Castletown College – Nur ein Kuss - Corina Burkhardt - E-Book

Castletown College – Nur ein Kuss E-Book

Corina Burkhardt

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Beschreibung

Zwei Welten prallen aufeinander, als die selbstbewusste und engagierte Schweizerin Ginny zu Beginn ihres Auslandsstudiums auf den Iren Conor trifft, Captain des Gaelic Football Teams und bekannt für ausschweifende Party- und Frauenexzesse. Dieser will die neue Kommilitonin und Freundin seines Zwillingsbruders Callum zunächst nur als Eroberung im Tagebuch seiner Clique verewigen. Obwohl alles gegen eine Beziehung zwischen den beiden spricht, fühlt sich Ginny immer mehr zu Conor hingezogen. Aber als auch Conor beginnt, echte Gefühle zu entwickeln, droht sein Geheimnis aufzufliegen. Eine mitreissende Liebesgeschichte mit authentischen Charakteren, familiären Konflikten und einem charmanten irländischen Setting.

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Beliebtheit




Inhalt

Cover

Über das Buch

Impressum

Titel

Prolog

Chapter 1

Chapter 2

Chapter 3

Chapter 4

Chapter 5

Chapter 6

Chapter 7

Chapter 8

Chapter 9

Chapter 10

Chapter 11

Chapter 12

Chapter 13

Chapter 14

Chapter 15

Chapter 16

Chapter 17

Chapter 18

Chapter 19

Chapter 20

Chapter 21

Chapter 22

Chapter 23

Chapter 24

Chapter 25

Chapter 26

Chapter 27

Chapter 28

Chapter 29

Chapter 30

Epilog

Über die Autorin

Backcover

CORINA BURKHARDT

CASTLETOWN COLLEGE – NUR EIN KUSS

Der Verlag und die Autorin danken für die Unterstützung:

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit ei‍nem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

© 2025 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Angelia SchwallerKorrektorat: Helga Loser-Cammann

Corina Burkhardt

CASTLETOWN COLLEGE – NUR EIN KUSS

Roman

Liebe Leser*innen

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Am Ende des Buches findet sich eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthalten kann.

Ich habe unsere Welten ins Chaos gestürzt.

«Ginny, bleib stehen!»

«Nein!» Ich beginne zu rennen, denn ich muss hier weg.

Was habe ich getan? Meine Gedanken sind so laut, dass ich sie am liebsten rausschreien würde. Mitten auf dem Gehweg, umgeben von Wohnhäusern und im Schein des Vollmondes, der wie ein stummer Zeuge am Firmament weilt. Wir sind alle mitschuldig und meinetwegen kann die ganze Stadt erfahren, was sie uns angetan haben. Was ich getan habe.

Meine weite Hose reißt mit einem Ratsch, als ich mit dem Absatz drauftrete. Auf einem Bein balancierend löse ich den Stoff und beäuge das ausgefranste Loch. Die Kirchenuhr schallt durch die Dämmerung und übertönt mein Fluchen. Musik wummert aus der Ferne und das Röhren eines herannahenden Wagens wird lauter. Entschieden streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Mundwinkel und renne weiter, bis der Pflasterweg zum Castletown College vor mir auftaucht. Mit rasendem Puls betrachte ich die imposanten Steinmauern, die vier Jahrhunderte überdauert haben. Während meine Schritte hart auf dem Untergrund klackern, verschwindet das Ziehen in meiner Lunge. Genau genommen spüre ich gar nichts. Nichts außer der Schwere der Schuld auf meinen Schultern, die meine Beine so stark beben lässt, dass mir der Weg über den Campus unbezwingbar vorkommt.

Ich habe mein Versprechen gebrochen. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Sie mit ihren Lügen entkommen lassen? Das konnte ich nicht verantworten, auch wenn ich dadurch alles, was mir geblieben ist, verlieren könnte.

Durch die geöffnete Holzflügeltüre der ehemaligen Kirche fällt ein Lichtstrahl in die Dunkelheit hinaus. Leicht muffiger Bibliotheksgeruch weht mir entgegen. Er wird intensiver, als ich durch den Narthex haste, hinter dem das lange Rippengewölbe zu erkennen ist. Mein Schnaufen hallt von den Wänden wider, die Tischreihen ziehen an mir vorbei.

Als ich mich vor ihr auf meinen Oberschenkeln abstütze, sieht sie von den aufgeschlagenen Buchseiten hoch. In ihren Augen erkenne ich zuerst Überraschung, dann Entsetzen, Angst ... «Sie wissen es!», pruste ich.

Ginny

Ein Irrtum. Jeder zurückgelegte Meter mit dem Fahrrad fühlt sich wie ein Irrtum an. Als ob ich in eine Richtung lenke, obwohl ich mir sicher bin, dass ich in die entgegengesetzte müsste. Dabei wollte ich es unbedingt. Ich wollte unbedingt nach Irland kommen, um an dem Ort zu studieren, an dem mein Vater geboren wurde und seit einigen Monaten wieder leben soll. Das ist verrückt. Wie konnte ich denken, dass es eine gute Idee ist, Zürich hinter mir zu lassen und die nächsten drei Jahre am Castletown College zu studieren?

Gerade fühlt sich meine Entscheidung genauso holprig und unbequem wie die Pflastersteine auf dem Weg zum Hauptgebäude an. Mein Hintern ruckelt auf dem harten Ledersattel und meine Finger kribbeln von den Vibrationen. Ich umklammere den Lenker, drossle das Tempo und lasse den Blick über das majestätische Gelände schweifen. Vom Wegrand führen einige Schotterpfade durch Grünflächen, auf denen Leute sitzen, lesen, dösen oder sich unterhalten. Über mir rascheln die rot verfärbten Blätter der Alleebäume. Hinter dem Ostturm blitzt die Morgensonne hervor. Ihre Strahlen legen sich wie eine Glitzerdecke über den Campus und lassen ihn wie ein Märchenfilmset wirken. Die Gegend ist schön und es gibt eigentlich keine Ausrede, sie nicht zu genießen.

Ich verfluche die Sehnsucht nach dem Stadtgewusel, nach dem dumpfen Rattern der Straßenbahnen auf den Schienen und dem Gurren der Tauben. Wie kann man das mehr wollen als das hier? Ich bin im verdammten Collegeparadies gelandet.

Meine Bremse quietscht. Mit einem Fuß am Boden stehend, betrachte ich die verwitterte Steinfassade, die Burgzinnen entlang der Dachkante und die Uhr mit den römischen Ziffern über der Eingangstüre. Angespannt knete ich die Gummigriffe und atme tief durch, als hinter mir eine Fahrradglocke ertönt. Erschrocken zucke ich zusammen, im selben Moment kippt mein Mietfahrrad und ich hopse unbeholfen seitwärts. Dabei hake ich am Bordstein ein und falle.

Nein, nein, nein! Mir entfährt ein greller Schrei, bevor ich mit einem scheppernden Rumms auf dem Rasen aufschlage. Ein stechender Schmerz schießt durch meine Schulter, beinahe zeitgleich sieht mich ein Typ im Vorbeifahren mit großen Augen an. «Ou Shit! Sorry», murmelt er und rast in rasantem Tempo davon.

Ich sehe ihm fassungslos nach. Fahrerflucht? Ist das dein Ernst? Besten Dank für gar nichts, denke ich mir, während ich das Bein unter dem Gestell hervorziehe. Ächzend hieve ich mich hoch und reibe über die pochende Stelle. Mein Herz hämmert rasend schnell gegen meinen Rippenbogen und mein CTC-Hoodie hat am Ärmel einen Fleck abgekriegt.

«Geht es dir gut?», ruft ein Mädchen auf Englisch.

Erst jetzt bemerke ich die geschockten Blicke der Leute.

«Nichts passiert», antworte ich mit heißen Wangen, die Hand in die Höhe gestreckt. Der inexistente Award für das auffälligste Auftauchen am ersten Studientag geht dann wohl an mich. Na großartig. Das hat mir gerade noch gefehlt.

Ich ziehe mein klappriges Fahrrad auf die Reifen und schiebe es die Strecke bis zum Abstellplatz neben mir her.

