Cécile - Theodor Fontane - E-Book

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Theodor Fontane

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Beschreibung

Cécile von St. Arnaud, eine junge, schöne und offenbar nervenkranke Frau, und ihr Gatte Pierre, ein Oberst a. D. und bereits weit über 50 Jahre alt, befinden sich auf einer Urlaubsreise ins Hotel Zehnpfund in Thale im Harz. Dort lernt das Paar schnell den weitgereisten Ingenieur Robert von Gordon kennen, mit dem es gemeinsame Ausflüge unternimmt.

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Theodor Fontane

Cécile

Impressum

Cover: Gemälde "Rigolette versucht während seiner Abwesenheit nicht an Germain zu denken" von Joseph-Désiré Court

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2015

ISBN/EAN: 9783958705661

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

www.nexx-verlag.de

Erstes Kapitel

»Thale. Zweiter...«

»Letzter Wagen, mein Herr.«

Der ältere Herr, ein starker Fünfziger, an den sich dieser Bescheid gerichtet hatte, reichte seiner Dame den Arm und ging in langsamem Tempo, wie man eine Rekonvaleszentin führt, bis an das Ende des Zuges. Richtig, »Nach Thale« stand hier auf einer ausgehängten Tafel.

Es war einer von den neuen Waggons mit Treppenaufgang, und der mit besonderer Adrettheit gekleidete Herr: blauer Überrock, helles Beinkleid und Korallentuchnadel, wandte sich, als er das Waggontreppchen hinauf war, wieder um, um seiner Dame beim Einsteigen behilflich zu sein. Die Abteile waren noch leer, und so hatte man denn die Wahl, aber freilich auch die Qual, und mehr als eine Minute verging, ehe die schlanke, schwarzgekleidete Dame sich schlüssig gemacht und einen ihr zusagenden Platz gefunden hatte. Von ähnlicher Unruhe war der sie begleitende Herr, dessen Auf- und Abschreiten jedoch, allem Anscheine nach, mit der Platzfrage nichts zu schaffen hatte, wenigstens sah er, das Fenster mehrfach öffnend und schließend, immer wieder den Perron hinunter, wie wenn er jemand erwarte. Das war denn auch der Fall, und er beruhigte sich erst, als ein in eine Halblivree gekleideter Diener ihm die Fahrbillets samt Gepäckschein eingehändigt und sich bei dem »Herrn Obersten« (ein Wort, das er beständig wiederholte) wegen seines langen Ausbleibens entschuldigt hatte. »Schon gut«, sagte der so beharrlich als »Herr Oberst« Angeredete. »Schon gut. Unsere Adresse weißt du. Halte mir die Pferde in Stand; jeden Tag eine Stunde, nicht mehr. Aber nimm dich auf dem Asphalt in acht.«

Dann kam der Schaffner, um unter respektvoller Verbeugung gegen den Fahrgast, den er sofort als einen alten Militär erkannte, die Billets zu kupieren.

Und nun setzte sich der Zug in Bewegung.

»Gott sei Dank, Cécile«, sagte der Oberst, dessen scharfer und beinah‘ stechender Blick durch einen kleinen Fehler am linken Auge noch gesteigert wurde. »Gott sei Dank, wir sind allein.«

»Um es hoffentlich zu bleiben.«

Damit brach das Gespräch wieder ab.

Es hatte die Nacht vorher geregnet, und der am Fluss hin gelegene Stadtteil, den der Zug eben passierte, lag in einem dünnen Morgennebel, gerade dünn genug, um unseren Reisenden einen Einblick in die Rückfronten der Häuser und ihre meist offenstehenden Schlafstubenfenster zu gönnen. Merkwürdige Dinge wurden da sichtbar, am merkwürdigsten aber waren die hier und da zu Füßen der hohen Bahnbögen gelegenen Sommergärten und Vergnügungslokale. Zwischen rauchgeschwärzten Seitenflügeln erhoben sich etliche Kugelakazien, sechs oder acht, um die herum ebenso viel grüngestrichene Tische samt angelehnten Gartenstühlen standen. Ein Handwagen, mit eingeschirrtem Hund, hielt vor einem Kellerhals, und man sah deutlich, wie Körbe mit Flaschen hinein- und mit ebenso viel leeren Flaschen wieder hinausgetragen wurden. In einer Ecke stand ein Kellner und gähnte.

Bald aber war man aus dieser Straßenenge heraus, und statt ihrer erschienen weite Bassins und Plätze, hinter denen die Siegessäule halb gespenstisch aufragte. Die Dame wies kopfschüttelnd mit der Schirmspitze darauf hin und ließ dann an dem offenen Fenster, wenn auch freilich nur zur Hälfte, das Gardinchen herunter.

Ihr Begleiter begann inzwischen eine mit dicken Strichen gezeichnete Karte zu studieren, die die Bahnlinien in der unmittelbaren Umgebung Berlins angab. Er kam aber nicht weit mit seiner Orientierung, und erst als man die Lisière des Zoologischen Gartens streifte, schien er sich zurechtzufinden und sagte: »Sieh, Cécile, das sind die Elefantenhäuser.«

»Ah«, sagte diese mit einem Versuch, Interesse zu zeigen, blieb aber zurückgelehnt in ihrem Eckplatz und richtete sich erst auf, als der Zug in Potsdam einfuhr. Viele Militärs schritten hier den Perron auf und ab, unter ihnen auch ein alter General, der, als er Céciles ansichtig wurde, mit besonderer Artigkeit in das Coupé hinein grüßte, dann aber sofort vermied, abermals in die Nähe desselben zu kommen. Es entging ihr nicht, ebenso wenig dem Obersten.

