auftritt abrufen. Wenn du noch was brauchst, komm ruhig wieder!«

»Danke, das sieht vielversprechend aus«, erwiderte Jennifer, während sie in einem der farbenfrohen Bände über Burlesque blätterte. Sie klemmte den Stapel unter den Arm und machte sich auf den Weg zu ihrem Büro im siebten Stock. Jeder Redakteur hatte seinen eigenen, wenn auch kleinen Raum mit Schreibtisch, Computer, Telefon und Regalen, so dass die Minimalanforderungen für das Schreiben erfüllt waren – eine ruhige Umgebung, aber ebenso die Inspiration, die der Blick über die Stadt bot, wenn sie in Denkpausen den Blick nach draußen schweifen ließ.

Die Recherche zur Burlesque würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Also würde sie zuallererst einen Termin mit der Lokalzeitung vereinbaren. Spontan griff Jennifer zum Hörer und ließ sich direkt mit dem Chefredakteur verbinden, was ihr überraschenderweise auf Anhieb gelang.

»Markmann hier«, schnarrte eine mürrische Stimme.

»Jennifer Arends, Magazin Publik, Hamburg.« Jennifer legte eine Kunstpause ein, um den Namen ihres Blattes ein wenig nachklingen zu lassen. »Guten Morgen, Herr Markmann. Ich bin auf eine Nachricht in Ihrer Zeitung aufmerksam geworden, in der es um die Zeugin geht, die Hana Berger, die verschwundene Sicherheitsingenieurin von McCleary, gesehen haben will. Darüber würde ich gern mehr erfahren. Könnten wir uns treffen?«

»Haben Sie bei Publik nichts Besseres zu tun?«

Die Stimme klang ungehalten, wurde gleich darauf aber moderater. »Die Meldung habe ich eher zufällig mit hineingenommen. Ich weiß nicht wirklich, wie zuverlässig sie ist.«

Jennifer schlug ihren zuckersüßen Ton an, um den sie viele ihrer Kolleginnen beneideten.

»Ehrlich gestanden, eigentlich habe ich Besseres zu tun. Das meint zumindest mein Ressortleiter. Ich würde die Spur aber gern auf eigene Verantwortung verfolgen und brauche Ihre Hilfe.« Eine Hilfe suchende Publik-Kollegin? Welcher mickrige Lokalblatt-Chefredakteur würde da widerstehen können, zumal wenn er den Namen Markmann trug? Sie legte nach: »Sie selbst hatten doch bestimmt auch ein besonderes Interesse an dem Fall, sonst hätten Sie die Zeugin doch nicht ernst genommen, oder? Die Polizei hat jedenfalls noch nichts unternommen, wie ich Ihrer Notiz entnehmen kann.«

Die Stimme klang nun deutlich interessierter.

»Ja, schon«, erwiderte Markmann. »Ich fand das ein starkes Stück, dass diese Frau die ganze Riesenfirma verarscht und sich dann abgesetzt hat. Chapeau, kann ich da nur sagen! Würde gern mal wieder von ihr hören oder sie persönlich kennenlernen.«

»Ich auch«, gab Jennifer zu. »Irgendwie ist etwas so Bösartiges ja auch faszinierend, oder? Kann ich morgen einmal vorbeikommen und wir sprechen darüber?«

»Gut, warum nicht«, kam die Antwort. »Kommen Sie am besten abends um sechs.«

Er beschrieb ihr den Weg und Jennifer legte mit einem Gefühl der Befriedigung auf. Das war ja leichter gewesen als gedacht. Scheinbar hatte sie einen Gefährten im Geiste gefunden. Im Siegesgefühl rief sie Tanja an und verabredete sich mit ihr für den Abend. Der erste Schritt war getan, sie hatte wirklich etwas zu feiern!

Dann genehmigte sie sich einen Cappuccino aus der Maschine auf dem Redaktionsflur und begann, das Material zum Auftritt der Burlesque-Tänzerin zu sichten.