Vor der Eingangshalle steht eine Standtafel mit einem Willkommensgruß an die neuen undergraduate Studierenden. Im Inneren fallen Lichtstrahlen durch die Kreuzfenster auf den sandfarbenen Steinboden. Es riecht nach dem dunklen Holz der mit Ornamenten verzierten Wandverkleidung.

Die Gurte meines Lederrucksacks umklammernd, gehe ich zur Haupttreppe und lehne mich wartend an eine Balustrade. Eine Weile beobachte ich die Leute und versuche anhand ihres Gesichtsausdrucks herauszufinden, ob sonst noch jemand so verloren wirkt, wie ich mich fühle. Nach kurzer Zeit bin ich mir sicher, dass ich die Einzige bin. Ich platziere die Hände auf dem Geländer und verbiete meiner Fußspitze, im Sekundentakt auf den Boden zu tippen. Entspanne dich ...

Das Stimmengewirr ähnelt dem Summen in den Bienenstöcken von Mamas Verlobtem. Paul hat mir mal erzählt, dass die für uns hörbaren Geräusche der Bienen von zweihundertfünfzig Flügelschlägen in der Sekunde erzeugt werden. Ich schätze, das ist auch in etwa die Geschwindigkeit meines Pulses, als ich Callum O’Donnell auf mich zukommen sehe.

Seine Erscheinung ruft in Erinnerung, wie ich am Morgen vor der Abreise verschlafen vor meinem Müsli saß und eine Nachricht vom Castletown College in meinem Postfach ankam, in der die Kontaktinformationen von meinem Student-Buddy standen. Es dauerte keine zehn Klicks auf Google, bis ich Callum mit einem Whiskey-Traditionsunternehmen in Verbindung bringen konnte. Mir wäre im Leben nicht in den Sinn gekommen, dass ausgerechnet mein Buddy eine irische Berühmtheit sein könnte – schließlich trinke ich keinen Whiskey. Aber dennoch ehrt es mich, dass Callum O’Donnell meine Ansprechperson ist und er zugesagt hat, als ich bei ihm per E-Mail anfragte, ob wir uns vor der ersten Vorlesung kennenlernen können und er mich herumführen würde.

«Bist du Ginny Doyle?», fragt er und streckt mir mit einem charmanten Lächeln die Hand entgegen. In Wirklichkeit sieht er noch besser aus als auf seinen Onlinefotos. Er hat leuchtende Augen so grün wie ein Smaragd und steht mit einer Selbstsicherheit vor mir, die mich leer schlucken lässt. Seine Gesichtszüge sind scharf geschnitten, die Nase und Wangen reichlich mit Sommersprossen bedeckt. In seinen roten Locken ist ein leichter Glanz vom Haargel zu erkennen und auf seinem marineblauen Hemd pinnt eine Regenbogenfahne.

«Schuldig im Sinne der Anklage», witzle ich.

Er schmunzelt. Ziemlich sicher aus Höflichkeit.

Mir wird von einer Sekunde auf die nächste heiß. «Danke, dass du dir für mich Zeit nimmst. Das ist sehr nett.»

«Keine Ursache. Du hast einen interessanten Akzent.»

«Ich komme aus Zürich.»

«Aus Zürich», wiederholt er überrascht. «Das ist nicht gerade um die Ecke. Entschuldige die Frage, aber gibt es in der Schweiz nicht auch weltweit anerkannte Universitäten?»

Da hat er recht. Nun könnte ich Callum erklären, dass mich die Suche nach meinem Vater hierhergeführt hat, aber dafür bräuchte es weit mehr als eine Vorstellungsrunde. «Was soll ich sagen? Ich mag Abenteuer.»

Er nickt angetan. «Wenn dem so ist, dann folge mir, Ginny Doyle. Lassen wir dein Abenteuer beginnen.»

Während wir die Stufen hochsteigen, fällt mir auf, wie frisch er riecht. Nach einer sommerlichen Brise. Für einen Moment entführt mich sein Parfüm an die Seepromenade, und das befremdliche Ziehen in meiner Brust macht einem Gefühl Platz, das sich ein wenig nach Heimat anfühlt. Ich versuche daran festzuhalten, während mir Callum in der ersten Etage das Sekretariat und einen Gemeinschaftsraum zeigt. Weiter oben befinden sich Hörsäle und in den Gängen hängen Gemälde vom Anwesen und der einstigen Castletown Königsfamilie.

Callum hält immer wieder an, um Vorbeigehenden einen guten Morgen zu wünschen, nach ihrem Befinden zu fragen oder sie auf Deadlines hinzuweisen. Den heiteren Mienen der Studierenden nach zu urteilen, wird er gemocht – was nicht verwunderlich ist, denn er versprüht eine Gutmütigkeit, die selbst meine emotionalen Regenwolken aufreißen lässt.

Nachdem wir einen Irrgarten an Wegen hinter uns gebracht haben, schließt er eine schwere Holztüre auf und stellt sich einladend an die Seite. «Willkommen im Büro des Collegemagazins. Das ist unsere kleine Redaktion.»

Als ich über die Schwelle trete, springen die Deckenleuchten an. In der Mitte des Raumes befindet sich ein Rundtisch, auf dem einige Unterlagen und Schreibzeug liegen. Dahinter steht neben drei Computermonitoren eine antike Druckpresse mit einer Spindel. An den Wänden hängen schwarz-weiße Fotografien des Haupthauses und eines Mannes mit Zylinder, der eine Ausgabe in den Händen hält.

Wow! Ich bin vielleicht falsch an diesem College, aber keinesfalls in diesem Raum. Nach Luft schnappend wende ich mich Callum zu. «Könnt ihr noch jemanden brauchen?»

Er nimmt ein Magazin aus dem Ständer neben der Tür und reicht es mir. «Hast du Erfahrungen im Journalismus?»

«Ich liebe es, zu fotografieren. Und wie du weißt, werde ich Journalismus studieren. Also falls ein unbändiger Wille als Erfahrung zählt.» Der letzte Satz klingt etwas unsicher.

Seitdem ich mir die Website des Magazins auf der Collegehomepage zum ersten Mal angesehen habe, wusste ich, dass ich unbedingt dazugehören wollte. Ich habe mir sogar überlegt, wie ich das Thema ansprechen könnte, falls Callum es auslassen würde. Wobei das nun hinfällig ist, denn wir stehen mitten im Herzstück der Redaktion, in der ich künftig meine Texte und Fotografien abliefern will.

«Hast du Referenzen?», fragt er.

«Ich habe eine Ledermappe mit Reisebildern.»

Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem Schmunzeln, das mich verlegen an den Bändeln meines Hoodies zupfen lässt.

«Ich mache dir einen Vorschlag: Wir haben morgen früh um halb neun ein Treffen, wohin du deine Mappe mitbringen kannst. Wenn deine Arbeit stimmt und das Team einverstanden ist, bin ich bereit, einen Versuch zu wagen.»

«Wirklich?»

«Na klar», sagt er schulterzuckend. «Wir sind immer froh über Freiwillige. Die Artikel nehmen neben dem Studium eine Menge Zeit in Anspruch, Anfragen sind daher eher selten. Umso besser, wenn sich jemand dafür begeistern kann.»

Und wie ich das kann. Ich habe mir oft vorgestellt, Journalistin bei der Schweizer Illustrierten zu sein, im Land herumzureisen und an den schönsten Orten von bekannten Persönlichkeiten Fotos zu schießen. Die Vorstellung lässt die Härchen auf meinen Armen sich jedes Mal aufrichten.

«Magst du Scones?», fragt Callum, während wir durch den Gewölbegang zurück zur Haupttreppe gehen.

«Mögen? Ich liebe sie.»

«Dann bring am besten welche mit.» Er unterstreicht den Vorschlag mit einem Zwinkern. «Hast du eine Bleibe?»

«Ich bin seit gestern im Studentenwohnheim.»

«Da hast du Glück gehabt. Die Zimmersituation ist aktuell katastrophal, es gibt kaum Alternativen für Studierende.»

«Ich weiß. Es hat ganz schön gedauert, bis ich die Zusage bekam. Vermutlich hat es nur geklappt, weil ein Lehrer von meinem ehemaligen Gymnasium einen Cousin hat, der in der Collegeleitung jemanden kennt, der ... Moment, da bringe ich etwas durcheinander. Es war sein Schwager ... oder war es ein Bekannter seiner Schwester?», murmle ich vor mich hin.

