Carla Chamäleon: Wer ist hier der Big Boss? - Franziska Gehm - E-Book

Carla Chamäleon: Wer ist hier der Big Boss? E-Book

Franziska Gehm

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Beschreibung

Unsichtbar – und doch ein Star! Carla Chamäleon hat ihren ersten Auftrag vom Geheimbund erfolgreich hinter sich gebracht – wie eine echte Superheldin! Aber ihr geruhsames Leben bekommt sie trotzdem nicht zurück. Denn der unsichtbare Gegner plant weiter Böses! Außerdem ist da noch das Rätsel um Joles Familie, das immer geheimnisvoller wird. Und schließlich meldet sich der Big Boss mit einem neuen Auftrag für die beiden, der es in sich hat. Und zwar auch für den Big Boss selbst ... Das dritte Abenteuer von Carla Chamäleon, der Superheldin wider Willen!

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Franziska Gehm

Carla Chamäleon 3

Wer ist hier der Big Boss?

Über dieses Buch

Carla Chamäleon hat ihren ersten Auftrag vom Geheimbund erfolgreich hinter sich gebracht – wie eine echte Superheldin! Aber ihr geruhsames Leben bekommt sie trotzdem nicht zurück, dafür ist viel zu viel los. Denn der unsichtbare Gegner plant weiter Böses! Außerdem ist da noch das Rätsel um Joles Familie, das immer geheimnisvoller wird. Und schließlich meldet sich der Big Boss mit einem neuen Auftrag für die beiden, der es in sich hat! Dass der Big Boss dabei am Ende enttarnt wird, war eigentlich gar nicht geplant ...

 

Das dritte Abenteuer von Carla Chamäleon: der Superheldin wider Willen

 

Mit Illustrationen von Julia Christians

Vita

Franziska Gehm, geboren 1974 in Sondershausen, hat in England und Irland studiert, in Österreich und Dänemark gearbeitet und zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt und verfilmt wurden. Genau wie Carla hat sie sich als Kind manchmal in Luft aufgelöst, meistens im Mathe-Unterricht.

 

Julia Christians, ein Harzer Urgestein von 1984, ist aus einem Studium des Kommunikationsdesigns an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK) 2011 als Diplom-Designerin hervorgegangen und arbeitet seit 2018 als freiberufliche Illustratorin. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann, ihren Kindern und der ständigen Frage, ob drei Hunde genug Hunde sind.

WARNUNG: Das Tragen von Kopfhörern in der Badewanne, Verschmelzen mit Hecken und Erzählen von schlechten Witzen ist ausdrücklich nicht zur Nachahmung empfohlen!

Liebe Leser, die ihr

vergessen habt, was in den ersten beiden Bänden passiert ist,

Band 1 und 2 nie gelesen habt (ach, es gibt schon zwei Bände?!),

ein Buch grundsätzlich von vorne bis hinten durchlest (brav),

eigentlich noch mitten beim Lesen von Band 1 seid, aber schon mal spicken wollt, was passiert (tss tss tss),

euch dieses Buch vorlesen lasst, obwohl ihr bestimmt schon lesen könnt, und der Vorlesende keine Ahnung hat, worum es geht.

Hier erfahrt ihr, was bisher geschah:

Carla Niemann war ein ganz normales 11-jähriges Mädchen. Mit einer (stinkenden) großen Schwester, (peinlichen) Eltern und mit einer besten Freundin, Herta. Carla liebte Listen, Skizzen und ihre Ruhe. SO war es bis zum Beginn des neuen Schuljahres. Dann wurde aus Carlas Leben eine Tragödie in drei Teilen.

Tragödie 1. Teil: Herta zog ans andere Ende der Welt.

Tragödie 2. Teil: Jole, der Neue in der Klasse, zog in ihr Leben ein.

Tragödie 3. Teil: Carla löste sich in Luft auf.

(Also, natürlich nicht ganz, sonst wäre es schwer, ein Buch über sie zu schreiben.)