Vom nächsten Freitag an sollte Mira Globos sechs Abende lang im neuen Club Venus in Hamburg auftreten. Scheinbar hatte dieser Club meist Burlesque-Tänzerinnen im Programm. Jennifer wusste wenig über diese Kunstform, die in ihren Augen irgendwo zwischen Theater, Varieté, Erotik und grobem Spaß angesiedelt war. Biskup fand das Thema nur deshalb interessant, weil er darin einen seiner heißbegehrten Trends vermutete: Die sogenannte Neo-Burlesque sprach seit einigen Jahren in den USA wieder große Zuschauermengen an. Diese Popularitätswelle war, wie er auf der Redaktionskonferenz ausgeführt hatte, inzwischen nach England und Japan herübergeschwappt, und da nun auch in Hamburg ein einschlägiges Etablissement die Pforten öffnete, wollte er mit Publik das erste Magazin sein, das den neuen Entwicklungen die gebührende Aufmerksamkeit schenkte.

Ein älterer Kollege Jennifers sollte die Hintergrundinformationen für den Artikel aufarbeiten, während es ihre Aufgabe war, ein Interview mit der Künstlerin zu führen. Jennifer war für ihren teils indirekten und verständnisvollen, teils durchaus provokativen Interviewstil bekannt, der ihrem Gegenüber auch Dinge entlockte, die eigentlich nicht preisgegeben werden sollten.

Um ein Gefühl für die richtigen Fragen zu bekommen, würde sie sich allerdings erst einmal gründlich einlesen müssen. Seufzend vertiefte sie sich in die englischsprachigen, mit Theaterplakaten und freizügigen Fotos illustrierten Bücher und blätterte schließlich in einem großformatigen Fotoband, das von einer Erotik-Ikone namens Dita von Teese herausgegeben war. Der Name und die Gestalt war selbst Jennifer bekannt; per Zufall hatte sie einmal die berühmte Nummer mit Dita in erotischer Pose im Champagnerglas im Fernsehen mitbekommen. Das Buch war immerhin hervorragend bebildert, es zeigte Dita in allen Arten von exotischen Kostümen und Fetischausstattungen, aber immer wirkte die Gestalt auf Jennifer äußerst künstlich. Der seltsam unbewegte Gesichtsausdruck, der wohl einen Schlüssel zu der in den Bildern dargestellten Szene bieten sollte, kam ihr ganz und gar aufgesetzt vor.

Sie legte Dominiks CD in ihren Computer ein. Während der ersten Takte der Musik, die den Auftritt von Burlesque-Tänzerinnen begleitete, schaute sie hinaus auf die Straße und beobachtete einen leicht humpelnden jungen Mann, der sich zum Döner-Stand vorkämpfte. Seine hyperweiten Jeans, die er alle paar Schritte am Bund hochzerrte, damit er sie nicht verlor, erhöhten nur den bedauernswerten Eindruck, den sein Gang hervorrief. Welch ein Kontrast zu der Leichtigkeit, mit der sich Menschen im Tanz bewegen und Bühnenshows absolvieren konnten!

Mitleidig wandte sie den Blick von dem Jungen ab und richtete ihre Konzentration ganz auf die Musik. Die meisten Stücke erinnerten an den Swing der vierziger Jahre, der nicht sonderlich lasziv, eher nach verstaubter Erotik der Vergangenheit klang. Erst eines der letzten klang moderner. Hier gaben Elektrobeats den Takt an. Dominik hatte ihr wohl eine Zusammenstellung aus mehreren Jahrzehnten gebrannt. Nun, sie würde sich durchquälen …

Die Sonne war schon vor Stunden aufgegangen. Inzwischen flimmerte die Luft. Es wurde Zeit, sich an einen Ort zu begeben, der mehr Schatten bot und dazu eine Aussicht, die es leicht machte, die unerträglichen Mittagsstunden dort zu verbringen. Kristina kannte einen solchen Ort: die Strandbar Viento. Sie war bereits im letzten Jahr dort gewesen und freute sich darauf, deren Betreiberin Inga wiederzusehen, die es irgendwann endgültig aus Bremen nach Lesbos verschlagen hatte. Diese Insel hatte etwas Eigentümliches, das Frauen aus allen Teilen Europas immer wieder hierher zurückkommen ließ. Vielleicht war es ja richtig, dass der Geist der Dichterin Sappho, von der die Legende sagt, dass sie einst hier auf dieser Insel in Mytilini lebte, bis heute lesbischen Frauen, die sich anderswo gesellschaftlich oft eher randständig fühlen, ein Gefühl von Harmonie und Erdverbundenheit vermittelt. Die Epoche der Sappho lag zwar schon mehr als zweieinhalb Jahrhunderte zurück, war aber eine außerordentliche kulturelle Blütezeit gewesen, in der ausnahmsweise sogar Frauen und die Frauenliebe zu Ruhm kamen. Ein Glück also, dass der Geist Sapphos einen so langen Atem bewies …