Und nun wurde das Signal gegeben, und die Fahrt ging weiter über die Havelbrücken hin, erst über die Potsdamer, dann über die Werder'sche. Niemand sprach, und nur die Gardine mit dem eingemusterten M. H. E. flatterte lustig im Winde. Cécile starrt' darauf hin, als ob sie den Tiefsinn dieser Zeichen erraten wolle, gewann aber nichts, als dass sich der Mattigkeitsausdruck ihrer Züge nur noch steigerte.

»Du solltest dir's bequem machen«, sagte der Oberst, »und dich ausstrecken, statt aufrecht in der Ecke zu sitzen.« Und als sie zustimmend nickte, nahm er Plaids und Decken und mühte sich um sie.

»Danke, Pierre. Danke. Nur noch das Kissen.«

Und nun zog sie die Reisedecke höher hinauf und schloss die Augen, während der Oberst in einem Reisehandbuch zu lesen begann und kleine Strichelchen an den Rand machte. Nur von Zeit zu Zeit sah er über das Buch fort und beobachtete die nur scheinbar Schlafende mit einem Ausdrucke von Aufmerksamkeit und Teilnahme, der unbedingt für ihn eingenommen haben würde, wenn sich nicht ein Zug von Herbheit, Trotz und Eigenwillen mit eingemischt und die freundliche Wirkung wieder gemindert hätte. Täuschte nicht alles, so lag eine »Geschichte« zurück, und die schöne Frau (worauf auch der Unterschied der Jahre hindeutete) war unter allerlei Kämpfen und Opfern errungen.

Es verging eine Weile, dann öffnete sie die Augen wieder und sah in die Landschaft hinaus, die beständig wechselte: Saaten und Obstgärten und dann wieder weite Heidestriche. Kein Wort wurde laut, und es schien fast, als ob dies apathische Träumen ihr, der eben erst in der Genesung Begriffenen, am meisten zusage.

»Du sprichst nicht, Cécile.«

»Nein.«

»Aber ich darf sprechen?«

»Gewiss. Sprich nur. Ich höre zu.«

»Sahst du Saldern?«

»Er grüßte mich mit besonderer Artigkeit.«

»Ja, mit besonderer. Und dann vermied er dich und mich. Wie wenig selbständig doch diese Herren sind.«

»Ich fürchte, dass du Recht hast. Aber nichts davon; warum uns quälen und peinigen? Erzähle mir etwas Hübsches, etwas von Glück und Freude. Gibt es nicht eine Geschichte: Die Reise nach dem Glück? Oder ist es bloß ein Märchen?«

»Es wird wohl ein Märchen sein.«

Sie nickte schmerzlich bei diesem Wort, und als er nicht ohne aufrichtige, wenn auch freilich nur flüchtige Bewegung sah, dass ihr Auge sich trübte, nahm er ihre Hand und sagte: »Lass, Cécile. Vielleicht ist das Glück näher, als du denkst, und hängt im Harz an irgendeiner Klippe. Da hol ich es dir herunter, oder wir pflücken es gemeinschaftlich. Denke nur, das Hotel, in dem wir wohnen werden, heißt ›Hotel Zehnpfund‹. Klingt das nicht wie die gute Zeit? Ich sehe schon die Waage, drauf du gewogen wirst und dich mit jedem Tage mehr in die Gesundheit hineinwächst. Denn Zunehmen heißt Gesundwerden. Und dann kutschieren wir umher und zählen die Hirsche, die der Wernigeroder Graf in seinem Parke hat. Er wird doch hoffentlich nichts dagegen haben. Und überall, wo ein Echo ist, lass ich einen Böllerschuss dir zu Ehren abfeuern.«

Es schien, dass ihr die Worte wohl taten, im Übrigen aber doch wenig bedeuteten, und so sagte sie: »Ich hoffe, dass wir viel allein sind.«

»Warum immer allein? Und gerade du. Du brauchst Menschen.«

»Vielleicht. Nur keine Table d'hôte. Versprich mir's.«

»Gern. Aber ich denke, du wirst bald anderen Sinnes werden.«

Und nun stockte das Gespräch wieder, und in immer rascherem Fluge ging es erst an Brandenburg und seiner Sankt-Godehards-Kirche, dann an Magdeburg und seinem Dome vorüber. In Oschersleben schloss sich der Leipziger Zug an, und mit etwas geringerer Geschwindigkeit, weil sich die Steigung fühlbar zu machen begann, fuhr man jetzt auf Quedlinburg zu, hinter dessen Abteikirche der Brocken bereits aufragte. Das Land, das man passierte, wurde mehr und mehr ein Gartenland, und wie sonst Kornstreifen sich über den Ackergrund ziehen, zogen sich hier Blumenbeete durch die weite Gemarkung.

»Sieh, Cécile«, sagte der Oberst. »Ein Teppich legt sich dir zu Füßen, und der Harz empfängt dich à la Princesse. Was willst du mehr?«

Und sie richtete sich auf und lächelte.

Wenige Minuten später hielt der Zug in Thale, wo sofort ein Schwarm von Kutschern und Hausdienern aller Art die Coupés umdrängte: »›Hubertusbad‹! ›Waldkater‹! ›Zehnpfund‹!«

»Zehnpfund«, wiederholte der Oberst, und einem dienstfertig zuspringenden Kommissionär den Gepäckschein einhändigend, bot er Cécile den Arm und schritt auf das unmittelbar am Bahnhof gelegene Hotel zu.