Er sieht mich mit einem breiten Grinsen an. «Hauptsache es hat funktioniert. Falls du bei irgendetwas Hilfe benötigst, kannst du dich gerne bei mir melden.»

Ich schenke ihm ein dankbares Lächeln.

Callums Aufmerksamkeit fällt auf eine Gruppe Jungs, die vor dem Aufenthaltsraum steht. Er bittet mich, ihn kurz zu entschuldigen und geht auf sie zu.

Unterdessen mache ich einige Schritte seitwärts, damit ich den Typen erkennen kann, auf dessen Schulter er seinen Arm legt. Er sieht ihm zum Verwechseln ähnlich und ich bin mir auf Anhieb sicher, dass dies sein Zwillingsbruder Conor O’Donnell sein muss.

Im Gegensatz zu Callum gibt es online kaum etwas über ihn zu finden. Einem Artikel über Gaelic Football zufolge, ist er der Captain der Castletown Collegemannschaft. Außerdem gibt es Fotos von ihm und seinem Vater in der Destillerie von Whiskey O’Donnell. Ansonsten ist Conor eine Art Online-Geist, und dass ich das weiß, lässt mich wie eine Stalkerin dastehen. Aber hey! Jetzt, da ich schon mal in Irland bin, will ich Teil des Collegelebens werden und mich einbringen. Ich will zu Callums Magazinteam gehören, weil es mich beeindruckt, dass er trotz seines bekannten Namens seinen eigenen Weg geht. Und weil er sich am College engagiert und mir die ersten Minuten unseres Kennenlernens sagen, dass er ein sympathischer Typ ist.

Als Callum auf mich zeigt, sieht mich Conor an.

Erst jetzt fällt mir auf, wie stark sich ihr Äußeres unterscheidet. Conor trägt eine Jeans, Sneakers und einen schwarzen Hoodie mit dem Logo der ersten Gaelic Football Liga aus Kerry auf der Brust. Seine Locken stehen ihm ungezähmt vom Kopf ab und sein Blick wirkt kühl.

Ich hebe grüßend die Hand, woraufhin er eine Augenbraue hochzieht und sich wieder seinen Freunden zuwendet.

Verdutzt senke ich die Hand und lasse den Arm hängen, während ich mir überlege, ob er mich übersehen haben könnte oder ob er tatsächlich so unfreundlich ist. Seine Reaktion hinterlässt einen faden Beigeschmack, doch bevor ich mich weiter damit auseinandersetzen kann, kommt einer der Jungs aus der Gruppe auf mich zu. «Hallo schöne Frau.»

«Hey?», sage ich, was wie eine Frage klingt.

Er steht breitbeinig vor mir, sodass wir auf Augenhöhe sind. Seine Wangen sind aalglatt und sowohl der seitliche Scheitel als auch seine überschlagende Stimme lassen ihn jünger wirken, als er mit Sicherheit ist. «Unser Freund Callum hat erzählt, dass heute dein erster Tag am College ist. Falls du mal abhängen willst, könnte ich dein Mann sein. Ich bin Kent und mich kennen hier eigentlich alle.»

Ich möchte mich vorstellen, aber dann macht seine Zunge diese gruselige Bewegung im Mund. Sie streift über die Innenseite seiner Lippen, so als ob er ein saftiges Steak betrachten würde. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich nicht verhindern, dass sich meine Stirn in Falten legt. «Danke, aber ich habe kein Interesse.»

Sein gewollt flirtender Ausdruck verschwindet auf Knopfdruck. Er richtet sich auf und fährt sich verlegen über den Nacken, zeitgleich wechselt er das Standbein.

Im nächsten Moment fangen die Jungs an zu lachen.

«Reife Leistung!», ruft Conor mit gehobenem Daumen.

Callum reibt sich sichtlich beschämt über das Gesicht.

Kents Wangen werden rosig, während sich seine Nasenflügel verärgert kräuseln. Er zieht humorlos die Mundwinkel hoch, lässt mich stehen und stampft die Treppe runter.

«Jetzt komm schon!», ruft ihm ein Typ in der Gestalt eines Bären nach.

Nachdem Kent verschwunden ist, kommt Callum auf mich zu und deutet mit dem Kopf zur Haupteingangshalle.

Draußen schlendern wir ein Stück über den Gehweg, ich strecke die Nase der Sonne entgegen und atme tief durch. In mir hat sich eine wohlige Wärme breitgemacht. Der Rundgang mit Callum ist besser verlaufen, als ich ihn mir im Vorfeld ausgemalt habe. Ich kann kaum glauben, dass ich mich beim Collegemagazin vorstellen kann. Wenn das mal kein Wink des Schicksals ist, das mit seinen zarten Flügeln schlägt. Gib dem Ganzen eine Chance, du wirst es nicht bereuen.

«Mach dir nichts draus», reißt mich Callum aus den Gedanken. «Die Jungs aus der Gaelic Footballmannschaft sind etwas eigenwillig, aber meistens sind sie in Ordnung.»

«Kein Thema.» Was soll ich auch anderes sagen? Kents Anmache war lausig und ich habe weitaus Besseres zu tun, als mich hier auf den erstbesten Typen einzulassen.

Callum sieht davon ab, das Aufeinandertreffen mit den vieren weiter zu vertiefen und zeigt mir stattdessen die neugotische Kirche am Rande des Campusareals. Ihre spitzen Kuppeln ragen weit in den Himmel hinauf, die Steinfassade wirkt pompös. Fast königlich. Sie hat hohe Buntglasfenster und über der Holzflügeltür ist ein blumenartiges Glasgebilde zu sehen. Laut Callum befindet sich die Bibliothek erst seit Anfang der Achtzigerjahre in diesen Gemäuern.

Während wir an den Buchregalen entlanggehen, hüpft mein Herz vor Freude. Am liebsten würde ich meine Kamera aus dem Wohnheim holen und Fotos schießen, aber Callum schwärmt von der Grünanlage, die sich um das College zieht. Im Gegensatz zu ihm kann ich den quadratisch geschnittenen Sträuchern zwar wenig abgewinnen, aber seiner Freude wegen lasse ich mir nichts anmerken und folge ihm mit einem höflichen Lächeln.

Während der Kies leise und harmonisch unter unseren Schritten knarzt, erzählt er mir, dass er anfänglich mit seinem Zwillingsbruder Wirtschaft studierte, bevor er sich nach dem ersten Semester entschied, zum Journalismus zu wechseln. Er legt mir einige Kurse ans Herz und empfiehlt mir ein paar örtliche Cafés, Pubs und Must-see-Sehenswürdigkeiten, bevor ich mich kurz nach neun Uhr auf den Weg zu meiner ersten Vorlesung mache.

Unterwegs zum Hauptgebäude beobachte ich Conor und seine Freunde, wie sie den schmalen Schotterweg zum Sportgelände einschlagen. Die Tribüne ist von Weitem zu erkennen und auch die Sicherheitsnetze der Spielfelder blitzen am Ende der Grünanlage zwischen den Sträuchern hervor.

Ich werde langsamer, als Conor sich umdreht und rückwärts geht. Er unterhält sich mit heiterer Miene, lacht hörbar und verpasst Kent einen Schubser. Von dem Typen, der meinen Gruß mit eisigem Blick ignorierte, scheint nichts übrig zu sein. Hat mich der erste Eindruck von ihm getäuscht?

Conor

Mein Kopf hämmert. Ich blinzle ächzend, drehe mich auf die Seite und sehe meinem Arm entlang. Kayley liegt auf meiner Handfläche. Sie umklammert schmatzend meinen Unterarm und atmet regelmäßig weiter.

Fuck. Das darf nicht wahr sein. Offenbar habe ich den Moment verpennt, an dem ich hätte verschwinden können. Das hier wird eine Challenge. Gedanklich gehe ich schon mal die Abfuhroptionen durch, während ich mein Bein über ihre Hüfte manövriere. Dann drücke ich mich hoch und platziere die freie Hand neben ihrem Hinterkopf. Sachte zupfe ich an der anderen. Komm schon, Conor. Du weißt besser als jeder andere, wie das hier funktioniert.

«Conor?», murmelt sie.

Oh nein. Ich knie in Hundestellung über ihr, beuge mich zu ihrem Ohr runter und flüstere: «Ich rufe dich an.»

«Schon klar.»

