Changers: alle vier Bände in einem E-Book - T Cooper - E-Book

Changers: alle vier Bände in einem E-Book E-Book

T Cooper

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Beschreibung

Alle vier Bände einer außergewöhnlichen und mitreißenden Geschichte. Wenn du deine Identität nicht kennst – wer bist du dann? Der 14-jährige Ethan wacht eines Morgens als Mädchen auf und plötzlich ist alles anders. Ethan ist jetzt Drew. Sie erfährt, dass sie ein Changer ist - einer von wenigen Menschen, die viermal ihre Identität wechseln, bevor sie sich für eine entscheiden müssen. Die Gebote der Changers sind streng: Vertraue dich niemandem an. Missbrauche nie die Macht, die dir gegeben wurde. Doch vor allem: Verliebe dich nie, aber auch wirklich nie, in einen anderen Changer ... 1. Band: Drew 2. Band: Oryon 3. Band: Kim 4. Band: Kyle

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EPUB

Seitenzahl: 1375

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T COOPER

ALLISON GLOCK

CHANGERS

BAND 1–4

KOSMOS

Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge GmbH Kilchberg (Schweiz)

unter Verwendung einiger Fotos von © GlebStock/Shutterstock und © ostill/Shutterstock

Diese Geschichte ist frei erfunden. Alle Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entspringen der Fantasie der Autoren. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Ereignissen und lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014-2018, T Cooper und Allison Glock-Cooper, originally published in English by Akashic Books, New York (akashicbooks.com)

Aus dem Englischen von Manuela Knetsch, Ulrike Brauns und Anja Herre

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

weitere Informationen zu unseren Büchern,

Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und

Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2019, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-50027-9

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

T COOPER

ALLISON GLOCK

CHANGERS

DREW

Aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Manuela Knetsch

KOSMOS

Für jede/n, der/die je in den Spiegel gesehen hat und die Person, die er/sie dort erblickte, nicht wiedererkannte.

Bevor er zu demjenigen wurde, zu dem er bestimmt war, bevor er diese vier Jahre, genannt Highschool-Zeit, durchlebt hatte, diese vier Jahre, in denen alles, was ihm jemals vertraut gewesen war, sich in Luft auflöste, in denen ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und in denen er sich verliebte und er sah, wie Menschen furchtbar sinnlose Tode starben, und er Leben rettete, ohne sich bewusst zu sein, wie, und er alles falsch machte, bis er einige wichtige Dinge richtig machte, bevor er verstand, dass er nicht auserwählter war als jeder andere (auch wenn sie ihm etwas anderes erzählt hatten), und sich seine Macht zunutze machte, die Macht, die er niemals gewollt hatte, von der er niemals geglaubt hätte, dass er sie verstehen könnte, bevor irgendetwas von alldem und hundert andere schreckliche, wundersame, wahnsinnige, magische Dinge geschahen, war er nur ein Junge namens Ethan, der in Tennessee in den USA lebte.

HERBST

PROLOG

ETHAN

»Gute Nacht«, sage ich, und dann halblaut »Oh Mann«. Mom und Dad sind gerade ungefähr zum zwanzigsten Mal in mein Zimmer gekommen und haben mir Gute Nacht gesagt. So, als ob sie irgendwie nicht wollen, dass ich einschlafe. Es ist ja wohl nicht so, dass ich zum Militär einberufen werde oder heirate; es ist nur die Highschool. Jeder hat mal einen ersten Tag an der Highschool. Ich weiß, ich weiß, abgesehen von denen, die ihre Tage damit zubringen, einen Wassertrog 20 Meilen weit auf dem Kopf zu tragen, damit ihre Familie überlebt, und die sich den Luxus höherer Schulbildung nicht leisten können. Ich meine eher, jeder durchschnittliche amerikanische Teenager, so wie ich.

»Wir wollen nur, dass du weißt …«, beginnt Dad.

Mom unterbricht ihn. »Wir lieben dich, Ethan«, platzt es aus ihr heraus. Sie hat Tränen in den Augen. Schon wieder. »Du hast dich so verständnisvoll gezeigt, als es um den Umzug ging, und dein Vater und ich … Wir wollen einfach nur, dass du weißt, wie sehr wir schätzen, wer du bist.«

Ich drücke sie und tätschle ihr (ich gebe zu, ein wenig herablassend) den Rücken. Betätige den Lichtschalter über ihrer Schulter. Dann macht Dad weiter mit der Umarmerei, und jetzt stehen wir hier in einer Männerumarmung, ich habe nur meine Totenkopf-Boxershorts an, und langsam geht es mir dann doch etwas zu sehr wie in einer rührseligen Schnulze zu, und plötzlich kann ich mich nicht mehr erinnern, ob ich meine Lieblingsjeans gewaschen habe oder nicht, die hautenge mit dem Riss, wo ich, am Tag bevor wir nach Genesis, Arkantuckasee gezogen sind, mit dem Skateboard hingeknallt bin und mir das Knie böse aufgeschlagen habe, weil ich einen simplen Kickflip auf ein paar Treppenstufen versucht habe. Okay. Es ist eigentlich Genesis in Tennessee, aber wo ist da der Unterschied? Es gibt kein Arthouse-Kino hier. Keinen Skatepark. Keine Veggie-Bar. Es könnte ebenso gut der Mond sein. Der Mond mit ungefähr tausend Fried-Chicken-Restaurants. Nicht dass ich was gegen Chickenwings hätte. Aber es würde doch wohl keinem wehtun, wenn hier mal, keine Ahnung, auch nur ein anständiger mexikanischer Taco-Laden aufmachen würde?

Endlich gehen sie aus dem Zimmer und ich springe ins Bett. Dabei schrecke ich meinen Pitbull Snoopy auf, der sich erhebt, im Kreis dreht, sich dann wieder am Bettende zusammenrollt und einen gewaltigen Hundeseufzer von sich gibt, so als ob ich ihm wirkliche Qualen bereitet habe, weil er sich einen ganzen halben Meter zur Seite bewegen musste. Das ist erst meine zweite Nacht in diesem Zimmer. Ich kenne noch nicht einmal die Muster, die die Lichter an die Wand werfen. (In meinem alten Zimmer in New York wusste ich, dass sich die Scheinwerfer, wenn sie sich auf meinen Schranktüren von links nach rechts bewegten, auf der Straße eigentlich von rechts nach links bewegten.) Die Fäden der Wunde in meinem Knie jucken wie die Hölle. Ich weiß, dass ich mich nicht kratzen soll, aber wenn ich mich wirklich daran halte, können sie mich vermutlich bald in die Klapse einweisen. Wenn ich so darüber nachdenke, frage ich mich, wo sie mir wohl die Fäden ziehen werden, jetzt, da ich nicht mehr zu Dr. Reese gehen kann. »Ich hab dich auf diese Welt geholt«, sagt er jedes Mal, wenn ich in seiner Praxis sitze, »also denk dran, dass ich dich jederzeit auch wieder hinausbefördern kann, wenn du deinen Leuten Ärger machst.« (Und dann pikst er mich mit einer Nadel.)

Es sind noch tonnenweise Umzugskartons auszupacken – mein Schlagzeug liegt auseinandergenommen und verstaut im Keller. Schon verrückt, dass mein komplettes Leben buchstäblich in vier oder fünf Stapeln gebrauchter Umzugskartons steckt. Meine Fußballtrophäen, mein erstes zerbrochenes Skateboard, sogar Lämmchen (das Stofftier, das mich anscheinend schon am Tag meiner Geburt vom Krankenhaus nach Hause begleitet hat). Irgendetwas in mir würde am liebsten alles in den Kartons lassen und noch mal ganz von vorn anfangen. Du kannst es, das weißt du, denke ich, wie ich da so auf dem Rücken in der Dunkelheit liege, den Kopf in den Handflächen. Verdammt, ich stinke unter den Armen. Ich schätze, die haben das im Sexualkundeunterricht wirklich ernst gemeint: Veränderungen, die dich verunsichern, die aber dennochvollkommen natürlich sind. Dabei ist an diesem Ganzkörper-Feuchtgebiet ganz und gar nichts »natürlich«. Auf der ganzen Welt gibt es nicht genug Deo dagegen. Ich werd morgen früh duschen.

Vielleicht könnte ich morgen einfach aufwachen und der Typ sein, der ich immer schon sein wollte: selbstbewusst, witzig, groß (bin den Sommer über 5 Zentimeter gewachsen!). Mit Erfolg bei den Ladys. Niemand hier muss wissen, dass ich noch nie mehr als nur rumgeknutscht oder dass ich in der vierten (okay, fünften) Klasse noch am Daumen gelutscht habe – oder überhaupt irgendetwas über mich. Mom hat noch nicht einmal angefangen, peinliche Familienfotos in der Wohnung aufzustellen, was merkwürdig ist, jetzt, wenn ich so darüber nachdenke, weil unsere Häuser und Wohnungen immer überflutet waren von Bildern, auf denen mir mein Ich aus jedem Lebensjahr entgegenstarrte. Mit unzähligen miesen Frisuren.