Wenn Carla in eine peinliche Situation geriet oder nervös wurde, verschmolz sie mit der Umgebung. Wie ein Chamäleon. Total krank!, dachte Carla und holte sich bei Dr. mäd. Haubenmacher Rat. Der diagnostizierte Chamäliose – für die er kein Gegenmittel kannte.

Zum Glück schickte Herta vom anderen Ende der Welt eine Tablette gegen Chamäliose. Doch die schluckte der Pinguin, der gerade bei Familie Niemann zu Gast war. Er bekam davon eine Schleuderzunge und konnte auf einmal reden (und sogar rappen!). Carla blieb der Freak, der sich in Luft auflöste. Für Jole war Carla jedoch eine Superheldin. Ebenso für «Die Kavaliere», ein Geheimbund aus unauffälligen Leuten, die unerkannt Gutes taten. Der Big Boss der Kavaliere, von dem keiner genau wusste, wer er war, bat Carla um Mithilfe.

Als Geheimwaffe der Kavaliere löste Carla zusammen mit Jole und Herrn Ping ihren ersten Fall und rettete den Zoo, in dem ihre Mutter arbeitete. Dabei lernte Carla, ihre Chamäliose besser zu steuern. Doch plötzlich tauchte ein unsichtbarer Gegner auf. Jemand, der Chamäliose hatte, genau wie Carla.

Wer war dieser Gegner, was wollte er?

Carla Chamäleon macht sich auf ins 3. Abenteuer, das herauszufinden …

Phänomene & Probleme

Carla Niemann saß am Schreibtisch und blätterte vorsichtig durch ein dickes Buch. «Übernatürliche Phänomene. Begegnungen mit unerforschten Erscheinungen aus aller Welt» war der Titel. Carla hatte das Buch schon zweimal durchgelesen. Jetzt hielt sie sich das aufgeschlagene Buch vors Gesicht, schloss die Augen und roch daran, als wäre es ein frisch gebackener Kuchen.

Carla seufzte, schloss das Buch und strich über den Buchdeckel. Das Buch gehörte Samir. Der Junge aus ihrer Klasse, der für Carla eine unerforschte Erscheinung war. Seine tiefschwarzen Augen waren die übernatürlichen Phänomene, die Carla mit nur einem Blick in einem endlosen Nachthimmel schweben ließen.

Behutsam legte Carla das Buch beiseite und nahm ihr dunkelblaues Notizheft. Jole hatte es ihr geschenkt. Er war kein übernatürliches Phänomen, sondern eine ganz natürliche Knalltüte. Carla grinste. Sie schlug das Notizheft auf und setzte den Stift an.

Liste der Probleme, die sich nicht in Luft auflösen:

Verschmelze ich mit der Umgebung, nehme ich deren Eigenschaften an. Wie kann ich die steuern? (Damit ich, wenn ich vor Wasser stehe, keine Überschwemmung auslöse. Oder wenn ich vor Feuer stehe, keinen Großbrand. Oder wenn ich vor einem Misthaufen … ähm. Ja.)

Ich habe einen Gegner, der mit der Umgebung verschmelzen kann, genau wie ich. Er ist klein und böse – aber wer ist er?!? Wo ist er gerade? Wann taucht er wieder auf? Und WAS WILL ER?!??

Manchmal habe ich das Gefühl, dieser Gegner beobachtet und verfolgt mich. Stimmt das, oder leide ich jetzt neben Chamäliose auch noch unter Verfolgungswahn?

Jole glaubt, dass er in der falschen Familie aufwächst. Wenn ja: Was ist das große Geheimnis von Familie Heinz?

Meine Schwester. Wird Norma mit ihren Experimenten aufhören, bevor sie das ganze Haus in die Luft jagt? Und wird sie vorher merken, dass sie eine kleine Schwester hat, die gar nicht mal so blöd ist?

