Mit dem Leben abgeschlossen? - Helen Perkins - E-Book

Mit dem Leben abgeschlossen? E-Book

Helen Perkins

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! »Nun, Frau Gruber, wie fühlen Sie sich?« »Ach, Herr Doktor, schon wieder recht gut.« Die vollschlanke Patientin jenseits der Sechzig rückte ihren grauen Haarknoten resolut zurecht und fügte mit trockenem Humor hinzu: »Wenn man bedenkt, dass ich­ nimmer das neueste Modell bin und jetzt fei noch ein Ersatzteil mehr hab …« Dr. Daniel Norden, Chefarzt und Leiter der Münchner Behnisch-Klinik, lachte und reichte der Bäuerin aus Rosenheim die Hand. »Wird schon. Bei unserer Frau Rohde sind Sie und Ihr neues Hüftgelenk schließlich in den allerbesten Händen.« »Weiß ich doch. Ich vertrau ihr und Ihnen, Herr Doktor. Mein Ferdl wird sich freuen, wenn ich wieder daheim umeinant hupfen kann wie ein junges Reh.« Sie lächelte schmal. »Obwohl ihm sein Traktor allerweil eine Spur lieber gewesen ist als ich …« »Aber, Frau Gruber, Sie haben ihm fünf Kinder geboren.« »Ja, mei, erwachsen sind sie alle schon …« »Trotzdem hören die Sorgen einer Mutter nie auf. Ich kenne das, meine Frau und ich haben auch fünf.« »Herr Doktor, wie schön! Nett, dass Sie mir das sagen. Das nehm ich gleich mit heim wie mein neues Hüftgelenk. Aber im Schatzkästerl inwendig …«

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Chefarzt Dr. Norden – 1182 –

Mit dem Leben abgeschlossen?

Auch Ärzte geraten an ihre Grenzen...

Helen Perkins

»Nun, Frau Gruber, wie fühlen Sie sich?«

»Ach, Herr Doktor, schon wieder recht gut.« Die vollschlanke Patientin jenseits der Sechzig rückte ihren grauen Haarknoten resolut zurecht und fügte mit trockenem Humor hinzu: »Wenn man bedenkt, dass ich­ nimmer das neueste Modell bin und jetzt fei noch ein Ersatzteil mehr hab …«

Dr. Daniel Norden, Chefarzt und Leiter der Münchner Behnisch-Klinik, lachte und reichte der Bäuerin aus Rosenheim die Hand. »Wird schon. Bei unserer Frau Rohde sind Sie und Ihr neues Hüftgelenk schließlich in den allerbesten Händen.«

»Weiß ich doch. Ich vertrau ihr und Ihnen, Herr Doktor. Mein Ferdl wird sich freuen, wenn ich wieder daheim umeinant hupfen kann wie ein junges Reh.« Sie lächelte schmal. »Obwohl ihm sein Traktor allerweil eine Spur lieber gewesen ist als ich …«

»Aber, Frau Gruber, Sie haben ihm fünf Kinder geboren.«

»Ja, mei, erwachsen sind sie alle schon …«

»Trotzdem hören die Sorgen einer Mutter nie auf. Ich kenne das, meine Frau und ich haben auch fünf.«

»Herr Doktor, wie schön! Nett, dass Sie mir das sagen. Das nehm ich gleich mit heim wie mein neues Hüftgelenk. Aber im Schatzkästerl inwendig …« Sie deutete auf ihr Herz.

»So ist es recht.« Dr. Norden bemerkte den ungeduldigen Blick, mit dem Dr. Christina Rohde, die Chirurgin, ihn musterte. Dass er sich für jeden Patienten stets die Zeit nahm, die nötig war, um in aller Ruhe ein Gespräch zu führen und Vertrauen zu schaffen, gefiel nicht allen Kollegen. Denn es verlängerte die tägliche Visite oft erheblich. Dr. Rohde, die hübsche Brünette mit den seelenvollen Augen, störte sich sonst nicht daran. Sie bewunderte ihren Vorgesetzten, er war für sie ein echtes Vorbild. Doch an diesem Freitag hatte sie es eilig, denn sie wollte übers Wochenende in die Berge zum Skilaufen. Dr. Norden verließ nun mit seinem Tross das Krankenzimmer der Bäuerin aus Rosenheim und bedankte sich bei Kollegen und Schwestern.