Hier liege ich, sehe den Lichtern zu, die ab und an in alle möglichen Richtungen über die Wände flackern, unregelmäßig und sinnlos. Jedes Aufleuchten erschreckt mich. Verrückt, in einem megaschicken, aber langweiligen Wohnkomplex inklusive Portier und Liftboy außerhalb einer Stadt zu leben, in der ich noch niemals gewesen bin. Verrückt, nicht einfach den Block runter zu Andys Haus skaten zu können und sich eine Limo aus dem Kühlschrank in der Garage zu nehmen. Verrückt, dass ich nicht schlafen kann – ich bin normalerweise schon weg, sobald mein Kopf auf dem Kissen aufschlägt. Vielen Dank auch, Mom und Dad, dass ihr mir mit eurem ewigen »Mach’s gut und gute Nacht«-Marathon den Schlaf geraubt habt.

Ich wälze mich im Bett herum. Drehe mich noch einmal auf die andere Seite, als Zugabe. Es ist heiß. Und schwül, obwohl die Klimaanlage läuft. Das ist auch nicht mein Kissen. Dieses Kissen nervt. Ich beschließe, mir in Gedanken eine Liste von all den Dingen zu machen, die ich im ersten Jahr auf der Highschool schaffen will:

1.Mir eine Freundin zulegen. Und zwar eine richtige. Nicht irgendein Mädchen, das eine Freundin ist. Keine, die anruft, um mir von dem Typen zu erzählen, den sie toll findet und der nicht mal weiß, dass sie ihn toll findet, und die mich nebenbei fragt, ob sie sich einen Pony schneiden lassen soll!

2.Noch besser in Mathe werden. War nur ein Witz! Mathe ist mir sowas von schnuppe – ich muss es nur so gut draufhaben, dass meine Eltern mich dieses Jahr nicht wegen meiner Noten nerven.

3.Einen Laser-Flip auf dem Skateboard machen.

4.Es in ein Team schaffen. Ist mir egal, welches, solange es was mit Sport zu tun hat und nicht der Debattierclub ist, das Schulorchester oder irgend so was Glee-Mäßiges.

5.Gewichte heben/Muskeln aufbauen. Keine übertriebenen Muskeln. Nichts Steroid-Mäßiges oder so. Ich bin ja kein Tier.

6.Mir eine Freundin zulegen. Moment, das hatte ich schon.

Das wär’s. Und …? Ich bin immer noch nicht müde. Was zur Hölle ist mein Problem? Die Fäden machen mir immer noch zu schaffen und ich versuche verzweifelt, mich zu beherrschen und sie nicht mit den Fingernägeln herauszureißen. Ich klopfe mit der flachen Hand auf die Wunde. Funktioniert nicht – stattdessen juckt es nur noch mehr. Ich habe Bauchschmerzen. Nein, keine richtigen Schmerzen, eher ein mulmiges Gefühl im Bauch. Und ich bin durchgeschwitzt. Hoffentlich werd ich nicht krank. Nicht an meinem ersten Tag. Ich schlage die Bettdecke zurück und gehe ins Bad, mache das Licht an und schaue in den Spiegel. Meine Backen sind rot. Aber meine Haare sehen abgefahren aus. Zum Glück war ich noch bei diesem coolen Friseur, bevor wir aus New York weggezogen sind.

Ich spritze mir etwas Wasser ins Gesicht. Schaue mir mein Spiegelbild an und sehe nach, ob sich schon Barthaare auf meinem Kinn zeigen. Vielleicht da links, neben den drei Sommersprossen? Nope. Na ja, es gibt immer ein Morgen.

Meinem Bauch scheint es jetzt etwas besser zu gehen. Ich gehe zurück ins Zimmer und wühle in einem der Umzugskartons nach Lämmchen. Es muss mal gewaschen werden. Ist immer noch niedlich. Aber ich werde es nicht mit ins Bett nehmen. Dafür bin ich drei Jahre zu alt. Ich setze Lämmchen auf den Schreibtisch, sodass ich es sehen kann.

Verdammt, ich hasse dieses Kissen. Wo ist mein altes Kissen? Ich schnappe mir meinen iPod, stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und lasse mich zurück ins Bett fallen. Drücke auf Shuffle. Wieder flackern einige Lichter durchs Zimmer, springen von Wand zu Wand. Ich schließe die Augen und versuche es mit diesem Entspannungs-Atem-Ding, das ich neulich im Fernsehen gesehen habe, als Mom eine Talkshow geschaut hat. Vier-sieben-acht. Oder war es sieben-vier-acht? Ich atme sieben Sekunden lang ein, halte den Atem vier Sekunden lang an und atme dann acht Sekunden lang aus. Atme vier Sekunden lang ein, halte sieben Sekunden, atme dann acht Sekunden lang aus. Ja, das ist es, fühlt sich gut an …

···

Ich höre Mom und Dad draußen vor meiner Zimmertür herumschleichen. Was ist denn los mit denen? Ist das die Midlife-Crisis? Bettelt Mom um ein neues Baby und wird Dad seinen Wagen gegen einen (hoffentlich!) Z4 Roadster Cabrio eintauschen? Ich schiele nach der Digitaluhr: 6:57 Uhr. Ich hätte noch 18 Minuten Glückseligkeit vor mir, und sie machen es mir kaputt.

Ich kann Mom flüstern hören: »Glaubst du, er ist schon wach?« Dad antwortet nicht. Ich kann mir gerade noch die Decke über den Kopf ziehen, als die Tür aufgemacht wird. Stille. Ich weiß, dass sie mich beobachten. Ich kann sie beinahe atmen hören. Mein eigener Drachenatem sorgt dafür, dass es unter der Decke ganz schön stickig wird. Wann sind meine Eltern eigentlich zu Stalkern geworden? Die Tür wird wieder zugemacht. Ich lausche noch ein paar Sekunden, um sicherzugehen, dass ich alleine bin, dann schlage ich die Decke zurück. Jetzt sehe ich, dass Snoopy nicht am Fußende des Bettes liegt, wie er das eigentlich jeden Morgen getan hat, seit wir ihn gerettet haben. Seit ich sieben war. 6:58 Uhr.

Als Nächstes höre ich das Klingeln des Weckers, das sich in mein Gehirn gräbt, und für den Bruchteil einer Sekunde – was jeden Morgen geschieht, wenn mich ein durchdringendes Geräusch weckt – fühlt sich die Welt wie ein furchtbarer Ort an und in ihr zu leben scheint mir unmöglich zu sein. Ich ziehe mir das beschissene Kissen vom Gesicht und taste auf meinem Nachttisch herum, bis meine Finger den Wecker finden und abstellen. 7:15 Uhr. Jaaa. Zeit, sich in eine riesige neue Schule zu begeben und der namenlose neue Loser der Stadt zu werden. Sich auf dem Weg in die Klasse zu verirren, einsame Mittagessen in einer Ecke der Cafeteria zu genießen, mit unmöglich zu öffnenden Schließfächern zu kämpfen, sich für den Sportunterricht vor Typen auszuziehen, die aussehen wie Spieler der National Football League. Kurz und gut – die übliche Supersache.

Ich setze mich auf und greife nach dem alten, schwarzen Slayer-Shirt, das ich gestern Abend auf den Boden hab fallen lassen. Ziehe es mir über den Kopf, will in Richtung Bad taumeln. Meine Augen sind erst einen Spaltbreit offen, während ich den Kopf durch das Shirt stecke, und plötzlich sehe ich jemanden im Standspiegel hinter meiner Zimmertür. WAS ZUM …? Es ist noch jemand im Zimmer. Ich reiße die Augen auf. Hallöchen! Ich ziehe das T-Shirt runter und trete einen Schritt an den Spiegel heran. Sie trägt das gleiche verblasste Slayer-Shirt wie ich, es hat sogar an denselben Stellen Löcher. Das ist ja scheiße, ich dachte, es wäre ein Einzelstück.

Moment mal, haben meine Eltern deswegen so einen Wirbel veranstaltet? Ist das irgendeine lang vermisste Cousine oder so? Irgendeine Hinterwäldler-Verwandte, die hergekommen ist, um bei uns zu wohnen und unser Leben mit ihrem spießigen Gelaber und ihren verdammt heißen, Hotpants tragenden Freundinnen zu bereichern? Vermutlich heißt sie »Brittney« oder »Sunflower« oder irgend so was, das unschuldig und verrucht zugleich klingt. Das könnte interessant werden.

Ich hebe die Hand und deute ein Winken an. Sie tut dasselbe. Ich reibe mir die Augen, so, wie man es immer in Zeichentrickfilmen sieht, und schaue wieder hin. Cousine Brittney ist ein ganz schön heißer Feger, falls man das überhaupt über seine Cousine sagen darf, ohne dass es gleich nach Inzest klingt. Lange, glatte, hellblonde Haare – die Art von Blond, die nicht aus der Tube stammt – und große, wilde grüne Augen, eine Knaller-Figur. Ein bisschen kleiner als ich. Sie trägt … auch eine Totenkopf-Boxershorts. Wie krass.

