Cherokee Rose - Sylvia Pranga - E-Book

Cherokee Rose E-Book

Sylvia Pranga

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Beschreibung

Carol Reyerson war schon immer diejenige in ihrer Familie, die angepackt und den Karren aus dem Dreck gezogen hatte. Nach dem Tod ihres Vaters spitzt sich die Situation derartig zu, dass sie beschließt, aus der Stadt zu ziehen und auf dem Land von vorn anzufangen. Allerdings hat sie noch nie allein, noch dazu in der Wildnis, gelebt und sieht sich fortan nicht nur mit ihren Ängsten, sondern auch mit dem unnahbaren, aber äußerst faszinierenden Nachbarn Darren konfrontiert. Der ehemalige Ranger Darren Drake ist Menschen gegenüber im Allgemeinen und Staatsbediensteten im Besonderen äußerst misstrauisch. Dafür hat er gute Gründe. Das Betreten seines Grundstücks empfindet er als Eindringen in seine Privatsphäre und er bevorzugt die Einsamkeit der Wälder. Als seine neue Nachbarin mit ihren Plänen sein Leben mächtig durcheinanderbringt, bricht eine innere, verdrängte Sehnsucht wieder auf. Und je näher Carol und Darren sich kommen, desto riskanter wird ihre Lage – bis sie sogar in Lebensgefahr geraten.

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Cherokee Rose

Sylvia Pranga

© 2017 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

© Umschlaggestaltung: Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864436956

ISBN eBook-mobi: 9783864436963

eISBN eBook-epub: 9783864436970

www.sieben-verlag.de

Für meine GeschwisterBernd, Sigrid, Kerstin und Horst

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Die Autorin

Kapitel 1

„Komm nach Hause, Carol.“

Ich wandte mich zu Jenny um, die an der Küchentür stand und ihren Blick durch den Raum schweifen ließ. Meine Schwester wirkte wie der Vogue entstiegen und damit vollkommen fehl am Platz. Mit einem Seufzer öffnete ich den nächsten Karton mit Lebensmitteln.

„Darüber haben wir oft genug geredet, Jenny. Ich brauche Abstand und Ruhe. Dafür ist das Haus ideal.“

Jennys Pfennigabsätze klackerten auf den Fliesen, bis sie neben mir stand. Ein Hauch Parfüm stieg mir in die Nase, als sie mich mit ihren Puppenaugen fixierte. Nicht schon wieder. Ob sie glaubte, mich mit Starren von ihrer Meinung zu überzeugen? Ich wandte den Blick ab, damit sie nicht sah, dass ich mir auf die Lippe biss, um ein Grinsen zu unterdrücken. Mein Griff in den Karton förderte eine Packung Beef Jerky zutage. Wann hatte ich dieses eklige Zeug gekauft? In letzter Zeit war ich nie ganz bei der Sache.

„Findest du nicht, dass es hier zu einsam ist, Carol? Das Haus ist seit Jahren nicht mehr bewohnt, rundherum ist nur Wald. Das ist gefährlich, besonders nachts. Ich mag gar nicht daran denken.“

Jetzt wollte Jenny mir auch noch Angst machen. Man hätte glauben können, dass das Haus aus Stroh bestand und ein böser Wolf es jederzeit umpusten konnte. Leider löste der Gedanke tatsächlich ein mulmiges Gefühl in mir aus. Durch das Küchenfenster sah ich auf eine grünbraune Wand, so dicht standen die Bäume hier. Eine solche Wildnis war ich nicht gewohnt, schließlich hatte ich mein ganzes Leben in Atlanta verbracht. Aber vor Jenny durfte ich mir diese Unsicherheit nicht anmerken lassen. Also reckte ich mich, um Cornflakes und Cracker auf ein Regalbrett zu stellen.

„Ich habe nicht vor, nachts in den Wald zu gehen. Außerdem ist die Station der Ranger kaum eine Meile entfernt. Quentin hat gesagt, dass ich jederzeit anrufen kann. Du musst dir also keine Sorgen machen.“

Jenny stieß einen Drama-Queen-Seufzer aus und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. Ihre goldblonden Locken schwangen um ihre Schultern und sie erinnerte mich wieder einmal an eine zum Leben erwachte Barbie-Puppe.