Der Sand brannte unter Kristinas Fußsohlen, als sie zum Wasser stapfte. Schläfrig raunte das Meer im leisen Wellenschlag, und der Strand, an dem sonst Lesben und wilde Camper aus dem anliegenden Wäldchen die Sommertage genossen, gähnte vor Leere. Ungehindert glitt Kristinas Blick über den Sand hinweg bis zu einer fernen Landzunge, auf der ein Felsen, geschwungen wie der Rücken eines Tieres, ins Meer ragte. Die schroff abfallende Felslinie, die Wasser und Himmel nahezu senkrecht begrenzte, erinnerte an das Profil eines menschlichen Gesichtes – unten ein rundes Kinn, darüber kleine Ausstülpungen als Mundöffnung, darüber eine gerade Nase und eine sehr hohe Stirn. Auch dieses Felsgesicht war womöglich ein Ausdruck des magischen Elements, das viele Frauen in dieser Landschaft sahen.

Kristina hatte dem Meer im letzten Jahr versprochen, wiederzukommen. Endlich war es soweit! Voller Freude entfaltete sie ihr Strandlaken, sicherte es an allen vier Ecken mit Steinen gegen den starken Wind, zog sich aus und lief mit langen Schritten in die Wogen – so schnell, dass sie den steinigen Untergrund und die Kälte des Wassers kaum spürte. Dann schwamm sie hinaus und genoss den Anblick der Farben, die sich ihr boten.

Hier draußen wechselte lichtes Hellblau mit tiefem Blau im Ton eines dunklen Saphirs, von dem sich ihre braunen Beine eindrucksvoll abhoben. Zum Land hin öffnete sich der Blick zu der gesichtsförmigen Landzunge auf der linken Seite und rechts zu den Strandrestaurants, die sich am Wasser entlangzogen. Die Tavernen waren auf Holzbalken sehr nahe ans Meer gebaut; hinter ihnen konnte sie den kleinen Hafen ausmachen und darüber den Felsen, von dem sich Sappho hinabgestürzt hatte, der Sage nach aus Kummer darüber, dass ein Jüngling sie nicht begehrt haben soll. Kristina blieb lange im Wasser, begrüßte das Meer wie eine unberechenbare, schöne Freundin. Erst als sie zu frieren begann, schwamm sie mit kräftigen Zügen zum Strand zurück, rubbelte sich ab, streifte eilig Rock und T-Shirt über und wanderte landeinwärts.

Hinter einigen trockenen Büschen wurde die steinerne Einfassung von Ingas Bar sichtbar. Im Außenbereich boten zwischen Baumstümpfen und Felsbrocken verstreut stehende Liegestühle den Gästen Platz zum Entspannen. Inga, die in ihren ausgefransten Shorts und einem stark verwaschenen, einstmals schwarzen T-Shirt mit der Aufschrift »Messenger from Heaven« zwischen den Stühlen umherwirbelte, sah kurz auf, rannte auf Kristina zu und umarmte sie herzlich.