Dumdidum

Samir

Eine Minute lang starrte Carla aus ihrem Fenster in die Nacht. Dann klappte sie das Notizbuch zu und steckte es in ihre Schultasche. Für den Fall, dass sie morgen in der Schule Lösungen für ihre Probleme finden würde. So ein Schultag war lang und leider meistens langweilig. Da halfen auch Joles neuste Witze nicht. Oder Marie-Amylees Auftritte. Sie konnte herrlich kreischen, heulen und jammern und war Stammgast im Krankenzimmer. Letzte Woche zweimal: Am Montag war ihr ein Bleistift auf den großen Zeh gefallen. Am Mittwoch hatte ihr jemand einen Papierball an den Kopf geworfen, und am Freitag ist sie gleich zu Hause geblieben, weil sie beim Schminken irgendeinen Krümel ins Auge bekommen hatte.

Es klopfte an Carlas Tür, die im selben Moment aufging. Ihr Papa steckte den Kopf ins Zimmer. «Zähne gekämmt? Haare geputzt? Schlafanzug gegangen? Klo angezogen?» Herr Niemann grinste.

Carla sah ihren Papa mitleidig an, knipste die Schreibtischlampe aus und kletterte in ihr Bett. «Gute Nacht, Papa.»

Herr Niemann warf seiner Tochter einen Kuss zu. Kurz bevor sich die Tür schloss, ging sie noch mal einen Spalt auf. «Ach, und Carla, wenn dir schwarz vor Augen wird, bist du eingeschlafen …» Carlas Papa schloss nun wirklich die Tür und verschwand ins Wohnzimmer.

Jetzt war Carla tatsächlich schwarz vor Augen. Aber nach ein paar Sekunden gewöhnten sie sich an die Dunkelheit, und Carla erkannte die Möbel und vertrauten Gegenstände in ihrem Zimmer. Ihr Zimmer war eine Insel der Ordnung im Meer aus Chaos, das überall in der Wohnung von Familie Niemann herrschte.

Carla steckte die Arme unter die Bettdecke, blies sich ihre hellbraunen Fransen aus der Stirn und ging in Gedanken nochmals ihre Liste durch. Eins der Probleme – und zwar gleich das erste – würde sie morgen zusammen mit Dr. mäd. Haubenmacher angehen. Am Nachmittag hatte Carla einen Termin beim Arzt ihres Vertrauens. Er wusste nicht nur über ihre Chamäliose Bescheid, sondern auch über «Die Kavaliere». Was daran lag, dass er selbst ein langjähriges Mitglied war.

Vielleicht hatte der Arzt herausgefunden, wie Carla ihre besonderen Fähigkeiten besser steuern konnte. Seine Methoden waren ungewöhnlich, aber wirksam. Carla nickte sich Mut zu. Bestimmt konnte sie schon bald ein Problem von ihrer Liste streichen.

Die Herrin der Elemente

Dr. mäd. Haubenmacher saß in seinem Sprechzimmer vor dem Computer. In seinen wirren grauen, lockigen Haaren steckte die Brille mit den dicken Gläsern. Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen und starrte auf den Bildschirm. «Es geht gleich los», versprach er.

Jole saß mit Herrn Ping auf dem Schoß vor dem Schreibtisch des Arztes. Wie immer konnte sich Joles Scheitel nicht entscheiden, in welche Richtung er fallen sollte. Und Jole konnte sich nicht entscheiden, wo er hinsehen sollte. Er schielte vom Arzt zu Carla, die neben ihm stand, und zurück.

Ein Mops tippelte durch das Behandlungszimmer. Er trug eine karierte, puffige Hose und eine Fliege. Er war das Haustier und die zuverlässige Sprechstundenhilfe von Dr. mäd. Haubenmacher. Der Mops sah mit Schlafzimmerblick zu den drei Besuchern, rümpfte die platte Schnauze, tippelte eine Runde um den Schreibtisch und wieder auf die Tür zu.

Herr Ping streckte dem Hinterteil vom Mops die Schleuderzunge heraus und rief ihm nach: «Zisch ab, digga Mops, Sherlock-Hose am Pops, aber keinen Grips im Kopf!»

Der Mops knurrte als Antwort, bevor er zurück ins Wartezimmer verschwand.