„Dieser Quentin ist bestimmt ein anständiger Kerl. Aber er weiß nicht, was du in letzter Zeit durchgemacht hast. Was ist, wenn … na, du weißt schon.“

Jenny senkte den Blick und trat von einem Bein aufs andere. Ihre Wangen hatten sich gerötet und sie biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte es immer noch nicht aussprechen.

„Du meinst, wenn ich wieder einen Nervenzusammenbruch habe?“

Jenny nickte und hob den Blick. Das Blau ihrer Augen wurde durch ein feuchtes Schimmern verstärkt. Mitleid wallte in mir auf. Sie machte sich Sorgen um mich und mir würde es nicht anders ergehen, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Daher legte ich die Arme um sie und zog sie an mich. Sie zitterte, als würde sie jeden Moment zu weinen beginnen. Tröstend strich ich über ihren Rücken und murmelte in ihr Ohr.

„Dr. Masters hat mir versichert, dass das nicht wieder passiert, solange ich mich keinem Stress aussetze. Deswegen bin ich jetzt hier und nicht in unserem Restaurant. Für den Notfall habe ich Beruhigungsmittel dabei. Du musst dich also nicht um mich sorgen.“

Jenny atmete hörbar aus, drückte mich noch einmal ganz fest und löste sich dann aus meiner Umarmung. Sie wischte sich über die Wangen und sah mich mit einem gezwungenen Lächeln an. „Okay, ich gebe mir Mühe. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn du bei uns in Atlanta geblieben wärst. Bei uns, deiner Familie, bist du am besten aufgehoben. Wir hätten uns gern um dich gekümmert, das weißt du.“

Ich lächelte Jenny an und hoffte, dass sie aus meiner Mimik Dankbarkeit las, die ich nicht empfand. Mir war klar, dass sie mir helfen wollte. Aber ihre Umsetzung dieser Hilfe war kontraproduktiv. Das hatte ich, nachdem ich nach meinem Zusammenbruch aus dem Krankenhaus entlassen wurde, festgestellt. Jenny war der Ansicht, dass ich auf keinen Fall allein in das Haus zurückkehren sollte, das ich bis vor Kurzem mit George bewohnt hatte. Also überredete sie mich, in ihrem Gästezimmer zu wohnen.

Es war die Hölle. Jenny hatte drei kleine Kinder und meinte, dass es mir guttun würde, den ganzen Tag in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Nach einer Woche fühlte ich mich, als würde ein zweiter Zusammenbruch bevorstehen. Also kehrte ich in mein Haus zurück. Dort erinnerte mich jedoch alles an George, und ich schlief fast nicht mehr. So blieb als letzte Lösung das Waldhäuschen im Chattahoochee National Forest in der Nähe der Kleinstadt Milton, das ich von meinem Vater geerbt hatte. Das wiederum gefiel Jenny nicht, weswegen sie immer noch versuchte, mich von meinem Entschluss, hier zu wohnen, abzubringen.

„Ich weiß, Jenny, und ich bin dir dankbar für dein Hilfsangebot. Aber ich muss für eine Weile allein sein und in Ruhe über alles nachdenken. Ich muss viele Entscheidungen fällen, auch was dieses Haus und das Land betrifft. Das habe ich zu lange aufgeschoben.“

Jenny strich eine Locke zurück und seufzte ein weiteres Mal. An ihrem Blick konnte ich sehen, dass sie endlich aufgegeben hatte und war erleichtert. Sie hatte die Frage, die ich am meisten gefürchtet hatte, nicht gestellt. Wann würde ich nach Atlanta zurückkommen und mich wieder um alles kümmern?

„Okay. Aber wir telefonieren jeden Tag. Und du rufst mich an, wenn es ein Problem gibt. Versprich mir das. Ich komme dann sofort zu dir.“

Ich nickte, obwohl ich nicht vorhatte, das zu tun. Aber im Moment hätte ich Jenny so gut wie alles versprochen, damit sie endlich losfuhr. Ich wollte allein sein, mich mit einer Tasse Tee auf der Couch lümmeln und nachdenken.