Die kleine Versammlung löste sich auf, alle gingen wieder an ihre übliche Arbeit.

Daniel Norden begleitete Christina Rohde noch ins Ärztebüro der Chirurgie. Der hoch gewachsene, attraktive Mediziner in den besten Jahren hörte aufmerksam zu, während die Chirurgin mit ihm noch zwei aktuelle Fälle besprach, die gleich am Montagmorgen auf dem OP-Plan standen. Nun war Dr. Rohde hoch konzentriert, keine Spur von Ungeduld prägte mehr ihr Verhalten. Sie war eine hervorragende Chirurgin, hatte auch eine Zusatzausbildung als Notfallmedizinerin und arbeitete noch nicht lange an der Münchner Klinik. Dr. Norden hielt trotzdem bereits große Stücke auf sie, denn sie hatte ihr Können schon oft bewiesen.

»Gut, das war dann alles«, meinte er nun abschließend. »Ein schönes Wochenende, Frau Kollegin.«

»Danke, werde ich haben.« Sie lächelte verschmitzt. »Falls ich noch weiß, wie man sich auf zwei Brettern hält. Mein letzter Winterurlaub liegt lange zurück.«

»Wohin geht’s denn, wenn ich fragen darf?«

»Bad Tölz. Eine urige Skihütte mit deftiger Küche.«

»Sie mögen es also bodenständig.«

»Ja, muss ich zugeben. Und zwei Tage ohne Notfallbereitschaft, OP und Krankenberichte sind pure Erholung für mich.«

Dr. Norden seufzte. Wie gut er die Kollegin verstand …

Als Klinikchef hatte Daniel Norden natürlich auch oft mit der Verwaltung zu tun und verbrachte manche Stunde an seinem Schreibtisch, obwohl ihm die medizinischen Aufgaben weitaus mehr lagen. Er stand quasi zwischen dem Verwaltungsrat der Behnisch-Klinik, der stets auf Rationalisierung und Einsparung setzte, und seinen Kollegen, dem Personal und den Patienten, deren Interessen ihm wirklich am Herzen lagen.

Ein Spagat, der viel Zeit und Kraft kostete.

Nach der Visite kehrte Dr. Norden in sein Büro zurück, seine Assistentin Katja Baumann folgte ihm gleich mit der Unterschriftenmappe. Nachdem er alle Schreiben abgezeichnet hatte, fragte Katja ihn: »Könnte ich heute vielleicht etwas früher gehen, Chef? Oder brauchen Sie mich noch?«

»Nein, ich glaube nicht. Haben Sie was Besonderes vor?«

»Hagen und ich fahren übers Wochenende zu seinen Eltern.« Sie seufzte. »Ich habe das Gefühl, es wird langsam ernst …«

»Na, dann viel Vergnügen.«

Die hübsche Brünette verdrehte die Augen. »Werde ich bestimmt nicht haben. Dazu bin ich viel zu aufgeregt.«

Wenig später verabschiedete Katja sich, Dr. Norden nahm das Telefon und rief seine Frau an. Dr. Felicitas Norden war Leiterin der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik.

»Hast du schon zu Mittag gegessen, Liebes?«, fragte er.

Fee verneinte. »Ich bin noch nicht dazu gekommen. Willst du mich vielleicht einladen, Dan?«

»Das hatte ich vor. Was hältst du von dem kleinen Bistro in der Ladenpassage?«

Sie seufzte. »Besser als nichts. Ich komme gleich.«

In dem großen Klinikkomplex gab es ebenerdig eine Flaniermeile mit Cafés, einem Bistro und Läden. Dort trafen die Nordens sich wenig später und kehrten im Bistro ein. Sie entschieden sich für ein leichtes Essen, Daniel verzichtete auf seinen geliebten Rotwein, denn der Feierabend würde noch etwas auf sich warten lassen, auch wenn es bereits Nachmittag war.

»Alles in Ordnung, Dan?«, fragte Fee und musterte ihn dabei mit ihren erstaunlich blauen Augen. »Du siehst müde aus.«

»Zugegeben, das bin ich auch. Wir haben eine lange und anstrengende Woche hinter uns. Und ob das Wochenende erholsamer wird, das wage ich zu bezweifeln.«

Fee schmunzelte. »Christina Rohde fährt in die Berge, Katja Baumann zu ihren Schwiegereltern in spe. Schwester Gitta hat mich eben gebeten, früher gehen zu dürfen, sie hat eine neue Flamme und möchte ein romantisches Wochenende verbringen. Kann es sein, dass du den Blues kriegst, bei all den ausschwärmenden Freizeitsportlern und Turteltauben?«

Daniel musste lachen, nahm Fees Rechte und küsste sie. »Bei Letzteren können wir beide doch wohl noch locker mithalten.«

»Das will ich meinen«, bestätigte sie mit glitzerndem Blick.

Die Nordens waren trotz vieler Ehejahre und fünf erwachsener Kinder noch immer verliebt ineinander, sie hatten das Kunststück vollbracht, sich Romantik und Leidenschaft auch durch stressige Zeiten und Alltagsroutine zu erhalten. Das machte ihre Ehe zu etwas Besonderem. Und ihre Liebe unsterblich.

»Trotzdem muss ich zugeben, dass eine Auszeit ab und an nicht schlecht wäre. Ein freies Wochenende zum Beispiel …«

»Darüber sollten wir nicht laut reden. Schleichen wir uns lieber auf ein heimliches Zeichen einfach hinaus. Denk nur dran, was passiert ist, als wir das letzte Mal den Luxus eines gemeinsamen freien Wochenendes genießen wollten …«

Fee spielte auf die dramatische Entführung von Alex an, die nur mit sehr viel Glück gut ausgegangen war.

»Ja, du hast Recht. Aber etwas Freizeit wäre trotzdem mal wieder schön. Wir arbeiten beide einfach zu viel.«

»Wir sind eben mit unserem Beruf verheiratet.«

»Wir sind aber auch miteinander verheiratet«, gab er zu bedenken. »Ich sehne mich nach einem ruhigen Wochenende nur mit dir, mein Schatz.«

»Eine wunderbare Vorstellung …« Fee zuckte leicht zusammen, als ihr Piepser sich meldete und gleich darauf auch der ihres Mannes. Mit trockenem Humor stellte sie fest: »Eine wirklich wunderbare Wunschvorstellung.«

»Ich fürchte, du hast wie immer recht, mein Herz …«

Im Lift nach oben tauschten sie einen zärtlichen Kuss und schauten sich einen Moment lang tief in die Augen. Das musste fürs Erste genügen, denn gleich darauf war jeder wieder auf seiner Station eingespannt. So waren sie es ja gewöhnt, und dafür lebten sie als engagierte Mediziner. Doch auch Helfer mit Leib und Seele hatten schließlich heimliche Träume …

*

Dr. Christina Rohde startete derweil in ihren wohlverdienten Kurzurlaub. Sie ließ ihr Auto stehen, nahm bewusst die Bahn, denn sie wollte sich vom ersten Moment an entspannen und erholen. Nachdem der Intercity den Münchner Hauptbahnhof verlassen hatte und sich dem lieblichen Voralpenland näherte, lehnte die Medizinerin sich ­genüsslich in ihrem Sitz zurück, blickte verträumt nach draußen und spürte, wie der Stress der letzten Zeit von ihr abfiel.

Tief verschneit lagen Felder, Wälder und Ortschaften da, im Hintergrund, vor einem bayerischen Himmel blau-weiß das majestätische Panorama der wohlbekannten Alpengipfel.

Dr. Rohde, die erst vor einigen Monaten nach München zurückgekehrt war, nachdem sie ihre Facharztausbildung an einer Dresdner Klinik absolviert hatte, liebte die Berge. Sie hatte zum ersten Mal als Schulmadel auf Skiern gestanden und war dem Sport immer treu geblieben. In den vergangenen Jahren hatte der Beruf aber seinen Tribut gefordert. Meist war sie viel zu eingespannt gewesen für einen längeren Urlaub. Schon gar nicht im Winter.

Doch nun hatte München sie wieder und die Berge erst recht.

»Entschuldigung, ist der Platz noch frei?« Eine Frau mittleren ­Alters mit traditionellem Hut und ­Lodenmantel lächelte Christina freundlich zu. »Ich hab keine Platzkarte, das vergess ich allerweil. Kann ich mich zu Ihnen setzen?«

»Gern. Aber ich weiß nicht, ob der Platz reserviert ist.«

»Dann wechsle ich eben.« Mit einem Schnaufer ließ sie sich nieder und fragte: »Fahren Sie vielleicht auch bis Tölz?«

Die junge Ärztin nickte, woraufhin ihre Mitreisende sie wissen ließ: »Ich auch. Einmal im Monat fahre ich nach Minga, besuche meine Tochter und ihre Familie und das Grab von meinem Mann.«

»Ach, Sie sind schon Witwe?«

»Ja, leider. Meinen Sepp hat der Schlag getroffen, kaum dass er die Fünfzig erreicht hatte. Er war Metzger und Jäger. Zu viel Fleisch, wissen Sie? Seine Arterien waren ganz verstopft. Das Geschäft hab ich verkauft und mir ein schönes Häusel in Tölz zugelegt. Ein herrliches Fleckerl Erde ist das.«

Christina nickte. »Ich fahre übers Wochenende hin, zum Skilaufen.«

»Ja, da haben Sie sich das Rechte ausgesucht. Vielleicht wartet auch Ihr Schatz dort auf Sie, ein hübsches Madel wie Sie hat doch gewiss einen Liebsten.«

Die junge Ärztin musste schmunzeln. »Leider nein. Ich bin sozusagen mit meinem Beruf verheiratet. Ich arbeite als Chirurgin in der Behnisch-Klinik in München.«

»Da hab ich meine Galle gelassen, ist schon etwas her …«

So entspann sich ein lockeres Gespräch zwischen Christina Rohde und ihrer Mitreisenden, das die Zeit wie im Flug vergehen ließ. Die beiden unterschiedlichen Frauen aßen zusammen noch ein Stück Kuchen im Bordrestaurant. Kaum war der Kaffee ausgetrunken, da näherte der Zug sich auch schon dem Bahnhof von Bad Tölz. Man verabschiedete sich herzlich, und Christina machte sich entspannt und bester Dinge auf die Suche nach einem Taxi, das sie zur Hohenstein-Hütte bringen sollte.

In Bad Tölz herrschte reger Wochenendverkehr, nicht nur Christina Rohde war auf die Idee verfallen, Samstag und Sonntag beim Skilaufen auszuspannen. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte, war es bereits Zeit fürs Abendessen.

Der Hüttenwirt, ein echtes Tölzer Original mit gezwirbeltem Schnauz und Grandeln an der altsilbernen Uhrkette, hieß sie herzlich willkommen und zeigte ihr dann ihr Zimmer, das zwar nicht groß, aber dafür sehr gemütlich war.

»Ich hoffe, Sie fühlen sich bei uns wohl, Frau Dr. Rohde«, sagte er freundlich. »Nachtmahl wird in einer halben Stunde serviert.«

Christina bedankte sich. Sie hatte eben noch Zeit, sich umzuziehen und frisch zu machen, dann verließ sie ihr Zimmer und ging hinunter in den Speisesaal. Die Tische waren schon fast alle besetzt, aber sie fand noch einen schönen Platz am Fenster, mit Blick auf das Tal, Bad Tölz und die umgebenden Berge.

Als der Kellner ihr die Speisekarte brachte, musste sie nicht lange überlegen. »Gröstel bitte!« Das war eine Speise, die echte Kindheitserinnerungen weckte …

Christina hatte ihren Teller fast geleert, als ein junger Mann neben ihrem Tisch stehen blieb, sie einen Moment lang fragend ansah und dann wissen wollte: »Chrissi, bist du das?«

Sie blickte auf und in ein Paar kluge, graue Augen, das ihr freundlich zulächelte. Dieser Blick erschien ihr sehr vertraut, auch wenn sie ihn lange nicht mehr gesehen hatte. Und der alte Spitzname aus Schulzeiten weckte ganz bestimmte Erinnerungen in ihr, die sich mit einer speziellen Person verbanden.

»Bastian? Bastian Brunner?«

Er lachte. »Ja, der bin ich. Das ist aber ein Zufall, dass wir uns hier wiedersehen. Wie lange mag es her sein, seit …«

Christina winkte ab. »Lieber nicht nachrechnen. Dabei fühlt man sich so alt. Machst du auch Skiurlaub in Bad Tölz?«

»Ja, so … ähnlich. Bist du allein hier, Chrissi?«

Sie nickte. »Und du? Mit Familie?«

Ein wehmütiges Lächeln legte sich um seinen sensiblen Mund, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, auch allein.«

»Dann setz dich doch. Und erzähl mir, wie es dir in den letzten Jahren ergangen ist.«

»Gern. Darf ich dir was bestellen? Vielleicht einen Kaffee?«

»Da sage ich nicht nein.« Christina betrachtete ihr Gegenüber aufmerksam. Sebastian Brunner war von der Einschulung bis zum Abitur ihr bester Freund gewesen. Sie hatte den schlaksigen, schüchternen Jungen immer gern gehabt. Er war sehr klug, aber zurückhaltend. Nie hatte er sich in den Vordergrund gespielt, lieber hatte er mit profundem Wissen geglänzt. In der Oberstufe waren sie eine Weile ein Pärchen gewesen. Aber nach dem Abitur hatte Sebastian einen Studienplatz in den USA ergattert, und so hatten sich ihre Wege getrennt. Vergessen hatte Christina ihren Schulfreund nie. Und wenn sie ihn nun ansah, spürte sie, dass er noch immer einen Platz in ihrem Herzen hatte. Doch er war nicht mehr der unbekümmerte Junge, der die Welt erkunden und verstehen wollte. Ein bitterer Zug lag um seinen Mund, und sein Blick wirkte resigniert, traurig. Was war los mit ihm? Sogleich stellte sich in Christina das alte Gefühl der Mitverantwortlichkeit aus Schulzeiten wieder ein. Sie sorgte sich um den Freund und fragte sich, ob sie ihm irgendwie helfen konnte. Sebastian zeigte sich beeindruckt, als sie über ihren beruflichen Werdegang sprach.

»Chirurgin, das ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf«, sinnierte er. »Wäre nichts für mich, ich kann kein Blut sehen.«

»Ich weiß.« Sie lachte leise. »Als Thomas Berg im Werkunterricht Nasenbluten bekam, bist du umgekippt.«

»Daran erinnerst du dich noch? Wie peinlich.«

Christina lachte. »Unsinn, das ist so lange her … Was hast du eigentlich aus deinem Stipendium gemacht?«

Er hob bescheiden die Schultern. »Ich habe in Physik promoviert und eine Weile als Dozent in Harvard gearbeitet.«

»Also immer noch ein echtes Genie.«

»Unfug. Der Lehrbetrieb war für meine Begriffe aber etwas zu schwerfällig und wirklichkeitsfremd. Ich wollte mit meinem Wissen etwas anfangen. Umwelttechnologie hat mich gereizt. Also habe ich mich selbstständig gemacht.«

»In den USA?«

»Nein, ich bin vor ein paar Jahren nach Bayern zurückgekommen. Auch der Liebe wegen.« Er lächelte verschämt. »Meine Frau Irene stammt aus Fürstenfeldbruck. Dort leben wir. Und da habe ich auch meine Firma gegründet, zusammen mit einem Studienfreund.«

»Und was produziert ihr?«, fragte Christina interessiert.

»Spezielle Filteranlagen zur Gewässeraufbereitung ohne Chemie, ein Beitrag zum Umweltschutz.«

»Das klingt faszinierend.«

»Ja, ist es auch.« Er lächelte freudlos. »Bis vor kurzem …«