Carla hörte den Mops. Aber sie sah den Mops nicht. Sie stand vor dem Schreibtisch und hatte eine große VR-Brille auf. An ihren Händen hatte sie jeweils einen Touch-Controller. Nervös wippte sie von einem Bein aufs andere. Ihre Turnschuhe quietschten leise auf dem Linoleumfußboden.

Dr. mäd. Haubenmacher hatte in den letzten Tagen ohne Unterlass nachgeforscht. In Bibliotheken, im Internet, in Experten-Foren. Er hatte nach einer Methode gesucht, wie Carla ihre Chamäliose-Fähigkeiten trainieren konnte. Wie immer hatte der Arzt sich bis zur Erschöpfung für seine Patientin eingesetzt. Sein Konsum an Milchshakes, die nachweislich seine Konzentration erhöhten, war auf 15 am Tag angestiegen. Der Psychologe hatte sich erst zufriedengegeben, als er eine Lösung gefunden hatte und der letzte Tropfen Milchshake geschlürft war.

Jole sah den Arzt kritisch an. «Und Sie sind sich sicher, dass Carla ihre Chamäliose besser steuern kann, wenn sie irgendein Computerspiel macht?»

Der Arzt starrte noch immer auf den Bildschirm, nickte und klickte. «Absolut sicher. Das ist ja nicht irgendein Computerspiel. Das ist ‹Epic Element Commander›! Und zwar die De-luxe-Edition!»

Im Wartezimmer klapperte etwas. Scheinbar war dem Mops ein Stift heruntergefallen. Jole zuckte mit den Schultern. «Kenn ich nicht. Meine Mutter meint, Computerspiele lassen einen den Bezug zur Realität verlieren, und meinen Vater musste ich ewig anbetteln, um die Basic-Minecraft-Version zu bekommen. Und jetzt spielt er selbst mehr als ich.» Jole überlegte kurz. «Ich glaube, manchmal verliert er den Bezug zur Realität ganz gerne …»

Dr. mäd. Haubenmacher sah vom Bildschirm auf und Jole forschend ins Gesicht. «Aber du kennst doch sicher den Avatar, den Herrn der Elemente, oder?»

Sofort funkelten Joles Augen. «Klar, der kleine Typ, der Luft, Feuer, Wasser und Erde bändigen kann. Der ist cool.» Von der Avatar-Serie hatte er alle Staffeln gesehen.

Der Arzt nickte zufrieden. «Und genauso cool wird Carla, wenn sie regelmäßig mit dem Epic Element Commander trainiert. Das ist genau genommen nichts anderes als ein Training für einen angehenden Avatar. Oder eine Avateuse? Avatesse? Avatine …» Dr. mäd. Haubenmacher runzelte die Stirn.

«Ich werde cool?», fragte Carla unsicher.

«In diesem Spiel, Carla, lernst du die vier Elemente zu bändigen. Genauso wirst du dann bald in der Realität die Umgebung bändigen, mit der du verschmilzt», erklärte der Psychologe.

«Also wie ein Flugsimulator für Piloten», warf Jole ein.

«Bist du bereit?», fragte Dr. mäd. Haubenmacher.

«Okay», erwiderte Carla leise.

Dr. mäd. Haubenmacher klickte noch einmal auf seinem Computer. Dann sah er gespannt zu seiner Patientin.

Zunächst stand Carla mit hängenden Armen da und starrte in eine für die anderen nicht sichtbare, ferne Welt. Doch auf einmal kam Leben in Carla. Sie riss die Arme hoch, machte mit dem linken Arm eine Kraulbewegung, die Joles Scheitel nach vorne klappen ließ. Mit dem rechten stieß sie mit geballter Faust so fest in die Luft, dass der Arzt unwillkürlich ein Stück zurückwich. Bevor Jole seine Haare aus dem Gesicht streifen konnte, riss Carla beide ausgestreckten Arme zurück, wobei sie Herrn Ping von Joles Schoß stieß.

«He, du Avatine, mal Vorsicht mit dem Pinguine!», beschwerte sich Herr Ping und rappelte sich auf.