Zweites Kapitel

Der große Balkon von ›Hotel Zehnpfund‹ war am andern Morgen kaum zur Hälfte besetzt, und nur ein Dutzend Personen etwa sah auf das vor ihnen ausgebreitete Landschaftsbild, das durch die Feueressen und Rauchsäulen einer benachbarten Fabrik nicht allzu viel an seinem Reize verlor. Denn die Brise, die ging, kam von der Ebene her und trieb den dicken Qualm am Gebirge hin. In die Stille, die herrschte, mischte sich, außer dem Rauschen der Bode, nur noch ein fernes Stampfen und Klappern und ganz in der Nähe das Zwitschern einiger Schwalben, die, im Zickzack vorüberschießend, auf eine vor dem Balkon gelegene Parkwiese zuflogen. Diese war das Schönste der Szenerie, schöner fast als die Bergwand samt ihren phantastischen Zacken, und wenn schon das saftige Grün der Wiese das Auge labte, so mehr noch die Menge der Bäume, die gruppenweis, von ersichtlich geschickter Hand, in dies Grün hineingestellt waren. Ahorn und Platanen wechselten ab, und dazwischen drängten sich allerlei Ziersträucher zusammen, aus denen hervor es buntfarbig blühte: Tulpenbaum und Goldregen und Schneeball und Akazie.

Der Anblick musste jeden entzücken, und so hing denn auch das Auge der schönen Frau, die wir am Tage vorher auf ihrer Reise begleiteten, an dem ihr zu Füßen liegenden Bilde, freilich, im Gegensatze zu dem Obersten, ihrem Gemahl, mit nur geteiltem Interesse.

Der Tisch, an dem beide das Frühstück nahmen, stand im Schutz einer den Balkon nach dem Gebirge hin abschließenden Glaswand und fiel nicht nur durch ein besonders elegantes Service, sondern mehr noch durch ein großes und prächtiges Fliederbouquet auf, das man, vielleicht in Huldigung gegen die durch Rang und Erscheinung gleich distinguierte Dame, gerad auf diesen Tisch gestellt hatte. Cécile selbst brach einige von den Blütenzweigen ab und sah dann abwechselnd auf Berg und Wiese, ganz einer träumerischen Stimmung hingegeben, in der sie sich augenscheinlich ungern gestört fühlte, wenn der Oberst, in wohlmeinendem Erklärungseifer, den Cicerone machte.

»Vieles«, hob er an, »hat sich speziell an dieser Stelle geändert, seit ich in meinen Fähnrichstagen hier war. Aber ich finde mich doch noch zurecht. Das Plateau dort oben, mit dem großen würfelförmigen Gasthaus, muss der Hexentanzplatz sein. Ich höre, man kann jetzt bequem hinauffahren.«

»Oh gewiss kann man«, sagte sie, während sie, sichtlich gleichgültig gegen diese Mitteilung, mit ihrem Auge den Balkon überflog, auf dem die Jalousieringe klapperten und die rot und weiß gemusterten Tischdecken im Winde wehten. Zugleich zupfte sie an einer ihrer Schleifen und wandte den Kopf so, dass man, von der andern Seite des Balkons her, ihr schönes Profil sehen musste.

»Hexentanzplatz«, nahm sie nach einer Weile das Gespräch wieder auf. »Wahrscheinlich ein Felsen mit einer Sage, nicht wahr? Wir hatten auch in Schlesien so viele; sie sind alle so kindisch. Immer Prinzessinnen und Riesenspielzeug. Ich dachte, der Felsen, den man hier sähe, hieße die Rosstrappe.«

»Gewiss, Cécile. Das ist der andere; gleich hier der nächste.«

»Müssen wir hinauf?«

»Nein, wir müssen nicht. Aber ich dachte, du würdest es wünschen. Der Blick ist schön, und man sieht meilenweit in die Ferne.«

»Bis Berlin? Aber nein, darin irr ich, das ist nicht möglich. Berlin muss weiter sein; fünfzehn Meilen oder noch mehr. Ah, sahst du die zwei Schwalben? Es war, als haschten sie sich und spielten miteinander. Vielleicht sind es Geschwister, oder vielleicht ein Pärchen.«

»Oder beides. Die Schwalben nehmen es nicht so genau. Sie sind nicht so diffizil in diesen Dingen.«

Es lag etwas Bitteres in dem Ton. Aber diese Bitterkeit schien sich nicht gegen die Dame zu richten, denn ihr Auge blieb ruhig, und keine Röte stieg in ihr auf. Sie zog nur ein Chenille-Tuch, das sie bis zur Hüfte hatte fallen lassen, wieder in die Höhe und sagte: »Mich fröstelt, Pierre.«

»Weil du nicht Bewegung genug hast.«

»Und weil ich schlecht geschlafen habe. Komm, ich will mich niederlegen und eine halbe Stunde ruhen.«