Klingt, als ob wir uns verstehen würden. Perfekt.

Sie lässt meinen Arm los, sodass ich mich von der Matratze rollen kann. Ich suche meine Klamotten zusammen und trete auf das Kondom. «Verflucht noch mal!», zische ich leise und greife hastig nach meinen Boxershorts, die mit dem Träger ihres BHs verknotet sind. Keine Ahnung, wie das zustande kam. Wenn ich es mir recht überlege, weiß ich nicht einmal mehr, wie wir hergekommen sind. Barney’s Pub ist zwar gleich beim Studentenwohnheim um die Ecke, aber geradeaus zu gehen, war nach dem x-ten McConnells wohl kaum noch möglich. Gott, hoffentlich habe ich den Camaro dieses Mal stehen gelassen. Ich würde mir die Haare raufen, wenn ich ihn schon wieder in die Werkstatt bringen müsste.

Hastig ziehe ich mich an und schreibe Kent nebenbei eine Nachricht: In fünf Minuten vor dem Wohnheim. Danach zupfe ich meine Lederjacke zurecht und öffne Kayleys Tür.

Mein Blick kreuzt den eines Mädchens, die vor dem gegenüberliegenden Zimmer steht und mit dem Ellenbogen versucht, die Klinke runterzudrücken. In der einen Hand hält sie eine Tüte von Murphys Café und in der anderen einen Scone, von dem sie gerade ein Stück abgebissen haben muss, denn sie kaut noch. An ihrem Mundwinkel klebt etwas, das entweder ein Krümel oder ein Leberfleck ist. «Alles klar?», frage ich.

Sie nickt. Sieht nicht sonderlich überzeugend aus.

Auf einmal kommt mir in den Sinn, an wen mich ihre Porzellanhaut und das gemusterte Stirnband erinnern. Callums Schützling. Die dunklen Locken hat sie zu einem unordentlichen Dutt hochgebunden und auf ihrer zierlichen Nase fällt mir ein kleiner Höcker auf. Wie hieß sie doch gleich? Glenna? Grady? Zum Teufel, ist doch egal. Ich zeige auf die Tüte. «Gute Wahl.»

Sie senkt den Blick, in der Zwischenzeit stehle ich mich an ihr vorbei und eile durch den Korridor.

«Conor? Was tust du hier?»

Ich drehe mich und stolpere rückwärts, weil Mona mich mit diesem wütenden Du-hast-mir-die-Welt-versprochen-Blick ansieht. «Sorry, ich bin in Eile. Familiennotfall.»

«Conor!», zischt sie in meinem Rücken.

Bevor die Situation eskalieren kann, haste ich durch die Haupttüre und hüpfe die Treppenstufen hinab zu Kent, der am Geländer lehnt und in sein Smartphone vertieft ist. «Lass uns verschwinden», dränge ich und greife im Vorbeigehen nach seinem Ärmel.

Er lässt sich widerstandslos von mir mitziehen. «Was ist los? Schlechte Nacht? Was frage ich auch, natürlich war sie nicht schlecht. Das kann sie gar nicht, Kiara war bestimmt wie eine Wildkatze. Die war so scharf auf dich, ich habe mit Aiden gewettet, dass sie dich noch auf dem Tresen auszieht. Scheiße war das heiß, als sie anfing, deinen Hals zu küssen. In meiner Hose ...»

«Klappe!», zische ich alarmiert. Ich will auf keinen Fall wissen, was in seiner Hose abging. Dahingegen würde mich aber brennend interessieren, was gestern Nacht in meiner los war. Denn ich erinnere mich bloß an Whiskeygläser, Eiswürfel an meinem Hals, Küsse und dröhnende Musik.

«Wo steht mein Camaro?», frage ich, als wir über den Pflasterweg auf das College zugehen. Inzwischen habe ich Kent losgelassen und meine Geschwindigkeit gedrosselt.

Er zieht den Wagenschlüssel aus seiner Hosentasche und lässt ihn am Zeigefinger baumeln. «Der wartet auf dem Parkplatz hinter dem Barney’s auf seinen Besitzer.»

Ich greife nach dem Schlüssel und sehe ihn fragend an.

«Weißt du etwa gar nichts mehr?» Er ist sichtlich belustigt als er mich nachäfft: «Kent, egal was ich sage, du darfst mir auf keinen Fall den Wagenschlüssel geben.»

«Oje», flüstere ich. «Du hast ja keine Ahnung, wie schwarz das Loch in meinem Kopf ist. Was ist passiert?»

«Du meinst, nachdem du es mit Kiara fast auf dem Tresen getrieben hast und Oscar Barney dich rausgeschmissen hat?»

Seine Amüsiertheit geht mir auf die Nerven. Am liebsten würde ich gegen seinen Oberarm boxen, damit ihm das Grinsen vergeht, aber dann ist er mit Sicherheit wieder beleidigt und zieht Leine. Das ist Kent live. Er ist einer meiner besten Freunde, eine waschechte Leberwurst und auf dem Spielfeld hat er von uns allen die kürzeste Zündschnur. Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihm eine zu verpassen und korrigiere seine Aussage. «Die Kleine heißt Kayley.»

Er klopft mir auf die Schulter. «Definitiv Kiara.»

Oh Mann, was für ein Durcheinander. Hoffentlich erteilt mir Oscar nach der Aktion kein Hausverbot. Der Besitzer des Barney’s hat mich mehr als einmal gewarnt, ich solle weniger trinken oder mich zumindest zusammenreißen. Vermutlich lässt er mich nur noch eintreten, weil die Hälfte seines Ausschankes aus der Whiskey-O’Donnell-Dynastie stammt. In der Hinsicht ist mein Name ein Segen, sonst meistens ein Fluch. Letztens hat mich ein wildfremder Typ gefragt, wieso der Whiskey aus dem zweijährigen Sherry Cask Finish nicht mehr erhältlich sei. Als ob ich das wüsste.

Wir gehen durch die Eingangshalle auf Brennan und Aiden zu, die beim Treppenabsatz stehen. Ihren Gesichtern nach zu urteilen werde ich mir gleich etwas anhören dürfen.

«O’Donnell», begrüßt mich Aiden mit einem spottenden Unterton in der Stimme. «Du lebst. Wer hätte das gedacht? Als Kiara anfing, unter dein Shirt zu greifen und deinen Rücken aufzukratzen, waren wir uns unsicher, ob wir dich je wiedersehen würden. Ich habe dagegen gewettet.»

Ich greife intuitiv an mein Kreuz und streife mit dem Daumenrücken darüber. Höher komme ich nicht, aber das ist auch unnötig, denn ich spüre ein Brennen auf meiner Haut, als hätte ich mir etwas bei einem Sturz in einem Gaelic Footballspiel aufgeschürft. Dennoch lasse ich mir nichts anmerken, nicht dass die drei noch auf die Idee kommen, Kiaras Hinterlassenschaft begutachten zu wollen.

«Du siehst scheiße aus», meint Brennan, ehe er mich in eine Halbumarmung zieht und mir auf die Schulter klopft.

«So fühle ich mich auch», antworte ich.

Von den zwei Rucksäcken, die Aiden trägt, gehört einer mir. Er reicht ihn rüber. «Ist alles drin.»

Ich nicke dankend.

Brennan, Aiden, Kent und ich. Das funktioniert ohne große Worte. Wir wissen uns sowohl auf dem Spielfeld als auch in unseren abgründigsten Stunden zu verständigen. Oft jagen wir denselben blöden Gedanken nach oder es treiben uns die gleichen dämlichen Ideen in den Wahnsinn. Manchmal zweifle ich daran, ob wir uns guttun und frage mich, ob unsere Freundschaft mehr Schaden als Nutzen ist. Dann denke ich an Dad und seine E-Mails, die tagtäglich meinen Account spamen. Brennan, Aiden und Kent sind vielleicht keine Goldjungen, aber sie nehmen mich wenigstens so, wie ich bin. Sie erwarten keinen perfekten Conor – und das ist mir um einiges lieber, als so zu tun, als ob ich Callum wäre.

Einige Minuten später finden wir uns auf der Toilette wieder, wo ich mir die Zähne putze. Brennan sitzt auf der Fensterbank und hat den Kopf an die Laibung gelegt, Aiden macht Klimmzüge am Türrahmen und Kent geht unentwegt durch den Raum.