Doch Carla hörte den Pinguin nicht. Sie war gerade dabei, in einer virtuellen Welt Luftmassen zu bändigen. Sie befand sich nicht mehr in dem pastellfarbenen Sprechzimmer von Dr. mäd. Haubenmacher. Carla stand in einer kargen, weiten Landschaft, die von rotbraunen Bergen umgeben war. Dort wurde Carla von mehreren finsteren Gestalten angegriffen, die Feuer bändigen konnten. Sie schossen mit gewaltigen Flammen auf sie. Carla wedelte mit den Armen, wirbelte Luft auf und sandte die Luftmassen auf ihre Gegner, die von der Kraft des Luftstoßes umgeworfen wurden.

«Yes!», rief Carla, und ihre Wangen glühten. Doch davon merkte sie nichts, so sehr war sie binnen Sekunden im Spiel gefangen. Ihr blieb auch keine Zeit zum Nachdenken, denn schon zischte ein lodernder Feuerball auf sie zu, den sie abwehren musste. Carla riss die Arme in die Luft, um eine Schutzmauer zu errichten. Irgendetwas fiel zu Boden, weit entfernt in einem Sprechstundenzimmer in einer anderen Welt.

Jole bückte sich nach dem Stiftehalter, den Carla eben vom Schreibtisch gefegt hatte.

Dr. mäd. Haubenmacher hatte die Arme verschränkt und beobachtete Carla interessiert. «Ich wage zu behaupten, dass diese Trainingsmethode genau die richtige für unsere Patientin ist. Das sieht doch schon sehr professionell aus, nicht wahr?»

Jole starrte Carla mit offenem Mund an. So hatte er sie noch nie erlebt. Sie fuchtelte mit den Armen, zuckte mit den Beinen, stieß wütende Kampfschreie aus. Die vorsichtige, schüchterne Carla hatte sich in eine Kriegerin verwandelt. Das war neu, aber es stand ihr richtig gut, fand Jole.

Herr Ping stellte sich neben Carla und machte ihre kraftvollen Bewegungen nach. Er wedelte mit den Flossen, wackelte mit dem Kopf und trat mit den Füßen. «Peng! Ka-Boom! Ding-Dong! Keiner kommt davon!»

Carla sah und hörte Herrn Ping nicht. Sie bemerkte auch nicht Joles bewundernde Blicke und ebenso wenig Dr. mäd. Haubenmacher, der sie genau beobachtete, ab und zu etwas vor sich hinmurmelte und Notizen machte. In der Welt, in der sie sich gerade befand, verging die Zeit wie im Flug. Carla musste Luftmassen bändigen, Wasser, Feuer und sogar Erde. Sie musste kleine Dörfer und deren Bewohner beschützen. Sie stürzte von einem Kampf in den nächsten.

Daher war Carla ganz erstaunt, als diese Welt vor ihren Augen plötzlich erlosch. Sie spürte, wie ihr jemand behutsam die VR-Brille abnahm, und auf einmal stand der Arzt neben ihr. Dr. mäd. Haubenmacher lächelte. «Nun, das war doch ein gelungener Einstieg ins Training, nicht wahr?»

Carla sah sich angespannt im Sprechzimmer um, als fürchtete sie, jeden Moment könnte ein Angreifer aus einer Ecke auf sie zuspringen. Sie wiegte zögernd den Kopf. «Das war alles … wie in echt.»

Der Psychologe nickte verständnisvoll. «Und es funktioniert auch wie in echt. Nun ja, also, das vermute ich. Wie gesagt, du bist meine erste Chamäliose-Patientin.» Dr. mäd. Haubenmacher legte die VR-Brille zurück in eine Schachtel. «Ursprünglich wollte ich dir diese Brille für das Training zu Hause überlassen. Zu meinem großen Bedauern habe ich allerdings festgestellt, dass dieses Gerät gewisse Mängel aufweist. Neulich hatte sich die Brille an meinem Gesicht festgesaugt, und ich habe sie erst nach einer geschlagenen Stunde mit viel Fingerspitzengefühl und … ähm … Butter abbekommen.» Der Arzt räusperte sich.

«Macht nichts», sagte Carla. «Meine Schwester hat so eine Brille.» Carlas Schwester Norma hatte so ziemlich alles in ihrem Zimmer, um sich selbst wegzubeamen und den Rest der Welt in die Luft zu jagen.

«Ach, wunderbar!», freute sich Dr. mäd. Haubenmacher. «Dann müsst ihr nur den Epic Element Commander herunterladen, und schon kann das Training zu Hause beginnen.»

«Cool», sagte Jole. «Vielleicht kann ich da ja auch mal … also, nur um zu verstehen, worum es geht und so …»

«Klar.» Carla grinste ihn an. Die neue Methode gefiel Carla viel besser als die Hampelmänner, das Trockenschwimmen und die Atemübungen, die ihr Dr. mäd. Haubenmacher bisher verordnet hatte. Und wenn sie die Umgebung, mit der sie verschmolzen war, wirklich genauso gezielt aufwirbeln und lenken konnte wie die vier Elemente im Computerspiel, dann konnte ihr unsichtbarer Gegner sich gleich komplett in Nichts auflösen und verduften! Ka-BOOM!

Horror-Schwester

Carla und Jole standen auf der Türschwelle von Normas Zimmer. Weiter wagten sie sich nicht in die dunkle Höhle der großen Schwester. Eine gewisse Geruchsmischung von hochexplosiven Chemikalien, Forscherschweiß und getragenen Socken hielt sie davon ab. Und Normas Blick.

Carlas große Schwester saß an ihrem Labortisch. Darauf standen mehrere Kolbengläser, Filtrierflaschen, ein Bunsenbrenner und ein Reagenzglashalter mit Reagenzgläsern, gefüllt mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten. Auf der Tischplatte verstreut lagen Stampfer, Tiegelzange, Trichter, Löffelchen, Messpipetten, Lupe, diverse Krümel und ein angebissener Apfel, in dem ein Bleistift steckte.

Am linken Rand des Labortischs leuchteten zwei Computerbildschirme. Auf dem einen war eine Excel-Tabelle voller Zahlen zu sehen, auf dem anderen eine Skala mit roten und blauen Balken. Norma hatte sich gerade von den Bildschirmen abgewandt und sah zur Tür. Durch die wie immer verschmierte Brille musterte sie Carla und Jole mit reglosem, intensivem Blick.

Carla musste an den Trailer für einen Horrorfilm mit einem Psychopathen denken, der verdächtig ähnlich in die Kamera geschaut hatte. Herr Ping hatte es richtig gemacht und war gleich schnurstracks an Normas Zimmer vorbei und in die Küche gewatschelt, wo er jetzt genüsslich ein paar Fischstäbchen lutschte.

«Was?», fragte Norma schließlich. Dann kaute sie im Stakkato mit den Backenzähnen auf einem Kaugummi.

Carla räusperte sich. «Ähm, also, wir wollten nur … genau genommen wollte ich … weil, du hast doch …»

Norma kaute weiter Kaugummi und sah ihre kleine Schwester an, als blieben ihr noch genau zehn Sekunden, bevor sie mittels einer Explosion von der Türschwelle gefegt werden würde.

«Hast du eine VR-Brille?», platzte Jole heraus.

«Jo.»

«Können wir die mal leihen?» Jole lächelte wie für den Fotografen bei der Schuleinführung.

«Nee.»

«Bitte, nur für ein paar Tage.» Jole zog flehend die Augenbrauen hoch.

Fasziniert sah Carla, wie Joles linke Augenbraue wie immer höher als die rechte wanderte. Norma schien das allerdings nicht zu beeindrucken.

«Nee.»

Carla seufzte leise. Seit ihre große Schwester Schuhgröße 41, fettige Haare und Pickel bekommen hatte (und vermutlich auch Brüste, aber das konnte man unter den weiten T-Shirts mit verwaschenen Aufdrucken nicht erkennen), war Carla Luft für sie. Bestenfalls. Meistens schien Norma schon allein von der Existenz ihrer kleinen, braven Schwester genervt.