Und bei diesen Worten erhob sie sich und ging unter leichtem Gruß, den die Zunächstsitzenden ebenso leicht erwiderten, auf das Nebenzimmer und den Korridor zu. Der Oberst folgte. Nur einer der Gäste, der, über seine Zeitung fort, von der andern Seite das Balkons her das distinguierte Paar schon seit lange beobachtet hatte, stand auf, legte die Zeitung aus der Hand und grüßte mit besonderer Devotion, was seines Eindrucks auf die schöne Frau nicht verfehlte. Wie belebt und erheitert nahm diese plötzlich ihres Begleiters Arm und sagte: »Du hast recht, Pierre. Luft wird mir besser sein als Ruhe. Mich fröstelt nur, weil ich keine Bewegung habe. Lass uns in den Park gehen. Wir wollen sehen, ob wir die Stelle finden, wo die Schwalben nisten. Ich habe mir den Baum gemerkt.«

Der junge Mann, der sich von seinem Platz erhoben und mit so besonderer Artigkeit gegrüßt hatte, rief jetzt den Kellner heran und sagte: »Kennen Sie die Herrschaften?«

»Ja, Herr von Gordon.«

»Nun?«

»Oberst a. D. von St. Arnaud und Frau. Sie kamen gestern mit dem Mittagszug und nahmen ein Diner à part. Die Dame scheint krank.«

»Und werden einige Tage bleiben?«

»Ich vermute.«

Der Kellner trat wieder zurück, und der als Herr von Gordon Angeredete wiederholte jetzt zwei-, dreimal den Namen, den er eben gehört hatte. »St. Arnaud... St. Arnaud!«

Endlich schien er es gefunden zu haben.

»Ja, jetzt entsinne ich mich. In St. Denis war Anno 70 viel von ihm die Rede. Kugel durch den Hals, zwischen Karotis und Luftröhre. Wahrer Wunderschuss. Und wunderbar auch die Heilung; in sechs Wochen wiederhergestellt. Witzleben hat mir ausführlich davon erzählt. Kein Zweifel, das ist er. Er war damals ältester Hauptmann in einem der Garderegimenter, bei Franz oder den ›Maikäfern‹, und wurde noch in Frankreich Major. Ich muss ihn im ›Cerf‹ gesehen haben. Aber warum außer Dienst?«

Der dies Selbstgespräch Führende nahm, als er sich, mit Hilfe seines Gedächtnisses, auf diese Weise leidlich orientiert hatte, die Zeitung wieder zur Hand und überflog den Leitartikel, der die letzten Fortschritte der Russen in Turkmenien behandelte, zugleich aber, unter allerhand Namensverwechselungen, auch über Indien und Persien orakelte. »Der Herr Verfasser weiß da so gut Bescheid wie ich auf dem Mond.« Und das Blatt verdrießlich wieder beiseite schiebend, sah er lieber auf das Gebirge hin, das er, seit länger als einer Woche, an jedem neuen Morgen mit immer neuer Freude betrachtete. Zuletzt ruhte sein Blick auf dem Vordergrund und verfolgte hier die Kieswege, die sich, in abwechselnd breiten und schmalen Schlängellinien, durch die Parkwiese hinzogen. Eins der Bosquets, das dem Sonnenbrand am meisten ausgesetzt war, zeigte viel Gelb, und er sah eben scharf hin, um sich zu vergewissern, ob es gelbe Blüten oder nur von der Sonne verbrannte Blätter seien, als er aus eben diesem Bosquet die Gestalten des St. Arnaudschen Paares hervortreten sah. Sie bogen in den Weg ein, der, jenseits der Parkwiese, parallel mit dem Hotel lief, so dass man, vom Balkon her, beide genau beobachten konnte. Die schöne Frau schien sich unter dem Einfluss der Luft rasch gekräftigt zu haben und ging aufrecht und elastisch, trotzdem sich unschwer erkennen ließ, dass ihr das Gehen immer noch Müh und Anstrengung verursachte.

»Das ist Baden-Baden«, sagte der vom Balkon aus sie Beobachtende. »Baden-Baden oder Brighton oder Biarritz, aber nicht Harz und ›Hotel Zehnpfund‹.« Und so vor sich hin sprechend, folgte sein Auge dem sich bald nähernden, bald entfernenden Paare mit immer gesteigertem Interesse, während er zugleich in seinen Erinnerungen weiterforschte. »St. Arnaud. Anno 70 war er noch unverheiratet, sie wäre damals auch kaum achtzehn gewesen.« Und unter solchem Rechnen und Erwägen erging er sich in immer neuen Mutmaßungen darüber, welche Bewandtnis es mit dieser etwas sonderbaren und überraschenden Ehe haben möge. »Dahinter steckt ein Roman. Er ist über zwanzig Jahre älter als sie. Nun, das ginge schließlich, das bedeutet unter Umständen nicht viel. Aber den Abschied genommen, ein so brillanter und bewährter Offizier! Man sieht ihm noch jetzt den Schneid an; Garde-Oberst comme il faut, jeder Zoll. Und doch außer Dienst. Sollte vielleicht... Aber nein, sie kokettiert nicht, und auch sein Benehmen gegen sie hält das richtige Maß. Er ist artig und verbindlich, aber nicht zu gesucht artig, als ob was zu kaschieren sei. Nun, ich will es schon erfahren. Übrigens wirkt sie katholisch, und wenn sie nicht aus Brüssel ist, ist sie wenigstens aus Aachen. Nein, auch das nicht. Jetzt hab ich es: Polin oder wenigstens polnisches Halbblut. Und in einem festen Kloster erzogen, ›Sacré coeur‹ oder ›Zum guten Hirten‹.«