Daher atmete ich auf, als Jennys Auto vom Hof fuhr. Ich wusste, dass sie sich Sorgen machte und mir helfen wollte. Aber zurzeit ging sie mir auf die Nerven, so wie alle anderen Menschen. Ich ging ins Haus, schloss die Tür hinter mir und lauschte. Vogelgezwitscher, leises Blätterrauschen, irgendwo knackte Holz. Mehr war nicht zu hören. Ich war allein, und die Geräusche des stressigen Stadtlebens lagen hinter mir. Endlich.

Zehn Minuten später saß ich mit einem Kräutertee auf der eingestaubten Couch vor dem Kamin und blätterte in einem Reiseführer über den Chattahoochee National Forest. Der Wald erstreckte sich über 3.500 km2 und beherbergte tatsächlich Wildtiere, die einem Menschen gefährlich werden konnten, wie Bären, Kojoten und Giftschlagen. Ich war etwas beunruhigt, denn ich hatte von langen Spaziergängen durch die Wälder geträumt. Schließlich gab es hier Wanderwege. War es trotzdem gefährlich? Ich würde Quentin fragen müssen, den hilfsbereiten Ranger, der angeboten hatte, dass ich ihn jederzeit anrufen könne. Er konnte mir bestimmt am Besten sagen, was ich bei Spaziergängen beachten musste.

Nachdem ich den Tee getrunken hatte, machte ich einen Erkundungsgang durch das Haus. Es bestand aus einem Erdgeschoss mit fünf Zimmern und einem Spitzboden. Seit mein Vater vor vier Jahren gestorben war, gehörte es mir. Doch ich war bisher erst zwei Mal hier gewesen und auch mein Vater hatte es zu seinen Lebzeiten nur zur Jagdsaison genutzt.

So sah es hier auch aus. Auf allen Oberflächen lag eine dicke Staubschicht, Spinnennetze hatten jede Ecke erobert und überall stand Krempel herum. Ich würde viel Zeit mit Aufräumen und Putzen verbringen, bevor es gemütlich sein würde. Aber ich freute mich auf diese Aufgabe, denn sie würde mich vom Grübeln ablenken.

Ich setzte meinen Erkundungsgang draußen fort, wo mich schwüle Spätsommerluft empfing. In der Ferne, Richtung Atlanta, türmten sich dunkle Wolken auf. Ein Gewitter würde die Luft erfrischen, aber ich zweifelte daran, dass mir ein Unwetter an meinem ersten Abend allein im Waldhäuschen gefallen würde. Ich verdrängte die Gedanken an Blitzeinschlag und ein leckendes Dach und sah mich genauer um.

Das Häuschen stand auf einer kleinen, annähernd runden Lichtung. In etwa hundert Metern Entfernung begann der Mischwald. Vor dem Haus war die Erde festgestampft worden. Dieser Bereich diente als Parkplatz und beherbergte eine Holzbank samt Tisch, beides vom Wetter in Mitleidenschaft gezogen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es hier nach einem Wolkenbruch aussah. In dem Fall konnte ich nur hoffen, dass mein Toyota nicht in den Wald geschwemmt werden würde.

Ich ließ meinen Blick über die Bäume schweifen und entdeckte einen Wanderweg, der direkt auf meiner Lichtung endete. Das war ideal. Touristen, die diesen Weg nutzten, wurden direkt zu meinem Haus geführt. Wenn ich hier ein Café einrichtete, würde ich in der Saison gut verdienen. Ich spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, doch gleichzeitig musste ich lächeln. Natürlich war es unfair gewesen, Jenny nichts von meinen Plänen zu erzählen. Doch wenn ich es getan hätte, wäre sie nie ohne mich nach Atlanta zurückgefahren.

Ich hatte meine Familie in dem Glauben gelassen, dass ich das Haus auf Vordermann bringen und dann verkaufen wollte. Meine Mutter und mein Stiefvater drängten mich seit Jahren dazu. Doch das Haus hatte meinem Vater gehört, und er hatte es geliebt. In mir zog sich bei dem Gedanken, es wegzugeben, alles zusammen.