Schluss jetzt mit der Zirkus-Pantomime. Ich drehe mich um und will etwas sagen wie »Hey, ich bin …«, aber da steht niemand. Ich drehe mich wieder zum Spiegel: Da ist Brittney noch immer und sieht mich an. Ich gehe näher heran. Sie auch. Okay, schon verstanden. Das ist ein Traum, verdammt, der durchgeknallteste Traum, den ich je hatte. Und er ist noch nicht zu Ende. Ach ja, natürlich, weil ich gestern kurz vor dem Einschlafen so besessen davon war, mir eine Freundin zuzulegen, habe ich mir jetzt ein imaginäres Traummädchen heraufbeschworen. Ganz schön erbärmlich. Aber hey, damit komm ich schon klar. Ich strecke die Hand aus, um sie zu berühren, und sie streckt die Hand aus, um mich zu berühren. Wir kommen uns näher. Mein Blick wandert hinunter zu ihren Brüsten. Meine Fingerspitzen berühren ihre Fingerspitzen im Spiegel, und dann machen meine Hände aus irgendeinem Grund eine Kehrtwendung und landen auf meinen eigenen Brüsten. Ich schaue an mir hinab und ziehe das T-Shirt nach vorn, um hineinzusehen.

Heilige Sch…

»MOOOOM!!«, schreie ich in einer hohen Stimme, die mich erschreckt.

In der nächsten Sekunde steht Mom bei mir im Zimmer. Sie hat mich kaum angesehen, da beginnt sie auf und ab zu hüpfen wie eine Dreijährige auf dem Kindergeburtstag. Dann schreit sie meinem Dad über die Schulter zu: »Es ist ein Mädchen!«

Sie drückt mich an sich und beginnt zu weinen. Im Spiegel sehe ich, wie sie dieses Mädchen umarmt, aber mich selbst kann ich nirgendwo entdecken. Ich sehe einen Film, in dem Schauspieler die Rollen spielen. Mir zittern die Knie. Mein Dad kommt herein, auch er hat Tränen in den Augen. Es kommt mir vor, als wäre ich gerade aus dem Krieg heimgekehrt. Alle sind so außer sich vor Freude, mich zu sehen – sogar der Hund hat seinen Kopf ins Zimmer gesteckt, um nachzuschauen, was die ganze Aufregung soll. Ich befreie mich aus Moms Umarmung.

»Ich träume gar nicht, stimmt’s?«

Meine Mom schüttelt den Kopf. Ich habe sie noch nie so hemmungslos weinen sehen. »Wir waren uns nicht ganz sicher, ob du dich wirklich verändern würdest …«, stammelt sie.

»Deshalb haben wir dir nichts erzählt«, ergänzt mein Dad.

»Was nicht erzählt?«

Sie sehen sich an, dann hockt sich meine Mom aufs Bett und gibt mir ein Zeichen, dass ich mich zu ihr setzen soll. Ich bleibe lieber stehen, verschränke die Arme (weiche Haut streicht über meinen Unterarm, was zur Hölle?!) und lehne mich gegen die Wand. Mein Dad zieht sich den Schreibtischstuhl heran.

»Also, Eth…«, sagt meine Mom, unterbricht sich aber im nächsten Augenblick selbst. »Wir hatten gehofft, dass dies geschehen würde, aber …«

»Ich bin Ethan!«, unterbreche ich sie, wieder mit dieser piepsigen Stimme, die ich nicht unter Kontrolle bekomme. »Weshalb nennst du mich nicht einfach Ethan?« Ich höre mich an wie ein Teletubby.

»Aber man kann sich nie sicher sein, ob man tatsächlich auserwählt wird«, fährt Mom fort.

»Auserwählt? Für was denn auserwählt? Wovon redet ihr?«, frage ich und schaue von einem zum anderen.

»Setz dich hin«, sagt Dad, was ich nicht will, aber ich habe das Gefühl, dass ich gleich den Boden küsse, wenn ich es nicht tue. »Du bist ein Changer.«

»Ein was?«, frage ich und setze mich. Ich sehe, dass Snoopy nicht in mein Zimmer kommen will.

»Ein Changer – jemand, der sich verändert, Liebes«, sagt Mom.

»Nein, ich bin Ethan.«

Sie sehen mich mitleidig an.

»Changers sind eine alte Menschenart«, sagt Dad. »Und du bist einer von ihnen, mit dem Ziel, die Welt zu verbessern.«

»Ihr seid doch verrückt«, erwidere ich. »Wollt ihr mich veräppeln? Ist das irgendein raffinierter Streich oder so? Weil das nämlich nicht witzig ist. Das ist überhaupt nicht witzig.«

»Ich bin auch ein Changer«, fährt Dad fort. Er spricht langsam und wohlüberlegt, so, wie er normalerweise nur mit unserem 98jährigen Urgroßonkel redet. »Deine Mutter ist eine Konstante und eines Tages wirst du dich mit einem Konstanten wie ihr zusammentun, und mit etwas Glück wird eurer Kind auch ein Changer werden.«

Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Augenblick explodieren.

»Du wirst dabei helfen, die Welt ein wenig besser zu machen!« Mom macht einen auf Echo, sie hat das Mantra ganz klar geschluckt.

Ich schaue in ihre funkelnden Augen. Ihr praktisch geschnittener Bob kräuselt sich an den Haarspitzen, genau über ihrem »Ich habe den Grand Canyon durchwandert!«-Shirt. Was sie nie getan hat. Sie sagt, sie hat das Shirt wegen der Farben gekauft. Aber das T-Shirt ist eine Lüge. Genau wie das hier alles eine Lüge sein muss.

»Ich scher mich einen Dreck um den Rest der Welt, ich will einfach nur zur Highschool gehen.«

»Das wirst du«, platzt sie begeistert heraus, als ob das hier das Beste wäre, was ihr im ganzen Leben widerfahren ist. »Und am ersten Schultag eines jeden Highschool-Jahres wirst du als jemand anderer aufwachen und ein ganzes Jahr lang diese Person sein.«

»Warte, meinst du damit, diese … Sache wird mir noch ganze drei Mal passieren?«

»Ja, und nach dem Highschool-Abschluss wirst du dich dann entscheiden, wer du für immer sein willst«, erklärt Dad, als ob das, was er da gerade gesagt hat, nicht völlig eindeutig verrückt klingen würde.

»Oh, super, ich kann also nach diesem Trip in die bizarre Welt des unbekannten Horrors wieder ich selbst werden«, sage ich und bin tatsächlich erleichtert über dieses winzige Licht am Ende des vierjährigen Tunnels.

»Nein. Du kannst dich nicht für die Person entscheiden, die du gewesen bist, bevor die Veränderungen begannen«, sagt Dad und zuckt leicht mit den Schultern, so als wolle er sagen: Ich mache die Regeln schließlich nicht. Er seufzt, streicht sich übers Haar, das er noch nicht gekämmt hat. Es bleibt senkrecht in der Luft stehen. Ein Mini-Indianerzelt.

»Das ist Bullshit!« Ich merke, dass Dad langsam sauer wird. Mom hingegen versucht wieder, mich in den Arm zu nehmen, aber ich weiche ihr aus.

»Ich weiß, dass es sich im Augenblick noch nicht so anfühlt, aber du hast damit ein unglaubliches Geschenk erhalten«, sagt sie. »Du wirst eine Reise machen, wie sie nur wenige tun können. Wer hat sich denn nicht schon mal gewünscht, jemand anderer zu sein?«

»Klar. Zum Beispiel Jay-Z. Oder Channing Tatum. Aber kein Mädchen. Kein blondes Mädchen …« Ich kann nicht mehr weitersprechen.

»Denk an all die Einblicke, die du bekommen wirst!«, sagt Mom.

»Hast du dir jemals irgendwelche 14-Jährigen angesehen, Mom? All die Kids im Einkaufszentrum? Die sind doch nicht auf der Suche nach Einblicken!«

Sie steht einfach nur da, hat die Arme um den Oberkörper geschlungen und sieht mich anerkennend an. Dad stellt sich hinter sie und legt ihr die Hände auf die Schultern.

Dann trifft mich schlagartig die Erkenntnis: »Ihr meint, ihr zwei habt die ganze Zeit über gewusst, dass mir das passieren kann, aber beschlossen, mir nichts davon zu erzählen?«

Meine Eltern sehen sich kurz an, bevor Mom sagt: »Du solltest ein möglichst normales Leben führen können.«

»Normal? Wirklich?« Wieder betrachte ich Cousine Brittney, ich meine, mich selbst, im Spiegel.

»Und«, fährt Mom fort, »es gibt immer die Möglichkeit, dass einer Beziehung zwischen Changer und Konstanter keine Changers-Nachkommen gestattet werden.«

»Tja, klingt aber trotzdem wie etwas, das man vielleicht mit jemandem teilen möchte, weißt du, etwa so: Dein Dad ist ein ABSOLUTER MUTANTEN-FREAK. Und du könntest auch einer sein!«

Ich renne ins Badezimmer und knalle die Tür hinter mir zu. Sehe mein Spiegelbild an. Alles, was ich tue, macht dieses verdammte Mädchen mir nach. Ob ich die Augenbraue hebe, abwechselnd mit den Augen zwinkere, einen Kussmund mache oder die Zunge rausstrecke – ich bin das Mädchen im Slayer-Shirt. Da führt kein Weg dran vorbei. Mir ist schwindelig. Ich hebe meine langen Haare hoch und lasse sie mir über die Ohren fallen. Ich reiße die Zahnbürste aus dem Becher und quetsche Zahnpasta darauf. Ich jage die Zahnbürste durch meinen Mund und schaue dieses Mädchen an, mich selbst? Ich lausche an der Tür, aber meine Eltern sagen nichts. Ich höre auf zu putzen, spucke, spüle den Mund aus. Schicke antibakterielle Mundspülung hinterher. Spucke noch mal aus.

»Ich wollte dich nicht Freak nennen«, sage ich zu meinem Dad, sobald ich die Tür geöffnet habe.

»Wir wissen, wie seltsam das ist«, sagt Dad, »und zuerst wird es schwer werden. Aber vertrau mir, irgendwann wirst du den Dreh raushaben.«

»Ich wünschte nur, es hätte mir jemand erzählt.«

»Sie wollen nicht, dass wir etwas sagen, solange wir nicht sicher sind«, sagt Dad.

»Sie? Wer sind sie?«, frage ich.

»Die Leute vom Rat der Changers«, erwidert er, während Mom einen dicken Umschlag in die Hand nimmt.

»Vom was?«

»Der Rat lenkt und regiert die Changers. Die Leute da leiten und beschützen uns. Ohne sie würde das reinste Chaos herrschen«, erklärt Dad.

»Das hier ist gerade per Kurier gekommen.« Mom reicht mir den Umschlag und ich öffne ihn. In dem Päckchen steckt: Die Changers-Bibel, ein dickes Buch mit dicht beschriebenen Seiten aus cremeweißem Papier. Auf dem Cover ist ein Zeichen zu sehen, das Leonardo da Vincis vitruvianischem Menschen ähnelt. Allerdings hat dieser Mensch hier vier Körper statt zwei. Im Umschlag liegt auch noch eine Geburtsurkunde, die ich sofort herausziehe.

»Drew Staifer?«

»So wirst du dieses Jahr heißen«, sagt Mom.

»Ernsthaft? Drew Staifer? Großartig.«

»Nun, ich denke, da wirst du schon hineinwachsen.« Dad versucht es mit einem Witz. Ich lache nicht.

In dem Päckchen liegen auch noch Studiennachweise von der Grund- und Mittelschule, eine Krankenakte, eine Sozialversicherungskarte und ein Pass – alles auf den Namen Drew Staifer ausgestellt. Fotografien aus den letzten 14 Jahren zeigen das Fantasiemädchen in unterschiedlichen Altersstufen. Mom und Dad erzählen mir noch, dass der Rat mich schon vorab in der Schule eingeschrieben hat, dass ich irgendwann – wenn es sicher ist – andere Changers-Kids kennenlernen werde, dass ich in den nächsten Tagen die Changers-Bibel lesen soll und dass dann alles langsam einen Sinn ergeben wird. Und dass sie immer da sind, um mich zu unterstützen und Fragen zu beantworten, blablabla.

Ich gehe kurz die Fotos des kleinen Mädchens durch: beim Stepptanz im Trikot mit einem roten Zylinderhut; bei der Verleihung der Bronzemedaille im Freestyle-Staffelschwimmen; in der ersten Reihe, zweite von links, auf dem Klassenfoto der vierten Klasse von Mrs Johnson. Wer zum Teufel ist Mrs Johnson?

»Und ich habe bei der ganzen Sache gar nichts zu melden? Was wäre zum Beispiel, wenn ich gar kein Mädchen sein will?«, frage ich.

»Ich denke, du wirst merken, dass das, was du bist, über die Grenzen der Geschlechter hinausgeht«, sagt Mom.

Würg.

»Und Drew, noch eins …«, sagt Dad. Ich weiß nicht, mit wem er da redet. »Ethan!«, sagt er dann lauter und ich springe drauf an. »Das war übrigens das letzte Mal, dass ich dich so genannt habe. Also hör mir zu: Du darfst niemandem erzählen, wer oder was du bist.«

Aber ich weiß ja nicht mal selbst, was ich bin, denke ich, doch da Dad einen ernsten Ton angeschlagen hat, sage ich nichts weiter dazu.

»Das ist der Grund dafür, dass wir so plötzlich umgezogen sind und alles zurückgelassen haben«, fährt er fort. »Später werden wir Alibis erhalten für deine zukünftigen Vs – das sind die vier verschiedenen Versionen von dir –, aber jetzt sind wir erst einmal neu genug hier, dass Ethan nie existiert haben muss. Du bist einfach nur mit deinen Eltern von einem Außenbezirk New Yorks hier in die Stadt gezogen, weil dein Vater einen neuen Job in Nashville bekommen hat. Alles klar?«

»Schätze schon.« Aber gleichzeitig überrollt mich eine Welle von Traurigkeit, wie damals, als Opa gestorben ist und wir alle bei ihm im Hospiz gewesen sind. Nur dass ich, Ethan, es jetzt bin, der gegangen ist, und ich nicht einmal die Chance hatte, ihm noch einmal die Hand zu geben oder mich von ihm zu verabschieden.

···

Minuten später stehe ich vor Moms Kleiderschrank, in meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, ich bin absolut nicht bei der Sache, doch sie zieht Kleidungsstück um Kleidungsstück aus den Fächern und erwartet von mir eine Art Entscheidung. Eine grüne Seidenbluse (»Die würde gut zu deiner Augenfarbe passen«). Ein blaues Tank-Top aus Baumwolle (»Heute wird es ziemlich warm draußen«). Irgendetwas, das man »Jumpsuit« nennt. Ich bin wie gelähmt. Als sie die Tür des Kleiderschranks schließt, fällt mein Blick in den Spiegel, der daneben lehnt. Mom steht neben mir und betrachtet mein Spiegelbild. Sie heult schon wieder. Diese Frau wird noch zu Staub zerfallen, wenn sie in der Geschwindigkeit weiter Flüssigkeit verliert.

»Vielleicht die da«, sage ich und deute auf eine fleckige Kaki-Hose, die sie bei der Gartenarbeit trägt.

»Liebes, es ist dein erster Tag.«

»Und?« Ich starre sie an.

Sie atmet tief durch, reicht mir die Shorts, die sich so falsch anfühlen, dass ich es kaum ertrage, auch nur den Stoff zu berühren. Ich knöpfe sie auf (sie sind sogar verkehrt herum geknöpft) und steige hinein. Sie haben Falten und sind ganz bauschig, obwohl insgesamt zu eng. Und sie sitzen viel zu hoch an der Taille. Nichts von alldem passt. Und dann … »Es tut mir wirklich leid, aber«, beginnt Mom zitternd, »es wäre einfach nicht richtig, dich ohne aus dem Haus zu schicken.«

»Ohne was?« Ich durchbohre sie regelrecht mit meinem Blick, während sie in ihrer obersten Schublade herumkramt. Mein Herz pocht wie wild. Ein paar Sekunden später zieht sie … einen BH heraus. Ein weißes Seidending mit Trägern, das aussieht, als hätte man zwei Kippas aneinandergenäht.

»Nein«, sage ich. »No way, das zieh ich nicht an.« Ich schüttele den Kopf.

»Das gehört nun mal dazu, Süße. Lass es mich dir zeigen«, sagt sie und versucht, mein Slayer-Shirt hochzuheben. »Du merkst ihn kaum, wenn er erst einmal richtig sitzt.«

Ich reiße mein Shirt wieder herunter und sie lässt los, der BH fällt zwischen unsere Füße auf den Teppich. Und dann geschieht das Verrückteste überhaupt, urplötzlich und ohne Vorwarnung: Ich fange an zu heulen.

»Oh, Liebling«, sagt Mom und nimmt mich wieder in die Arme. Eine große Träne aus meinem rechten Auge tropft auf ihre Schulter. »Ich habe einen Sport-BH, vielleicht wird es damit einfacher für dich am ersten Tag.«

Sie drückt mich fest an sich und geht dann zurück an die oberste Schublade. Sie zieht ein schwarzes Mini-Tanktop-Teil aus Elastan heraus, mit pinken Streifen unter den Achselhöhlen. »Du musst deinen Kopf nur da durchstecken und deine Arme hier …«

»Ich weiß, wie das geht!«, sage ich, lauter als beabsichtigt, und reiße ihr den BH aus den Händen. »Ich bin nicht bescheuert.«

Sie zuckt zusammen. Kaut an ihrer Unterlippe. »Ich wusste gleich, dass es schwer werden würde, wenn deine erste V ein Mädchen ist«, sagt sie bekümmert und scheint wirklich traurig zu sein. Ich weiche ihrem Blick aus und fühle mich wie ein Arschloch. Die Formulierung deine erste V steht zwischen uns im Raum.

Ich drehe mich mit dem Rücken zu Mom und ziehe mir das T-Shirt selbst aus, dann kämpfe ich mich in den zu engen Sport-BH, der sich anfühlt wie ein mittelalterliches Folterinstrument, ganz zu schweigen davon, dass meine Dinger dadurch in unmögliche Richtungen zeigen, aber ich greife ganz sicher nicht dorthin, um daran etwas zu ändern. Das Elastan ist derart eng, dass ich schwören könnte, es verändert sogar meine Atmung. Schnell ziehe ich mein T-Shirt wieder an und drehe mich um, um mich im Spiegel zu betrachten. Ein zu großes, verschlissenes Metal-Shirt für Männer und die Vogelscheuchen-Shorts einer Hausfrau mittleren Alters. Da hätten wir also mein Outfit für den ersten Tag an der Highschool.

Das wird ein richtig beschissener Tag werden.

Ah, Moment. Ist es ja schon.

»Vielleicht fahren wir nach der Schule zusammen ins Einkaufszentrum?«, schlägt Mom vor und bindet meine Haare zu einem seitlichen Pferdeschwanz zusammen. »Das sieht doch schon besser aus, oder?«

»Nicht wirklich.«

»Willst du deine Vans dazu anziehen?«, fragt sie. Sie tritt einen Schritt zurück und sieht mich forschend an. »Der seitliche Pferdeschwanz steht dir.« Und dann: »Du bist wirklich wunderhübsch.«

Ich schüttele mein Haar und reiße das Haargummi heraus, sodass mir die Strähnen wieder ins Gesicht fallen. Mom greift in ihre Hosentasche und zieht einen glänzenden silbernen Lippenstift heraus. Ich lasse ganz bestimmt nicht zu, dass sie mir das Gesicht mit irgendetwas bemalt, denke ich.

In diesem Moment sehe ich im Spiegel, dass meine Knie vollkommen heil sind – kein Schnitt, keine Zickzacklinie voller Stiche von dem harten Sturz vom Skateboard. Kein mörderisches Jucken mehr. Ich bücke mich, um mir das Ganze genauer zu betrachten und – Holla die Waldfee – die Wunde ist vollständig verheilt! Man sieht nicht einmal mehr eine Narbe … AAAUUU!

Meine linke Pobacke brennt plötzlich wie Feuer und ich sehe, wie Mom eilig die Kappe auf den Lippenstift steckt. Zwischen uns hängt eine Rauchschwade in der Luft und ein Geruch, als ob ein Elektrokabel angesengt worden wäre. Während ich mich gebückt hatte, um mein Knie zu untersuchen, hat mir Mom die Shorts runtergezogen und mich mit dem einen Ende des »Lippenstiftes« gebrandmarkt (mich mit einem Brenneisen markiert wie Vieh!). Offensichtlich ist das Ding alles andere als ein Lippenstift.

»Der Rat hatte das hier mit in das Päckchen gesteckt«, sagt sie kleinlaut. »Es sollte gemacht werden, bevor du das Haus verlässt.«

Ich drehe den Kopf und schaue an mir herunter. Dasselbe kleine Zeichen, das auch auf dem Cover der Changers-Bibel zu sehen ist, wurde mir gerade ins Fleisch gebrannt:

»Willst du mich auf den Arm nehmen?« Das ist doch Bullshit.

»Es ist zu deinem eigenen Besten«, beharrt sie. »Wie ein Impfstoff.«

Ich beuge mich noch weiter nach hinten, um besser sehen zu können. Das Zeichen ist klein, aber bis ins Detail genau. Irgendwie gruselig. Vollkommen peinlich. »Du musst versprechen, dieses Zeichen niemals jemandem zu zeigen, außer dem Konstanten, den du dir eines Tages als Partner auswählen wirst.«

»Keine Sorge«, sage ich.

Mein Dad kommt ins Zimmer und macht seinen Gürtel auf.

»Dad, nein, bitte«, wehre ich ab, aber er hat bereits seine Hose geöffnet und den elastischen Bund seiner Unterhose nach unten geschoben, und jetzt präsentiert er mir seine käseweiße Pobacke, auf der dasselbe Zeichen in die Haut gebrannt wurde.

»Meines hat bis auf deine Mutter noch nie jemand gesehen«, sagt er, zieht sich die Hose wieder hoch und grinst auf diese unverschämte Art und Weise, wie er es manchmal tut. (Und ich dachte, mir könnte nicht noch übler werden.)

»Das Frühstück ist fertig und du musst in 20 Minuten in der Schule sein, um dich anzumelden. Ich kann dich fahren«, bietet Mom mir an.

»Ich glaube, ich nehme einfach das Skateboard.«

»Bist du sicher?«, fragt sie zweifelnd.

Ich nicke und dann lassen sie mich, dem Herrn sei Dank, endlich allein.

Ich gehe Moms Kleider durch, sie hat das meiste schon ausgepackt und fein säuberlich eingeräumt – so viele Schnitte und Farben, und über allem schwebt ein leichter Hauch von Parfum. Meine normale »Garderobe« besteht hauptsächlich aus quadratisch geschnittenen T-Shirts und (je nach Wetterlage) Shorts oder Jeans – blauen, schwarzen, grauen oder weißen. Vielleicht mal ein rotes Sweatshirt ab und an, wenn ich gute Laune habe. Und ich besitze nur ein einziges Schmuckstück, eine Armbanduhr, meine große schwarze Casio G-Shock, die ich seit meinem zehnten Geburtstag habe und die mir, wie mir gerade erst auffällt, fast vom Handgelenk fällt, da sie ja eigentlich für, äh, Ethan gekauft wurde. Ich stelle sie gleich mal ein paar Löcher enger ein – so eng, wie es geht. Sie schlackert aber immer noch ein wenig.

Ich sehe, dass Mom ihre Kette über den Spiegel drapiert hat und ihre Ringe in einer kleinen antiken Untertasse auf der Kommode liegen. Das alles ist so …. Girlie-mäßig. Ich checke noch einmal mein Spiegelbild: lächerlich. Aber ich schätze, dass ich in diesem Faschingsaufzug auf die Straße muss.

Sämtliche Schuhe von Mom sind mir ein wenig zu klein – ganz zu schweigen davon, dass sie hässlich sind –, und meine Latschen sind mittlerweile alle etwas zu groß. Ich nehme mir ein paar von Moms dickeren Socken, ziehe jeweils zwei übereinander und steige in meine alten karierten Vans, die Mom irgendwann vor die Schlafzimmertür gestellt hat, während ich mich hier drin versteckte und im Stillen einen Deal mit einem Gott, dem ich nie besonders zugetan war, auszuhandeln versuchte, er solle mich bitte aus diesem Albtraum aufwachen lassen, damit ich in die neunte Klasse gehen und mit dem Leben weitermachen kann, von dem ich dachte, dass ich es lebe.

Am Frühstückstisch sehe ich mir schnell die ersten Seiten der Drew-Staifer-Geschichte an, damit es beim Ausfüllen der Schulformulare keine Überraschungen gibt. Ich spüre förmlich, wie sich die Blicke meiner Eltern in meinen Hinterkopf bohren.

»Was?«

»Nichts«, sagen sie im Chor, nur um mich, ihr eigenes Kind, weiter angaffen zu können wie bei einer Freak-Show im Vergnügungspark auf Coney Island.

»Ich hab keinen Hunger«, verkünde ich und schiebe meinen Teller weg. Mein Magen fährt Achterbahn und das Letzte, was ich jetzt dort hineinfüllen will, sind zwei bei mittlerer Hitze überbackene Spiegeleier auf Toast mit Putenschinken.

»Du solltest etwas essen«, versucht Mom mich zu überreden.

»Danke, mir geht’s gut.« Ich verfüttere einen Toast mit Ei an den Hund, der es nur zögerlich annimmt. Großartig, nicht mal Snoopy erkennt mich mehr. Ich frage mich, was der Hundeflüsterer zu alldem sagen würde.

Dann zaubert Mom einen Cupcake hervor, auf dem eine kleine Kerze steckt. »Happy Birthday, Liebling!«, ruft sie und hält den Teller mit dem Kuchen vor sich wie eine Kellnerin. Ich schaue sie so lange an, bis sie den Blick abwendet. Drehe mich dann zu Dad um, der nur mit den Schultern zuckt: Meine Idee war’s nicht.

Ich lecke mir über den Daumen und drücke die Kerze mit den Fingern aus. »Vielleicht später«, sage ich und schnappe mir meinen Rucksack und das Skateboard. Ich gebe Mom einen Kuss auf die Wange und gehe an Dad vorbei, der mir über den Unterarm streichelt, wie er das noch nie zuvor getan hat. Als ob ich nun aus Glas sei.

»Denk dran: Erzähle niemandem etwas davon!«, brüllt er noch, als ich schon fast durch die Tür bin. »Das könnte den Tod aller Changers bedeuten! Hab dich lieb!«

Ich laufe, so schnell ich kann, den Flur hinunter, versuche dem, was gerade passiert ist, zu entkommen. In den Schuhen rutsche ich ein bisschen und die Socken knäulen sich dadurch an den Fersen zusammen. Während ich auf den Fahrstuhl warte, versuche ich sie wieder einigermaßen zurechtzuziehen, normal zu erscheinen, so wie ich war, bevor der Wecker klingelte und ich verändert aufwachte. Die Fahrstuhltür geht auf und der Liftboy und ich fahren ins Erdgeschoss. Die Tür öffnet sich. Keiner von uns bewegt sich. Die Tür beginnt sich wieder zu schließen, und er streckt sofort die Hand aus, um sie zu stoppen. Jetzt erst kapiere ich, dass er gewartet hat, bis ich aussteige.

»Sorry«, sage ich, obwohl ich nicht wirklich sicher bin, weshalb ich mich entschuldige.

Unten im Eingangsbereich werfe ich wieder einen Blick auf meine Brüste. Immer noch geschockt. Ich halte mir das Skateboard wie einen Schutzschild davor. Der Pförtner lächelt. Andy und ich haben immer behauptet, wenn wir Mädchen wären, würden wir gar nicht mehr das Haus verlassen, weil wir die ganze Zeit unsere Brüste betatschen würden, aber jetzt bin ich mir bei dieser rein theoretischen Annahme nicht mehr so sicher. Man sollte immer aufpassen, was man sich wünscht. Moment mal, Andy … Werde ich jetzt nie mehr mit ihm befreundet sein können?

Ich verlasse das Gebäude und die Luft ist schon jetzt richtig drückend. Ich beschließe, Andy einfach weiterhin zu mailen und anzurufen und so zu tun, als ob ich immer noch ich bin, so lange, bis ich einen Ausweg aus diesem Chaos weiß. Ich meine, ich bin doch immer noch ich selbst (oder?), also werde ich innerlich einfach weiter Ethan sein, und wer-auch-immer ich äußerlich bin, ist egal. Dann wird sich zwischen Andy und mir bis auf das Geografische (und natürlich das Topografische) nichts geändert haben. Halt, meine Stimme. Mist, das bekomme ich nicht hin. Schätze, ich werde doch nicht mit ihm telefonieren können. Also nur mailen und SMS schreiben.

Direkt vor unserem Wohnkomplex lasse ich mein Skateboard auf den Boden fallen und stelle den linken Fuß darauf, aber noch bevor ich den rechten Fuß heben kann, schießt das Board unter mir weg und im nächsten Moment küsst mein Hintern schon den Asphalt.

Was zum Teufel? Seit wann skate ich so beschissen? Oh ja, richtig.

»Hier«, sagt ein Mädchen, das gerade aufgetaucht ist, und streckt mir die Hand hin. Ich nehme das Angebot an und sie hilft mir auf.

»Danke.«

»Ich bin Tracy«, sagt sie und klopft die Rückseite meiner Shorts ab. Ich drehe mich um, um von ihr wegzukommen. »Und nein, du kannst keinen E-Mail-Kontakt mit einem alten Freund halten und so tun, als wäre die Veränderung nie geschehen.«

Heilige Sch…, weshalb kann dieses Mädchen meine Gedanken lesen?

»Ich kann keine Gedanken lesen«, sagt sie lässig und holt mein Skateboard aus einem Strauch, »aber an meinem Change 1 – Tag 1 habe ich genau jetzt ebenfalls Pläne geschmiedet, wie ich mit meiner besten Freundin Maddy aus der Mittelschule in Kontakt bleiben kann.«

Ich schaue mich misstrauisch um. Es fühlt sich an, als ob wir beobachtet werden.

»Warte, bist du …«, wispere ich.

Tracy nickt, lächelt und legt selbstgefällig den Finger zum weltweit gültigen Shhh-Zeichen auf die Lippen. Ich kenne sie seit zehn Sekunden und sie ist jetzt schon die nervigste Person, die ich je getroffen habe. Tracy trägt eine weiße Spitzenbluse mit einem marineblauen Pullunder darüber, einen Faltenrock und kniehohe Strümpfe – außerdem ein dazu passendes Haarband mit Schottenkaros und Halbschuhe, und sie hat einen speckig glänzenden, kleinen Lederrucksack dabei. Sie sieht aus wie eine Mormonen-Barbie.

Sie lässt das Skateboard vor mir auf den Boden fallen und gibt mir Zeichen, es noch einmal zu versuchen. »Ich schätze, du hast deine Unterlagen nicht besonders genau durchgelesen. Du bist jetzt Linkshänder.«

»Ich skate nicht goofy!«, antworte ich empört.

»Ich weiß nicht, was das bedeutet«, sagt sie, »aber wenn das heißen soll, dass du das hier nicht ernst nimmst, dann ja, alle Anzeichen deuten darauf hin.«

Ich kann meinen Fuß nicht aufs Board stellen, kann mich nicht bewegen. Mein Hintern brennt gleich an zwei Stellen – einmal da, wo mein verdammtes neues Brandzeichen ist, und dann an der Stelle, auf die ich eben geknallt bin. Langsam wird mir auch mein Körpergewicht bewusst, das sich jetzt rund um die Hüfte konzentriert, unter meinem Hintern, auf meiner – würg – Brust – würg. Selbst meine Arme schwingen jetzt anders.

»Du hättest wirklich etwas mehr Zeit in die Unterlagen investieren sollen«, schimpft Tracy und schiebt ihr Haarband mit dem Zeigefinger zurück. Ich werfe ihr meinen besten F…-you!-Blick zu. Sie bleibt völlig ungerührt.

»Es ist zu deinem eigenen Besten, wenn du dir all das Material, das vom Rat zur Verfügung gestellt wird, durchliest.«

Großartig, so schnell bekommt man also Ärger mit dem Rat.

»Lass mich raten. Die erste Regel der Changers lautet, dass man nie über die Changers sprechen darf«, sage ich, fühle mich großartig damit und hasse mich gleichzeitig dafür.

Tracy ignoriert es und sagt: »Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich dich informieren. Mir wurde die Aufgabe übertragen, in den nächsten vier Jahren dein Advokat zu sein. Das ist so etwas wie eine gute Fee. Zumindest sehe ich das so.«

»Und wo ist dein Zauberstab?«

Tracy seufzt, ihre Geduld schwindet. »Hast du wenigstens die Tag-1-Seite in deiner CB gelesen?«

»Meiner CB?«

»Der Changers-Bibel. Oh Mann.« Sie schüttelt den Kopf und geht.

Ich hebe mein Skateboard auf und folge ihr. »Warte, das ist doch keine, na ja, religiöse Sekte oder so was. Oder doch?«, rufe ich ihr hinterher.

Irgendwie scheint Tracy mich auszulachen, so wie ich Andys kleinen Bruder ausgelacht habe, als er sich im Breakdance versucht hat. Damals, als meine größten Probleme in nervigen kleinen Punks bestanden und darin, wie ich in unseren selbst gedrehten Skate-Videos rüberkomme. Damals eben.

Tracy sagt etwas, das mit »Mach so viel Witze, wie du willst« beginnt und mit »Intoleranz« endet. Ich ahne, dass sie nichts so sehr liebt, wie immer eine Antwort parat zu haben. Sie gehört zu dieser Art von Mädchen. Dieser Art von »In der Klasse in der ersten Reihe sitzen und sich ständig melden«-Mädchen. Meine gute Fee ist eine speichelleckende Streberin. Und ganz offensichtlich gehört sie für ganze vier Jahre zu mir. Das heißt, wenn ich sie nicht noch eintauschen kann – ich mache mir in Gedanken eine Notiz, das in der Changers-Bibel nachzuschlagen, sobald ich zu Hause bin.

»Die Weltreligionen könnten von ein wenig mehr Changers-Philosophie profitieren, wenn ich das mal so sagen darf«, fährt sie fort und geht immer schneller. »Aber vielleicht sollten wir uns darüber ein andermal unterhalten.«

»Großartig. Kann’s kaum erwarten.«

Tracy verkrampft regelrecht bei meinem Sarkasmus. Möglicherweise ist das auch nicht gerade ihr bester Tag heute. Nicht dass es mich interessieren würde. Das tut es nämlich nicht im Geringsten.

»Du wirst schon bald merken, dass du hier bist, um einer sehr viel höheren Bestimmung zu dienen«, sagt sie und läuft ein paar Schritte weiter, bevor sie hinzufügt: »Ich weiß, dass das Furcht einflößend ist. Ich hatte auch Angst. Aber wenn du mir einfach vertraust und dem Ganzen ein wenig Zeit gibst, wird alles mehr Sinn für dich ergeben.« Sie schaut sich in alle Richtungen um. »Wir müssen einen Ort finden, an dem wir unter uns sind.«

»Hör mal«, sage ich, während ich hinter ihr herrenne, »es ist nur … Es fühlt sich an, als sei ich gerade mitten in Sibirien gelandet und jeder schreit mich wütend auf Russisch an.« Mir kommen wieder die Tränen. Ich versuche mich auf den Asphalt unter mir zu konzentrieren und meine idiotischen, viel zu großen Schuhe nicht zu verlieren.

»Ich weiß«, sagt Tracy seufzend und versucht sich in etwas, das wie die bewusste Entscheidung wirkt, mir im Gegenzug auch etwas Persönliches zu erzählen. Vielleicht empfehlen sie das im Ratgeberfür Advokaten, der Ergänzung zur Changers-Bibel. »Ich erinnere mich daran, dass ich mich immer gefragt habe, weshalb meine Eltern sich so komisch verhalten. Vor allem meine Mom war wie ein Roboter. Sie ist der Changer, mein Dad ist der Konstante.«

»Mein Dad ist der Changer«, sage ich trübsinnig, dann füge ich schnell hinzu »anscheinend«, weil ich nicht mehr weiß, was noch real ist.

Zum ersten Mal, seit ich sie getroffen habe, bleibt Tracy stumm, und ich habe das Gefühl, dass ich etwas netter sein sollte. Nachdem sie sich entschieden hat, wohin wir gehen, führt sie mich am Speed-Queen-Waschsalon, an der KenJo-Tankstelle und einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Wir überqueren den Parkplatz, auf dem ich vor zwei Tagen geskatet bin, während wir darauf warteten, dass der Umzugswagen auftauchte. Unter meinem Sport-BH hat sich Schweiß gebildet und es beginnt zu jucken.

»Du wirst etwas über den Laden dort wissen wollen«, sagt Tracy und deutet auf ReRunz, einen Secondhandladen am anderen Ende des Parkplatzes. »Dort kannst du zu Beginn und zum Ende jeden Jahres deine Klamotten kaufen und verkaufen. Die haben da immer aktuelle Mode für weniger als die Hälfte des Neupreises.«

Die Schaufenster zu beiden Seiten der Eingangstür sind zum Thema Schulanfang dekoriert, und auf der Seite für Jungs entdecke ich ein Paar wirklich schöne, bereits eingelaufene braune Carhartts. Aber, wie mir mit Schrecken einfällt, das ist nicht das Schaufenster, in das ich jetzt noch einen Blick werfen sollte. Auf der Seite für Mädchen interessiert mich nichts, nicht ein einziges Teil, kein Gürtel oder Shirt, nichts – außer vielleicht das Paar violetter Vans, das die angeknackste Schaufensterpuppe trägt. Ich wusste nicht mal, dass es Vans für Mädchen gibt.

Tracy tritt näher heran und flüstert: »Einige Changers dieser Region jobben hier nach der Schule; ist so eine Art inoffizieller Changers-Ausstatter, wenn du so willst. Jedenfalls wirst du bei deinem ersten Treffen nächsten Monat ja sehen, wer da ist, und dann werdet ihr euch schon kennen, und ich wette, sie geben dir noch ein bisschen mehr Rabatt.«

Wir gehen um das Gebäude herum, eine anscheinend beliebte Abkürzung zur Schule, weil sich ein gut ausgetretener Trampelpfad durch die Gräser schlängelt, der übersät ist mit Glasscherben, eingedrückten und verblassten Red-Bull-Dosen, zerbrochenen Stiften und ein paar Zigarettenstummeln.

»Hier drüben«, sagt sie und geht zielgerichtet weiter. »Hast du noch irgendeine Frage, bevor wir da sind?«

Irgendeine Frage trifft es nicht annähernd. »Äh, wirst du auch in der Schule bei mir sein?«, frage ich leise.

»Nein. Ich habe an der Central vor zwei Jahren meinen Abschluss gemacht – als Jahrgangsbeste!«, zwitschert sie.

Was du nicht sagst!

»Ich hätte nach Yale gehen können, aber ich habe mich dazu entschlossen, als Advokat hierzubleiben. Ich arbeite jetzt für den Rat«, blubbert sie weiter.

»Klingt nach viel Spaß.«

»Ich finde es unglaublich lohnenswert. Weißt du, ich habe mich in der zehnten Klasse zu Tracy verändert, und was soll ich sagen: In dem Augenblick, in dem ich an Change 2 – Tag 1 die Augen aufschlug, wusste ich, dass sie die Eine sein würde.«

»Du meinst, die Person, für die du dich nach deinem Highschool-Abschluss entscheiden würdest?«

»Ja, mein Mono, also die V, in der du für immer weiterleben willst, nachdem du alle vier kennengelernt hast«, klärt sie mich auf. »Ich habe gehört, bei anderen Changers war es ähnlich, sie haben auch so etwas wie ein Kribbeln in der Wirbelsäule gespürt oder so. Aber mach dir keine Sorgen, auch wenn du es heute nicht gespürt hast oder es niemals spüren wirst – du wirst deinen Mono schon noch rechtzeitig finden.«

Ich versuche alles aufzunehmen, was sie mir sagt, aber mein außer Kontrolle geratenes Herzflattern lenkt mich irgendwie ab. »Also, um das mal zusammenzufassen: Du erzählst mir, dass ich diese Drew tatsächlich nur für ein Jahr sein werde und dass ich niemandem davon erzählen kann und keine wirklichen Freundschaften schließen kann, weil ich sowieso bloß ein Jahr lang mit ihnen zu tun haben werde – zumindest aus ihrer Sicht. Und danach werde ich einfach verschwinden und im nächsten Jahr als eine weitere beliebige Person zurückkehren, und im Grunde genommen habe ich keinerlei Wahl bei dieser Sache? Ich stecke einfach hier fest, zwischen Leben und Scheiße?«

Das flaue »Ich muss mich gleich übergeben«-Gefühl ist zurück.

»Ich schätze, man könnte es so sehen«, antwortet Tracy ruhig. »Aber es wäre großartig, wenn du dennoch Freunde fändest und das Leben in vollen Zügen genießen würdest. Zeit ist relativ. Du betrittst gerade erst die Möglichkeit des Seins.«

»Und das heißt …?«

»Setz dich nicht zu sehr unter Druck. Die Highschool ist ohnehin schon hart genug. Sei einfach du selbst.«

»Wie zum Teufel soll ich denn ich selbst sein, wenn ich nicht mal weiß, wer dieses Selbst ist?«

»Lass die Geschichte raus, die du dir selbst erzählst«, sagt sie und klingt dabei genau wie das Sektenmitglied, das sie nicht sein will. »Du weißt, wer du bist.«

»Nein, das weiß ich nicht«, erwidere ich und bleibe stehen, als ich das Gebäude der Highschool hinter einer leer stehenden Wellblechhütte auftauchen sehe. An der Hütte hängt ein Schild: Spülen, Schmieröl, A/C, Ölwechsel.

»Du musst dich noch anmelden und du willst doch nicht zu spät kommen«, sagt sie, und wechselt nicht nur das Thema, sondern auch den Ton. Hinter uns auf dem Pfad sind einige Schüler zu hören. »Aber es gibt noch eine Sache, mit der wir uns befassen müssen, bevor ich dich gehen lasse.« Sie steuert direkt auf die Wellblechhütte zu und gibt mir ungeduldig Handzeichen.

»Als gute Fee bist du eine ganz schöne Niete«, sage ich und meine Stimme bricht beim letzten Wort.

Hinter mir ziehen die Kids vorbei, und nach einer angemessenen Pause, die hoffentlich meine Meinung deutlich macht, trotte ich hinter Tracy her, die gerade die Hütte betritt. Innen erkennt man anhand der alten, verrosteten Autoteile, die überall herumliegen, schnell, dass diese alte Garage nicht mehr benutzt wird, seit die Bee Gees flachgelegt wurden.

Tracy setzt ihren Rucksack ab und holt ein edel aussehendes Stofftaschentuch heraus, das sie vorsichtig auf einer dreckigen Werkbank ausbreitet. Dann holt sie einige Instrumente heraus, die silbern-metallisch glänzen, und legt sie auf das Taschentuch. »Mach die Tür hinter dir zu.«

»Was tust du da?«

»Schließ einfach die Tür«, wiederholt sie und zieht sich einen Gummihandschuh über die linke Hand.

Bevor ich die kaputte Tür zustoße, werfe ich noch einen Blick nach draußen, wo noch mehr Schüler unbekümmert den Pfad zur Schule entlanglaufen. Deren größte Sorgen sind heute, den richtigen Klassenraum zu finden und sich ansonsten nicht zum Vollidioten zu machen. Ich kneife die Augen zusammen und wünschte mir, ich könnte wieder einer von ihnen sein.

Als ich die Augen öffne, richtet Tracy die Instrumente her und checkt mithilfe einer kleinen Broschüre, ob alles vorhanden ist.

»Okay, ich weiß ja nicht, was du da gerade Verrücktes machst«, sage ich, »aber ich muss in den Unterricht. Schätze, wir sehen uns dann irgendwann wieder?« Ich lege meine Hand auf die Tür.

»Es liegt noch eine Anweisung des Rates vor, bevor du mit dieser V weitermachen kannst.« Jetzt klingt sie wie ein Androide, und – ganz ehrlich – nicht dass ich es nicht mit ihr aufnehmen könnte, denn das könnte ich natürlich, aber … sie macht mir irgendwie Angst.

Tracy hebt ein kleines Hightech-Dingsbums hoch, das aussieht wie eine Pillendose, und drückt den Daumen ihrer rechten – unbehandschuhten – Hand darauf. Das Dingsbums scheint ihren Daumenabdruck zu scannen, dann piepst es. Der Deckel springt auf.

»Ich will dieses … was-auch-immer-es-ist nicht!«, schreie ich. Meine Stimme hallt in der alten Garage wider.

Tracy streift sich einen zweiten Gummihandschuh über und zieht vorsichtig ein winziges Stück Metall aus der Dose, das die Form und Größe eines Reiskorns hat. Sie hält es hoch, eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigefinger, und betrachtet es eingehend. »Jeder verändert sich, Drew. Du kannst es genauso gut bereitwillig annehmen.«

»Aber ich habe nicht darum gebeten. Das ist nicht fair!«

»Drew …« Tracys Schultern heben und senken sich, während sie tief ein- und dann langsam ausatmet. »Du bist auserwählt. Wir sollten uns nicht fragen, wieso, wir sollten die Gelegenheit willkommen heißen.« Sie nimmt einen Apparat in die Hand, so eine Art große Spritzenkanüle aus rostfreiem Stahl, und legt das Reiskorn oben hinein. Dann überprüft sie die Spitze und schaut mir in die Augen.

Ich bin nicht Drew ist alles, was mir durch den Kopf geht. Ich bin nicht Drew, ich bin nicht Drew, ich bin nicht Drew. Ich überlege abzuhauen und nach Hause zu rennen, aber ich habe das Gefühl, dass meine Eltern – ganz zu schweigen vom »Rat« – etwas dagegen hätten, wenn ich mich der bedeutenden Mission verweigern würde, mit der ich gesegnet wurde. Weshalb konnte es nicht irgendetwas Einfaches sein, zum Beispiel, von einer radioaktiven Spinne gebissen zu werden, wodurch man sich urplötzlich in ein menschliches Spinnenwesen verwandelt, das Verbrecher jagt und Frauen den Kopf verdreht?

»Drew, wie ich ja bereits angedeutet habe, fehlt uns noch ein wichtiger Schritt für Change 1 – Tag 1.«

»Ja?«

»Die Chroniken«, sagt Tracy und schraubt eine Nadel mit Plastikkappe auf das Ende der Spritze. Als sie sieht, dass mir fast die Augen herausfallen, fügt sie hinzu: »Du wirst es kaum merken.«

»Auf keinen Fall«, sage ich und weiche zurück. »Nein, Ma’am.«

»Alle Changers sind dazu aufgerufen, im Laufe eines jeden Jahres der Veränderung Tagebuch zu führen. Am Ende deines Zyklus, nach dem Highschool-Abschluss, aber noch bevor die Ewigkeitszeremonie stattfindet, wirst du die Chroniken erhalten. Darin steht alles, was du in den vier Jahren deines Lebens aufgeschrieben hast– damit du vor der Wahl deines Monos besser informiert bist.

Ich weiche zurück, meine Augen weiter auf die Nadel gerichtet.

»Die Chroniken zu führen ist ein bedeutender Teil des Entwicklungsprozesses«, fährt sie fort. »Wir Menschen vergessen auf dem Weg zu dem, was wir werden, nun mal allzu leicht, wer wir waren.«

»Hörst du dir eigentlich selber zu?« Ich schwitze jetzt stärker, frage mich, wie schnell mir die Schuhe von den Füßen fliegen würden, wenn ich nun losrennen würde, und ob ich es bis nach Hause schaffen könnte.

»Vertrau mir, du wirst dich an jedes einzelne Detail erinnern wollen, das du während deiner vier Vs durchlebt und gedacht hast. Die Wahl deines Monos ist die wichtigste Entscheidung deines Lebens. Also …« Sie bricht mitten im Satz ab und wird rot.

»Was?«

»Ich wollte gerade sagen, die Wahl deines Monos ist die wichtigste Entscheidung, die du treffen wirst – bis der Zeitpunkt kommt, an dem du dir deinen Konstanten aussuchst«, erklärt sie und will eindeutig, dass ich sie nach ihrem frage. Was ich nicht tun werde. »Ich habe einen ganz Bestimmten im Auge …«

»Ich bin nicht gut darin, Tagebuch zu führen«, unterbreche ich sie. »In der siebten Klasse mussten wir etwas über unsere Gefühle in puncto Entwicklung des Menschen schreiben, und ich habe es immer wieder vergessen.«

»Nun, das Beste am Chroniken-Führen ist, dass du eigentlich gar nichts dafür tun musst, außer zu denken«, sagt sie und hebt vorsichtig die Kappe von der Nadel ab. Die. Gigantisch. Ist. Dick wie der Stachel eines Stachelschweins. Ich begreife plötzlich, dass das Reiskorn durch diese Nadel gedrückt werden soll.

»Du wirst nicht dieses Ding in mich hineinstechen«, sage ich.

»Die Technologie, die da drinsteckt, ist erstaunlich«, fährt sie fort und ignoriert meinen Protest. »Du denkst einfach nur, was du sagen willst, und es wird dennoch in deiner Akte aufgeschrieben und sicher im Zentralsystem gespeichert. Halt mal die Haare hoch.«

Ich schüttele den Kopf.

»Komm schon, Drew, führ dich nicht auf wie ein Kleinkind. Dreh dich um.«

Langsam beginne ich, meine Haare nach oben zu halten, aber die Strähnen sind so dünn und durcheinander, dass es scheint, als würde ich niemals alle auf einmal fassen können. Ich bin Medusa. Wenn ich es nur wäre – dann könnte ich dieses Mädchen in Stein verwandeln und verschwinden. Tracy stupst mich mit dem Ellbogen an und ich drehe ihr langsam meinen Nacken hin.

»Je entspannter du bist, umso weniger wirst du etwas davon mitbekommen«, murmelt sie, während sie etwas mithilfe ihrer Zähne und der freien Hand aufreißt. Ich spüre eine kühle Flüssigkeit im Nacken, dort, wo Tracy richtig fest rubbelt, mich mit Alkohol abreibt, als ob ich irgendein dreckiger Punk aus der Gosse wäre. Es riecht wie in der Praxis von Dr. Reese. »Einfach weiteratmen. Ein und aus. Lange, tiefe Atemzüge.«

Ich atme ein paarmal ein und aus, während sie hinter mir herumwerkelt und noch einmal einen Blick in die Broschüre wirft. Mir wird schwindlig.

»Es reichen schon fünf Minuten pro Tag«, sagt sie und legt mir eine Hand auf den Kopf. »Oder du nimmst dir dafür so viel Zeit, wie du willst. Aber du musst dir jeden Tag an irgendeinem Punkt Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wer du bist und was mit dir geschieht – konzentriere dich einfach darauf, dann wirst du schon wissen, wann die Chroniken das Ganze aufnehmen. Beug mal den Kopf etwas vor.«

»Müssen es denn ganze Sätze sein, Gedankensätze, oder reichen auch Gedankenfetzen oder …«

»Mach es am besten so, als ob du einer wirklich guten Freundin erzählst, was passiert, jemandem, vor dem du keinerlei Geheimnisse hast. Oder wenn dir das zunächst hilft: Stell dir vor, dass du die Geschichte von einer anderen Person erzählst, wie in einem Roman. Aber diese Person bist du selbst. Okay, jetzt geht’s los. Hol mal richtig tief Luft …«

Nach einigen Sekunden spüre ich so etwas wie ein Skalpell, das mir am Nackenansatz in die Haut schneidet – der Schmerz ist meilenweit von einem »Piks« entfernt –, und kurz darauf fühle ich etwas völlig Merkwürdiges, so etwas wie Zahnräder, die durch mein Gehirn pflügen. Ich spüre, wie Tracy das Teil hineindrückt – sie braucht beide Daumen, um das Ding da reinzubekommen, und während sie es tut, flüstert sie: »Aus vielen wird eins«, und ich hebe den Kopf und der Schmerz ist schlimmer als alles, was ich bisher erlebt habe. Das ist gar kein Schmerz mehr, es ist schon etwas jenseits von Schmerz, und mein Kopf dröhnt und fühlt sich an, als ob er gleich explodiert, aber dann spüre ich ein Klick, die Nadel ist draußen, und aus weiter Ferne, aus einer weit, weit entfernten Galaxie höre ich Tracys dumpfe Stimme verhallen.

Na also, das war doch halb so schlimm, nicht wahr …?

DREW

CHANGE 1

TAG 1

Ist dieses Ding an?

Funktioniert es überhaupt?

Woher weiß ich, wann es aufnimmt …?

————?

Hallo? Äh, also, hi. Ich schätze, hier ist Ethan oder vielleicht auch Drew, der oder die aus, ähm, um ehrlich zu sein, aus meiner ganz persönlichen Hölle berichtet. Ich hab wirklich keine Ahnung, was ich hier aufzeichnen soll, aber Mom und Dad haben mich gezwungen, mich hier auf mein Bett zu setzen und Anführungszeichen unten »über meinen Tag nachzudenken« Anführungszeichen oben(muss ich die Satzzeichen eigentlich mit-»denken«?). Ähm, ich weiß wirklich nicht, was …

Jetzt mal im Ernst, funktioniert dieses Ding überhaupt? Wie kann ich Tracy kontaktieren? Sie hat mir nicht mal ihre Handynummer gegeben. Ich muss sie fragen, wie ich das hier einschalte. Vielleicht steht es in diesem Bibel-Handbuch, das ich lesen soll. Sie hat mir gesagt, ich muss mir das alles Seite für Seite genau durchlesen, aber ich hab keine Ahnung, wie ich das anstellen soll, wenn man von mir erwartet, dass ich täglich Tagebuch führe, und ich nicht mal weiß, ob aufgenommen wird, was ich denke, aber egal, jedenfalls muss ich Tagebuch führen, dazu kommen noch die Hausaufgaben, die drei von sechs Lehrern uns heute – am verdammten ersten Schultag – doch tatsächlich aufgegeben haben, und in der übrigen Zeit soll ich mich in meine CB vertiefen. Ich schätze, schlafen darf ich dann nicht mehr.

Wie auch immer, also, der Tag heute war echt nervig. Und mein Nacken pocht immer noch an der Stelle, wo Tracy mich gespritzt hat. Das war’s. Sonst gibt’s nicht viel zu sagen. Schätze, ich bin fertig mit den »Chroniken«.