»Hey super, dass du da bist! Ich habe mich total auf dich gefreut. Als du vorgestern angerufen hast, habe ich gleich allen Bescheid gesagt. Und du kommst auch gerade richtig: In einer halben Stunde veranstalten ein paar Frauen hier eine Lesung. Da kannst du Mary kennenlernen, die das neue Tierheim aufgemacht hat!«

»Verrate mir, wie es dir geht!«, erwiderte Kristina. »Läuft die Kneipe gut und wie geht es Olga?«

»Ja, wie du siehst, muss die Saison erst starten. Die Engländerinnen sind noch nicht da, die sind ja meistens die Ersten. Vorher ziehen bei uns eher ein paar versprengte Frauen auf Reisen durch, die auch nicht so viel Geld haben, um hier den ganzen Tag zu sitzen und zu konsumieren. Von den Campern kann ich bestimmt nicht leben, die sind froh, wenn sie meine Dusche umsonst benutzen können!« Lachend wischte Inga sich über die Stirn, packte Kristina bei der Hand und zog sie in eine Ecke mit riesigen Topfpalmen, wo bereits mehrere Frauen saßen, die sich erwartungsvoll dem Platz in der Mitte zugewandt hatten.

Eine ältere dunkelhaarige Frau stand von einer der Holzbänke auf und kam auf die beiden zu. Sie reichte Kristina die Hand zum Gruß und sprach sie direkt an. »Du bist also die Tierschützerin von Wild Rescue! Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Inga hat erzählt, dass du in einem Projekt mit Schildkröten arbeitest.«

»Das ist richtig«, erwiderte Kristina. »Ich will mithelfen, dass diese Tiere hier auf Lesbos wieder mehr geschützt werden. Komm, setz dich doch! Magst du auch einen Kaffee?«

»Dafür sorge ich«, sagte Inga im Aufstehen.

»Und du leitest jetzt hier ein Tierheim? Das ist ja spannend! Letztes Mal habe ich hier ziemlich viele Katzen gesehen, die gar nicht gut aussahen.«

Mary runzelte die Stirn. »Tja, das ist eigentlich das Schlimmste daran: dass wir nicht allen helfen können. Hin und wieder bringen wir zwar auch Katzen zum Tierarzt, aber es gibt einfach zu viele. Wir haben uns erst einmal auf Hunde verlegt, weil die Katzen besser klarkommen, zumindest im Sommer. Aber im Winter haben sie natürlich auch Schwierigkeiten, Futter zu finden.«

»Ich würde dein Tierheim gern mal sehen!« Kristina freute sich, einer verwandten Seele begegnet zu sein.

»Komm doch morgen Vormittag bei uns vorbei. Du findest uns ganz leicht an der Straße, die nach Eressos führt, auf der linken Seite. Hinterm Zauntor führt ein langer Weg hinauf zum Haus.« Marys Lächeln war herzlich.

Kristina bestellte einen Frappé, griechischen Eiskaffee, den Inga aus Espressopulver, Wasser, Eis und Kondensmilch bereitete. Als sie mit dem Glas zurückkam und sich für ein Weilchen zu ihr setzte, wollte Kristina genauer wissen, wie es Inga inzwischen mit ihrer Freundin ging. Sie hatte sie im vergangenen Jahr um die hübsche kleine Griechin beneidet.

»Olga? Einerseits verstehen wir uns gut«, meinte Inga und schlürfte ihren Frappé. »Ich habe viel mehr Griechisch gelernt, und auch auf Englisch kamen wir ja ganz gut klar. Aber wir leben immer noch nicht zusammen. Das will sie ihrer Familie nicht antun … Für mich ist das oft schwierig. Ich will, dass meine Frau bei mir ist.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte Kristina. »Sicherlich können sich ihre Verwandten nicht damit arrangieren, dass sie Frauen liebt. Also hat sie viel zu verlieren.«

Inga seufzte tief. »Ich weiß, ich weiß. Trotzdem: Ich wünsche mir mehr. Mehr Nähe, mehr Verantwortung füreinander. Und du? Wartet irgendwo eine Liebste auf dich?«

Kristina winkte ab. »Leider immer noch nicht. Ich glaube, ich habe mir die Liebe abgewöhnt. Das Projekt, die Tiere und meine Kollegen, das war’s im Moment. Aber wenn ich hier etwas Kraft getankt habe, wer weiß – eventuell bin ich ja nach Abschluss des Projekts wieder so weit, es noch mal zu versuchen?«

»Tja, sie wird nicht von selbst vor deiner Tür stehen.« Inga sah die Freundin nachdenklich an.