«Kann ... du ... da ... laschen?», brabble ich mit schäumendem Mund, weil mich seine Rastlosigkeit irremacht.

Er stoppt und zeigt überzeugt in die Runde. «In diesem Semester werde ich etwas Großes reißen. Etwas unsagbar Großes. Ich schwöre, ich werde euch eine Geschichte auf den Tisch legen, die euch blass aussehen lässt.»

Ich spucke die Zahnpaste in das Waschbecken, um sie vor Lachen nicht zu verschlucken. «Was hast du vor?»

«Hast du das weibliche Geschlecht aufgegeben und bist jetzt ein Homo?», fragt Aiden und ächzt: «zwanzig.»

Brennan wirft ihm einen finsteren Blick zu.

«Was?», fragt Aiden, lässt den Rahmen los und schüttelt die Arme aus. «Das sollte nicht homophob rüberkommen, aber Tatsache ist doch, dass seine Statistik in Sachen Mädchen zu wünschen übrig lässt. Nichts für ungut, Kent.»

«Jetzt lasst ihn erst mal ausreden.» Ich drehe den Wasserhahn auf und wische das Becken sauber, gleichzeitig reibt sich Aiden die Hände mit dem Desinfektionsmittel ein, das er immer in der Hosentasche mit sich herumträgt.

Der stechende Geruch bringt mich zum Hüsteln.

Kent räuspert sich und streckt die Brust weit raus. «Was würdet ihr sagen, wenn ich Miss Callaghan flachlege?»

«Die Dozentin?», pustet Aiden belustigt.

«Das Thema Größenwahn und so», werfe ich ein.

Brennan schlägt seine Handfläche gegen die Stirn.

Innert Sekunden bilden sich verdächtige rote Flecken auf Kents Wangen, dann schiebt er die Unterlippe leicht vor und verschränkt beleidigt die Arme. «Ihr werdet schon sehen.»

Ich schätze, das werden wir – und der Gedanke daran ist haarsträubend. Kent ist ein guter Kerl, keine Frage, aber er überschätzt sich und ist eine Niete im Flirten. Er hat das Talent, das Gegensätzliche davon zu tun, was eine Frau beeindrucken könnte. Zudem sieht er wie ein Schuljunge aus. Nicht, dass dies ein Hindernis wäre, aber in Kombination mit seiner Art ist das maximal abturnend.

Aiden hält ihm abschlagend die Faust hin. «Wenn du das schaffst, hast du meinen Respekt auf Lebzeiten.»

Kents düstere Miene hellt sich schlagartig auf. Es ist schon beinahe peinlich, wie versessen er auf die Meinung unseres reinlichkeitsfanatischen Sonnyboys ist.

«Ich muss gehen», sagt Brennan und stößt sich vom Fensterbrett auf die Füße. Weil Aiden ihn skeptisch beäugt, ergänzt er: «Der Essay schreibt sich nicht von selbst.»

«Streber», murmelt Aiden. «Kommst du morgen?»

Brennan ist schon fast zur Tür raus, antwortet aber mit einem grellen Aufheulen. Ein Insider. Denn Aiden bezeichnet sich auf Collegepartys spätestens nach dem dritten Shot als Wolf. Nach dem vierten beginnt er, sein Revier abzuchecken und ungefähr nach dem fünften geht er auf die Jagd nach einer schnellen Nummer. Das heißt, wenn sich nicht bereits bei Shot eins, zwei, drei oder vier ein Mädchen auf seinen Schoß gesetzt hat. Denn Aiden hat Charisma. Er hat dieses Strahlen in den Augen, selbst wenn er angepisst ist, und wenn er zur Hochform aufläuft, kann er sogar witzig sein.

«Muss sonst noch jemand einem Dozenten in den Arsch kriechen?», fragt Aiden. Er kann auch ein Idiot sein.

«Wir sehen uns später», antworte ich und gehe aus der Toilette, bevor noch jemand rumerzählt, wir würden uns da drin gegenseitig einen runterholen oder so ein Scheiß. Es wäre nicht das erste Mal, dass solch ein Gerücht über mich die Runde macht. Ich liebe meinen Zwillingsbruder, aber damals in der Highschool für ihn zu lügen und wochenlang für schwul gehalten zu werden, hat mir gereicht.

Ginny

Ich stelle mein erstes Unterrichtsbuch in das Regal und schalte die Lichterkette ein, die meine Zimmergenossin um dessen Holzrahmen gewickelt hat. Der Anblick erinnert mich an Weihnachten, es fehlen auf den Brettern neben den Ordnern, dem Fellbilderrahmen und dem Kaktus mit den feinen Härchen bloß die Geschenke. Und Kekse. Bei dem Gedanken an den Duft von frischen Keksen knurrt mein Magen. Träumerisch streiche ich über die gerippten Blätter einer Zimmerpflanze und lese die Sprüche auf den Blechschildern an den Wänden.

Mir gefällt unser Zimmer, auch wenn es nichts mit meinem in Zürich gemein hat und hauptsächlich durch Rosa besticht, muss ich Kathies Einrichtungsgeschmack einen beträchtlichen Wohlfühlfaktor zusprechen. Sie scheint Sinn für Atmosphäre zu haben und mag offensichtlich Schminke, was die Schatulle mit Lidschatten und die Auswahl an Lippenstiften auf ihrem Nachttisch beweisen. Bei unserem Kennenlernen hat sie erwähnt, dass sie einen Beautykanal hat, auf dem sie ihren Followern irgendwelche Trends zeigt, die von den USA nach Europa überschwappen. Ich hätte sie gerne nach dem Kanal gefragt, aber seit ich vom Frühstückseinkauf zurück bin, ist sie auf der Toilette und ich höre Würgegeräusche.

Nachdem es sekundenlang still geblieben ist, klopfe ich an die Badezimmertür. «Ist alles in Ordnung?»

«Es geht schon», antwortet sie heiser.

«Soll ich im Sekretariat nach einem Arzt fragen?»

«Nein!» Es dauert einen Augenblick, bis sie die Tür aufschließt und ihr kreidebleiches Gesicht erscheint. Um ihre Stupsnase bildet sich ein gepresstes Lächeln. «Nicht nötig, ich habe nur etwas Schlechtes gegessen.»

«Soll ich dir eine Cola holen?»

«Lieb von dir, aber ich ...» Sie hält vorwarnend den Zeigefinger hoch und drückt die Tür vor meinem Gesicht zu.

Ich würde ihr gerne helfen, aber ich kenne sie zu wenig und möchte unsere erste Sympathie nicht aufs Spiel setzen. Ihre Verneinung zu übergehen, wäre mir zu riskant und deshalb entschließe ich mich zur Torwache. Ich setze mich im Schneidersitz auf den Teppich neben der Tür und lenke sie mit Fragen nach ihrer Lieblingsjahreszeit, der besten Band ever und ihrem Lieblingssong ab.

In der Zwischenzeit ruht mein Blick auf meinem Buch, das zwar hell beleuchtet, aber viel zu einsam auf dem Regalbrett steht, das Kathie für mich leer geräumt hat. Ich nehme mir vor, am Nachmittag nochmals in die Bibliothek zu gehen und mich durch den digitalen Journalismus zu wühlen, bevor ich mich in die Grundlagen vertiefe und mir die markierten Passagen im Buch genauer ansehe. Wer auch immer sich im letzten Semester damit beschäftigt hat, muss sich genauso motiviert in das Studium gestürzt haben wie ich. Das macht mich neugierig. Vielleicht finde ich ja eine handschriftliche Notiz oder den Namen des Vorbesitzers.

Mein Smartphone vibriert auf meinem Kissen.

Ich informiere Kathie, dass ich telefonieren werde. Sie antwortet etwas Unverständliches, dann hieve ich mich auf die Füße und setze mich auf die Bettkante.

(1) verpasster Anruf von Mama

Ich rufe sie zurück.

«Ginny?», sagt sie in den Hörer. «Die Einladungskarten sind ein Desaster, du musst sofort nach Hause kommen.»

«Geht klar, ich packe meine Sachen», spotte ich.

Vermutlich soll das Versuch hunderteins sein, mich zur Rückreise zu bewegen. Meine Mutter konnte nicht verstehen, wieso ich in einem Land studieren will, das ich bloß von Google und aus Erzählungen von meinem Vater kenne.

Als er mit meinen Großeltern in die Schweiz zog, war er zwölf. Oder dreizehn. Er hat nie viel von seiner Kindheit erzählt, und wenn er es doch tat, dann beschwerte er sich über den Schulweg, über den Dauerregen oder Nachbars Pudel. Deshalb hat es mich auch verwundert, als ich die falsch adressierte Postkarte aus unserem Briefkasten zog.

Congratulations on the restaurant opening in Limerick, Daniel. Daniel Doyle – ich sehe den Namen meines Vaters auf dieser Karte und habe eine Million Fragen. Wieso hat er die Schweiz verlassen? Bin ich der Grund? Ist es verrückt einem Menschen nachzureisen, der einen scheinbar aus seinem Leben haben will? Wieso tut der Gedanke an ihn immer noch weh?

Ich habe lang überlegt, ob ich meiner Mutter erzählen soll, was der Grund für meine Collegewahl ist. Um ein Haar hätte ich es getan, aber schlussendlich wurde mir bewusst, dass es um mein Leben geht. Es ist meine Entscheidung. Und das hier ist eine Sache zwischen meinem Vater und mir.

«Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist. Ich habe vier Dutzend Einladungen vor mir liegen und über jedem einzelnen Trauringfoto ragt ein schwarzer Balken. Das sieht so ... es sieht schrecklich aus! Die Druckerei will mir weismachen, ich hätte eine fehlerhafte Datei hochgeladen. Natürlich habe ich ihnen gesagt, dass das unmöglich sei, weil meine Tochter die Fotos geschossen hat, aber diese Besserwisser wollen mir nicht zuhören.»

«Mama», sage ich in linderndem Tonfall. «Gib mir den Kontakt der Druckerei und ich kümmere mich darum.»

«Das würdest du tun?»

«Natürlich würde ich das.»

«Du bist ein Engel, Ginny.»

«Frag sie, wie es am College ist», höre ich Paul im Hintergrund rufen. Es folgt ein Knistern und Wortfetzen.

Ich stelle mir vor, wie Mama den Hörer zuhält und ihm das Zeichen gibt, sich zurückzuhalten, weil sie neben dem Ärger vergessen hat, sich nach meinem neuen Leben zu erkundigen.

«Hast du dich gut eingelebt?», fragt sie schließlich.

Wusste ich es doch. Mir kann sie nichts vormachen.

Ich schaue zur Badezimmertür, die sich in dem Augenblick öffnet. Kathie schlurft zu ihrem Bett, legt sich wie eine eingerollte Katze hin und zieht die Decke bis an ihr Kinn hoch. Sie lächelt schwach und beobachtet mich.

«Es sind alle nett – und ich werde voraussichtlich beim Collegemagazin mitwirken können», sage ich in den Hörer.

«Das freut mich für dich», entgegnet Mama. «Du hast so hart dafür gearbeitet und verdienst nur das Beste.»

«Danke», murmle ich den Blick senkend. Ihr Zuspruch bedeutet mir eine Menge, aber ich bin nicht der Typ Mensch, der gut mit Komplimenten umgehen kann. Es fällt mir schwer, Lob von außen anzunehmen, es mir selbst zuzugestehen gleicht einem unbezwingbaren Gipfel.

Ich erzähle Mama vom Campus. Später stellt sie mich auf Lautsprecher und Pauls zugetanes Brummen erklingt, als ich von unserem Studentenzimmer und dem Aufeinandertreffen mit Callum berichte. Auf einmal ruft Paul, dass er gleich nach dem neuen O’Donnell googelt, weil er den Whiskey bei der Hochzeitsfeier anbieten will. Danach lenkt Mama das Gespräch auf Elias und die Tischordnung. Sie will wissen, ob er mich immer noch begleiten wird. Beim Gedanken an meinen besten Freund überkommt mich ein unangenehmes Gefühl, trotzdem bejahe ich ihre Frage, schließlich hatten wir das vor Monaten vereinbart. Ich nehme mir vor, mich zu überwinden und ihm in den nächsten Tagen zu schreiben.

Nachdem ich aufgelegt habe, wende ich mich Kathie zu. «Geht es dir besser?»

Sie nimmt die Decke weg, setzt sich auf und zieht die Ärmel ihres Pullovers über die Hände. «Es wird langsam. Ich glaube, der Pudding im Murphys war abgelaufen.»

Mein Blick schweift zu der Tüte mit Scones, die auf meiner Ledertasche liegt. Heute Morgen war ich in demselben Café, weil ich für das Team des Collegemagazins Frühstück holen wollte. Jetzt frage ich mich, ob sie genießbar sind. Obwohl der Scone lecker schmeckte, den ich im Wohnheimflur aß. Der Gedanke daran ruft mir ins Gedächtnis, wie Conor O’Donnell aus der Tür gegenüber von unserem Zimmer kam.

Das war seltsam.

Von Callum weiß ich, dass er mit seinem Zwillingsbruder in einem Apartment in der Nähe des Campus wohnt. Was hatte Conor hier verloren? Und wieso sah er mich an, als ob ich ihn bei etwas Unangenehmem erwischt hätte? Sein Blick war so eindringlich, mir wäre beinahe die Tüte aus der Hand gefallen. Ich suchte nach Worten, als er übernächtigt an mir vorbeistürmte und nur eine dichte imaginäre Staubwolke der Unannehmlichkeit zurückließ. Das macht mich neugierig. «Weißt du, wer uns gegenüber wohnt?»

«Wieso fragst du?»

«Nur so», antworte ich unsicher.

«Kiara McLean. Sie ist vor ungefähr einem halben Jahr eingezogen und macht mich seitdem wahnsinnig mit ihren Saufeskapaden und den nächtlichen Besuchern.»

Ich sehe sie fragend an.

«Lauter Sex», erklärt sie, zieht Ohropax aus ihrem Nachttisch und hält sie hoch. «Du solltest dir solche zulegen, wenn du ihr ausschweifendes Nachtleben nicht miterleben willst.»

«Was? Oh!», entweicht es mir, als mir klar wird, warum Conor O’Donnell bei ihr war. Das erklärt einiges – okay, für meinen Geschmack erklärt es zu viel. Ich werde mich hüten, je wieder über das Sexleben von ihm oder unserer Zimmernachbarin nachzudenken, denn das geht mich weder etwas an noch will ich es mir vorstellen.

«Die Fotogirlande gefällt mir.» Kathie zeigt auf die Auswahl meiner Lieblingsbilder, die ich an einer Schnur oberhalb meines Bettes befestigt habe. «Erzählst du mir, wo du sie geschossen hast? Ich könnte eine Aufmunterung gebrauchen.»

«Wenn du mir deinen Beautykanal zeigst.»

Sie nickt lächelnd.

Erleichtert registriere ich die in ihr Gesicht zurückgekommene Farbe, löse die Fotos von den Wäscheklammern und setze mich neben sie auf ihr Bett.

Auf dem ersten Bild sind Mama und Paul in Imkermontur zu sehen, danach folgen welche von meiner Mädchenclique auf der Wiese vor dem Gymnasium und eines zeigt meinen Vater mit mir als Säugling auf dem Schoß. Es ist ein wenig selbstquälerisch, es aufzuhängen, aber es erinnert mich an gute Tage. Damals war er kein schlechter Vater. Ich weiß nicht, wieso sich das änderte und wann er sich entschloss, nicht mehr Teil meines Lebens sein zu wollen. Vor einigen Jahren hat er mir mal gesagt, ich sähe Mama ähnlich. Es ist mir erst später wieder in den Sinn gekommen, ich glaube, nachdem er den Kontakt abbrach und meine Nummer sperrte. So absurd es klingen mag, brachte mich das auf den Gedanken, er könnte das getan haben, weil ihn die Trennung kaputt gemacht hat und ich ihn zu sehr an Mama erinnere. Ich schätze, wenn ein Elternteil einen verlässt, braucht man einen plausiblen Grund, um sich selbst vor dem Ertrinken zu bewahren.

«Ist das dein Freund?», fragt Kathie und tippt auf ein Foto, das Elias und mich beim Abschlussball zeigt.

Er trug eine Fliege, die wir einige Tage zuvor gekauft hatten, und lachte sich schlapp, weil ich sie ihm in dem Augenblick zurechtzupfte, als Herr Schneider den Auslöser drückte. «Er ist ... war mein bester Freund.»

