Champagner aus Teetassen - Teffy - E-Book

Champagner aus Teetassen E-Book

Teffy

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Beschreibung

Der Bericht einer abenteuerlichen Flucht voller Schrecken und Komik. Teffy (1872-1952) war die berühmteste Satirikerin des Zarenreichs. Sie verkehrte in den exklusivsten Salons und saß mit Rasputin an einem Tisch. 1918 brach sie aus dem hungernden Moskau zu einer Lesereise nach Kiew auf. In Wirklichkeit jedoch floh sie wie andere Aristokraten, Künstler und gutbetuchte Bürger vor den Bolschewiki. Es wird eine Reise voller Gefahren für Leib und Leben und ein Abschied für immer. Eine grandiose Trouvaille in deutscher Erstübersetzung.

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Seitenzahl: 317

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Teffy alias Nadeshda Lochwizkaja (1872–1952)

Teffy

alias

Nadeshda Lochwizkaja

Champagner aus Teetassen

Meine letzten Tage in Russland

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Inhaltsübersicht

Vorwort der Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Nachwort

Anmerkungen

Fußnoten

Informationen zum Buch

Über Teffy

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Als Autorin halte ich es für geboten, darauf hinzuweisen, dass der Leser in diesem Buch weder berühmte Helden der beschriebenen Epoche mit tiefschürfenden Aussprüchen finden wird noch Entlarvungen der einen oder anderen politischen Richtung oder irgendwelche »Erhellungen und Schlüsse«.

Dies ist lediglich ein wahrhaftiger Bericht über meine unfreiwillige Reise durch ganz Russland mit einer riesigen Flüchtlingswelle aus Durchschnittsbürgern wie mir.

Der Leser begegnet darin überwiegend Menschen, die kaum von historischer Bedeutung sind, die ich aber originell oder amüsant fand, und Abenteuern, die mir komisch erschienen, und wenn ich dabei auch von mir erzähle, so nicht, weil ich meine Person für interessant halte, sondern allein deshalb, weil ich an den beschriebenen Abenteuern beteiligt war, weil ich diesen Menschen begegnet bin und all diese Dinge selbst erlebt habe, und nähme man dem Bericht diesen Kern, diese lebendige Seele, wäre er leblos.

Die Autorin

1

Moskau. Herbst. Kälte.

Mein Petersburger Dasein war liquidiert. Die Zeitschrift Russkoje slowo war eingestellt worden. Es gab keinerlei Aussichten für die Zukunft.

Das heißt, eine Aussicht hatte ich. Sie erschien jeden Tag in Gestalt des schielenden Odessaer Impresarios Guskin, der auf mich einredete, mit ihm nach Kiew und Odessa zu reisen, wo er für mich literarische Abende organisieren wolle.

Er argumentierte düster: »Haben Sie heute Weißbrot gegessen? Nu, morgen werden Sie das schon nicht mehr. Jeder, der kann, geht in die Ukraine. Aber niemand kann. Doch ich bringe Sie hin, ich zahle Ihnen sechzig Prozent von den Bruttoeinnahmen, im Hotel Londonskaja ist telegrafisch das beste Zimmer reserviert, direkt am Meer. Die Sonne scheint, Sie lesen ein, zwei Erzählungen, bekommen Geld dafür, kaufen sich Butter und Schinken, sind satt und sitzen in einem Café. Was haben Sie zu verlieren? Erkundigen Sie sich ruhig nach mir– mich kennt jeder. Mein Pseudonym ist Guskin. Ich habe auch einen richtigen Namen, aber der ist furchtbar schwierig. Bei Gott, fahren wir! Sie bekommen das beste Zimmer im Hotel International.«

»Sagten Sie nicht, im Londonskaja?«

»Nu, im Londonskaja. Was haben Sie gegen das International?«

Ich lief herum, mich zu beraten. Tatsächlich wollten viele in die Ukraine.

»Dieser Pseudonym, dieser Guskin, ist irgendwie seltsam.«

»Wieso seltsam?«, erwiderten Erfahrene. »Nicht seltsamer als andere. So sind sie alle, diese kleinen Impresarios.«

Die Zweifel beendete Awertschenko. Wie sich herausstellte, würde er mit einem anderen »Pseudonym« nach Kiew fahren. Ebenfalls zu einem Gastspiel. Wir beschlossen, zusammen aufzubrechen. Mit Awertschenkos Pseudonym reisten außerdem zwei Schauspielerinnen, die Sketche aufführen sollten.

»Nu, sehen Sie!«, triumphierte Guskin. »Jetzt müssen Sie sich nur noch um die Ausreisegenehmigung kümmern, dann läuft alles wie Brot mit Butter.«

Ich muss erwähnen, dass ich öffentliche Auftritte hasse. Ich kann mir nicht einmal erklären, warum. Ist eben ein Tick von mir. Und dann auch noch Pseudonym Guskin mit seinen Prozenten, die er »Perzente« nannte. Aber alle ringsum sagten: »Sie Glückliche, Sie können weg von hier!«, »Sie Glückliche– in Kiew gibt es Kuchen mit Creme.« Oder sogar nur: »Sie Glückliche– mit Creme!«

Alles lief darauf hinaus, dass ich mich auf den Weg machen musste. Alle um mich herum suchten nach Möglichkeiten für eine Ausreise, und wer es nicht tat, weil er nicht auf Erfolg hoffen konnte, der träumte zumindest davon. Leute, die sich Hoffnungen machten, entdeckten bei sich überraschend ukrainisches Blut, ukrainische Bande und Verbindungen.

»Mein Vetter besaß ein Haus in Poltawa.«

»Ich heiße eigentlich nicht Nefedin, sondern Nechwedin, von Chwedko, das kommt aus dem Kleinrussischen.«

»Ich liebe Zibulja1 mit Speck!«

»Die Popowa ist schon in Kiew, auch die Rutschkins, die Melsons, die Kokins, die Pupins, die Fiks, die Spruks. Alle sind schon dort.«

Guskin entfaltete Geschäftigkeit.

»Morgen um drei bringe ich den schlimmsten Kommissar der Grenzstation zu Ihnen. Ein Tier. Er hat gerade das ganze Ensemble der Fledermaus ausgezogen. Bis auf den letzten Faden geplündert.«

»Na, wenn sie schon Mäuse ausziehen, wie sollen wir da durchkommen!«

»Darum bringe ich den Mann her, zum Kennenlernen. Seien Sie nett zu ihm, bitten Sie ihn, uns passieren zu lassen. Heute Abend gehe ich mit ihm ins Theater.«

Ich begann, mich um die Ausreise zu kümmern. Zuerst in einer Institution, die für Theaterbelange zuständig war. Dort erteilte mir eine sehr verträumte Dame mit einer Frisur à la Cléo de Mérode, die dick mit Schuppen bestäubt war und von einem angelaufenen Kupferreif zusammengehalten wurde, die Erlaubnis zur Gastspielreise.

Dann folgten viele, viele Stunden in einer endlosen Schlange in einer Art Kaserne oder Baracke. Schließlich nahm ein Soldat mit Bajonett meine Papiere entgegen und brachte sie zu seinem Vorgesetzten. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und heraus kam »er persönlich«. Wer er war, weiß ich nicht. Aber er war, wie man damals sagte, »bis an die Zähne bewaffnet«.

»Sind Sie die und die?«

»Ja«, bekannte ich. (Leugnen war jetzt ohnehin zwecklos.)

»Die Schriftstellerin?«

Ich nickte stumm. Ich fühlte, dass alles verloren war– sonst wäre er nicht herausgeschossen gekommen.

»Also, seien Sie so gut und schreiben Sie Ihren Namen in dieses Heft. So. Setzen Sie das Datum dazu.«

Ich schreibe mit zitternder Hand. Weiß das Datum nicht mehr. Auch das Jahr nicht. Eine erschrockene Stimme hinter mir flüstert es mir zu.

»So-o!«, sagt »er persönlich« finster. Runzelt die Stirn. Liest. Und plötzlich verzieht sich sein drohender Mund zu einem schiefen Lächeln. »Das ist für mich… Ich wollte gern ein Autogramm!«

»Sehr schmeichelhaft!«

Die Genehmigung war erteilt.

Guskin entfaltete eine immer eifrigere Geschäftigkeit. Er schleppte den Kommissar an. Der Kommissar war grässlich. Kein Mensch, sondern eine Nase in Stiefeln. Es gibt Kopffüßer, und er war ein Nasenfüßer. Eine riesige Nase auf zwei Beinen. In einem Bein saß vermutlich das Herz, im anderen fand die Verdauung statt. Die Beine steckten in gelben Schnürstiefeln bis über die Knie. Offenkundig hatte der Kommissar eine Schwäche für diese Stiefel und war stolz auf sie. Ja, das war seine Achillesferse. In diesen Stiefeln saß sie– also wetzte die Schlange ihren Giftzahn.

»Man hat mir gesagt, dass Sie die Kunst lieben…«, holte ich weit aus und… unterbrach mich plötzlich, naiv und ganz Frau, als könnte ich den Impuls nicht beherrschen: »Ach, was für wundervolle Stiefel!«

Die Nase wurde rot und schwoll leicht an.

»M-m… die Kunst… ich liebe das Theater, auch wenn ich bisher selten…«

»Entzückende Stiefel! Sie haben geradezu etwas Ritterliches. Ich glaube, Sie sind überhaupt ein außergewöhnlicher Mensch!«

»Nein, wieso denn…«, verteidigte sich der Kommissar schwach. »Sagen wir, ich schwärme von Kindesbeinen an für die Schönheit und für Heldentum… für den Dienst am Volk…«

Die Begriffe »Heldentum« und »Dienst« waren für meine Angelegenheit gefährlich. Im Namen dieses Dienstes war die Fledermaus geplündert worden. Ich musste mich eher auf die Schönheit stützen.

»O nein, leugnen Sie es nicht! Ich spüre in Ihnen eine zutiefst künstlerische Natur. Sie lieben die Kunst, Sie fördern ihr Eindringen in die Volksmassen. Ja, in die Massen, in die Menge, in die Breite. Ihre Stiefel sind wundervoll… Solche Stiefel trug höchstens Torquato Tasso… wenn überhaupt. Sie sind genial!«

Der letzte Ausruf entschied die Sache. Zwei Abendkleider und ein Flakon Parfüm würden als Produktionsinstrumente die Grenze passieren dürfen.

Am Abend ging Guskin mit dem Kommissar ins Theater. Es lief die Operette Katharina die Große, die Autoren waren Lolo und ich…

Der Kommissar wurde weich, war gerührt und ließ mir ausrichten, dass »die Kunst tatsächlich etwas für sich« habe und dass ich alles ausführen könne, was ich bräuchte, er werde »schweigen wie ein Fisch auf dem Eis«.

Danach habe ich den Kommissar nicht mehr gesehen.

Die letzten Moskauer Tage verliefen wirr und chaotisch.

Aus Petersburg kam Kasa-Rosa, die Sängerin am Starinny teatr gewesen war. In diesen denkwürdigen Tagen offenbarte sie eine verblüffende Fähigkeit: Sie wusste, wer was hatte und wer was brauchte.

Sie kam herein, blickte mit ihren schwarzen Augen enthusiastisch in den Raum und sagte: »An der Ecke Kriwo-Arbatski-Gasse, im Laden von Surow, gibt es noch anderthalb Arschin Batist. Den müssen Sie unbedingt kaufen.«

»Aber ich brauche keinen.«

»O doch. In einem Monat, wenn Sie zurückkommen, wird es nirgendwo mehr welchen geben.«

Ein andermal kam sie außer Atem angerannt.

»Sie müssen sich sofort ein Samtkleid nähen lassen!«

»?«

»Sie wissen selbst, dass Sie unbedingt eins brauchen. An der Ecke Moskatelnaja verkauft eine Hausfrau einen Vorhang. Sie hat ihn gerade erst runtergerissen, ist noch ganz frisch, mitsamt den Nägeln. Das wird ein wundervolles Abendkleid. Das brauchen Sie unbedingt. Eine solche Gelegenheit kommt nie wieder.«

Ihr Gesicht war ernst, fast tragisch.

Ich habe eine schreckliche Abneigung gegen die Wendung »nie wieder«. Selbst wenn man mir zum Beispiel sagte, ich würde nie wieder Kopfschmerzen haben, wäre ich wahrscheinlich erschrocken.

Ich beugte mich Kasa-Rosa und kaufte den exklusiven Samt mit sieben Nägeln.

Seltsam waren diese letzten Tage.

Um eine Aufführung der Csárdásfürstin zu sehen, liefen wir durch die nächtlich schwarzen Straßen, in denen Passanten ermordet und ausgeraubt wurden, wir saßen in schäbigen Cafés voller Leute in zerrissenen, nach nassem Hund riechenden Mänteln und hörten jungen Dichtern zu, die Gedichte rezitierten und dabei heulten wie hungrige Wölfe. Diese jungen Dichter waren damals in Mode, und selbst der hochmütige Brjussow war sich nicht zu schade, höchstpersönlich einen von ihnen veranstalteten »erotischen Abend« zu leiten!

Alle wollten »unter Menschen« sein…

Allein zu Hause zu sitzen war unheimlich.

Man wollte ständig wissen, was sich tat, sich nach den anderen erkundigen.

Mitunter verschwand jemand, und es war schwierig, in Erfahrung zu bringen, wo er war– in Kiew oder dort, von wo er nicht zurückkehren würde?

Wir lebten wie im Märchen vom bösen Drachen Smej Gorynitsch, dem jedes Jahr zwölf junge Mädchen und zwölf junge Burschen geopfert werden müssen. Man fragt sich vielleicht, wie die Menschen in diesem Märchen einfach weiterleben konnten, da sie doch wussten, dass Gorynitsch ihre besten Kinder auffressen würde. Aber damals in Moskau meinten wir, dass bestimmt auch die Vasallen von Gorynitsch ins Theater gingen und sich Stoff für ein Kleid kauften. Der Mensch kann überall leben; ich habe selbst gesehen, wie ein Todeskandidat, den Matrosen zur Erschießung aufs Eis schleppten, über die Pfützen sprang, um keine nassen Füße zu bekommen, und den Kragen hochschlug, um seine Brust vor dem Wind zu schützen. Er wollte diese letzten Schritte seines Lebens mit dem größtmöglichen Komfort zurücklegen.

Genauso waren wir. Wir kauften irgendwelche »letzten Stoffreste«, hörten zum letzten Mal eine letzte Operette und letzte erlesen erotische Gedichte, ob schlecht, ob gut– ganz egal! –, nur weil wir nicht wissen, uns nicht bewusst machen, nicht daran denken wollten, dass man uns aufs Eis schleppte.

Aus Petersburg kam die Nachricht, eine berühmte Schauspielerin sei verhaftet worden, weil sie Erzählungen von mir vorgetragen hatte. Bei der Tscheka musste sie vor den strengen Richtern ihren Vortrag wiederholen. Sie können sich vorstellen, wie munter und fröhlich sie, von zwei Bewachern mit Bajonetten flankiert, den humoristischen Monolog vortrug. Und plötzlich, nach den ersten zittrigen Sätzen– welch erfreuliches Wunder! –, verzog sich das Gesicht eines der Richter zu einem Lächeln.

»Ich habe diese Erzählung bei einem Abend beim Genossen Lenin gehört. Sie ist vollkommen unpolitisch.«

Die beruhigten Richter baten die beruhigte Angeklagte, den Vortrag nun »als aktiven Unterhaltungsbeitrag« fortzusetzen.

Wahrscheinlich war eine kleine Reise gar nicht schlecht, wenigstens für einen Monat. Ein Klimawechsel.

Guskin wurde immer geschäftiger. Vermutlich mehr vor Aufregung denn aus Notwendigkeit. So ging er ohne Grund bei Awertschenko vorbei.

»Stellen Sie sich vor, wie entsetzlich«, erzählte er mir anschließend wild gestikulierend. »Ich komme heute früh um zehn zu Awertschenko, und er schläft, dass die Schwarte kracht. Er wird zu spät zum Zug kommen!«

»Wir fahren doch erst in fünf Tagen.«

»Aber der Zug geht um zehn. Wenn er heute so geschlafen hat, warum soll er nicht auch in einer Woche so schlafen? Und überhaupt sein Leben lang? Er wird schlafen, und wir werden auf ihn warten? Ganz was Neues!«

Er lief herum. Aufgeregt. Hektisch. Schlug mit den Flügeln wie ein aufgescheuchtes Huhn. Aber wer weiß, wie mein Schicksal ohne diese seine Energie verlaufen wäre. Ich grüße Sie, Pseudonym Guskin, ich weiß nicht, wo Sie jetzt sind…

2

Die geplante Abreise wurde immer wieder aufgeschoben.

Mal bekam jemand die Papiere nicht rechtzeitig, mal stellte sich heraus, dass unsere ganze Hoffnung, die gestiefelte Nase, noch nicht an seine Grenzstation zurückgekehrt war.

Ich war mit meinen Reisevorbereitungen fast fertig. Die Truhe war gepackt. Eine weitere Truhe, die antike russische Tücher enthielt (meine letzte Leidenschaft), war in Lolos Wohnung gebracht worden.

»Und wenn nun in dieser Zeit eine Woche der Armut oder im Gegenteil eine Woche der Eleganz ausgerufen wird und alle diese Sachen konfisziert werden?«

Ich bat, im Falle einer Gefahr zu erklären, dass die Truhe proletarischer Herkunft sei und der ehemaligen Köchin Fedossja gehöre. Um für bessere Glaubwürdigkeit und den gebotenen Respekt zu sorgen, legte ich obenauf ein Leninbild, auf dem stand: »Der lieben Fenitschka2 zum Dank für angenehmste Erinnerungen. Dein Dich liebender Wladimir.«

Später sollte sich erweisen, dass auch das nicht half.

Diese letzten Moskauer Tage verliefen in nebulösem Durcheinander. Menschen tauchten aus dem Nebel auf, wuselten herum, verschwanden wieder im Nebel, neue tauchten auf. Wie wenn man in der Frühjahrsdämmerung auf den Eisgang schaut– man sieht dort etwas treiben, eine Fuhre Heu oder eine Hütte, auf einer anderen Eisscholle vielleicht einen Wolf und verkohlte Holzscheite. Es wirbelt herum, dreht ab und verschwindet mit der Strömung für immer. Und du weißt nicht, was es eigentlich war.

Irgendwelche Ingenieure, Doktoren und Journalisten erschienen, eine Schauspielerin kam mehrfach vorbei.

Ein Bekannter von mir, ein Gutsherr, war auf dem Weg von Petersburg auf sein Gut in Kasan. Aus Kasan schrieb er, die Bauern hätten das Gut geplündert, und nun gehe er durch die Hütten und kaufe seine Bilder und Bücher zurück. In einer Hütte habe er ein Wunder gesehen: Mein von Schleifer gemaltes Porträt hing im Heiligenwinkel neben dem heiligen Nikolaus. Die Frau, der dieses Bild zugefallen war, hatte mich seltsamerweise für eine heilige Märtyrerin gehalten…

Überraschend wurde LidijaJaworskaja an unser Gestade getrieben. Sie war elegant wie immer, sprach davon, dass wir uns zusammentun und etwas organisieren müssten. Was genau, verstand allerdings niemand. Begleitet wurde sie von einem Boy-Scout mit nackten Knien. Sie nannte ihn hochtrabend »Monsieur Sobolew«. Dann drehte die Eisscholle ab, und die beiden verschwanden im Nebel…

Überraschend tauchte die Mironowa auf. Spielte ein paar Stücke in einem kleinen Theater am Stadtrand und verschwand ebenfalls.

Dann wurde eine sympathische Provinzschauspielerin in unseren Kreis geschwemmt. Ihr waren Brillanten gestohlen worden, und auf der Suche nach diesen Brillanten hatte sie sich um Hilfe an einen Kommissar für Kriminalfälle gewandt. Der Kommissar war ein sehr netter und liebenswürdiger Mann, er half ihr, und als er erfuhr, dass sie einen Abend im Kreis von Schriftstellern verbringen würde, bat er sie, ihn mitzunehmen. Er hatte noch nie einen leibhaftigen Schriftsteller gesehen und wollte gern einen Blick auf uns werfen. Die Schauspielerin bat uns um Erlaubnis und brachte den Kommissar mit. Er war der größte Mensch, den ich je gesehen habe. Seine Stimme dröhnte von weit oben herab wie eine Glocke, aber sie dröhnte höchst Sentimentales: Kinderverse aus einer Gedichtsammlung und die Versicherung, vor der Begegnung mit uns habe er nur nach dem Verstand gelebt, nun aber sei sein Herz erwacht.

Den lieben langen Tag jagte er Banditen. Er hatte ein Kriminalmuseum eingerichtet und zeigte uns eine Sammlung äußerst komplizierter Instrumente zum Durchtrennen von Türketten, zum lautlosen Öffnen von Schlössern und zum Zersägen eiserner Bolzen. Und Werkzeugkoffer, mit denen professionelle Diebe zur Arbeit gingen. Jeder Koffer enthielt immer eine kleine Taschenlampe, etwas zu essen und einen Flakon Eau de Cologne. Das Eau de Cologne verblüffte mich.

Merkwürdig– was für kultivierte Bedürfnisse, welche Vornehmheit, noch dazu in einem solchen Moment. Wie können sie sich mit Eau de Cologne besprengen, wenn jede Minute kostbar ist?

Die Erklärung war simpel: Das Eau de Cologne ersetzte ihnen den Wodka, der damals nicht zu kriegen war.

Wenn der Kommissar fertig war mit dem Banditenfangen, kam er abends in unseren Zirkel, staunte, dass wir »die Nämlichen« waren, und brachte mich nach Hause. Es war ein wenig unheimlich, an der Seite dieses Riesen nachts durch die stockfinsteren schwarzen Straßen zu gehen. Von allen Seiten kamen schaurige Geräusche, schleichende Schritte, Schreie, manchmal Schüsse. Aber am unheimlichsten war mir dieser Riese, der mich begleitete.

Manchmal klingelte in der Nacht das Telefon. Dann fragte der Schutzengel, der nun nicht mehr nur nach dem Verstand lebte, ob bei uns alles in Ordnung sei.

Aufgeschreckt durch das Telefonklingeln, beruhigten wir uns wieder und deklamierten:

Alpträume fliegen durch die Nacht

und suchen böse Sünder heim,

Schutzengel halten sorgsam Wacht

und hüten brave Kinderlein.

Der Schutzengel blieb uns bis zu unserer Abreise treu, brachte uns zum Bahnhof und bewachte das Gepäck, für das die Bahnhofs-Tschekisten großes Interesse bekundeten.

Wir Abreisenden hatten alle viel Kummer, gemeinsamen und jeder seinen eigenen. Tief hinter den Pupillen glomm ein Emblem dieser Trauer, wie Totenkopf und Gebeine auf der Mütze der »Todeshusaren«. Doch niemand sprach über diese Trauer.

Ich erinnere mich an die grazile Silhouette einer jungen Abenteurerin, die etwa drei Monate später verraten und erschossen wurde. Ich erinnere mich an meine Trauer über meinen jungen Freund Ljonja Kannegießer. Einige Tage vor der Ermordung Urizkis rief er mich an, nachdem er erfahren hatte, dass ich in Petersburg war, und sagte, er wolle mich unbedingt sehen, aber auf neutralem Boden.

»Warum nicht bei mir?«

»Das erkläre ich Ihnen dann.«

Wir verabredeten uns zum Mittagessen bei gemeinsamen Bekannten.

»Ich möchte die Leute, die mich überwachen, nicht zu Ihrer Wohnung führen«, sagte er, als wir uns trafen.

Ich hielt das für eine jungenhafte Pose. Damals gebärdeten sich viele junge Leute geheimnisvoll und sagten rätselhafte Dinge.

Ich dankte ihm und fragte nicht weiter.

Er war an diesem Abend sehr traurig und seltsam still.

Ach, wie oft erinnern wir uns später daran, dass unser Freund bei der letzten Begegnung traurige Augen und blasse Lippen hatte. Und hinterher wissen wir immer, was wir damals hätten tun sollen, wie wir die Hand des Freundes hätten nehmen und ihn aus dem schwarzen Schatten hätten herausführen sollen. Aber ein verborgenes Gesetz scheint uns daran zu hindern, unser vorbestimmtes Tempo zu durchbrechen. Es ist keineswegs Egoismus oder Gleichgültigkeit, denn manchmal wäre es leichter, innezuhalten als vorüberzugehen. So wollte der große Autor des tragischen Romans Das Leben des Leonid Kannegießer, dass wir unser Tempo beibehielten und vorübergingen. Wie im Traum– ich sehe und fühle alles, ja, ich weiß es beinahe, aber ich kann nicht innehalten…

Auch wir Schriftsteller, »Nachahmer Gottes« und seines Schöpfertums, wie ein zeitgenössischer französischer Literat uns nennt, auch wir erschaffen Welten und Menschen und bestimmen ihre Schicksale, manchmal ungerechte und grausame. Warum wir gerade so und nicht anders handeln, wissen wir nicht. Und können auch nicht anders.

Ich erinnere mich, bei der Probe eines Stückes von mir kam einmal eine blutjunge Schauspielerin zu mir und sprach mich schüchtern an: »Darf ich Sie etwas fragen? Werden Sie mir auch nicht böse sein?«

»Natürlich. Ich werde nicht böse sein.«

»Warum haben Sie es so gemacht, dass dieser tollpatschige Junge am Ende Ihres Stückes seine Stelle verliert? Warum sind Sie so böse? Warum wollten Sie nicht, na ja, wenigstens eine andere Stelle für ihn finden? Und in einem anderen Stück steht der arme Handlungsreisende am Ende dumm da. Das ist doch nicht schön für ihn. Warum machen Sie das? Können Sie das alles denn nicht irgendwie ändern? Warum nicht?«

»Ich weiß nicht… Ich kann es nicht… Das hängt nicht von mir ab…«

Aber sie bat so flehend, ihre Lippen zitterten so, und sie war so rührend, dass ich versprach, ein Märchen zu schreiben, in dem ich alle, die ich in meinen Erzählungen und Stücken gekränkt hatte, vereinen und belohnen würde.

»Wunderbar!«, rief die Schauspielerin. »Das wird das Paradies!«

Sie küsste mich.

»Aber ich befürchte eines«, unterbrach ich sie. »Ich befürchte, dass unser Paradies niemanden trösten wird, denn jeder wird merken, dass wir es nur erfunden haben, keiner wird uns glauben…«

Nun denn, eines Morgens fuhren wir zum Bahnhof.

Guskin war am Abend zuvor unermüdlich herumgelaufen– von mir zu Awertschenko, von Awertschenko zu dessen Impresario, vom Impresario zu den Schauspielern, hatte aus Versehen an den falschen Wohnungstüren geklingelt, die falschen Telefonnummern angerufen, und am nächsten Morgen um sieben kam er bei mir hereingerannt, schweißgebadet, schnaubend wie ein überhitztes Pferd. Er warf einen Blick auf mich und winkte resigniert ab.

»Natürlich. Ganz was Neues. Wir kommen zu spät zum Bahnhof!«

»Das kann nicht sein! Wie viel Uhr ist es?«

»Sieben, gleich zehn. Der Zug geht um zehn. Alles ist aus.«

Wir gaben Guskin ein Stück Zucker, er knabberte die Papageienleckerei und beruhigte sich allmählich.

Unten hupte das von unserem Schutzengel geschickte Automobil.

Ein herrlicher Herbstmorgen. Unvergesslich. Oben blau mit goldenen Kuppeln. Unten alles grau und schwer, die Augen in tiefer Traurigkeit erstarrt. Rotarmisten treiben eine Gruppe Verhafteter an… Ein hochgewachsener Greis mit einer Bibermütze trägt ein in ein leuchtend rotes Frauentuch geschnürtes Bündel… Eine alte Dame in einem Militärmantel betrachtet uns durch eine bronzene Lorgnette… Eine Schlange vor einem Milchladen, in dessen Schaufenster Stiefel stehen…

Leb wohl, mein liebes Moskau. Nicht für lange. Nur für einen Monat. In einem Monat bin ich zurück. Und was dann wird, darüber darf ich nicht nachdenken.

»Wenn man auf dem Seil läuft«, hat ein Akrobat einmal zu mir gesagt, »darf man nie daran denken, dass man runterfallen könnte. Im Gegenteil. Man muss daran glauben, dass man es schafft, und vor sich hin singen.«

Ein heiteres Motiv aus der Csárdásfürstin mit unglaublich idiotischem Text klingt mir in den Ohren:

Das ist die Liebe,

die dumme Liebe,

die macht das Männchen wie den Auerhahn so blind!

Welcher Esel hat dieses Libretto geschrieben? Vor dem Bahnhof warten Guskin und der riesige Kommissar, der es leid ist, nur nach dem Verstand zu leben. Mein liebes Moskau, leb wohl. In einem Monat sehen wir uns wieder.

Seitdem sind zehn Jahre vergangen…

3

Die Reise begann recht glatt.

Wir saßen in einem Waggon zweiter Klasse, jeder hatte seinen Platz, nicht unter der Bank oder im Gepäcknetz, sondern wie es sich für richtige Reisende gehört.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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