Drittes Kapitel

Herr von Gordon war auf bestem Wege, seine Mutmaßungen noch weiter auszuspinnen, als er sich durch ein von rückwärts her laut werdendes, sehr ungeniertes Lachen unterbrochen und zwei neue Besucher auf den Balkon heraustreten sah, stattliche Herren von etwa dreißig, über deren spezielle Heimat, sowohl ihrem Auftreten wie besonders ihrer Sprechweise nach, kein Zweifel sein konnte. Sie trugen graubraune Sommeranzüge, deren Farbe sich nach oben hin bis in die kleinen Filzhüte fortsetzte, dazu Plaids und Reisetaschen. Alles passte vorzüglich zusammen, mit Ausnahme zweier Ausrüstungsgegenstände, von denen der eine, mit Rücksicht auf eine Harzreise, des Guten zu wenig, der andere aber entschieden zu viel tat. Diese zwei nicht passenden Dinge waren: ein eleganter Promenadenstock mit Elfenbeingriff und andererseits ein hypersolides Schuhzeug, das sich mit seinen Schnürösen und dicken Sohlen ausnahm, als ob es sich um eine Besteigung des Matterhorn, nicht aber der Rosstrappe gehandelt hätte.

»Wo kampieren wir?« fragte der ältere, von der Türschwelle her Umschau haltend. Im selben Augenblick aber des geschützt stehenden Tisches mit dem großen Fliederstrauß ansichtig werdend, an dem die St. Arnauds eben noch gesessen hatten, schritt er rasch auf diese bevorzugte, weil windgeschützte, Stelle zu und sagte: »Wo das blüht, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keinen Flieder.« Und im selben Augenblicke sowohl Reisetasche wie Plaid über die Stuhllehne hängend, rief er mit charakteristischer Betonung der letzten Silbe: »Kellner!«

»Befehlen?«

»Zuerst einen Mokka samt Zubehör, oder sagen wir kurz: ein Schweizer Frühstück. Jedem Mann ein Ei, dem tapferen Schweppermann aber zwei.«

Der Kellner lächelte schalkhaft vor sich hin und suchte, zu sichtlicher Freude der beiden neuen Ankömmlinge, durch eine humoristische Handbewegung auszudrücken, dass er nicht recht wisse, wer der zu Bevorzugende sein werde.

»Berliner?«

»Zu dienen.«

»Nun denn, Freund und Landsmann, Sie werden uns nicht verraten, wenn Sie hören, dass wir eigentlich beide Schweppermänner sind. Macht vier Eier. Und nun flink. Aber erst hier das alte Schlachtfeld abräumen. Und wie steht es mit Honig?«

»Sehr gut.«

»Nun denn auch Honig. Aber Wabenhonig. Alles frisch vom Fass. Echt, echt!«

Unter diesem Gespräche hatte der Kellner den Tisch klargemacht und ging nun, um das Frühstück herbeizuschaffen. Es folgte eine Pause, die das Berliner Paar, weil ihm nichts anderes übrigblieb, mit Naturbetrachtungen ausfüllte.

»Das also ist der Harz oder das Harzgebirge«, nahm der ältere zum zweiten Mal das Wort, derselbe, der das kurze Gespräch mit dem Kellner gehabt hatte. »Merkwürdig ähnlich. Ein bisschen wie Tivoli, wenn die Kuhnheim'sche Fabrik in Gang ist. Sieh nur, Hugo, wie das Ozon da drüben am Gebirge hinstreicht. In den Zeitungen heißt es in einer allwöchentlich wiederkehrenden Annonce: ›Thale, klimatischer Kurort‹. Und nun diese Schornsteine! Na, meinetwegen; Rauch konserviert, und wenn wir hier vierzehn Tage lang im Schmok hängen, so kommen wir als Dauerschinken wieder heraus. Ach, Berlin! Wenn ich nur wenigstens die Rosstrappe sehen könnte!«

»Du hast sie ja vor dir«, sagte der andere, während eben auf einem großen Tablett das Frühstück gebracht wurde. »Nicht wahr, Kellner, das rötliche Haus da oben, das ist die Rosstrappe?«

»Nicht ganz, mein Herr. Die Rosstrappe liegt etwas weiter zurück. Das Haus, das Sie sehen, ist das ›Hotel zur Rosstrappe‹.«

»Na, das ist die Rosstrappe. Das Hotel entscheidet. Übrigens, Pilsener oder Kulmbacher?«

»Beides, meine Herren. Aber wir brauen auch selbst.«

»Wohl am Ende da drüben, wo der Rauch zieht?«

»Nein, hier mehr links. Die Schornsteine nach rechts hin sind die Blechhütte.«

»Was?«

»Die Blechhütte. Blech mit Emaille.«

»Wundervoll! Mit Emaille! Fehlt bloß noch das Zifferblatt. Und darf man das alles sehn?«

»Oh gewiss, gewiss. Wenn die Herren nur ihre Karten abgeben wollen...«

Und damit brach das Gespräch ab, und die beiden Touristen par excellence machten sich an ihr Frühstück mit Ei und Wabenhonig.

Eine halbe Stunde später erhoben sie sich und verließen den Balkon, wobei der Jüngere den Stock mit der Elfenbeinkrücke quer vor den Mund nahm, zugleich den Ton einer zum Marsch blasenden Pickelflöte nachahmend. Alles, was noch auf dem Balkon verblieben war, sah ihnen neugierig nach, auch Gordon, der ihren Weitermarsch bis ins Bodetal hinein verfolgt haben würde, wenn nicht der eben mit neuen Ankömmlingen eingetroffene Frühzug sein Interesse nach der entgegengesetzten Seite hin abgezogen hätte. Sängervereine rückten vom Bahnhof heran und marschierten auf Treseburg zu, wo sie den Tag zu verbringen und ihre Sängerwettkämpfe zu führen gedachten. Im Vorüberziehen an dem Hotel schwenkten sie die Hüte, zahllose Hochs ausbringend, von denen niemand recht wusste, wem sie galten. An ihre letzte Sektion aber schlossen sich alle diejenigen an, die der Zug außerdem noch gebracht hatte, lauter Durchschnittsfiguren, unter denen nur die direkt Abschließenden einiger Aufmerksamkeit wert waren.

Es waren ihrer zwei, beide lebhaft plaudernd, aber doch nur wie Personen, die sich eben erst kennengelernt haben. Der zur Linken Gehende, schwarz gekleidet in Stehkragenrock, dabei von freundlichen Zügen, war ein alter Emeritus, den Gordon schon von verschiedenen Ausflügen und namentlich von der Table d'hôte her kannte, während der andere durch eine große Hässlichkeit und beinah mehr noch durch die Sonderbarkeit seiner Kleidung auffiel. Er trug nämlich ziemlich defekte Gamaschen und eine Manchesterweste, deren Schöße länger waren als seine Joppe, dazu Strippenhaar, Klapphut und Hornbrille. Worauf deutete das alles hin? Seinem unteren Menschen nach hätte man ihn ohne weiteres für einen Trapper, seinem oberen nach ebenso zweifellos für einen Rabulisten und Winkeladvokaten halten müssen, wenn nicht sein letztes und vorzüglichstes Ausrüstungsstück: eine Botanisiertrommel, gewesen wäre, ja sogar eine Botanisiertrommel am gestickten Bande. Diese beständig hin und her schiebend, schritt er an der Seite des geistlichen Herrn, der übrigens bereits Miene zum Abschwenken machte, mit großen Schritten und unter beständigem Gestikulieren auf die Parkwiese zu.

»Botaniker«, sagte Gordon zu dem Wirte von »Hotel Zehnpfund«, der sich ihm mittlerweile gesellt hatte. »Sieht er nicht aus wie Knecht Ruprecht, der den Frühling in seinen Sack stecken will?«

Der joviale Hotelier jedoch, der, wie die meisten seines Standes, ein Menschenkenner war, wollte von der Gordon'schen Diagnose nichts wissen und sagte: »Nein, Herr von Gordon, die grüne Trommel, die kenn ich: in neun Fällen von zehn ist sie Vorratskammer, am gestickten Bande aber ist sie's immer. Nichts von Botanik. Ich halte den Herrn für einen Urnenbuddler.«

»Archäologe?«

»So drum herum.«

Und als beide so sprachen, verschwand der Gegenstand ihrer Unterhaltung jenseits der Parkwiese, nachdem er sich schon vorher von dem im Hotel wohnenden Emeritus verabschiedet hatte.

Viertes Kapitel

Zehn Minuten vor eins läutete die Tischglocke durch alle Korridore hin, und wiewohl die Haute-Saison noch nicht begonnen hatte, versammelte sich doch eine stattliche Zahl von Gästen im großen Speisesaal. Auch die beiden Berliner in Graubraun fehlten nicht und hatten sofort am unteren Ende der Tafel eine Korona teils bewundernder, teils lächelnder Zuhörer um sich her, zu welchen letzteren auch der alte Herr im geistlichen Rock und der Langhaarige mit der Hornbrille zählte. Das im Gegensatze zu dem unterwegs von Cécile geäußerten Wunsche heut ebenfalls erschienene St. Arnaudsche Paar war vom Oberkellner gebeten worden, die Mittelplätze der Tafel einzunehmen, gegenüber von Herrn von Gordon, der im selben Augenblicke, wo die Herrschaften Platz genommen hatten, auch schon die mit allerhand rotem Blattwerk zwischen ihm und Cécile stehende Vase zu verwünschen begann. Selbstverständlich ließ er sich durch dies Hindernis nicht abhalten, sich vorzustellen, worauf der Oberst, vielleicht weil er einen adeligen Namen gehört hatte, mit bemerkenswerter Artigkeit erwiderte: »von St. Arnaud - meine Frau.« Es schien aber bei diesem Namensaustausch bleiben zu sollen, denn Minuten vergingen, ohne dass ein weiterer Annäherungsversuch von hüben oder drüben gemacht worden wäre. Gordon, trotzdem ihm die Tage preußischer Disziplin um mehrere Jahre zurücklagen, glaubte doch, mit Rücksicht auf den Rang des Obersten, diesem das erste Wort überlassen zu müssen. Auch Cécile schwieg und richtete nur dann und wann ein Wort an ihren Gemahl, während sie mechanisch an einem Türkisringe drehte.