Bevor die Trauer mich überwältigen konnte, riss ich den Kopf hoch, straffte die Schultern und ging auf den Wald zu, um den Wanderweg genauer in Augenschein zu nehmen. In letzter Zeit schien er nicht viel genutzt worden zu sein, denn er wucherte von den Rändern aus zu und überall lagen Äste. Ich runzelte die Stirn. Dieser Teil des Chattahoochee National Forest war bei Wanderern beliebt. Warum kümmerte man sich nicht besser um die Wege? Wer war dafür zuständig? Ich machte eine gedankliche Notiz, dass ich diese Fragen dem Ranger Quentin Bakay bei nächster Gelegenheit stellen musste.

Ich wollte gerade zum Haus zurückgehen, als ich von etwas geblendet wurde, was die Sonnenstrahlen reflektierte. Irritiert beschattete ich meine Augen mit der Hand und sah in die Richtung der Reflektion. Ich meinte, eine Bewegung auszumachen. Noch ein Aufblitzen, dann rührte sich nichts mehr. Ich schluckte und merkte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. Das konnte kein Tier gewesen sein, denn die Sonne war von Metall reflektiert worden. Ein Ranger hätte sich mir zu erkennen gegeben. Sie wussten alle, dass ich nun in dem Waldhäuschen wohnte. Wer oder was war es dann gewesen?

Mir wurde die Sache unheimlich. Mit schnellen Schritten ging ich zum Haus zurück und schloss die Tür von innen ab. Das fing ja gut an. Gleich am ersten Tag ließ ich mir von einem Stück Metall oder Glas, das die Sonne reflektierte, Angst einjagen. Ich durfte nicht so zimperlich sein. Das hier war nicht Atlanta. Genau deswegen war ich ja hergekommen.

Es hupte, und ich machte vor Schreck einen Satz. Verdammt! Das musste ich mir abgewöhnen. Allerdings war es unnötig, hier zu hupen. Ich verabscheute diese viel genutzte Sinnlosigkeit schon in der Stadt. Hier, wo es kaum Autos gab, war es idiotisch. Gereizt schloss ich die Tür wieder auf und öffnete sie.

Quentin Bakay stieg aus einem Pick-up der Ranger Station. Ich freute mich so, ihn zu sehen, dass ich ihm den Schreck verzieh, den er mir eingejagt hatte. Sein Lächeln, bei dem sich Grübchen in seinen Wangen bildeten, war ansteckend. Ich ging ihm entgegen und nahm seine ausgestreckte Hand. Seine Stimme wurde fast vom Donnergrollen übertönt.

„Hast du dich schon ein wenig eingelebt, Carol? Ich bin gekommen, um zu fragen, ob ich dir irgendwie helfen kann.“

Ich war erleichtert, dass Quentin hier war, denn das Gewitter erschien mir immer bedrohlicher. Gleichzeitig schalt ich mich innerlich für meine Ängstlichkeit. Trotzdem konnte ich mir meine Frage einfach nicht verkneifen.

„Weißt du, ob das Haus einen Blitzableiter hat?“

Quentin legte mir einen Arm um die Schultern und drückte mich sanft. Ich wusste, dass er mich nur beruhigen wollte, fand die Geste aber zu vertraulich und fühlte mich unbehaglich.

„Ja, keine Sorge. Das ist hier im Wald verpflichtend. Ein Feuer könnte auf die Bäume übergreifen.“

Möglichst unauffällig drehte ich mich unter seinem Arm weg und ging zum Haus. Dabei lächelte ich Quentin über die Schulter an, um ihn nicht zu kränken. „Das ist gut. Komm doch auf einen Kaffee rein. Ich habe ein paar Fragen an dich.“

„Gern.“

Er folgte mir in den Flur und legte seinen Hut auf der Garderobe ab. Dann ging er schnurstracks auf den Kamin zu und begann, ein Feuer zu machen. Einerseits war ich ihm dankbar für seine Hilfsbereitschaft, andererseits fand ich dieses Verhalten etwas übergriffig und auch unnötig.

„Äh, Quentin, draußen ist es drückend warm. Ich glaube nicht, dass ich ein Feuer brauche.“

Ohne sich zu mir umzuwenden, hielt er ein Streichholz an den Kaminanzünder und eine Flamme züngelte auf. