Celesta: Staub und Schatten (Band 2) - Diana Dettmann - E-Book
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Celesta: Staub und Schatten (Band 2) E-Book

Diana Dettmann

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Beschreibung

**Nichts ist so, wie es scheint…** Emma hat endlich herausgefunden, was ihr wahres Wesen ist, kommt aber weder mit ihren Fähigkeiten noch mit ihrer neuen Umgebung zurecht. Ihr rebellisches Herz hat sich längst schon einen anderen Weg gesucht als den ihrer Art vorgezeichneten und seine Bestimmung ausgerechnet in dem Cinder Quinn gefunden – für einen Celesta eine Todsünde, die es mit dem eigenen Leben zu bezahlen gilt. Zusammen mit Quinn gelingt ihr eine spektakuläre Flucht vor der Rache ihres Clans, doch auch der neue Zufluchtsort im Kreise von Quinns Familie verspricht ihr keine Sicherheit. Denn Quinn ist der rechtmäßige Anwärter auf den Posten des Clanführers und schnell wird klar, dass er von seinem Clan nicht als Anführer akzeptiert werden wird, wenn Emma an seiner Seite bleibt. Und plötzlich hängt Emmas weiteres Leben von seiner Entscheidung ab… //Dies ist ein Roman aus dem Carlsen-Imprint Dark Diamonds. Jeder Roman ein Juwel.// //Alle Bände der düsteren Fantasy-Serie:   -- Celesta: Asche und Staub (Band 1)  -- Celesta: Staub und Schatten (Band 2) -- Celesta: Schatten und Glut (Band 3) -- Celesta: Glut und Asche (Band 4)//

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Dark Diamonds

Jeder Roman ein Juwel.

Das digitale Imprint »Dark Diamonds« ist ein E-Book-Label des Carlsen Verlags und publiziert New Adult Fantasy.

Wer nach einer hochwertig geschliffenen Geschichte voller dunkler Romantik sucht, ist bei uns genau richtig. Im Mittelpunkt unserer Romane stehen starke weibliche Heldinnen, die ihre Teenagerjahre bereits hinter sich gelassen haben, aber noch nicht ganz in ihrer Zukunft angekommen sind. Mit viel Gefühl, einer Prise Gefahr und einem Hauch von Sinnlichkeit entführen sie uns in die grenzenlosen Weiten fantastischer Welten – genau dorthin, wo man die Realität vollkommen vergisst und sich selbst wiederfindet.

Das Dark-Diamonds-Programm wurde vom Lektorat des erfolgreichen Carlsen-Labels Impress handverlesen und enthält nur wahre Juwelen der romantischen Fantasyliteratur für junge Erwachsene.

Diana Dettmann

Celesta: Staub und Schatten (Band 2)

**Nichts ist so, wie es scheint …** Emma hat endlich herausgefunden, was ihr wahres Wesen ist, kommt aber weder mit ihren Fähigkeiten noch mit ihrer neuen Umgebung zurecht. Ihr rebellisches Herz hat sich längst schon einen anderen Weg gesucht als den ihrer Art vorgezeichneten und seine Bestimmung ausgerechnet in dem Cinder Quinn gefunden – für einen Celesta eine Todsünde, die es mit dem eigenen Leben zu bezahlen gilt. Zusammen mit Quinn gelingt ihr eine spektakuläre Flucht vor der Rache ihres Clans, doch auch der neue Zufluchtsort im Kreise von Quinns Familie verspricht ihr keine Sicherheit. Denn Quinn ist der rechtmäßige Anwärter auf den Posten des Clanführers und schnell wird klar, dass er von seinem Clan nicht als Anführer akzeptiert werden wird, wenn Emma an seiner Seite bleibt. Und plötzlich hängt Emmas weiteres Leben von seiner Entscheidung ab …

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Vita

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© privat

Diana Dettmann ist geboren und aufgewachsen im häufig recht nasskalten Norden von Deutschland. Und weil die Welten und Abenteuer in den Büchern meistens viel interessanter waren als der Blick aus dem Fenster, verbrachte sie oft Stunden damit, sich in eben diesen Welten zu tummeln, mit tapferen Helden Schlachten auszufechten oder mit edlen Ladys in mittelalterlichen Settings durch wildromantische Wälder zu fliehen. Seit 2012 veröffentlicht sie selbst Fantasyromane für Jugendliche und jung gebliebene Erwachsene, die den Spaß an romantisch-abenteuerlichen Geschichten nicht verloren haben.

Prolog

Es fällt mir schwer, die Augen offen zu halten. Doch noch schwerer ist es, einzuschlafen. Ich zittere erbärmlich und die Kälte, die mich umgibt, ist ein solch essenzieller Bestandteil meiner selbst geworden, dass ich den Glauben daran verloren habe, sie jemals wieder abschütteln zu können. Sie ist in jeden Knochen vorgedrungen, in jede Zelle und jeden Gedanken.

Ich stehe auf, wandere umher und hauche warme Luft in meine Handflächen. Meine Finger schmerzen. Meine Füße und Beine ebenso. Aber wahrscheinlich bin ich mit einer Aufzählung der Körperteile, die nicht wehtun, schneller fertig.

Sie haben mich geschlagen, getreten und auf tausend andere Arten verletzt. Und sobald sie mit mir fertig sind, lande ich immer hier. In einer Zelle ohne Tageslicht. Der Boden besteht aus kaltem, rohen Beton, die Wände aus starren, unnachgiebigen Gitterstäben. Ein Käfig. Wie für ein Tier. Ein Baustrahler, der meine karge Einrichtung fast spöttisch beleuchtet, spendet täglich für ein paar Stunden das einzige Licht und die einzige Wärme, die mir vergönnt sind. Ich nenne eine schmutzige Matratze mein Eigen, außerdem eine Decke, die so furchtbar stinkt, dass ich die Kälte dem Gestank an manchen Tagen vorziehe. Und dann ist da noch der Eimer für meine Notdurft. Mehr nicht.

Ein Frösteln schüttelt mich und ich gebe den Versuch auf, mir etwas Wärme verschaffen zu wollen. Resigniert lasse ich mich auf die Matratze sinken, ziehe die erbärmlich müffelnde Decke um meine Schultern und ignoriere den Geruch, der mir augenblicklich in die Nase kriecht. Heute ist ein kalter Tag. Heute gewinnt die Decke. Ich kauere mich zusammen, ziehe die Beine an und versuche mich an mein verblasstes, kaum noch real erscheinendes Leben im Sonnenschein zu erinnern. Ich stelle mir ein heißes Bad vor, warme Brühe mit Klößchen, Kakao mit viel Sahne. Und während ich an all diese wunderbaren Dinge denke, starre ich auf den grauen Boden und die Nebelschwaden, die mein Atem im Licht des Baustrahlers bildet.

Meine Glieder werden schwer und die Müdigkeit gewinnt endlich die Oberhand. Es ist erstaunlich, was ein Körper imstande ist auszublenden, wenn der entsprechende Grat an Erschöpfung erreicht ist. Schmerzen sind unwichtig, Kälte ebenso. Sogar die Angst um das eigene Leben rückt in den Hintergrund.

Als ich fast weggedöst bin, hallt ein kurzes Surren durch den Raum und die Härchen in meinem Nacken stellen sich augenblicklich auf. Ich muss die Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass der Baustrahler soeben ausgegangen ist. Und das in Verbindung mit diesem Surren hat immer nur einen einzigen Grund.

Das Klicken eines schweren Schlosses und das Schnarren einer sich öffnenden Tür dringen wie Paukenschläge in mein Hirn. Ich bin schlagartig wach und auf den Beinen und presse mich gegen die Gitterstäbe, auch wenn ich weiß, dass eine Flucht unmöglich und Gegenwehr eher kontraproduktiv ist. Er hat Spaß daran, wenn ich mich wehre. Meine Kehle wird eng und ich zittere. Ich zittere bis ins Mark, als ich ihre Schritte auf dem kahlen, harten Boden höre.

Sie kommen, denke ich panisch. Und immer wenn sie kommen, wird es wehtun.

Eins

Der Flug in der klapprigen, uralten Kiste von Flieger verläuft noch unangenehmer, als ich ihn mir vorgestellt habe. Niemand sagt mir, wohin die Reise geht, oder weiht mich in den Plan ein, sofern es denn überhaupt einen gibt. Im Moment weiß ich nur, dass jede Minute in dieser Klapperkiste etwas mehr Abstand zwischen mich und Liam bringt. Etwas mehr Abstand zwischen mich und mein sicheres Ende. Doch das bedeutet eben auch, dass ich Thiernan wahrscheinlich nie wiedersehen werde. Eine Vorstellung, die mich traurig stimmt, auch wenn ich weiß, dass eine Flucht die einzige Möglichkeit war, dieser Hölle und Clay lebend zu entkommen.

Mehrere grimmige Blicke richten sich immer wieder auf mich, die Männer an Bord tuscheln leise und jede noch so kleine Bewegung meinerseits hat sofort ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit zur Folge, sodass ich beschließe, so unsichtbar wie möglich zu sein. Dieses Vorhaben scheitert allerdings bereits nach kurzer Zeit, denn der Reisekomfort in diesem Ding ist nicht für stundenlange Flüge ausgelegt. Schon gar nicht, wenn man diese Zeit auf dem Boden und mit gefesselten Händen und Füßen überbrücken muss. Mir ist kalt, mein Hintern ist eingeschlafen und meine Hände und Füße sind taub. Dennoch zwinge ich mich dazu, den Mund zu halten. Ein eingeschlafener Hintern ist besser, als aus dem Flieger geschmissen zu werden. Sean, der Cinder mit den langen, dunklen Haaren, der mir vorhin den Schuss ins Bein verpasst und mich gefesselt hat, sitzt neben mir und starrt gedankenverloren an die fleckige, metallische Wand des Flugzeugs. Ich folge seinem Blick, entdecke jedoch nichts, das auch nur ansatzweise seine Versunkenheit erklären würde, und die Taubheit meiner Finger strahlt mittlerweile bis zu den Ellenbogen aus.

»Könntest du die Fesseln ein wenig lockern?«, frage ich nun doch, die Stimme leicht erhoben, um gegen den dröhnenden Motor der Maschine anzukommen. Er blinzelt einmal träge und wendet sich mir zu, atmet tief ein und macht Anstalten aufzustehen. Als ihm Fox’ Stimme recht unfreundlich dazwischengrätscht. »Die Fesseln bleiben, wo sie sind!«

Ich presse die Lippen aufeinander und schlucke einige aufmüpfige Kommentaren herunter, die mir jedoch unangenehm im Halse stecken bleiben. Auch wenn diese merkwürdige Frau, die offenbar irgendeine Verbindung zu Quinn hat, an unserer Rettung beteiligt war, mag ich sie nicht. Und dass das auf Gegenseitigkeit beruht, hat sie von Anfang an klargemacht.

»Komm schon, es dauert noch Stunden, bis wir ankommen. Was bringt sie uns, wenn ihre Hände dann abgestorben sind?«, knurrt Sean und hält ihrem bohrenden Blick stand.

»Was bringt sie uns überhaupt?«, giftet Fox und zwischen den beiden sprühen geradezu die Funken. Die Spannung, die in der Luft liegt, ist beinahe greifbar. Und obwohl Fox’ Miene weiterhin eisern ist, steht Sean auf und löst meine Fesseln. Zumindest die um meine Handgelenke. Er schiebt sich neben mich und sein Gesicht ist meinem bedrohlich nah. Betont langsam zieht er eine für meine Verhältnisse riesige Waffe aus einer Halterung seitlich an seinem Bein. Er hält sie locker in der Hand, während er die Arme überkreuzt auf seinem Knie ablegt. »Solltest du auch nur im Ansatz wagen, irgendeinen Blödsinn zu veranstalten, erschieße ich dich. Verstanden?«

Mein Mund ist trocken und mein Nacken prickelt, als ich gehorsam nicke. Sean schaut mich noch eine Weile aufmerksam an, bevor er sich wieder in seine ursprüngliche, entspannte Position zurückfallen lässt. Sein Blick heftet sich nun an Fox, die das Geschehen und seine eindeutige Auflehnung wortlos beobachtet hat. In seinen Augen blitzt eine gehörige Portion Wut und ich schätze, ein Teil von ihm wünscht sich, sie würde etwas sagen. Doch außer, dass ihr Mund schmal wird und ihre Kiefermuskulatur unnatürlich angespannt wirkt, passiert nichts. Kein Wort kommt über ihre Lippen. Schließlich wendet sie den Blick von ihm ab, steht auf und verschwindet nach vorn in Richtung Cockpit. Das Raunen der übrigen Männer erreicht mich trotz des Motorenlärms und ich bekomme eine Ahnung hinsichtlich ihres Stands in dieser kleinen Gruppe. Sie hat definitiv etwas zu sagen und gemessen an der Spannung, die man vor wenigen Sekunden mit einem Messer hätte zerteilen können, ist mit ihr nicht gut Kirschen essen, wenn ihre Befehle nicht befolgt werden.

»Danke«, murmle ich daher an Sean gewandt und massiere dabei meine Handgelenke, bis das Gefühl in meine Finger zurückkehrt. Sein Blick allerdings bleibt weiterhin stur auf den schmalen Durchgang gerichtet, in dem Fox eben verschwunden ist. Doch er nickt.

»Darf ich reden?« Meine Frage klingt selbst für mich seltsam, aber alles an dieser Situation ist seltsam und bevor er mir die Fesseln wieder anlegt oder mir noch eine Kugel ins Bein jagen, stelle ich sie lieber.

Erwartungsgemäß rollt mein Gegenüber genervt mit den Augen. »Kommt drauf an, was du sagst.«

»Wohin fliegen wir?«

»An einen sicheren Ort.« Okay, nähere Infos bekomme ich wohl nicht.

»Wieso wart ihr da? Auf dem Dach, meine ich? Wie konntet ihr wissen, dass …« Ich stocke. Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, was dort passiert ist und ungebetene Bilder flackern vor meinem inneren Auge auf, rauben mir die Worte und die Luft zum Atmen. Bekka, reglos auf dem Dach. Und Ezra. All das Blut. Überall war Blut.

»Dass sie euch umbringen wollten?«, beendet er meine Frage emotionslos und ich nicke. Sean richtet sich ein wenig auf und zuckt mit den Schultern. »Wir haben die Schule seit einer Weile beobachtet. Unser Plan sah ohnehin vor, Quinn da rauszuholen. Eigentlich schon viel früher.«

»Was hat euch davon abgehalten?«

»Quinn.« Nun schaut er mich an und sein Mund verzieht sich zu einem schiefen Lächeln. »Er wollte nicht gehen, solange er dich hätte zurücklassen müssen. Er sagte, du seist bald in Sicherheit. Dann sollte die Aktion starten.«

Mein Magen rutscht tiefer, als ich begreife, was er mir da mitgeteilt hat. Quinn hätte fliehen können, wenn ich einfach zugestimmt hätte zu gehen? Warum hat er mir das nicht erzählt? Warum hat er zugelassen, dass ich angesichts der Angst um ihn fast wahnsinnig geworden bin?

»Wie konntet ihr das planen? Ich meine …«

»Quinn konnte sich mehr oder weniger frei bewegen. Niemand ist davon ausgegangen, dass er Kontakt zu uns hat. Er konnte ja ohnehin nicht weg, nicht wahr?«

»Der Tracker«, murmle ich und Sean nickt.

»Selbst dafür hatten wir bereits eine Lösung, aber er hat sich geweigert. Du kannst dir vorstellen, wie begeistert Fox gewesen ist.«

Ja, das kann ich mir sogar ziemlich gut vorstellen.

»Wie konntet ihr rechtzeitig auf dem Dach sein? Habt ihr die Schule die ganze Zeit beobachtet?«

»Wir haben einen Tipp bekommen, dass es eventuell brenzlig für euch werden könnte.«

»Einen Tipp? Von wem?«

Abermals zuckt er mit den Schultern und legt den Kopf ein wenig schief. »Keine Ahnung. Aber wer auch immer das war, er lag richtig. Gut, dass wir da waren.«

Unser beider Blick wandert hinüber zu Quinn, der dick eingepackt und gut gesichert auf einer dicken Matte liegt. Seit sie mich ins Flugzeug gebracht haben, hat er kein Wort mehr gesagt. Wahrscheinlich bewusstlos, denke ich und die Angst wiegt tonnenschwer auf meinen Schultern.

»Er wäre gesund, wenn er nicht darauf bestanden hätte, bei mir zu bleiben.« Diese Worte schmecken wie Säure und das Eingeständnis meiner Schuld lässt mich zusammensinken.

»Was meinst du, warum Fox so gut auf dich zu sprechen ist, hmm?«

»Wer ist sie überhaupt?«

»Sean!«, knurrt einer der Männer mit warnendem Unterton und schüttelt den Kopf. Sein anschließender Blick zu mir ist eisig und ich nehme an, er teilt Fox’ Einstellung, was meine Person betrifft.

»Ich bin seine kleine Schwester«, dröhnt es plötzlich von der Tür her, bevor Fox wieder im Frachtraum erscheint und Wasserflaschen auf ihren Armen balanciert. Sie wirft jedem der Männer eine zu. Die letzte bekommt Sean, der sie zielsicher auffängt, ohne Fox aus den Augen zu lassen.

»Darf’s sonst noch was sein? Interesse an Familiengeschichten? Zu dumm, dass wir die Alben nicht dabeihaben, nicht wahr, Sean?« Ihre Stimme klingt zuckersüß und bis zum Rand angefüllt mit einer Mischung aus offen zur Schau getragenem Hass und bitterer Ironie.

»Fox, es reicht«, knurrt Sean drohend und seine Hand umschließt die Wasserflasche etwas fester.

»Es hat schon gereicht, als wir sie von diesem Dach geholt haben. Dass sie jetzt hier ist, ist bereits zu viel.«

»Es war der Wunsch deines Bruders.«

»Der ihretwegen halb tot ist!«, donnert sie und die Wut entstellt ihr eigentlich schönes Gesicht. »Wir sollten sie loswerden, solange es noch geht.«

»Wir sollten Quinns Wunsch respektieren. Es war nicht ihre Schuld. Du vergisst, wer der Feind ist.«

»Sie ist eine von ihnen, Sean!«

»Das bin ich nicht!«, rufe ich etwas zu energisch und für einen Moment schaut sie mich an, als sei sie überrascht, dass ich tatsächlich sprechen kann. »Wenn sie mich in die Finger kriegen, töten sie mich«, setze ich ruhiger nach und sinke ein wenig zusammen.

»Das ist nicht mein Problem, Síläem!«, knurrt sie, die Augen zu Schlitzen verengt. Ich stutze und habe keine Ahnung, was das Wort bedeutet, das sie gerade benutzt hat, aber ich bin mir ziemlich sicher, es ist nichts Nettes. Sie hasst mich bis ins Mark.

»Sie war bereit, Quinn mit ihrem Leben zu beschützen. Sie hätte ihn auch einfach zurücklassen und sich selbst retten können. Dass er jetzt in dieser Verfassung ist –«

»Hör auf, sie in Schutz zu nehmen, Sean!«, brüllt Fox aufgebracht und ihre Wangen und ihr Hals sind fleckig vor Wut. Sean stellt seine Wasserflasche gelassen zur Seite, erhebt sich und postiert sich nur ein kleines Stück von ihr entfernt. Er überragt sie um etliche Zentimeter und schaut überlegen auf sie herab.

»Du hast heute beinahe deinen Bruder verloren. Nur weil ich weiß, wie sehr dich das mitnimmt, werde ich darüber hinwegsehen, wie du dich gerade benimmst. Aber ich schwöre bei Gott, redest du noch ein einziges Mal auf diese Weise mit mir, wirst du es bereuen. Die Kleine kommt mit. und Sie bleibt bei uns, solange Quinn es für angemessen erachtet. In dieser Sache zählt sein Wort mehr als deines.«

Die beiden stehen einander gegenüber und während Fox beinahe explodiert, strahlt Sean eine stoische, fast animalische Überlegenheit aus. Ich hocke da, beobachte sie gebannt und wage es kaum, zu atmen. Endlich, nach gefühlten Minuten, knickt Fox ein, wendet sich knurrend von Sean ab, nimmt wieder neben Quinn Platz und vermeidet von nun an jeglichen Blickkontakt mit uns.

Kaum hörbar lasse ich die angehaltene Luft entweichen und entscheide, dass ein Danke jetzt vielleicht angebracht, aber nicht unbedingt das Klügste wäre, was ich sagen könnte. Also halte ich einfach die Klappe und freue mich darüber, noch am Leben zu sein.

Sean hat sich inzwischen wieder gesetzt, schraubt die Flasche auf und reicht sie mir. »Du hast Blut verloren. Austrinken.«

Gehorsam greife ich danach und leere die Flasche in einem Zug.

»Es wird noch eine Weile dauern, bis wir landen. Versuch zu schlafen.«

Er nickt einem der Männer zu und deutet auf dessen Tasche. Widerwillig zieht dieser eine Decke daraus hervor und wirft sie ihm zu. Sean gibt sie an mich weiter und versichert sich im Augenwinkel, dass Fox auch ja jede Kleinigkeit mitbekommt. Ich bin der Mittelpunkt einer Auseinandersetzung zwischen zwei Geisteskranken. Dieser Tag kann nicht schlimmer werden.

***

Ich habe mich geirrt. Er kann! Denn als wir nach etlichen Stunden endlich landen, werde ich nicht etwa von Sean hinausgebracht, sondern von einem der anderen Männer. Und wie befürchtet hegt keiner von denen besonders große Sympathie für mich. Und das lassen sie mich auch spüren.

Nach all der Zeit ohne jede Bewegung versagen meine Beine ihren Dienst. Selbst ohne die Fesseln taumle ich, strauchle und falle. Die Schmerzen der Schussverletzungen treiben mir Tränen in die Augen. Angetrieben von einem mauligen Cinder stürze ich mehr aus dem Flugzeug, als dass ich laufe, während er mich grob hinüber zu einem schmutzigen Van bugsiert, der mit laufendem Motor auf dem Rollfeld wartet. Ich blicke zurück und entdecke Sean und einen anderen Mann, die beide damit beschäftigt sind, Quinn in einen anderen Wagen zu laden. Fox sitzt schon drin und nimmt ihn in Empfang. Mir ist nicht wohl dabei, den zweiten Abschnitt unserer Reise ohne Sean antreten zu müssen, aber ich habe augenscheinlich keine Wahl. Also steige ich ein, wickle mich fest in meine Decke, drücke mich eng in eine Ecke und vermeide Blickkontakt zu meinen grimmigen Begleitern.

Viel von der Umgebung konnte ich beim Umsteigen in das Auto nicht erkennen und weiß daher noch immer nicht, wo ich überhaupt bin. Die Schmerzen in meinem Bein machen es schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Stahlgrauer Himmel, Nieselregen, ein paar grüne Hügel und Gebäude am Horizont. Mehr dringt nicht zu mir durch. Da ich auch die genaue Flugzeit nicht kenne, könnten wir quasi überall sein.

Die Tür des Vans wird zugeknallt und das Gefährt setzt sich ruckelnd in Bewegung. Zwei Cinder, den Fahrer nicht mitgerechnet, begleiten mich. Der eine wirkt recht jung, ist drahtig, hat kurze dunkle Haare, schmale Augenbrauen und einen Dreitagebart. Der andere ist breit, groß, offenbar etwas älter als ich und am ehesten mit dem Wort angsteinflößendzu beschreiben. Er trägt einen langen, dichten Bart mit leichtem Rotschimmer, die Seiten seines Kopfes sind kurz geschoren, nur mittig befindet sich ein Streifen, in dem sein Haar einige Zentimeter lang wachsen durfte. Trotz des anstrengenden Tages sind nur wenige Strähnen ausgebrochen. Auf den Händen, die er auf seinen Beinen abgelegt hat, prangen dunkle Tattoos. Mal von dieser Tatsache abgesehen sieht er so aus, wie ich mir einen Wikinger vorstelle.

Der jüngere der beiden, der mir direkt gegenübersitzt, zieht seine Waffe und lässt sie, wie zuvor Sean, locker auf seinem Schoß ruhen. Ich denke nicht, dass er mich erschießen will, wahrscheinlich soll ich nur wissen, dass er mich jederzeit erschießen könnte. Und angesichts seines stoischen, entschlossenen Gesichtsausdrucks bin ich mir darüber durchaus im Klaren.

Wer weiß, vielleicht hat Fox genau so was geplant? Sean, scheinbar der Einzige, dem zumindest ein wenig an meiner Gesundheit zu liegen scheint, ist weit weg und sie könnten einfach behaupten, ich hätte sie angegriffen. Meine Kehle wird eng und ich ziehe die Decke noch fester um meine Schultern. Ich bin geflohen, weil die Celesta mich töten wollten. Nun befinde ich mich in der Obhut von Wesen, die offenbar dasselbe wollen. Frustriert und übermannt von einem schmerzhaften Gefühl der Einsamkeit, starre ich aus dem Fenster. Graue Häuserfassaden säumen unseren Weg, eingehüllt in einen dichten Nebel, und ich hoffe, dass ich diese Fahrt überleben werde.

Zwei

Irgendwann treten Schmerz und Angst in den Hintergrund und ich schaffe es keine Minute länger, meine Augen offen zu halten. Auch wenn ich weiß, dass Schlaf im Moment ein potenziell tödlicher Freund ist – ich bin erschöpft. Nicht nur körperlich.

Ich wage es kaum, über das nachzudenken, was in den letzten Stunden passiert ist. Was ich angerichtet habe. Wen ich verloren habe. Und wie viele meinetwegen jemanden verloren haben.

Meine Schuldgefühle verfolgen mich bis in meine Träume. Ich sehe Bekka lachend vor mir am Tisch sitzen. Wie damals in der Kantine, als sie mir erzählte, dass sie gern Lehrerin werden würde. Ich sehe sie, wie sie mir von ihrer Familie berichtet und ihre Augen dabei leuchten. Und dann, ganz unvermittelt, erscheint ein kleiner schwarzer Punkt auf ihrer Stirn und die eben noch so lebendigen Augen verlieren schlagartig ihren Glanz. Der Punkt breitet sich aus und Blut rinnt über ihr schönes, aber plötzlich so ausdrucksloses Gesicht. Es wird immer mehr. Ein nicht enden wollender Strom tränkt ihre Kleider und bedeckt den Tisch, von dem ich nicht aufstehen kann, obwohl ich will. Meine Glieder gehorchen mir nicht. Meine Muskeln verweigern ihren Dienst. Ich rufe um Hilfe, doch alle um mich herum starren mich nur an. Niemand regt sich. Als ich den Blick atemlos wieder Bekka zuwende, steht Ezra hinter ihr. Ebenfalls bedeckt mit Blut, das Gesicht geschwollen und von Wunden übersät. Und die bleichen Lippen der beiden formen in perfektem Gleichklang genau drei Worte: Du. Bist. Schuld!

Keuchend fahre ich aus dem Schlaf hoch und kralle die Finger in meine Decke, die mich noch immer wie ein Kokon umschließt. Meine Begleiter sind offenbar nicht angetan von meinem ruckartigen Erwachen, denn der jüngere von ihnen springt auf, knallt mit dem Kopf heftig gegen das Dach des Vans und flucht laut und beeindruckend ausdauernd. Seine griffbereite Waffe ist auf mich gerichtet, während er mit der freien Hand seinen Kopf nach Blut abtastet. Ich zumindest erkenne keines. Der Wikinger, vor dem ich mich allein schon wegen seines Äußeren fürchte, betrachtet den Wutausbruch seines Kollegen mit stoischer Gelassenheit, während die Mündung seines Revolvers auf mich zeigt. Und als ich mich nur einen Millimeter bewege, bin sofort wieder ich in seinem Fokus. Blaue Augen verfolgen jede Muskelzuckung und die unausgesprochene Warnung, keinen Fehler zu machen, liegt darin.

Vorsichtshalber, und weil zwei entsicherte Waffen mich nervös machen, hebe ich vorsichtig die Hände und suche den Blickkontakt zu dem, der sich den Schädel angeschlagen hat.

»Tut mir leid!«, wispere ich und versuche bei diesen Worten nicht zu sehr mit den Zähnen zu klappern. Mir ist trotz der Decke furchtbar kalt und ich zittere unkontrolliert.

»Was war das?«, bellt er und fuchtelt mit der Knarre vor meinem Gesicht herum. Ich weiche ein Stück zurück und würde mich wirklich, wirklich wohler fühlen, wenn wenigstens einer von ihnen so nett wäre, seinen Revolver wegzustecken.

Mit aller Selbstbeherrschung, die ich noch aufbringen kann, schlucke ich meine Angst herunter und befeuchte meine trockenen Lippen. »Ich habe schlecht geträumt. Mehr nicht.«

»Nur damit du es weißt: Für den Fall, dass du Dummheiten machst, haben wir genaue Anweisungen von Fox«, bellt der Jüngere der beiden und macht dabei einen bedenklich nervösen Eindruck. Ein weiterer Grund, möglichst harmlos zu wirken.

»Ich denke, diese Anweisungen haben meinen Tod zur Folge, richtig?«, brumme ich und schlucke schwer.

»Richtig«, nickt er und lässt langsam die Schultern sinken.

»Das mit deinem Kopf tut mir leid.« Ein bisschen nett zu sein, schadet meiner Situation sicher nicht. Er setzt sich, beide lassen die Waffen sinken und abermals tastet er über seinen Hinterkopf. Noch immer kein Blut.

»Er ist manchmal etwas schreckhaft«, murrt der Wikinger mit brummiger Bassstimme und erntet dafür trotz seiner offensichtlichen körperlichen Überlegenheit einen Seitenhieb, der ihn zum Schweigen bringt. Während er also lieber wieder stumm aus dem Fenster sieht, beobachtet der andere mich relativ ungeniert.

»Warum hast du dich nicht verwandelt? Da oben auf dem Dach?«

Ich entscheide mich, ihm die Wahrheit zu sagen, auch wenn er diese Schwäche durchaus irgendwann ausnutzen könnte. Meine Lage ist so oder so mies. »Ich kann mich nicht verwandeln. Ich bin zur Hälfte Mensch.«

Wenn ihn diese Äußerung überrascht, lässt er es mich nicht sehen. Seine Miene bleibt reglos und sein Blick gleitet mehr oder weniger interessiert zu meinem Bein, das unter der Decke hervorlugt und den blutdurchtränkten Verband preisgibt. »Sean sagte, du hast Quinn beschützt. Du hättest fliehen können.«

»Ich wäre niemals ohne ihn gegangen«, antworte ich fest. Abermals flattert mein Herz, als die Angst um ihn erneut aufflammt. Scheinbar glaubt er mir, denn etwas in seinem Blick verändert sich ein klein wenig. Er lehnt sich vor und streckt mir seine Hand entgegen. Das geschieht allerdings so ruckartig und überraschend, dass ich zurückweiche. Ein winziges Lächeln legt sich auf seine Lippen und der amüsierte Glanz in seinen Augen verrät, wie jung er tatsächlich ist. Ich entspanne mich ein bisschen und reiche ihm meine Hand.

»Finn«, sagt er und die Wärme seines Händedrucks ist wie Balsam für mich.

»Emma«, erwidere ich und wage ein ebenfalls recht verhaltenes Lächeln.

»Jasper«, knurrt der Wikinger rau und schaut aus schmalen Augen zwischen Finn und mir hin und her. »Und jetzt, da wir alle Freunde sind, haltet endlich die Klappe.«

Finn lehnt sich zurück, nickt mir zu und ich fühle mich ein ganz klein wenig sicherer in meiner Haut. Natürlich ist dieses kurze Zwischenspiel kein Garant für meine körperliche Unversehrtheit. Ein Händedruck macht noch keine Freunde und sie unterstehen nach wie vor Fox’ Kommando. Keiner von ihnen würde zögern, mich zu erschießen, wenn sie es verlangt. Doch sie ist im Moment nicht hier und Sorgen kann ich mir immer noch machen, wenn wir endlich dort sind, wo wir hinwollen.

***

Wir erreichen unser Ziel Stunden später. Stunden, in denen ich immer und immer wieder in einen unruhigen Schlaf gerutscht und nur Minuten später wieder daraus hochgeschreckt bin. Jede Zelle meines Körpers scheint in Alarmbereitschaft zu sein und Tausende Gedanken ziehen ihre Kreise in meinem rastlosen Hirn. Als der Van ruckend zum Stehen kommt, bricht draußen bereits die Nacht an und lässt mich kaum mehr als Schemen erkennen. Jemand schlägt mehrfach von außen gegen das Gefährt und die Seitentür wird so ruckartig aufgerissen, dass ich mich erneut angsterfüllt in den Sitz presse.

Einer der Cinder, die auch im Flugzeug waren, zunächst nur als großer Schatten gegen den graublauen Himmel erkennbar, langt ohne ein Wort nach mir, umfasst mein Handgelenk und zieht mich zu sich. Da ich nicht damit rechne, einfach so herausgezerrt zu werden und mein Kreislauf in eben diesem Moment beschließt, das Ganze nicht mehr mitzumachen, geben meine Beine nach und ich falle zu Boden wie ein nasser Sack. Die Welt ist plötzlich dumpf und farblos. Der Aufprall auf den Boden des Vans schickt schmerzhafte, pulsierende Wellen durch meinen Kopf, die hinter meinen Schläfen hämmern wie winzige Trommelschläge. Wie durch Watte dringen Worte bruchstückhaft zu mir durch, Punkte tanzen in meinem Gesichtsfeld und als eine erdrückende Übelkeit in mir aufsteigt, schließe ich die Augen und versuche sie wegzuatmen. Abermals reißt jemand an mir, lässt jedoch sofort wieder los.

»Geht das vielleicht auch ein wenig rücksichtsvoller? Du siehst doch, dass es ihr nicht gut geht, verdammt!« Sofern ich die Stimme richtig zugeordnet habe, kam das von Finn. Vorsichtig öffne ich die Augen und entdecke ihn direkt neben mir, allerdings schaut er nicht mich an, sondern den Schatten vor dem Van, der nun, aus dieser Perspektive, Gesichtszüge erhält. Ziemlich finstere Züge.

»Fox will, dass ich sie zu Thea bringe«, knurrt er mit einem Akzent, den ich nicht genau einordnen kann.

»Was hat Thea damit zu tun?«, donnert Jasper und schiebt sich in mein Blickfeld, um gleich wieder daraus zu verschwinden. Als er herausspringt, wackelt der Van und die Punkte von eben beginnen erneut zu tanzen.

»Deb ist mit Quinn beschäftigt.«

»Dann soll sie sich um die Kleine kümmern, wenn sie mit Quinn fertig ist.«

»Du weißt genauso gut wie ich, dass er verflucht am Arsch ist, Jasper. Du hast ihn gesehen. Fox wird nicht zulassen, dass Deb sich in den kommenden Tagen um irgendjemand anderen kümmert. Sofern er die nächsten Tage überhaupt übersteht.« Mein Atem beschleunigt sich bei diesen Worten.

»Thea ist nicht in der Lage –«

»Sie ist von uns allen am ehesten in der Lage dazu. Also los! Finn, die Kleine muss aufstehen.« Die Diskussion ist offenbar beendet und eine kühle Hand klopft wenig einfühlsam auf meine Wange. »Komm schon Mädchen, hoch mit dir!«

»Sie ist kaum bei Bewusstsein«, wirft Finn ein und eine weitere, eine warme Hand legt sich auf meinen Arm. Ich öffne mühsam die Augen und will etwas sagen, doch es bleibt bei dem Versuch.

»Geh zur Seite, Jules!«, brummt Jasper hörbar ungehalten und feste, unnachgiebige Hände schieben sich unter meine Knie und meinen Rücken. Mit einem wenig rücksichtsvollen Ruck bringt er mich in eine bessere Position, sodass ich mit dem Gesicht gegen seine kühle Jacke rutsche. Angesichts der nicht mehr vorhandenen Fähigkeit, mich zu bewegen, bleibe ich einfach so liegen.

Mit federnden Schritten trägt er mich fort und es ist mir sogar fast egal wohin. Kühle Abendluft umfängt mich und lässt mich trotz der Decke, die ich weiterhin umklammere, noch erbärmlicher zittern.

Außer Jaspers Schritten höre ich weitere, die dem Klang nach direkt neben uns sein müssen, und dann halten wir unvermittelt an. Noch immer ist mir übel und mein Schädel dröhnt. Um zu vermeiden, dass ich Jaspers Jacke ruiniere, sollte sich die Übelkeit doch schlagartig verschlimmern, lasse ich die Augen vorsichtshalber geschlossen.

Nur einen winzigen Augenblick später dringt ein dumpfes Pochen an meine Ohren. Ein Geräusch, als ob eine Faust auf Holz trifft. Eine Tür, nehme ich an. Das Quietschen, das auf dem Fuße folgt, bestätigt meine Vermutung.

»Großer Gott, was ist passiert?« Diese Stimme gehört einer Frau, wahrscheinlich haben wir diese Thea erreicht. Das Geräusch der Schritte verändert sich und Wärme löst die Kälte ab. »Wer ist sie?«

»Eine von ihnen.« Jaspers Stimme ist erfüllt von Abscheu, als er das sagt, und für einen Moment kann ich spüren, wie er sich ein wenig versteift.

»Sie hat Quinn das Leben gerettet, vergiss das nicht.« Finn. Er ist noch immer da.

»Hat sie das?«, fragt Thea und ihre Stimme klingt jung, irgendwie zerbrechlich. »Ist sie bei Bewusstsein?« Warme Finger ziehen eines meiner Augenlider hoch und ich drehe murrend den Kopf weg. »Immerhin. Also …« Schritte, das Klappern von Geschirr und Geräusche, die ich nicht eindeutig zuordnen kann. »Leg sie hierhin.«

Erneut setzt Jasper sich in Bewegung und wenige Sekunden später finde ich mich auf einer harten Unterlage wieder. Für einen Moment dreht sich alles, ich habe Angst zu fallen und mein Körper lässt eine Welle von Panik durch meine Muskeln schießen. Ich reiße die Augen auf und versuche mich irgendwo festzuhalten. Doch alles, was ich zu fassen bekomme, ist ein schmales Handgelenk. Blitzschnell presst jemand seine große, unnachgiebige Hand auf meinen Brustkorb und drückt mich ruckartig herunter, sodass ich kaum Zeit habe, zu realisieren, was hier überhaupt passiert. Ich blinzle und für den Moment unterdrückt die Angst meine Übelkeit.

Erneut ist der Lauf einer Waffe auf mich gerichtet. Ich kann das kalte Metall direkt unter meinem Kinn spüren und Jasper ist nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Die ehemals gut sitzenden langen Strähnen seines Irokesen haben sich nun aus ihrer Position gelöst und hängen ihm wild ins Gesicht. Die Anspannung pulsiert geradezu in seinen Augen. Instinktiv lasse ich das Handgelenk los, das ich panisch umklammert habe, und kralle mich stattdessen an meiner Unterlage fest. Ein Tisch, wenn mich nicht alles täuscht.

»Jasper. Komm schon, alles ist gut. Sie hat sich nur erschreckt«, sagt die Frau, schiebt die Waffe energisch weg und legt eine warme Hand an meine Wange. Ich drehe den Kopf, bis ich sie sehen kann. Das ist also Thea. Augenscheinlich noch ein Mädchen, schätze ich. Wahrscheinlich nicht einmal zwanzig. Ihr Gesicht ist schmal und blass und sie wirkt erschöpft. Ein Eindruck, der durch die tiefen, dunklen Ringe unter den kleinen, verschlafenen Augen noch verstärkt wird. Womöglich haben wir sie geweckt, denke ich. Thea lächelt allerdings herzlich, wobei sich winzige, kleine Fältchen auf ihrem Nasenrücken bilden. Etliche Sommersprossen, die über ihren Wangen und der Nase verteilt sind und trotz des schlechten Lichts herausstechen, unterstreichen ihr jugendliches Aussehen zusätzlich. Als sie sich abermals über mich beugt, rutschen ein paar Strähnen ihrer honigblonden Haare aus dem strengen, wenn auch unordentlichen und offensichtlich in Eile gebundenen Zopf. Ich beobachte sie aufmerksam und Thea nimmt das mit einem prüfenden Blick aus ihren freundlichen, großen, graugrünen Augen zur Kenntnis.

»Hey«, flüstert sie und verzieht den Mund zu einem Lächeln. »Ich bin Thea. Jasper und Finn kennst du ja schon.«

Ich nicke träge und versuche meine Zunge vom Gaumen zu lösen.

»Wie geht es dir? Ist dir schlecht?«

Ich nicke erneut und sie beginnt mich abzutasten. Dabei startet sie am Kopf, arbeitet sich an meinem Hals hinab und schiebt vorsichtig die Decke beiseite.

»Schwindelig?« Wieder gebe ich ihr zu verstehen, dass sie richtigliegt. »Wann ist das passiert?«

Ich denke, sie meint die Schusswunden. Finn antwortet für mich.

»Heute ganz früh.«

»Sie hat viel Blut verloren. Ihr Kreislauf ist total im Keller. Und wir müssen schauen, dass sich ihre Wunden nicht infizieren.«

»Sie ist eine Celesta. Ich dachte, die stecken so was weg«, ätzt Jasper und ich kann mich nur mit Mühe davon abhalten, ihm einen bösen Blick zuzuwerfen. Wenn ich sein Brummen richtig deute, hat Thea diesen Part für mich übernommen.

»Offensichtlich nicht«, knurrt sie, kehrt zum Kopfende des Tisches zurück und legt ihre Hand auf meine Stirn. »Pass auf, ich muss die Wunden reinigen und schauen, ob noch eine Kugel drin ist. Ich zieh dir die Hose aus. Ist das okay?«

Mein Blick huscht zu Jasper und mein Atem geht schneller. Thea richtet sich auf und ihre Lippen sind schmal, als sie, dieses zierliche Mädchen, den Hünen anstarrt, ohne mit der Wimper zu zucken. »Raus mit dir, Jasper!«

»Das kannst du vergessen!«

»Es ist ihr aber nicht recht, dass du hier bist, während ich sie behandle.«

»Du wirst aber Hilfe brauchen. Jemand muss sie festhalten und aufpassen, dass sie dich nicht einfach umbringt.«

»In ihrem Zustand?« Ihre Frage klingt, als ob sie seine Sorge schlicht und ergreifend lächerlich findet. »Komm schon, verschwinde.«

»Du brauchst Hilfe!«, wiederholt Jasper eindringlicher und lauter.

»Ich kann helfen«, wirft Finn ein und ich versuche den Kopf in seine Richtung zu drehen, schaffe es aber nicht.

»Ist das okay für dich?«, fragt Thea an mich gerichtet und ich gehe im Geiste kurz meine Möglichkeiten durch. Jasper oder Finn? Die Entscheidung ist ziemlich klar und ich nicke.

»Gut. Hätten wir das auch geklärt. Jasper …«

Ich höre sein Knurren und die feinen Härchen an meinen Armen stellen sich auf. Ehe ich mich’s versehe, ist sein bärtiges Gesicht wieder über mir und seine Augen sind zu Schlitzen verengt. »Solltest du es wagen, ihr auch nur ein Haar zu krümmen, brech ich dir jeden Knochen einzeln.« Er stößt sich vom Tisch ab und wenig später kracht die Tür ins Schloss.

Thea atmet hörbar aus und legt ihre Hand beruhigend auf meine. »Er ist nett. Normalerweise.«

Aus irgendeinem Grund fällt es mir schwer, ihr das zu glauben.

Drei

Ich finde es unglaublich, dass Quinn das Herumgebohre in seiner Schulter auf der Suche nach der Kugel damals in der Hütte größtenteils stoisch und stumm hingenommen hat. Ich kann das nicht und ich würde töten für eine örtliche Betäubung oder ein vernünftiges Schmerzmittel. Natürlich steckt die Kugel noch in meinem Bein. Nicht die von Sean – ein fieser, aber vergleichsweise harmloser Streifschuss –, sondern die, die die Celesta mir als Abschiedsgeschenk mit auf den Weg gegeben haben.

»Du hast Glück«, murrt Thea, als ich bäuchlings ohne Hose auf dem Tisch liege und kalter Schweiß meinen gesamten Körper bedeckt. Ich bete dafür, bewusstlos zu werden. Doch niemand erhört mich. Ich spüre jede ihrer Bewegungen sehr genau. Doch das Letzte, was ich dabei empfinde, ist Glück. »Sie hat keine wichtigen Gefäße getroffen.«

Ein Schmerz, so gleißend, dass mir kurz schwarz vor Augen wird, durchzuckt mich abermals und ich fürchte, ich zerquetsche Finn gleich die Hand, die er mir noch immer nicht entzogen hat.

»Thea, kriegst du sie raus oder nicht?«, fragt er und ich meine, eine Spur Eigennutz in seiner Stimme zu hören.

»Einen Moment noch.« Ein weiterer kurzer, aber schmerzhafter Horrortrip durch die Tiefen meines Beines folgt. »Da ist sie!«

Zutiefst erschöpft lasse ich den Kopf auf die Tischkante sinken und ein Beben erfasst mich, dessen ich mich nicht einmal schäme. Ich heule, schluchze und hasse das, was dieser Tag aus meinem Leben gemacht hat. Ja, ich weiß, dass Selbstmitleid an dieser Stelle unangebracht erscheint, aber die Tränen lindern den Schmerz, der mich von innen heraus auffrisst.

Die folgende Prozedur ist vergleichsweise harmlos dagegen. Thea spült die Wunden und vernäht sie mit wenigen Stichen. Es wird nicht hübsch werden, aber meine Überlebenschancen stehen wohl ganz gut. Sagt sie zumindest.

»Du hast sicher keinen Hunger, aber du musst wenigstens trinken und schlafen. Dein Körper erledigt dann den Rest. Du fühlst dich bald besser.« Sie hilft mir dabei, mich auf die Seite zu drehen, und schluckweise Wasser aus einem Becher zu trinken. Noch immer dreht sich selbst bei der kleinsten Bewegung alles und mir ist schlecht.

»Pass auf sie auf, Finn. Ich mach das Bett im Nebenzimmer fertig.« Ihre Schritte entfernen sich eilig und meine Lider werden träge und schwer.

Ich tauche aus einem leichten Schlaf auf, als Theas Hand über meine Stirn und Wange streicht. »Sie ist ein bisschen warm, aber nicht besorgniserregend. Ich bitte Jasper, sie rüberzutragen.«

»Das kann ich auch tun«, wirft Finn hektisch ein und seine Stimme klingt etwas gekränkt. Im Gegensatz zu ihm hat Jasper allerdings nicht diesen kleinen, angestrengten Laut von sich gegeben, als er mich tragen musste. Aber seine Hilfsbereitschaft ist unschätzbar und ich bin dankbar dafür, nicht auf Jasper angewiesen zu sein.

Wenig später sinke ich in ein weiches Kissen, das nach Lavendel duftet, und Finn arrangiert meine schlaffen Glieder so, dass alles unter eine Decke passt. Der Schmerz ist auf ein dumpfes Pochen zusammengeschrumpft und ich fühle mich so erschöpft, dass ich kaum sprechen kann. Dennoch greife ich nach seiner Hand, als er sich erheben will, und versuche die Decke wieder fortzustrampeln. Irritiert drückt Finn mich zurück, was ihn nicht sonderlich viel Kraft kostet. Mir dagegen treten angesichts meiner so offensichtlichen Schwäche sofort erneut Tränen in die Augen. »Ich muss … zu Quinn … bitte.«

»Hey, hey, hey. Ganz ruhig. Du gehst in deinem Zustand nirgendwohin«, murmelt er und legt seine warme Hand beruhigend auf meine Schulter. »Deb ist eine großartige Ärztin und ich verspreche dir, dass es ihm bald besser gehen wird. Damit das dann auch für dich gilt und er mir nicht den Kopf abreißt, musst du dich ausruhen.«

Ich blinzle und schlucke schwer. Mein gesamter Körper bebt unter den Tränen, die ich zurückhalte. Finn schnauft leise und der Druck seiner Hand an meiner Schulter verstärkt sich etwas.

»Ich werde sehen, was ich rausfinden kann, okay?« Mit knapper Not nicke ich und ein Lächeln legt sich auf seine Lippen. Er erhebt sich langsam und hält seinen prüfenden Blick noch eine Weile auf mich geheftet, ehe er sich in Richtung Tür davonstiehlt. Er lässt sie einen Spalt offen und während meine Wangen trocknen, starre ich trübe auf den kleinen Streifen Licht, der durch die schmale Öffnung fällt und das Schwarz um mich herum durchbricht. Doch ich bleibe nicht lange allein. Kurz nachdem Finns und Theas leise Stimmen vor der Tür verstummt sind, wird der helle Streifen breiter. Ich kneife die Augen zusammen und wende mich ab, weil das Licht schmerzt.

»Tut mir leid«, flüstert Thea, entzündet eine weniger helle kleine Kerze in der Ecke, drückt die Tür zu und sperrt so das grelle Licht vom Flur aus. Neben der Tür steht ein riesiger Weidenkorb, den sie eben dort abgestellt hat und in dem sie nun herumkramt. »Ich wollte dich nicht wecken«, entschuldigt sie sich und ich schüttle leicht den Kopf.

»Ich hab noch nicht geschlafen, keine Sorge«, lalle ich. Meine Zunge spielt nicht mehr mit.

»Ich leg ein bisschen Holz nach. Es wird kühl heute Nacht. Außerdem lasse ich die Tür ein Stück offen, okay? Wenn etwas ist, ruf einfach.« Sie kniet sich vor den runden Ofen in der Ecke, öffnet dessen Tür und schiebt ein paar Scheite aus dem Weidenkorb nach. Knackend und knisternd verschlingen die Flammen die neue Nahrung.

»Warum bist du so nett zu mir?«, flüstere ich und beobachte, wie sie sich kurz versteift.

»Du hast Hilfe gebraucht und ich konnte sie dir geben. Es wäre verwerflich gewesen, es nicht zu tun.«

»Ich bin eine von ihnen, hat Jasper gesagt.«

»Und Finn sagte, du hast Quinn gerettet. Das hat mehr Gewicht für mich. Ich beurteile ungern danach, was jemand ist. Du hast ihn gerettet. Er war dir wichtig, obwohl er nicht zu deinem Clan gehört. Das ist im Moment alles, was ich über dich wissen muss.« Sie schließt die Ofentür, kommt zu mir und füllt das Glas, das auf einem Tisch neben dem Bett steht, zur Hälfte mit Wasser. »Viel trinken, hörst du?«

Ich nicke und meine Kehle wird schon wieder eng. Ich schwanke irgendwo zwischen absoluter Klarheit und völligem Irrsinn. Ich möchte weinen, um mich schlagen und noch mehr weinen.

Thea beobachtet meine sicherlich imposante Mimik und zupft meine Decke zurecht. »Du musst jetzt erst mal gesund werden. Dann sehen wir weiter, okay? Finn kommt nachher und wird heute Nacht auf dich aufpassen.« Für den Fall, dass es dem einen oder anderen hier doch nicht gefällt, eine Celesta in unmittelbarer Nähe zu haben. Ein sogar recht nachvollziehbarer Gedanke. »Ist das okay für dich?«

Ich nicke müde und zwänge ein Lächeln auf meine rissigen Lippen. »Er ist nett.«

»Ja, das ist er in der Tat.« Sie erhebt sich und wendet mir den Rücken zu.

»Thea?« Bereits an der Tür angelangt dreht sie sich noch einmal zu mir um und ich schlucke den Kloß in meiner Kehle herunter. »Danke!«

***

In den nächsten zwei Tagen bin ich nur hin und wieder wach. Es ist wie ein nicht enden wollender, schwarzer Traum, der mich festhält und nie lang genug loslässt, um zu begreifen, dass ich wach bin. Meine Augen brennen und ich schaffe es gerade mal, die von Thea verordnete Menge an Flüssigkeit zu mir zu nehmen. Die meiste Zeit über ist Finn in meinem Zimmer. Er hockt mal auf dem Stuhl neben dem Ofen und liest, mal hat er sich auf dem Fell vor dem Bett zusammengerollt und schläft oder er steht am Fenster und starrt hinaus. Das Sprechen ist anstrengend, also vermeide ich es, so gut es geht. Nur bei der Frage nach Quinn lasse ich nicht locker. Es gebe nichts Neues oder sein Zustand sei unverändert, sind seine gängigsten Antworten. Ich denke ja, Fox hat ihm verboten, mir etwas zu erzählen. Noch ein Grund mehr, schnell auf die Beine zu kommen.

***

Als ich am dritten Tag – zumindest nehme ich an, dass es der dritte ist – die Augen aufschlage, ist die furchtbare Lethargie der vergangenen Tage verschwunden. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit bin ich wach. Richtig wach.

Versuchsweise drücke ich mich ein Stückchen hoch und zupfe das Kissen zurecht, damit ich mich anlehnen kann. Allein diese kleinen Bewegungen verursachen eine mittelschwere Atemnot und ich sinke erschöpft zurück, greife nach dem Glas neben mir und leere es in einem Zug. Ich ruhe mich kurz aus und mache dann weiter.

Als wenig später die Tür aufgeht und Thea beschwingt den Raum betritt, sitze ich bereits aufrecht auf der Bettkante und schaue sie an. Die Überraschung steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Es geht dir besser!«, lächelt sie und ich nicke, ebenfalls lächelnd. Sie blinzelt, reißt sich von meinem Anblick los und trägt eine Vase mit ein paar unscheinbaren Blumen darin zum Tisch. »Ich dachte, ein bisschen Farbe hier drin würde dir vielleicht gefallen.«

»Die sind schön, vielen Dank!«, murmle ich und betrachte die blassrosa Blüten ein wenig wehmütig.

»Das ist Wiesen-Schaumkraut. Laut Deb findet man das hier nicht so oft. Ich hab dir daraus einen Tee gekocht. Warte.« Noch bevor ich etwas sagen kann, ist sie verschwunden und kehrt mit einer Tasse zurück, aus der herb duftender Dampf aufsteigt. Sie reicht sie mir, zieht sich einen Stuhl heran und nimmt mir gegenüber Platz.

»Wozu ist der gut?«, frage ich und schnuppere daran.

»Verschiedene Dinge. Er hilft dir, schneller auf die Beine zu kommen und zumindest mir schmeckt er.« Ich nehme einen Schluck und verziehe angewidert das Gesicht. Thea kichert, ihre Augen werden dabei klein und strahlen, die Haut an der Nasenwurzel kräuselt sich wie in der Nacht, als ich ankam, und ihre Wangen röten sich ein bisschen. Ich kann nicht anders und muss ebenfalls lächeln, auch wenn der Tee nicht unbedingt meinen Geschmack trifft.

Doch die fast unwirklich heitere Stimmung ist rasch vorbei, als mir wieder bewusst wird, weshalb ich hier bin und was passiert ist – und noch passieren könnte. Ich umklammere die Tasse mit dem scheußlichen Tee, als wäre sie mein Rettungsanker, und wage es kaum, sie anzusehen. »Ich möchte Quinn sehen, bitte.«

Thea atmet hörbar aus und verlagert ihr Gewicht auf dem Stuhl, was ein Quietschen zur Folge hat. »Das geht nicht, Emma. Tut mir leid.«

Ich spüre, wie Wut in mir aufwallt und stelle die Tasse vorsichtshalber beiseite. »Warum nicht?«

»Fox hat noch nicht entschieden, was mit dir geschehen soll, sobald du wieder auf den Beinen bist. Ich habe ihr gesagt, dass es sicher noch eine Weile dauert, bis eine Entscheidung darüber überhaupt notwendig sein wird. Wenn sie erfährt, dass es dir besser geht …« Sie führt den Satz nicht zu Ende. Das muss sie auch gar nicht. Solange ich offiziell als krank gelte, habe ich eine Schonfrist – eingeräumt von Thea, die Fox meinetwegen belügt. Doch solange ich krank bin, werde ich eben auch absolut nichts über Quinn erfahren. Zumindest in diesem Punkt sind sie alle furchtbar loyal.

»Ich kann keine Nacht ruhig schlafen, ohne zu wissen, wie es ihm geht!« Ich starre auf meine Hände, die wieder zittern, und balle sie zu Fäusten, um genau das zu verbergen. Doch Thea hat es gesehen und presst die Lippen aufeinander. »Ich … ertrag das nicht.« Ich muss heftig blinzeln, wende mich ab, wische mir über die brennenden Augen und verfluche mich für dieses Nichtstun. »Lebt er noch?«, frage ich in den Raum hinein, ohne sie anzusehen.

Thea schweigt und ich wage nun doch einen Blick zu ihr, in der Hoffnung, etwas in ihrem Gesicht lesen zu können. An der Art und Weise, wie ihre Mimik zwischen Mitleid und Angst wechselt, erkenne ich, dass ihr selbst darüber die Auskunft verboten wurde. Ich kann ein hilfloses, verzweifeltes Auflachen nicht unterdrücken, wende mich ab, lasse mich zurück ins Bett sinken und drehe ihr den Rücken zu. Ich fühle mich ausgeliefert, nutzlos und unendlich einsam.

»Er hat etliche Knochenbrüche erlitten, viele Prellungen und Schnittwunden. Er erlangt nur hin und wieder das Bewusstsein. Deb tut, was sie kann, aber die Prognose ist schwierig. Wir haben hier nicht die Mittel, um eine anständige Untersuchung durchzuführen, geschweige denn, um ihn ordentlich behandeln zu können.«

Vorsichtig drehe ich mich zurück auf den Rücken und schaue sie an. Thea hat die Lippen fest zusammengepresst und begutachtet eingehend ihre Finger – wahrscheinlich, damit sie mich nicht ansehen muss.

Ich schlucke schwer und erinnere mich an Quinns Schusswunde, die er sich bei unserer Flucht vor den Dämonen zugezogen hat. Die war bereits am darauffolgenden Tag fast vollständig verheilt. »Er heilt doch schneller, oder? Als ein Mensch, meine ich. Er kann das überstehen?«

Thea nickt verhalten. »Ein Mensch hätte das auf keinen Fall überlebt, aber bei so umfassenden Verletzungen braucht auch ein Cinder eine Weile, um sich zu erholen. Niemand kann vorhersagen, was in den nächsten Tagen passieren wird, Emma, oder wie schlimm seine Verletzungen wirklich sind, ob Organe betroffen sind oder …« Sie schnauft und ich verstehe, was sie mir sagen will. Selbst wenn Fox es nicht untersagt hätte, es gibt im Moment einfach keine guten Nachrichten. Thea erhebt sich, schiebt den Stuhl zurück und geht zur Tür hinüber. »Ich versuche Fox so lange hinzuhalten, bis wir mehr wissen. Aber du musst mitspielen. Keine heimlichen Ausflüge zu Quinn, am besten gar keine Ausflüge, nirgendwohin. Wenn sie dich draußen erwischt, schickt sie dich fort oder stellt etwas noch Schlimmeres mit dir an. So schwer es ist, bleib hier, vertrau auf uns und werd gesund.«

Auch wenn es mir gegen den Strich geht, sie hat recht. Und das stört mich gewaltig.

Vier

Ich hocke mit angezogenen Beinen auf dem Bett und versuche mich auf das Buch zu konzentrieren, das Thea mir gegeben hat. Theas Version einer Beschäftigungstherapie, denn das vielleicht sechs Quadratmeter große Zimmer, das ich seit Tagen bewohne, hat alle seine Geheimnisse bereits preisgegeben. Ich kenne jeden Fleck an der Tapete, jede Fliege und wahrscheinlich sogar jede Spinne. Ich habe gebettelt, gebrüllt, getobt, gedroht und kein einziges Mal etwas damit erreicht. Thea ist eine verfluchte Heilige! Sie beteuert mir, dass sie Verständnis für meine Lage habe, und bietet mir dann einen Tee an. Immer. Und dabei lächelt sie auf diese ganz bestimmte Art und Weise, die es mir unmöglich macht, ihr böse zu sein.

Nichtsdestotrotz ist und bleibt meine Situation frustrierend. Mein Bein ist wiederhergestellt, von der unschönen Narbe mal abgesehen. Wie es allerdings um Quinn steht, weiß ich noch immer nicht. Doch genau das ist es, was jede Sekunde des Tages durch mein Hirn geistert und mich nicht schlafen lässt.

Er lebe noch. Es gehe ihm ein wenig besser. Das ist alles, was ich von ihr höre, wenn ich frage. Und ich frage oft. Natürlich weiß ich, dass sie mir gern mehr erzählen würde und dass sie mir gern gestatten würde, endlich zu ihm zu gehen. Doch sie knickt nie ein und bewacht mich mit der Aufmerksamkeit eines Jagdhundes.

Wenn sie nicht da ist, passt entweder Finn oder Jasper auf mich auf. Finns Gesellschaft erhellt den Alltag etwas, denn er ist redselig, nett und besitzt genau die derbe Sorte von Humor, die ich immer schon gut leiden konnte. Er bleibt zwar stets auf der Hut und vergisst nie, wer – oder vielmehr was – ich bin, aber er trägt seine Vorurteile nicht wie ein Schild vor sich her. Jasper hingegen macht immer schon zu Beginn klar, dass er es hasst, seine Zeit in meiner Nähe zu verbringen. Er ist wortkarg, rau und ausgesprochen unfreundlich. Und zwar unabhängig davon, wie nett ich bin. Lediglich in Theas Anwesenheit mutiert er vom bärtigen Griesgram zum sanften Riesen, lächelt und versucht ihr zu imponieren, wo es nur geht. Etwas, weswegen ich ihn nicht einfach hassen kann.

Sie alle – zumindest die, die Thea eingeweiht hat, ob sie mich nun leiden können oder nicht – tun alles, um die Sache für mich angenehm zu gestalten. Selbst Jasper muss ich seine Verschwiegenheit Fox gegenüber hoch anrechnen, auch wenn ich natürlich weiß, dass er es nicht für mich tut, sondern für Thea. Doch sosehr ich auch wertschätze, was sie tun und was das für sie bedeutet, fühle ich mich doch zunehmend an die Zeit vor der Einweihung bei den Celesta erinnert. Und an diesen Punkt will ich unter gar keinen Umständen zurückkehren. Ich habe Angst. Jeden Tag ein bisschen mehr.

Ich weiß, dass der Aufenthalt bei den Cinder im Moment die einzige halbwegs sichere Option für mich ist. Da draußen habe ich weder eine Identität noch echte Verbündete. Dämonen und Celesta sind gleichermaßen hinter mir her und ich lege wenig Wert darauf, herauszufinden, wie gut sie Verräter aufspüren können. Doch mein sicheres Plätzchen in den Reihen der Cinder ist eben untrennbar mit Fox’ Wohlwollen mir gegenüber verbunden. Sie muss weiterhin glauben, es ginge mir schlecht. Nur dann kann ich bleiben. Nur dann werde ich lange genug überleben, um Quinn noch einmal zu Gesicht zu bekommen.

***

Während ich die aktuelle Seite zum dritten Mal lese, weil ich mich nicht konzentrieren kann, ist Thea gut hörbar in der Küche mit dem Kochen von Tinkturen aus irgendwelchen Kräutern beschäftigt. Nicht mal dabei darf ich helfen, weil sie Angst hat, jemand könnte unangekündigt vorbeischauen. Auch wenn keine Menschenseele, außer Finn oder Jasper, das Haus einfach so betreten hat, seit ich hier bin.

Das Klappern und Klirren der vielen kleinen Gläser, Töpfe und Gerätschaften bildet eigentlich eine recht entspannte Geräuschkulisse – wären da nicht die hin und wieder herabfallenden Gläschen, die mich jedes Mal zu Tode erschrecken. So ungeschickt ist sie doch sonst nicht.

Ich hebe den Kopf und warte auf ein Zeichen, dass es ihr gut geht. Als das Klappern sich in gewohnter Manier fortsetzt, blättere ich um und versuche mir in Erinnerung zu rufen, wo ich stehen geblieben war. Doch plötzlich reißt mich das Knarren der Haustür abermals aus meiner halbherzigen Konzentration.

Es ist nicht so, dass Thea niemals das Haus verlassen würde. Das tut sie. Eigentlich ist sie dauernd unterwegs. Wahrscheinlich damit niemand herkommen und Bekanntschaft mit dem unliebsamen Wesen in ihrem Haus machen muss. Für gewöhnlich ist dann allerdings Finn oder Jasper hier und ich habe keinen der beiden gehört. Die Tür schlägt wieder zu, die Dielen knarzen und ich spitze neugierig die Ohren.

»Thea, schön, dass du hier bist.« Augenblicklich prickelt mein Nacken, ich ziehe die Schultern hoch, klappe das Buch leise zu und rutsche bis nach vorn an die Bettkante. Mein Herz rast.

»Fox«, erwidert Thea lauter, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Eine Warnung in meine Richtung.

»Ist sie da?«

»Es geht ihr nicht so gut, Fox. Bitte, komm morgen wieder.«

»Wir haben darüber gesprochen, Thea. Es ist Zeit.«

»Fox!« Schritte nähern sich schnell und ich überlege einen Moment, mich auf dem Bett zusammenzurollen und so zu tun, als würde ich schlafen. Das wäre vernünftig und wahrscheinlich genau das, was Thea von mir erwartet. Ich bezweifle allerdings, dass es etwas an Fox’ Entschlossenheit ändern würde. Also entscheide ich mich dagegen, drücke den Rücken durch und starre auf die Tür.

Nur wenige Sekunden später schwingt diese auf und zum ersten Mal seit meiner Ankunft sehen wir uns wieder in die Augen. Zumindest ihre sprühen augenblicklich vor unbändigem Hass und ein flüchtiges, gehässiges Lächeln huscht über ihre Lippen.

»Sie sieht aus, als ginge es ihr bereits viel besser, Thea«, murmelt Fox und ich entdecke Thea hinter ihr. Sie hat die Hände zu Fäusten geballt und hält den Blick gesenkt.

Fox bewegt sich gemächlich durch den Raum und lässt sich schließlich auf einen der Stühle an der Wand mir gegenüber sinken. Sie strahlt Autorität aus, Eleganz, Überlegenheit. Eine Anführerin durch und durch, die es gewohnt ist, dass ihren Wünschen entsprochen wird und dass man sie nicht belügt. Ich kann nur hoffen, dass Thea meinetwegen keine Probleme bekommen wird.

Fox sieht weniger mitgenommen aus als vor dieser gefühlten Ewigkeit im Flugzeug. Ihre honigblonden Haare fallen in glatten Strähnen über ihre Schultern, während sie mich mit einem eisigen Blick taxiert und ihre Lippen dabei fest zusammenpresst. Ihre Nasenflügel sind ein wenig gebläht und zum ersten Mal fällt mir die dezente Ähnlichkeit zu Quinn auf.

»Du bist gesund, nehme ich an. Seit ein paar Tagen schon, oder?«, murrt sie und schlägt ein Bein über das andere.

»Ich hab meine Phasen«, antworte ich und sie nickt kaum merklich, fixiert mich mit einem aufmerksamen Blick und hebt das Kinn.

»Ich möchte, dass du uns verlässt. Morgen.« Ihre Stimme klingt ruhig, fast schon beiläufig, als sie das sagt. Ihre Mimik verändert sich kaum, sodass ich für einen Moment die leise Hoffnung hege, mich verhört zu haben.

»Wie … meinst du das? Ich kann nicht gehen. Wohin denn?«

»Keine Ahnung. Weg eben. Such dir was aus.« Die Gleichgültigkeit schwingt nicht mehr nur als bloßer Unterton in ihrer Stimme mit, sie trägt sie offen zur Schau. Fox löst den Blick von mir, steht auf und schlendert hinüber zum Fenster. Nachdem sie einen flüchtigen Blick hinausgeworfen hat, wendet sie sich mir wieder zu und verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich bin bereit, dir ein Flugticket für ein Ziel deiner Wahl zu zahlen und dir vielleicht ein wenig Startkapital bereitzustellen, aber die Gastfreundschaft der Cinder ist hiermit beendet.«

Panik steigt in mir auf, doch noch kann ich sie niederkämpfen. Als sie das Zimmer verlassen will, stelle ich mich ihr in den Weg – wohlwissend, wie sie das aufnehmen wird. Erwartungsgemäß verziehen sich ihre schönen vollen Lippen zu schmalen blassen Linien und ihre Augen sind kaum mehr als dunkle Schlitze. Ich spüre ihren Hass mit jeder Faser meines Körpers.

»Ich weiß, wir hatten keinen guten Start. Aber ich kann mich nützlich machen. Ich kann euch helfen. Ich kann …«

»Ich habe keinerlei Verwendung für jemanden wie dich!«, unterbricht sie mich harsch und ich schlucke die Worte herunter, die ungesagt in meiner Kehle festhängen.

»Bitte, Fox. Das kannst du nicht tun.«

Sie macht einen Schritt auf mich zu, nötigt mich dazu, zurückzuweichen, und genießt ihre Überlegenheit sichtlich. Niemand ist hier, der sie in ihre Schranken weisen könnte.

»Ich kann und ich werde! Morgen früh bringt Jasper dich zum Flughafen.« Damit schiebt sie mich unwirsch zur Seite und drängt sich an mir vorbei.

»Und Quinn?«, rufe ich ihr nach, weil mir partout kein anderer Weg einfallen will und ich verzweifelt genug bin, sie mit diesem Unsinn zu behelligen. »Was erzählst du ihm, wo ich bin?« Sie versteift sich und dreht sich langsam zu mir um. Ihre Pupillen verengen sich zu kleinen Punkten und das Blau ihrer Iris flackert für einen Moment, ehe sie sich erneut abwendet. Ihre rechte Hand umklammert die Klinke der Tür so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. »Ich muss ihm gar nichts mehr erzählen.«

Mein Herz sackt ein Stück nach unten und ich versteife mich. »Was meinst du damit?« Keine Reaktion. Mein Herz klopft schneller und ich spüre jeden einzelnen Schlag. Doch Fox steht nach wie vor einfach nur da wie ein verdammter Felsblock und starrt die Dielen an. »Was meinst du?«, brülle ich ihr entgegen und greife nach ihrem Arm, will sie zwingen, mir zu antworten, doch stattdessen packt sie mein Handgelenk und dreht es völlig mühelos zur Seite. Ein stechender, kreischender Schmerz schießt durch meinen Arm. Doch bevor ich wimmernd auf die Knie gehe, lässt sie los und weicht ein Stück zurück. Ihr Atem geht schneller und ihre eben noch so gleichgültige Fassade bröckelt.

»Er ist heute Morgen gestorben.« Ihre Worte sind dumpf und klingen hundertfach nach, haben weder eine Bedeutung noch einen Sinn. Das kann unmöglich wahr sein.

»Was? Nein!« Ich schüttle den Kopf und suche in ihrem Gesicht nach Anzeichen für eine Lüge. »Das … kann nicht sein. Es ging ihm doch gut. Oder? Thea!« Panisch wende ich den Blick hinüber zu Thea, doch die hat die Hand vor den Mund geschlagen und wendet sich schluchzend ab. Noch immer bewege ich den Kopf fast apathisch hin und her, als würden ihre Worte dadurch weniger schmerzhaft.

»Offenbar haben wir etwas übersehen. Er hat heute Morgen das Bewusstsein verloren. Und dann … ging es sehr schnell.« Sie klingt kühl und beherrscht, kann meinem Blick jedoch nicht standhalten.

»Ich glaube dir nicht!«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und weiche einige Schritte zurück. »Ich glaube euch beiden nicht!«

Mein Blick huscht hinüber zu Thea und noch immer schafft sie es nicht, mich anzusehen. Sie wischt sich über die Wangen und blinzelt gegen die Decke.

»Glaub, was du willst. Es ist mir gleich«, murrt Fox müde und ihre Arme hängen schlaff an ihr herunter. Plötzlich fällt mir auf, wie blass sie ist, wie dunkel und tief die Schatten unter ihren Augen sind.