«Wieso war?»

Mit der Frage wischt mir Kathie den letzten Rest an Ausgeglichenheit aus dem Gesicht. Es war wohl doch keine so gute Idee, die Fotos durchzugehen. Zuerst mein Vater und jetzt Elias. An meiner Wäscheleine hängt mehr Schmerz als Freude und trotzdem bin ich nicht bereit, die Bilder durch andere zu ersetzen. «Es ist kompliziert», sage ich schlussendlich. «Wenn es dir recht ist, würde ich dir lieber ein anderes Mal von Elias erzählen.»

«Kein Problem», sagt sie so behutsam, dass ich mich fast dazu hinreißen lasse, ihr von dem Vorabend meiner Abreise zu erzählen. Oder der Tatsache, dass ich nicht weiß, wie ich mich seitdem Elias gegenüber verhalten soll. Freunde küssen keine Freunde auf den Mund. Das war eine miese Idee von ihm. Wie konnte er nach fünfzehn Jahren auf einmal denken, zwischen uns würden die Funken sprühen? Ich verstehe es nicht. Ich habe Nächte damit zugebracht, darüber nachzudenken, ob es irgendwann einmal einen Punkt gab, an dem wir die Freundschaftslinie übertreten haben. Mehrere Male wollte ich ihn anrufen, aber das geht schlecht mit einem Cocktail aus Ärger und Enttäuschung im Magen. Wie konnte er alles, was wir hatten, aufs Spiel setzen, mich an dem Abend des Kusses einfach stehen lassen und sich seitdem nicht mehr melden? Unsere Situation ist verworren ... und dennoch vermisse ich ihn. Ich vermisse seine Stimme, die geteilten Gedanken und allem voran, ihn an meiner Seite zu haben. Es ist immer dieselbe Schwere, die sich über meine Seele legt, wenn ich an unsere albernen Diskussionen über die neuen Staffeln von Stranger Things denke, wie wir in Backsessions ekelhafte Cookies erfunden und beinahe den ganzen Sommerurlaub an der Promenade verbracht haben.

Eine Erleichterung überkommt mich, als die Fotos wieder an der Girlande hängen und Kathie ihren Laptop aufklappt. Sie zeigt mir einige ihrer Videos und Bilder, bevor ich mich auf den Weg zum Castletown College mache.

Ginny

«Komm ruhig rein.» Ein Mädchen mit wasserstoffblondem Buzzcut sitzt am Rundtisch und winkt mich in die Redaktion, noch bevor ich am Türrahmen anklopfen konnte.

«Hey», hauche ich die Hand hebend. «Ich bin Ginny.»

Sie stellt sich mir als Brie vor, dabei blitzen ihre Zähne strahlendweiß zwischen den kirschroten Lippen hervor. Ein Septum-Piercing mit zarten Spitzen schimmert unter ihrer Nase und über die Mitte ihres Halses zieht sich ein Tattoo in der Form einer halbgeöffneten Rosenblüte. «Callum hat uns informiert, dass wir heute Gesellschaft bekommen. Hast du dir das auch gut überlegt?» Ihr Ausdruck wirkt von einer Sekunde auf die nächste ernst.

«Ich denke schon», antworte ich unsicher, während ich die Tüte mit den Scones und meine Mappe auf den Tisch lege.

Brie lacht grell und zeigt auf mich. «Spaß! Ich mache doch nur Spaß. Herzlich willkommen in unserem allwissenden Collegetempel. Und danke für das Frühstück.»

«Lasset das Festmahl beginnen», johlt ein Typ, als er zur Tür reinkommt. Er macht einen Knicks neben mir und als ich ihm die Hand reiche, deutet er einen Kuss an. «Seid gegrüßt, holde Maid. Mein Name ist Duke Christian Fitzgerald. Für dich kurzum, Chris.»

Ich suche nach Worten, doch diesmal versagt meine Schlagfertigkeit.

«Du verwirrst Ginny mit deinem Mittelaltergeschwafel», unterbricht ihn Brie und wendet sich an mich. «Chris jobbt neben dem Studium in der Beaumore Abbey. Er veranstaltet Führungen und bringt diesen Unsinn manchmal mit hierher.»

Chris’ Blick ist empört auf sie gerichtet. «Einen guten Morgen auch dir. Wenn es dir genehm ist, würde ich der schönen Fremden gerne selbst aus meinem Leben berichten.»

«Das ist es durchaus, mein Duke», antwortet Brie mit gespitzten Lippen und foppend verstellter Stimme.

Chris räuspert sich wortsuchend, wobei er jeglichen Kommentar runterzuschlucken scheint, als Callum den Raum betritt. Er setzt sich schweigend neben mich, während Brie sich aufrichtet und die Blätter in der Luft ordnet.

«Guten Morgen allerseits», begrüßt uns Callum.

Brie und ich erwidern seinen Gruß, während Chris höflich nickt und verkündet: «Wir haben Sie erwartet, Eure Majestät.»

Callums Miene spricht Bände und scheint Nicht schon wieder zu sagen. Er beäugt Chris, der sein Haar zu einem Knoten hochbindet. «Könntest du das bitte sein lassen?»

«Wie Ihr wünscht», erwidert er wenig einsichtig.

Wie schon am Vortag ist Callum gut gekleidet. Er trägt ein weißes Polohemd, eine Chino und Sneakers aus dunklem Leder. Jedes Härchen auf seinem Kopf scheint seinen Platz zu haben und im Schein des Deckenlichts meine ich einen Hauch an Make-up auf seiner Haut zu erkennen.

Ich kann mir nicht helfen, bei seinem Anblick fühle ich mich wie eine Modebanausin. In einem unbeobachteten Augenblick streiche ich meine Bluse glatt, fummle mir eine Strähne aus dem Mundwinkel und streife sie hinters Ohr.

Callums Blick trifft mich. «Habt ihr euch schon vorgestellt?»

«Wurde vor fünf Minuten erledigt», antwortet Brie.

«Perfekt», entgegnet er. «Ginny, sieh dir gerne an, wie wir arbeiten und melde dich bei Fragen. Wir pflegen einen offenen Umgang und ein freundschaftliches und respektvolles Miteinander. Wenn es Probleme gibt, sprechen wir miteinander. Außerdem ist es mir wichtig, dass alle Ideen angehört und besprochen werden.»

Ich nicke. Jedoch etwas zu überschwänglich.

Gleich darauf zieht er ein Whiteboard aus der Raumecke und schreibt darauf mit Filzstift: Retrospektiv, prospektiv, Dos und Don’ts.

Es folgt eine Diskussion über die vergangene Ausgabe, was gut gelaufen ist und was verbessert werden könnte. Chris erzählt von einer Rückmeldung betreffend Lesbarkeit eines Onlinetitels und Brie berichtet von ihrem Gespräch mit einer Organisation für Naturschutz. Offenbar läuft ein regionales Projekt in Zusammenarbeit mit dem Castletown College, an dem einige Studierende mitwirken. Danach führt Callum Inhalte für die kommende Ausgabe auf und bittet Brie und Chris um Ideen für mehr multimediale Interaktion.

In meinem Kopf wirbeln Begriffe durcheinander, mit denen ich wenig bis gar nichts anzufangen weiß. Ich knubble am Daumennagel herum, während ich angestrengt versuche, den Gesprächsfaden nicht zu verlieren. Es gelingt mir nicht ansatzweise. Ich überlege mir einige Male, ob ich nachfragen soll, als die drei sich auf einmal über den Sportteil unterhalten und ich wieder im Bilde bin.

«Ich sage euch, wie es ist», betont Brie und blickt dabei eindringlich in die Runde. «Am kommenden Montag startet mein Praktikum bei Morning News Diana und ich werde nicht mehr alle Themengebiete unter einen Hut bringen können.»

«Was hat das zu bedeuten?», fragt Callum.

Sie verschränkt die Arme auf dem Tisch. «Jemand von euch wird den Sportteil übernehmen müssen oder er geht hops.»

Callum schüttelt den Kopf. «Hops ist keine Option.»

«Ich könnte das tun.» Habe ich das gerade laut gesagt?

Die drei sehen mich mit der gleichen Überraschung an, mit der ich mich innerlich gerade auseinandersetzen muss.

Ich räuspere mich. So als ob ich mir der Auswirkungen meiner Aussage im Klaren wäre. «Wenn ihr mich aufnehmt, würde ich die Berichterstattung gerne übernehmen.»

Callum stützt die Hände in die Hüften und schlendert durch den Raum. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, bevor er mich nachdrücklich ansieht. «Die Sportseiten sind der Collegeleitung ein besonderes Anliegen und dementsprechend gewissenhaft zu handhaben. Neben den Texten geht es um Interviews und Fotos von Sporttreibenden und Spielen, Wettkämpfen und Meisterschaften. Du müsstest immer vor Ort sein. Würdest du dir das zutrauen?»

Ich schlucke leer. «Wann kann ich anfangen?»

«Mut ist des Eifrigen Weggeleit», murmelt Chris.

Brie lehnt sich im Stuhl zurück und streckt den Daumen empor.

Derweil lässt Callum einige Sekunden verstreichen, bevor er entschieden nickt und anfügt: «Somit heiße ich dich offiziell willkommen in unserem Team. Ich wäre froh, wenn du nach der Sitzung bleiben könntest, damit wir deine künftigen Aufgaben durchgehen können.»

Ich bin dabei? Ich bin dabei! In meinem Bauch tobt ein Feuerwerk. Ich bin ein amtliches Mitglied des Collegemagazins und die Freude darüber werden Callum, Brie und Chris mit Gewissheit in jedem Winkel meines Gesichts erkennen können. Am liebsten würde ich das Fenster aufreißen und es in die Welt hinausschreien, aber das wäre wohl etwas übertrieben. Wer hätte das gedacht? Wer hätte gedacht, dass ich die Redaktion als Neuling betrete und als Reporterin verlasse? Ich werde alles dafür tun, dass das Team sein Vertrauen in mich nicht bereuen wird.

Nachdem Callum sich für das Beiwohnen an der Sitzung bedankt hat, holt er mit Chris Kaffee aus dem Automaten im Gang.

In der Zwischenzeit reißt Brie die Tüte auf und reserviert sich einen Scone, indem sie den Finger tief reinbohrt. Danach steckt sie ihn sich in den Mund und weist mit dem Ellenbogen auf meine Mappe. «Stehen da drin deine dreckigsten Geheimnisse?»

«Eher die schönsten», antworte ich schmunzelnd.

Callum reicht mir einen Pappbecher. «Ich habe gehört, dass Ginny eine begnadete Fotografin sei.»

Ich lege beide Hände kühlend auf meine Wangen. «Na ja, ich ...»

«Meine Neugierde ist grenzenlos», unterbricht mich Chris.

Bevor ich mich in Callums Aussage verzettle und mich um Kopf und Kragen rede, schlage ich schnell die Mappe auf.

Das erste Reisefoto zeigt einen Musiker in Galway. Er sitzt auf einer Steinmauer und stimmt seine Gitarre, unter ihm glitzert der River Corrib und in seinem Rücken sind farbige Hausfassaden zu sehen. Ich mag das Bild, weil es die Liebe der Stadt zur Musik widerspiegelt.

«Wow», haucht Brie mit großen Augen.

«Du hast Talent», sagt Callum.

«Wahrhaftig», ergänzt Chris nickend.

Ich blättere weiter, ehe ich vor Komplimenten nicht mehr weiß, in welche Himmelsrichtung ich gucken soll.

Die nächsten Fotos zeigen den Central Park in New York, einen Strand in Thailand, die Skyline von Zürich und ... Elias. Er steht vor einer mit Graffitis bemalten Mauer und blickt in die Ferne. Auf seiner Nase sitzt eine Fliegerbrille und er hat die Hände in den Jeanstaschen vergraben.

Brie bezeichnet das Bild als das gelungenste, wobei ich den dreien verschweige, wer darauf zu sehen ist.

«Sehen wir uns heute Abend?», fragt Callum, nachdem ich die Mappe zugeklappt und zur Seite gelegt habe.

Chris stöhnt lustlos. «Wenn Eure Majestät wünscht.»

«Wir sind die Presse.» Brie tut so, als ob sie eine Kamera in den Händen halten und abknipsen würde. «Wenn wir nicht an den Orten des Geschehens auftauchen, wer dann?»

Chris legt grummelnd den Kopf in den Nacken.

«Kommst du auch?», fragt mich Brie.

«Wohin?»

«Bei Aiden steigt eine Party», erklärt Callum.

«Wer ist Aiden?»

Brie sieht mich tagträumerisch an. «Das ist der blonde Typ mit dem süßen Lächeln und der Gewandtheit eines Katers auf dem Footballfeld. Wenn du den Wichtigtuer auf dem Campus gesehen hättest, wäre er dir bestimmt aufgefallen.»

«Bei den Göttern», murmelt Chris kopfschüttelnd.

«Aiden ist einer von Conors besten Freunden. Das wird bestimmt lustig.»

Callums Bemerkung reißt mich aus meinem Erstaunen über Bries widersprüchliche Aussage. «Ich weiß nicht so recht, Partys sind nicht so mein Ding.»

«Nichts als Ausflüchte», meint Chris und zeigt bestimmt auf mich. «Ich zähle auf Ihr Beiwohnen, Mylady.»

Dagegen ist schwer etwas einzuwenden. Und in Anbetracht der Tatsache, dass ich die Neue im Team bin, möchte ich das auch nicht. Ich will Zeit mit den dreien verbringen und wenn das auf einer Collegeparty sein soll, dann werde ich eben verdrängen, dass nahezu jede Party am Gymnasium in einem Desaster endete und ich seitdem keine Lust mehr darauf habe. Allein wenn ich an den Abend denke, als ein fremdes Mädchen ihr Glas über mein Shirt leerte und ich im Bus nach Hause wie ein Bierfass roch, verknotet sich mein Magen. Ganz zu schweigen von dem nächtlichen Aufenthalt in der Notaufnahme, weil einer Freundin etwas ins Getränk gemixt wurde. Nein, es ist zu viel passiert, als dass ich Partys mögen könnte und trotzdem sage ich Callum, Brie und Chris zu. Im Sinne der Integration in das Collegeleben.

Nachdem die beiden gegangen sind, zeigt mir Callum am Computer die vorgefertigten Interviewraster. Es gibt Fragen für den Fall eines Sieges oder einer Niederlage, Textbausteine für Spielerporträts oder Themen wie Sportcamps und andere Ereignisse. Zusätzlich verrät er mir das Passwort für das Archiv, in dem ich die Sportartikel der letzten zwanzig Jahre finde. Per E-Mail schickt er mir die wichtigsten Spieltermine des laufenden Semesters vom Hurling, Schwimmen, Fußball und Gaelic Football.

Ich konfiguriere die Daten mit meinem Kalender, der auf einen Schlag dreimal so viele Einträge anzeigt. Bei dem Anblick wird mir zwar ein bisschen schlecht, aber ich lasse mir nichts anmerken. Schließlich wollte ich es so.

Zum Schluss erklärt er mir, dass die Sportartikel vor der Publikation von der Collegeleitung abgesegnet werden müssen. Er bittet mich um eine pünktliche Abgabe, damit ihm genügend Zeit zum Redigieren und zur Einbettung in das System der Druckerei bleibt.

Ich verspreche ihm, mich an die Deadlines zu halten und bei Fragen oder Problemen auf ihn zuzugehen. Und lächle ihn sogar an. Doch insgeheim raucht mir der Kopf und ich frage mich, ob ich das alles schaffen werde.

Bei der Verabschiedung schlägt Callum vor, mich für die Party am Abend abzuholen.

Normalerweise hätte ich ihm gesagt, dass er sich keine Umstände machen soll, aber ich bin so erschöpft von den vielen Informationen, dass ich widerstandslos zustimme. Noch während ich zur ersten Vorlesung über die Einführung in die digitalen Medien schlendere, verwerfe ich meinen Plan vom nachmittäglichen Bibliotheksbesuch und ersetze ihn durch einen Powernap.

Conor

Brennan schmeißt die Schale des abgebissenen Zitronenschnitzes auf den Tisch, lässt sich rückwärts auf die Couch fallen und verzieht das Gesicht beinahe bis zur Unkenntlichkeit. Ich muss so heftig lachen, dass mir der Tequila zur Nase rauskommt. Was ekelhaft ist. Und brennt.