Seit dem Ragoût fin en coquille, von dem sie zwei Bröckchen gekostet und zwei andere auf der Gabelspitze gelassen hatte, hatte sie bei jedem neu präsentierten Gange gedankt und lehnte sich jetzt mit verschränkten Armen in den Stuhl zurück, nur dann und wann nach der Saaluhr blickend, auf deren Zifferblatt der Zeiger langsam vorrückte. Gordon, auf bloße Beobachtung angewiesen, begann allmählich die Vase zu segnen, die, so hinderlich sie war, ihm wenigstens gestattete, seine Studien einigermaßen unauffällig, wenn auch freilich nicht unbemerkt, fortsetzen zu können. Er gestand sich, selten eine schönere Frau gesehen zu haben, kaum in England, kaum in den »States«. Ihr Profil war von seltener Reinheit, und das Fehlen jeder Spur von Farbe gab ihrem Kopf, darin Apathie der vorherrschende Zug war, etwas Marmornes. Aber dieser Ausdruck von Apathie war nicht Folge besonderer Niedergeschlagenheit, noch weniger von schlechter Laune, denn ihre Züge, wie Gordon nicht entging, begannen sich sofort zu beleben, als plötzlich von der unteren Tafel her dem Kellner in gutem Berlinisch zugerufen wurde: »Kalt stellen also. Aber nicht zu lange. Denn der Knall bleibt immer die Hauptsache« - bei welcher These der, der sie aufstellte, mit seinem Zeigefinger rasch und geschickt unter den Mundwinkel und mit solcher Energie wieder herausfuhr, dass es einen lauten Puff gab.

Alles lachte. Selbst der Oberst schien froh, aus der Tafel-Langweile heraus zu sein, und sagte jetzt, während er sich über den Tisch hin vorbeugte: »Nicht wahr, Herr von Gordon, Sie sind ein Sohn des Generals?«

»Nein, mein Herr Oberst, auch kaum verwandt, denn ich bin eigentlich ein Leslie. Der Name Gordon ist erst durch Adoption in unsere Familie gekommen.«

»Und stehen in welchem Regiment?«

»In keinem, Herr Oberst. Ich habe den Dienst quittiert.«

»Ah«, sagte der Oberst, und eine Pause folgte, die zum zweiten Mal verhängnisvoll werden zu wollen schien. Aber die Gefahr ging glücklich vorüber, und St. Arnaud, der sonst wenig sprach, fuhr mit einem für seinen Charakter überraschend artigen Entgegenkommen fort: »Und Sie sind schon längere Zeit hier, Herr von Gordon? Und vielleicht zur Kur?«

»Seit einer Woche, mein Herr Oberst. Aber nicht eigentlich zur Kur. Ich will ausruhen und eine gute Luft atmen und nebenher auch Plätze wiedersehen, die mir aus meiner Kindheit her teuer sind. Ich war, eh ich in die Armee trat, oft im Harz und darf sagen, dass ich ihn kenne.«

»Da bitt ich, dass wir uns vorkommendenfalls an Ihren guten Rat und Ihre Hilfe wenden dürfen. Wir gedenken nämlich, sobald es das Befinden meiner Frau zulässt, immer höher in die Berge hinaufzugehen und etwa mit Andreasberg abzuschließen. Es soll dort die beste Luft für Nervenkranke sein.«

In diesem Augenblicke präsentierte der Kellner ein Panaché, von dessen Vanilleseite Frau von St. Arnaud nahm und kostete. »Lieber Pierre«, sagte sie dann mit sich rasch belebender Stimme, »du bittest Herrn von Gordon um seinen Beistand und verscheuchst ihn im selben Augenblick aus unserer Nähe. Denn was ist lästiger als Rücksichten auf eine kranke Frau nehmen? Aber erschrecken Sie nicht, Herr von Gordon, wir werden Ihre Güte nicht missbrauchen, wenigstens nicht ich. Sie sind zweifellos ein Bergsteiger, also enragiert für große Partien, während ich vorhabe, mir, noch auf Wochen hin, an unserem Balkon und der Parkwiese genügen zu lassen.«

Das Gespräch setzte sich fort und ward erst unterbrochen, als der an der unteren Tafel inzwischen erschienene Champagner mit allem Zeremoniell geöffnet wurde. Der Pfropfen flog in die Höhe, und während der jüngere die Gläser füllte, musterte der ältere die Marke, selbstverständlich nur, um Gelegenheit zum Vortrage einiger Champagner-Anekdoten zu finden, die sämtlich, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, auf »Wirt und Hotel-Entlarvung auf dem Pfropfenwege« hinausliefen - alles übrigens in bester Laune, die sich nicht bloß seiner nächsten Umgebung, sondern so ziemlich der ganzen Tafel mitteilte.

Zehn Minuten danach erhob man sich und verließ in Gruppen den Eßsaal. Auch die Berliner gingen den Korridor hinunter, machten aber an einem Fenstertischchen halt, auf dem das Fremdenbuch aufgeschlagen lag, und begannen darin zu blättern.

»Ah, hier. Das is er: Gordon-Leslie, Zivilingenieur.«

»Gordon-Leslie!« wiederholte der andere. »Das ist ja der reine ›Wallensteins Tod‹!«

»Wahrhaftig, fehlt bloß noch Oberst Buttler.«

»Na, höre, der alte...«

»Meinst du?«

»Freilich, mein ich. Sieh dir 'n mal an. Wenn der erst anfängt... «

»Höre, das wär famos; da könnt man am Ende noch was erleben.«

Und damit gingen sie weiter und auf ihr Zimmer zu, »um sich hier«, wie sich der ältere ausdrückte, »inwendig ein bisschen zu besehen.«

Fünftes Kapitel

Gleich nach Aufhebung der Tafel war zwischen den St. Arnauds und ihrem neuen Bekannten und Tisch-vis-à-vis ein Nachmittagsspaziergang auf die Rosstrappe hinauf verabredet worden, und um vier Uhr traf man sich unter der großen Parkplatane, wo Gordon dann sofort auch, aber doch erst, nachdem er seine Dispositionen gehorsamst unterbreitet hatte, die Führung übernahm. Die gnädige Frau, so waren seine Worte gewesen, möge nicht erschrecken, wenn er, statt des sehr steilen nächsten Weges, einen Umweg vorschlage, der sich nicht bloß durch das, was er habe (darunter die schönsten Durchblicke), sondern viel, viel mehr noch durch das, was er nicht habe, höchst vorteilhaft auszeichne. Die sonst üblichen Begleitstücke harzischer Promenadenwege: Hütten, Kinder und aufgehängte Wäsche, kämen nämlich in Wegfall.

Cécile gab in guter Laune die Versicherung, lange genug verheiratet zu sein, um auch in kleinen Dingen Gehorsam und Unterordnung zu kennen; am wenigsten aber werde sie sich gegen Herrn von Gordon auflehnen, der den Eindruck mache, wie zum Führer und Pfadfinder geboren zu sein.

»Bedanken Sie sich«, lachte der Oberst. »Reminiszenz aus ›Lederstrumpf‹.«

Gordon war nicht angenehm von einem Scherze berührt, dessen Spott sich ebenso gegen ihn wie gegen Cécile richten konnte, verwand den Eindruck aber schnell und nahm das Shawltuch, das die schöne Frau bis dahin über dem Arm getragen hatte. Dann wies er auf einen einigermaßen schattigen, am Parkende gelegenen Steinweg hin und führte, diesen einschlagend, das St. Arnaudsche Paar, an Buden und Sommerhäusern vorüber, auf das benachbarte Hubertusbad zu, von dem aus er den Aufstieg auf die Rosstrappe bewerkstelligen wollte. Von beiden Seiten trat das Laubholz dicht heran, aber auch freiere Plätze kamen, auf deren einem eine von einem vergoldeten Drahtgitter eingefasste, mit wildem Wein und Efeu dicht überwachsene Villa lag. Nichts regte sich in dem Haus, nur die Gardinen bauschten überall, wo die Fenster aufstanden, im Zugwind hin und her, und man hätte den Eindruck einer absolut unbewohnten Stätte gehabt, wenn nicht ein prächtiger Pfau gewesen wäre, der, von seiner hohen Stange herab, über den meist mit Rittersporn und Brennender Liebe bepflanzten Vorgarten hin, in übermütigem und herausforderndem Tone kreischte.

Cécile blieb betroffen stehen und wandte sich dann zu Gordon, der den ganzen Umweg vielleicht nur um dieser Stelle willen gemacht hatte.

»Wie zauberhaft«, sagte sie. »Das ist ja das ›verwunschene Schloss‹ im Märchen. Und so still und lauschig. Wirkt es nicht, als wohne der Friede darin oder, was dasselbe sagt: das Glück.«

»Und doch haben beide keine Stätte hier gefunden, und ich gehe täglich an diesem Haus vorüber und hole mir eine Predigt.«

»Und welche?«

»Die, dass man darauf verzichten soll, ein Idyll oder gar ein Glück von außen her aufbauen zu wollen. Der, der dies schuf, hatte dergleichen im Sinn. Aber er ist über die bloße Kulisse nicht hinausgekommen, und was dahinter für ihn lauerte, war weder Friede noch Glück. Es geht ein finsterer Geist durch dieses Haus, und sein letzter Bewohner erschoss sich hier, an dem Fenster da (das vorletzte links), und wenn ich so hinseh‘, ist mir immer, als säh‘ er noch heraus und suche nach dem Glücke, das er nicht finden konnte. Plätze, daran Blut klebt, erfüllen mich mit Grauen.«

Es war, als ob Gordon auf ein Wort der Zustimmung gewartet hätte. Dies Wort blieb aber aus, und Cécile zählte nur die Maschen des vor ihr ausgespannten Drahtgitters, während der Oberst sein Lorgnon nahm und die Fenster mit einer Art ruhiger Neugier musterte.

Dann, ohne dass weiter ein Wort gesprochen worden wäre, schritt man dem Schlängelwege zu, der auf die Rosstrappe hinaufführte.

Sechstes Kapitel

Die Bahnhofsuhr unten in Thale schlug eben fünf, als das St. Arnaudsche Paar und Gordon bis auf wenige Schritt an den Felsenvorsprung mit dem ›Hotel zur Rosstrappe‹ heran waren und im selben Augenblicke wahrnahmen, dass viele der Gäste, mit denen sie die Table d'hôte geteilt hatten, ebenfalls hier oben erschienen waren, um an diesem bevorzugten Aussichtspunkte ihren Kaffee zu nehmen. Einige, darunter auch die beiden Herren in Graubraun (und an einem Nachbartische der Emeritus und der Langhaarige), saßen, paar- und gruppenweis, unter einem von Pfeifenkraut überwachsenen Zeltschuppen und sahen in die reiche Landschaft hinein, aus der, in nächster Nähe, die pittoresken Gebilde der Teufelsmauer und weiter zurück die Quedlinburger und Halberstädter Turmspitzen anfragten. Alles, was unter dem Zeltschuppen und zum Teil auch in Front desselben saß, war heiter und guter Dinge, voran die beiden Berliner, deren Diner-Stimmung sich, unter dem Einfluss einiger Kaffee-Cognacs, eher gesteigert als gemindert hatte.

»Da sind sie wieder«, sagte der ältere, während er auf das St. Arnaudsche Paar und den unmittelbar folgenden Gordon zeigte: »Sieh nur, schon den Shawl überm Arm. Der fackelt nicht lange. Was du tun willst, tue bald. Ich wundre mich nur, dass der Alte...«