«Nur für heute leihen?», fragte Jole, unsicher grinsend.

«Nee.»

«Carla braucht aber deine VR-Brille!» Jole fuhr sich aufgeregt durch den Klappscheitel.

Norma starrte Carla ausdruckslos an. «Wozu?»

«Na, zum Trainieren … äh, ich meine, Spielen», erwiderte Carla.

Norma runzelte die Stirn und hielt im Kauen inne. «Gamescom oder was?»

«Nee, Chamäleon», entfuhr es Jole.

«Bahnhof?», fragte Norma zurück.

Jole zögerte, lehnte sich zu Carla und flüsterte in ihr Ohr: «Erzähl es ihr doch.»

Carla biss sich auf die Unterlippe. Sie sah, wie ihre Schwester ungeduldig mit den Füßen wackelte.

«Schulprojekt?» Norma schob die Brille nach oben und schielte zu ihrem Tisch. «Langweilig.»

«Mit Schule hat das überhaupt nichts zu tun», sagte Carla schnell, bevor ihre Schwester sich wieder den Bildschirmen zuwenden konnte. «Und auch nicht mit langweilig, sondern mit unheimlich.» Und dann erzählte Carla ihrer großen Schwester alles. Von der Chamäliose, der Tablette, vom Geheimbund, vom unsichtbaren Feind und von dem Training, das Dr. mäd. Haubenmacher ihr verschrieben hatte.

Norma hörte die ganze Zeit aufmerksam zu und nur einmal runzelte sie kurz die Stirn, obwohl ihre Schwester Sachen erzählte, die aus so manch anderer Stirn ein ganzes Faltengebirge gemacht hätten. «Interessant», sagte sie schließlich, als Carla fertig war.

Jole sah Norma fassungslos an. «Interessant? Das ist … der Wahnsinn! Das ist … unglaublich!»

Norma erwiderte nur: «Quod esset demonstrandum.»

«Hä? Ist das aus Harry Potter?» Jole kräuselte die Nase.

«Das ist Latein und heißt: Was zu beweisen wäre», erklärte Norma. Natürlich glaubte die angehende, bedeutende Wissenschaftlerin Norma Niemann nichts ohne Beweise.

«Okay, zeigen wir es ihr», sagte Carla und sah Jole auffordernd an.

Jole verstand sofort, und die Beweise wurden prompt geliefert. Es reichte, dass Jole einen peinlichen Nerd-Witz erzählte, der bei Norma nur Stirnrunzeln, bei Carla hingegen Chamäliose auslöste.

Wie immer vernahm Carla zunächst ein Rauschen tief in ihrem Inneren, dem unmittelbar ein Kribbeln in ihren Zehen folgte. Dann rollte die Chamäliose wie eine Welle voller eisiger Kieselsteinchen an. Sie verschlang Carlas Füße, schwappte über die Knie und stieg beharrlich weiter den Oberkörper empor, bis sie Carla samt Haarspitzen verschlungen hatte. Carla war heiß und kalt und schummerig.

Sie sah an sich herab. Ihr Körper war zweigeteilt. Zu einer Hälfte war Carla so weiß wie der Türrahmen, an dem sie lehnte. Zur anderen so eidottergelb wie die Regenjacke ihrer Mama, die hinter Carla im Flur am Garderobenständer hing.

Norma starrte ihre weiß-gelb gestreifte Schwester fassungslos an. «Du bist ein Freak!» Sie stand auf, ging zu Carla und musterte sie durch ihre verschmierte Brille. «Cool.» Dieses Mal hatte sie nicht den Blick eines Psychopathen, sondern eines Fans.

«Danke», sagte Carla, der sprechende Türrahmen. Dann atmete Carla tief ein und aus, beruhigte sich wieder und die Chamäliose verschwand binnen Sekunden.

