Carla Chamäleon: Oh Schreck, ich bin weg! - Franziska Gehm - E-Book
SONDERANGEBOT

Carla Chamäleon: Oh Schreck, ich bin weg! E-Book

Franziska Gehm

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Neues Schuljahr – Neue Katastrophe Carla Niemann ist sich sicher, dass es so kommt. Ihre beste Freundin ist ans andere Ende der Welt gezogen, und dafür zieht jetzt Jole, der neue Klassenclown, in ihr Leben ein. Carla möchte sich am liebsten in Luft auflösen. Und genau das tut sie. In peinlichen Situationen (von denen es dank Jole viele gibt) verschmilzt Carla mit der Umgebung. Wie ein Chamäleon. Carla findet das total unheimlich, Jole einfach nur super. Genau wie der mächtige Geheimbund, der Carla beobachtet ... Und Carla Chamäleon, die Superheldin wider Willen, startet ins erste Abenteuer!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 183

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Franziska Gehm

Carla Chamäleon. Oh Schreck, ich bin weg!

Über dieses Buch

Mit Illustrationen von Julia Christians

 

Carla ist zu Beginn des neuen Schuljahres traurig, weil ihre beste Freundin Herta nach Australien gezogen ist. Ohne Herta fühlt sie sich in der Schule einsam. In der ersten Schulstunde wünscht sie sich, einfach zu verschwinden. Was sie dann auch tut.

Als der Neue in der Klasse sich neben Carla setzt, ist ihr das so peinlich, dass sie einfach mit der Umgebung verschmilzt. Glücklicherweise merkt das niemand. Außer Jole, der Neue. Der beobachtet Carlas Verwandlung begeistert. Aber Carla möchte bloß normal sein! Leider stellt sich heraus, dass Carla eine «Chamäliose» hat und immer, wenn ihr etwas peinlich ist, unsichtbar wird. Schon bald wird ein Geheimbund auf sie aufmerksam ...

Wird Carla es über sich bringen ihre innere Superheldin rauszulassen?

Vita

Franziska Gehm, geboren 1974 in Sonderhausen, hat in England und Irland studiert, in Österreich und Dänemark gearbeitet und zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt und verfilmt wurden. Genau wie Carla hat sie sich als Kind manchmal in Luft aufgelöst, meistens im Mathe-Unterricht.

 

Julia Christians, ein Harzer Urgestein von 1984, ist aus einem Studium des Kommunikationsdesigns an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK) 2011 als Diplom-Designerin hervorgegangen und arbeitet seit 2018 als freiberufliche Illustratorin. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann, ihren Kindern und der ständigen Frage, ob drei Hunde genug Hunde sind.

Trauerklops-Tag

Carla Niemanns Liste für das neue Schuljahr:

TO DO (OR NOT TO DO) IM NEUEN SCHULJAHR – DAS IST HIER DIE LISTE!

Herta nicht vermissen

Herta ganz oft texten (aber NICHT vermissen!)

Nie wieder Gummibärchen

Auf der Hut sein vor dem Leben, immer und überall

Oder tot stellen (vielleicht einfacher?)

Wenn ich Herta doch vermisse, 10 Tüten Gummibärchen essen und tot umfallen (Punkte 1 bis 5 dann überflüssig)

Carla legte ihr braunes Notizbuch auf den Schoß, kaute am Stiftende und sah zum Fenster. Der Morgen war violett, Carlas Gesicht auf der Fensterscheibe blass.

Carla Niemann war weder besonders groß noch besonders klein. Sie war weder dick noch dünn. Sie hatte halblange Haare, weder blond noch braun. Sie war weder hochbegabt noch tiefbeschränkt. Sie hatte eine Mutter, einen Vater, eine Schwester und eine Nase. Carla Niemann war absoluter Durchschnitt. Ein Otto Normalmädchen. Genau so wollte sie sein.

Carla legte den Stift weg und blickte zur Uhr. Noch zehn Minuten, dann musste sie los. Der erste Schultag im neuen Schuljahr. Der erste Blödtag im neuen Buhjahr. Der erste Irgendwas von einer langen Reihe Irgendwasse ohne Herta.