»Komm, lass uns das Thema wechseln.« Verlegen kratzte Kristina mit dem Löffel den restlichen Kaffeeschaum vom Glas und fühlte, wie unangenehm ihr diese Nachfrage war. Die innere Leere, die ihr erst jetzt wieder zu Bewusstsein kam, zeigte ihr nur allzu deutlich, wie sehr sie sich nach Liebe sehnte. Ein Leben als Single würde sie auf Dauer nicht glücklich machen.

Inga hatte bereitwillig davon abgelassen, weiter in ihren Wunden zu stochern, und stattdessen damit begonnen, sie ausführlich mit Neuigkeiten aus der lesbischen Gemeinschaft in Skala zu versorgen. Es war später Nachmittag, als Kristina müde wieder in ihr Hotel zurückging und sich nun regelrecht auf ein paar Stunden des Alleinseins freute.

Wie wird es weitergehen?Sie ist sicher, dass sie immer noch auf der Fahndungsliste verschiedener Polizeiregister steht. Wieder wird sie sich eine neue Bleibe suchen müssen, am besten ein gut verstecktes Landhäuschen.

Sie beobachtet die Camper, die ihre Zelte unter den Tamarisken am Strand aufgeschlagen haben, durchaus mit Misstrauen. Was, wenn sie ihre Geschichte in den Zeitungen verfolgt hatten? Bei den Frauen aus Deutschland, die ihr hier begegnen, hegt sie nicht solche Befürchtungen. Wohl die wenigsten Lesben lesen ein deutsches Polit-Magazin wie Publik und damit die Titelgeschichte, in der es um ihre Flucht gegangen war. Leider war auch ein recht gutes Foto von ihr neben dem Artikel abgedruckt. Seitdem trägt sie allerdings eine neue Frisur und sie ist überzeugt, dass das Leben in der Sonne und dem Wind ihre Ausstrahlung insgesamt sehr verändert haben. Geblieben ist: Sie befindet sich weiterhin auf der Flucht …

Sonja beobachtete, wie der Felsen, der die Bucht von Skala Eressos bis weit nach Westen begrenzte, sich im Sonnenuntergang allmählich rötlich färbte. Sie liebte diese Zeit, wenn die Hitze des Tages innerhalb einer knappen halben Stunde angenehm lauer Luft wich.

Hinter sich hörte sie Babs leise weinen. Es war, als stünde eine gläserne Wand zwischen ihnen, die alle Laute dämpfte.

Sonja dachte, so fühlt es sich also an, verzweifelt zu sein.

»Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Ich habe dich so geliebt! Mir tut es doch auch weh, dass wir jetzt nicht mehr zusammen sein können!« Babs brach jetzt in heftiges Schluchzen aus.

Wortlos schob Sonja sie zur Seite, war mit wenigen Schritten entlang der ockerfarben gestrichenen Häuserwand beim Tor und schon aus dem Hof des kleinen Landhauses hinaus.

Draußen stand sie wie betäubt inmitten der Felder mit buschigem harten Gras und verstand die Welt nicht mehr. Sie war schockstarr; erst langsam, während sie den staubigen unbefestigten Weg zum Dorf hinunterschritt, gestattete sie sich die Rückkehr zu ihren Gedanken und Gefühlen.

So sehr hing sie also inzwischen an Babs! Die Freundin war so schön und so stark, die Bewegungen ihres schlanken Körpers waren geschmeidig wie die einer Salsa-Tänzerin. Als sie Babs vor ein paar Jahren kennengelernt hatte, war sie zuallererst von ihrer Erscheinung hingerissen gewesen. Sie hatte die Beziehung mit Babs begonnen, weil der Sex mit ihr so lustvoll war und weil die kleine Ferienpension, die sie im Inland von Lesbos miteinander führten, einfach ein idealer Ort war. Aber nach und nach hatte sie echte Zuneigung zu Babs empfunden, auch wenn deren Art, das Leben zu sehen, sich sehr von der ihren unterschied. Und gerade jetzt, als sie mit wachsendem Erstaunen merkte, wie sie sich der Freundin gegenüber allmählich öffnen und einlassen konnte, hatte Babs ihr eröffnet, dass sie eine andere liebte.