«Du hast recht», sagte Norma zu Jole. «DAS war unglaublich.» Norma nickte Carla anerkennend zu. Dann wandte sie sich von Carla ab und öffnete eine Schranktür. Blitzschnell zog Norma eine VR-Brille heraus, bevor ihr der restliche Inhalt des Schranks entgegenkommen konnte. «Hier!» Norma hielt Carla die Brille hin.

«Oh, danke … darf ich … bis morgen?» Carla nahm die VR-Brille an sich.

Norma schlurfte zurück zum Labortisch. Eins der Reagenzgläschen hatte angefangen zu brodeln. «So lange du sie eben brauchst.»

Hei Hussassa

Carla trainierte mit der VR-Brille und dem Epic Element Commander jeden Tag. Norma, die das Spiel schon kannte, gab ihr Tipps. Mit Jole, der sich selbst für einen kleinen Avatar hielt, tauschte sich Carla über Spielzüge und Fallen aus. Herr Ping sah Carla und Jole interessiert beim Spielen zu und wandelte die irren Kampfbewegungen in noch verrücktere Tänze um.

Carla hätte nie gedacht, dass ihr ein Computerspiel mal so viel Spaß machen würde. Sie hatte Gustav und Tim, die sich in fast jeder Schulpause über ihre Abenteuer in irgendeinem Spiel austauschten, sogar ein bisschen bemitleidet. Eine völlig unwichtige, virtuelle Welt so ernst zu nehmen, war Carla damals albern vorgekommen.

Doch seit sie Epic Element Commander in der Praxis von Dr. mäd. Haubenmacher zum ersten Mal gespielt hatte, tauchte sie selbst nur zur gerne in diese virtuelle Welt ab. Denn in dieser Welt war sie die Herrscherin über vier Elemente. In dieser Welt fühlte sich Carla zum ersten Mal wirklich wie eine Superheldin. Nicht wie der Freak, der sie in der Realität war. Vielleicht, überlegte Carla, ging es Gustav, Tim und all den anderen genauso.

Im Gegensatz zu Gustav und Tim war das Ganze für Carla aber eben nicht nur ein Spiel. Es war ein Training, das einen bestimmten Sinn und ein großes Ziel hatte. Um zu sehen, wie nah Carla diesem Ziel schon gekommen war, machte sie sich ein paar Nachmittage später zusammen mit Jole und Herrn Ping auf den Weg zur alten Schlossallee.

Früher hatten sich auf dieser prunkvollen Allee Kutschen mit hochwohlgeborenen Gästen dem Schloss genähert. Doch diese Zeiten waren längst vergangen. Gras wucherte zwischen den Pflastersteinen, das wiederum vom Laub der hohen Kastanienbäume bedeckt wurde, welche die Allee links und rechts säumten.

Heute benutzte kaum noch jemand die alte Schlossallee. Nur ab und zu verirrte sich mal ein Hundebesitzer beim Gassigehen hierhin. Deshalb hatte Jole diesen Ort ausgesucht: Hier konnten sie Carlas Chamäliose-Fähigkeiten ungestört und unbeobachtet testen.

Als die beiden Freunde mit dem Pinguin in der Kühltasche auf die Allee bogen, sah Carla sich noch einmal um. Sie kniff die Augen zusammen und spähte die kleine Gasse entlang, aus der sie gekommen waren.

«Was ist?», fragte Jole.

«Weiß nicht … irgendwie … Ich habe das Gefühl, jemand folgt mir, beobachtet mich», erwiderte Carla leise. «Ehrlich gesagt habe ich dieses Gefühl schon seit ein paar Tagen.»

«Ach, deswegen drehst du dich ständig um und blinzelst so nervös. Warum hast du denn nichts gesagt?»

Carla zuckte mit den Schultern. «Na ja, dass ich Chamäliose habe, ist ja schon schräg genug. Nicht dass ich noch unter Verfolgungswahn leide.»

Jole kniff nun ebenfalls die Augen zusammen, spähte in die Gasse, lehnte sich zu Carla und raunte: «Was meinst du? Der unsichtbare Gegner?»

«Wahrscheinlich», flüsterte Carla zurück und ihr Magen zog sich beim Gedanken daran zusammen.