Carla blätterte durch die Seiten in ihrem Notizbuch. All die Listen – das war ihr Leben. All die Tiere – das waren die Anderen. Es sah aus, als hätte Carla den Zoo verewigt, in dem ihre Mutter als Tierpflegerin arbeitete. Carla überflog die Zeichnungen und kam zum ersten Bild.

Sie strich dem Löwen über den Kopf. «Menno, wieso bist du nicht mehr da, Herta?»

«Carli! Du musst los.» Ihr Papa steckte den Kopf ins Zimmer. Er hatte sein Basecap seitlich auf. «Sag mal, willst du vielleicht zusammen mit Norma …»

«Vergiss es!», kam es aus der Küche, und Carla schüttelte gleichzeitig den Kopf.

«Oder soll ich …? Ich meine ja nur, weil du sonst immer mit Herta …» Carlas Papa stand hilflos in der Tür.

«Papa, ich bin elf.» Carla sah ihren Papa ernst an. «Und du bist übrigens 42. Wieso hast du dein Basecap so komisch auf?»

«Cool, oder?» Carlas Papa drehte den Kopf. Er hatte kaum noch Haare, dafür jede Menge Mützen.

Carla kribbelte es bei dem Gedanken in den Fingern, ihrem Papa hinten auf die Glatze ein Gesicht zu malen. Doch als sie sich dann vorstellte, dass er so beim nächsten Elternabend erschien – das wäre ihm zuzutrauen –, verdrängte sie die Idee schnell. Das wäre ja noch peinlicher.

Sie schnappte sich ihre Schultasche, steckte das Büchlein ein und schob sich an ihrem Papa vorbei.

«Bis heute Nachmittag», rief Carla, öffnete die Haustür und verließ schnell die Wohnung. Immerhin konnte sie in der Schule ein paar Stunden in halbwegs aufgeräumten Zimmern und mit halbwegs normalen Leuten verbringen. Und mit Herta, dachte Carla. Im selben Moment begriff sie, dass die Schultage ab jetzt ihre Farbe verloren hatten. Das wirklich Gute an der Schule war verschwunden. Wie ein Meer ohne Wasser.

Die Sonne schien vom Himmel, als hätte sie noch nicht begriffen, dass der Sommer vorbei war. Und die Ferien. Dass überhaupt alles vorbei war. Carla blinzelte in die Sonne und streckte ihr die Zunge raus. Carla wollte Herbststurm. Mindestens grauen Himmel.

Nach ein paar Minuten kam Carla an Hertas Haus vorbei. Automatisch wurden ihre Schritte langsamer, sie blieb stehen. Der neue Name auf dem Klingelschild versetzte ihr einen Stich. Jeden Morgen hatte sie dort geklingelt. Kurz darauf waren Hertas Schritte durchs Treppenhaus gepoltert, sie hatte die Tür aufgerissen und Carla umarmt. Hertas Lachen hatte sich wie ein Zaubermantel um Carla gelegt.

Carla dachte an Zeitreisen und Parallelwelten und wie es sein konnte, dass vor dem Sommer an genau diesem Ort noch alles vertraut und klar und einfach gewesen war und jetzt alles fremd, durcheinander und kompliziert. Wieso änderten sich Sachen, wieso konnte nicht alles bleiben, wie es war, wo es doch gut war?

Die Haustür wurde plötzlich geöffnet und sog ihre Gedanken in den kühlen Flur, wo sie in der Dunkelheit verpufften. Eine junge Frau trat heraus. Sie setzte sich Kopfhörer auf, ließ eine Kaugummiblase platzen und schlurfte davon.

Carla ließ Hertas Haus hinter sich. Es kam ihr vor, als müsste sie sich durch einen klebrigen Brei schleppen. Der Striemen der Schultasche drückte auf Carlas Schulter, obwohl sie kaum Bücher in der Tasche hatte. Die Einsamkeit wog Zentner.

Hätte sie geahnt, was an diesem ersten Schultag passieren würde, wäre sie zu Hause geblieben und hätte sich wirklich tot gestellt.

Zweifel am Zebrastreifen

Die Schule stand kerzengerade im Sonnenschein und strahlte mit ihrem weißen Putz wie ein Erstklässler bei der Einschulung. Zumindest das alte Schulgebäude, das vor fast hundert Jahren von den Stadtvätern und Vorfahren des jetzigen Bürgermeisters Herrn Striezer errichtet worden war. Herr Striezer kümmerte sich persönlich darum, dass es alle paar Jahre leuchtend weiß gestrichen wurde, der Rasen davor so kurz war wie die Haare eines englischen Fußballfans und die Inschrift über der Eingangstür, die auf seine Vorfahren verwies, immer in ganzer Schönheit erstrahlte.

Das neue Schulgebäude gleich daneben sah im Vergleich zum alten aus, als hätten Kindergartenkinder mit Holzklötzen, runden Türmchen und bunten Murmeln Architekt gespielt. Der berühmteste Künstler der Stadt, Fridorius Schlenker, hatte es gestaltet. Fridorius Schlenker hasste gerade Linien, genaue Vorgaben und Einförmigkeit. Deshalb hatte das neue Schulgebäude viele bunte Fenster, märchenhaft wirkende Säulen und einen gewellten Mosaikfußboden.

Aus allen Richtungen strömten Schüler auf die beiden Schulgebäude zu, als würden sie magnetisch angezogen. Manche verschwanden gleich im großen Türschlund, andere blieben davor stehen, bildeten Grüppchen.

Mit gesenktem Kopf musterte Carla die anderen Schüler. Die meisten kannte sie nur vom Sehen. Einige, mit denen Herta manchmal auf dem Schulhof gesprochen hatte, etwas besser. Und dann waren da natürlich noch die aus ihrer Klasse. Sollte sie sich zu ihnen stellen? Dann müsste sie auch etwas sagen. Wäre vermutlich gut. Hm. Aber mehr als «Hallo» fiel ihr gerade nicht ein. War nicht so der Bringer.

Unentschlossen blieb Carla auf dem Gehweg vor der Schule stehen. Am Zebrastreifen stand ein dicker Polizist. Das war neu. Die Uniform schien ihm nicht zu passen. Die Hose war viel zu lang, die Uniformjacke saß zu eng. Der Polizist hatte X-Beine. Auch mit seinem Polizeihut stimmte etwas nicht. Er saß schief auf dem kräftigen Lockenkopf des Polizisten. Seine kleinen dunklen Augen waren tief ins weiche Gesicht eingesunken, wie Rosinen in einem Kuchen. Alle paar Sekunden fuhr er sich mit der Zunge über seine vollen Lippen, sodass sie wie glasiert glänzten. Sein dünner, brauner Oberlippenbart sah aus wie angemalt. Oder als hätte er einen Kakao getrunken und vergessen, sich den Mund abzuwischen. Dieser Polizist sah irgendwie … hm, na ja, lustig aus. Und lustig, da war sich Carla ganz sicher, sollten Polizisten nicht aussehen.

Der Polizist pfiff immer in eine Trillerpfeife, sobald sich ein Auto näherte. Wenn ein Auto es wagte, im Halteverbot stehen zu bleiben, um einen Schüler aussteigen zu lassen, stampfte der Polizist darauf zu, belehrte den Fahrer, diskutierte mit ihm und knöpfte ihm dann ganz offensichtlich das Bußgeld in bar ab.

Merkwürdig, dachte Carla. Je länger sie den Polizisten beobachtete, desto sicherer wurde sie, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Er wirkte gar nicht wie ein Polizist. Vielleicht hatte er aber auch nur den falschen Beruf gewählt. Wie ihr Ethiklehrer. Der gehörte Carlas Meinung nach besser in eine Baumschule.

Plötzlich lief Samir über den Gehweg auf Carla zu. Samir aus tausendundeinem Traum. Carla vergaß den dicken Polizisten sofort. Sie starrte Samir an, öffnete den Mund, und wie eine kleine, feine Seifenblase kam ein «H … Hallo» heraus.

Samirs Augen waren eine Nacht. Sterne, Kometenschweife, Polarlichter, Mond, alles dabei. Er lief mitten in Carlas Hallo-Seifenblase hinein und lächelte. Er lächelte! Freute er sich, Carla nach den Ferien wiederzusehen? Musste er ja wohl … auf die Schule würde er sich doch nicht freuen. Obwohl, bei Samir wusste man nie. Carla versuchte zurückzulächeln. Sie sah aus wie eine Erstklässlerin, die ihre Zahnlücken zeigt. Erst da bemerkte es Carla: Samir lächelte nicht sie, sondern sein Handy an. Er lief an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken.

«Bescheuert, bescheuert, bescheuert», murmelte Carla. Sie verdrehte über sich selbst die Augen. Samir hatte sie nicht gesehen, nicht angelächelt und ganz bestimmt nicht vermisst. War auch besser so. Alles andere würde die Welt nur furchtbar durcheinanderbringen. Die Erdanziehung würde aussetzen und unten plötzlich oben sein und tausendundein Traum wahr werden. Ging ja gar nicht.

Carla warf einen letzten Blick auf den dicken Polizisten. Er lehnte sich gerade zum Fahrer eines weißen Oberklassewagens vor. Sie holte einmal tief Luft, drehte sich um und ging ins Schulgebäude, ohne jemandem in die Augen zu sehen.

Die Letzte in der letzten Reihe

Der Schulgeruch schien sich über den Sommer im Gebäude gehalten zu haben wie eine warme Pfütze. Diese Mischung aus Reinigungsmittel, erhitzten Schülerkörpern, Erbsensuppe und langen trockenen Schultagen. Und zu oft getragenen Turnschuhen.

Carla war die Erste im Klassenzimmer. Die anderen standen noch auf dem Hof und in den Gängen und unterhielten sich. Carla ging zu ihrem Platz. Letzte Reihe am Fenster. Links Carla, rechts Herta. Links Carla, rechts nichts da.

Draußen zogen die Massen über die Flure. Im nächsten Moment betraten die ersten Schüler das Zimmer, gefolgt vom restlichen großen Schwung. Wie ein Schwarm heimkehrender Zugvögel fielen sie mit Geschnatter und Gepluster in den Raum ein. Taschen wurden auf Bänke geworfen, es wurde geküsst, gegrölt, gelacht und High five geschlagen.

Carla saß in der letzten Reihe und rührte sich nicht. Sie hatte den Kopf gesenkt, sodass die Ponyfransen über ihre Augen fielen und sie alles durch einen straßenköterblonden Vorhang sah. Keiner beachtete sie. Als wäre sie ein Stuhl. Das war in Ordnung, Carla war gerne ein Stuhl.

«He, Carla!» Kira, die sich mit Tim an die Bank vor ihr gesetzt hatte, drehte sich um.

«Und, Ferien waren gut?», fragte Tim, der halb nach hinten gewandt mit dem Stuhl kippelte. Er war braun gebrannt, die Härchen auf seinen Armen golden von Sonne und Meer.

Carla blickte auf. Redeten die mit ihr? Aber sie war doch ein Stuhl!

«Carla? Ferien?» Kira grinste und sah sie fragend an. Sie hatte die krausen, dunkelbraunen Haare zu lauter kleinen Zöpfchen geflochten, mit bunten Bändern und vermutlich genauso bunten Erinnerungen darin.

Ferien. Ja, hab’ ich gehabt, dachte Carla. Diese lange Zeit, die zwischen zwei Schuljahren liegt. Oder zwischen zwei Welten. Sie konnte den beiden den Inhalt ihrer Ferienbücher wiedergeben, bis sie gähnend vom Stuhl kippten. Oder berichten, dass sie Tante Mildred zu ihrem Bauchtanzkurz begleitet hatte. Oder dass sie von ihrem Papa gelernt hatte, wie man ein Radio repariert (oben draufhauen).

Tim und Kira sahen Carla immer noch abwartend an. Carla brachte vor lauter Gedanken darüber, was sie sagen sollte, nichts über die Lippen.

Je länger Kira und Tim sie ansahen, desto unwohler wurde ihr. Warum drehten die beiden sich nicht wieder um? Wieso war Herta nicht hier, um ihnen eine Antwort zu geben? Um Carla mit ihrem Zaubermantel unsichtbar zu machen?

Kira lehnte sich zu Carla und tat, als würde sie an ihr riechen. «Wette, du hast die Ferien im Streichelzoo bei deiner Mama verbracht. Oder rieche ich da nicht Eau de Àmster?» Sie zwinkerte Carla zu.

Tim grinste mit Grübchen.

Dreht euch doch bitte wieder um!, flehte Carla stumm. In dem Moment spürte sie ein merkwürdiges Zwicken und Kribbeln in den Füßen. Gleichzeitig rauschte es in ihren Ohren. Es kam ihr vor, als würden schäumende Wellen mit unzähligen Kieselsteinen über ihre Füße rollen. Carla sah nach unten. Ihre Füße waren verschwunden.

Sofort riss Carla den Kopf wieder hoch. Kann nicht sein, dachte sie. Ich bin ein cooler Stuhl, bin ein cooler Stuhl, bin ein stuhler Cool … Carla hatte noch nie gerne im Mittelpunkt gestanden. Sie war schon oft nervös geworden, hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Aber so was, Wellen mit stechenden Kieselsteinen, die ihre Füße verschwinden ließen, das war neu. Und verdammt unheimlich.

«Ist deine Stimme grad in der Wäsche?», fragte Tim.

«Mann, Carla, das mit dem Streichelzoo war doch nur ’n Witz.» Kira sah Carla entschuldigend an.

«Die kannste vergessen.» Tim winkte ab und drehte sich wieder um. «Hertas Schoßhündchen kann noch nicht mal alleine winseln.»

«AHHHIIIII!» Der Schrei war so laut und schrill, dass die Schulglocke dagegen ein Mausepieps war. Es gab nur ein Mädchen in der ganzen Welt, das so schreien konnte: Marie-Amylee.

Sie stolperte gerade über eine Tasche, ruderte mit den Armen, wobei sie einem Mitschüler eine Ohrfeige verpasste, und krachte auf die Tischplatte von Tim und Kira. Es sah sehr dramatisch aus. Kaum hatte sich Marie-Amylee aufgerichtet, brach sie in Tränen aus. «Meine Hand! Das tut so weh! Das ist eine Mittelhandmanufaktur. Ich muss in die Unfallchirurgie! Röntgen, CT, stabilisieren, kühlen, operieren!» Marie-Amylee holte Luft und schluchzte leise: «Ich will nach Hause.»

Kira stand auf und legte den Arm um Marie-Amylee, die daraufhin noch lauter schluchzte.

«Ist da Blut? Bestimmt ist da Blut! Ich kann gar nicht hingucken.» Marie-Amylees Stimme zitterte. Ihre Stupsnase kräuselte sich, ihre großen runden Augen glänzten vor Tränen.

Kira beugte sich über Marie-Amylees Hand. «Marmelade zum Frühstück?»

«Das ist keine Marmelade. Das ist eine Wunde!», rief Marie-Amylee. «Die kann sich entzünden und eitern, und dann muss meine Hand exekutiert werden. Oder da kommen Krankheitserreger rein, und die verbreiten sich über die Lymphautobahnen, ich bekomme eine Blutvergiftung, und dann … dann … sterbe ich!»

Tim verdrehte die Augen.

«Quatsch», sagte Kira. «Du stirbst nicht. Also, nicht heute.»

Es verging kein Tag, an dem Marie-Amylee sich nicht lebensgefährlich verletzte. Wenn Marie-Amylee nicht gerade weinte, war sie aber gut gelaunt und in der Klasse beliebt. Vielleicht weil sie mindestens einmal am Tag im Unterricht für Unterbrechung sorgte.

Obwohl Marie-Amylee sich selten ernsthaft verletzte, hatte Carla Mitleid mit ihr. Denn so richtig gesund im Kopf kam sie ihr nicht vor. In diesem Moment war es Carla aber nur recht, dass Marie-Amylee mal wieder im Sterben lag und die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Langsam senkte Carla den Blick nach unten. Puh. Da waren sie ja wieder. Ihre Füße. Carla hob den linken, dann den rechten Fuß an. Funktionierten auch noch. Was für ’n Quatsch, verschwundene Füße. Kieselwellen. Das hatte Carla sich wahrscheinlich vor lauter Panik nur eingebildet.

Sie blickte auf den leeren Platz neben sich. Wäre Herta hier, hätten Kira und Tim Carla gar nicht angesprochen, sie hätte nicht wie ein dummes Glubschi dagesessen, und es wären keine Panikwellen über ihren Körper geschwappt.

Der erste Schultag ohne Herta war nicht so schlimm, wie Carla befürchtet hatte – er war viel schlimmer. Dabei hatte er gerade erst begonnen. Heute hatte sie noch fünf Stunden vor sich. In der Woche 29 Stunden und im ganzen Schuljahr … Nee, das war jetzt zu viel Mathe am frühen Morgen. Es waren jedenfalls verdammt viele Stunden. Und alleine konnte man die Stunden nicht durch zwei teilen, also würden sie doppelt so lang sein. Einfache Rechnung.

Vielleicht gefällt es Herta am anderen Ende der Welt gar nicht, überlegte Carla. Klar, erst war alles aufregend, neu, ein Abenteuer. Aber vielleicht war es da viel zu warm. Oder zu insektig. So musste es sein. Bestimmt kam Herta zurück, noch vor den Herbstferien. Der Gedanke wärmte Carla wie ein Vollbad.

Und bis Herta zurück war – sorry, we are closed! Carla hob ihre Schultasche hoch, stellte sie vor sich auf den Tisch und ging dahinter in Deckung. Dann holte sie ihr Büchlein aus der Vordertasche, klappte es auf und fügte der Liste hinzu:

Nicht mehr anquatschen lassen (nicht von vorn, von der Seite oder von hinten)

Neutrale Person fragen, ob ich nach Hamster rieche

Pläne für gemeinsame Herbstferien mit Herta?

Zwei Neuigkeiten

Carla hatte sich noch immer hinter ihrer Schultasche verschanzt. Sie setzte den Bleistift an und begann zu zeichnen. Nach und nach entstand auf dem Papier ein Bild. Es war ein Häschen mit großen, hängenden Ohren und glänzenden Augen. Tränen kullerten über die kleine Stupsnase und auf die Pfoten. Das Häschen hatte ein Pflaster auf der linken Pfote. Marie-Amylee, schrieb Carla darunter.

Während Carla zeichnete, war sie nicht ansprechbar. Aber sie bekam sehr wohl mit, was die anderen redeten.

«… und da bin ich Wasserski gefahren!»

«Langlauf oder Abfahrt?»

«Hä?»

«Hat dein Papa dich mit dem Ruderboot gezogen?»

«Nein, Mann, da gibt es einen Wasserskilift.»

«Skilift? Was denn, bis ganz rauf auf ’n Gipfel des Badesees? Und dann so im Slalom durch die Fische bis zum Grund!»

«Ihr seid bescheuert!»

«He, Vanessa, du hast da was an den Zähnen!»

«Steht dir voll gut.»

Carla spähte über ihre Schultasche und sah, wie Vanessa schief grinste, rote Wangen bekam und Lea und Luisa ihre Zahnspange bewunderten. Daneben unterhielten sich Tim und Gustav. Tim fuchtelte mit den Armen, und Gustav schob alle paar Sekunden seine Brille auf der Nase nach oben.

«… du brauchst erst den Desanator, ohne Desanator kannst du es vergessen, ich bin durch das Eislevel, und wenn da so ein Schlork kommt …»

«… hatte ich schon, aber viel cooler ist es, wenn du im Dungeon …, also da ist voll das Monster, und da musst du höllisch aufpassen, weil …»

«… weiß ich doch, du brauchst diese Mod, das ist so geil, da kannst du dich morphen in was du willst …»

Carla beobachtete, wie Elias, der hinter Tim und Gustav saß und ihrem Gespräch lauschte, ein Gesicht wie eine Bahnhofsuhr machte. Eine, die stehengeblieben war.

Sie schaute an den dreien vorbei zu Samir. Er saß mit einem Buch in der Hand an seinem Tisch. Seine schwarzen Haare glänzten und waren im Nacken so kurz, dass es bestimmt kribbelte, wenn man mit der Hand darüberstrich. Er hatte zum Lesen eine Brille auf, das war neu. Damit sah er noch älter aus. Und noch geheimnisvoller, fand Carla. Er saß mit ihr in einem Raum, ging mit ihr in eine Klasse und war doch unerreichbar fern.

«Habt ihr gehört, wir sollen die Zuckowich bekommen?», sagte Kira jetzt zu Molly und Marie-Amylee. Kira saß aufrecht wie eine afrikanische Göttin auf dem Tisch. Ihre Haut schimmerte golden braun, als trüge sie den Sommer in sich. Carla fand, sie war das schönste Mädchen der ganzen Klasse.

«Echt jetzt?»

«Ich lass mich freistellen.»

«Hä? Von Musik? Träum weiter!»

«Na klar, weil, Stimmbänder gerissen, geht doch.»

Carla hatte noch nie bei Frau Zuckowich Unterricht gehabt und kannte sie nur vom Sehen. Zu Übersehen war sie schwer. Hätte Carla sie gezeichnet, wäre sie ein Zirkuselefant gewesen.

«Weiß jemand was von dem Neuen?», fragte Molly, die so klein und zierlich war, dass sie oft für eine Grundschülerin gehalten wurde.

«Sieht er gut aus?» Kira zog die Augenbrauen hoch und grinste.

«Ist das der, der von seiner alten Schule geflogen ist?»

«Keine Ahnung.»

«Wie, und dann kommt der in unsere Klasse?!»

«Ja, heul doch gleich, Marie-Amylee!»

Doch bevor Marie-Amylee das tun konnte, klingelte es, und alle setzten sich auf ihre Plätze. Carla stellte ihre Schultasche vom Tisch, und mit dem letzten Klingelton eilte Frau Buck ins Klassenzimmer. Die Absätze ihrer schwarzen Lackstiefel klackten über den Boden. Mit ihren kurzen Kleidern, langen Stiefeln und ihrem Bubikopf schien sie direkt aus den schwingenden 60er Jahren von London herübergehüpft zu sein. Sie unterrichtete Englisch, of course!, und redete mit einem englischen Akzent. Was etwas rätselhaft war, da sie aus einem niederbayerischen Dorf stammte. Wie immer war sie düster geschminkt, das Gesicht blass vor Puder und die Augen umgeben von schwarzer Mascara und breitem Kajal. Ihr dunkelroter Lippenstift war verschmiert.

Wahrscheinlich hatte sie vor Unterrichtsbeginn schnell noch mal in der Schulbibliothek mit Monsieur Filou geknutscht. Frau Buck war seit Jahren unglücklich in den Französischlehrer verliebt, wie mindestens fünf weitere Lehrerinnen. Jedes Jahr hoffte die Klasse, Frau Buck würde sich stattdessen in einen der netten Referendare verlieben. Sie würden ihr dabei auch helfen.

«Good morning, my darlings! Wie schön, euch alle wiederzusehen, ich habe euch vermisst.» Frau Buck zwinkerte, und Sommersprossen schimmerten durch den hellen Puder. «Ich hoffe, ihr hattet alle wonderful holidays. Davon könnt ihr mir gleich erzählen, in English, of course. Aber bevor wir anfangen, möchte ich euch jemanden vor-» Sie sah sich irritiert um. «Hello, my dear! Wo bleibst du denn? Come in, please!»

Die Tür stand einen Spalt auf, ein Junge steckte vorsichtig den Kopf herein, grinste und sagte: «Kuckuck!»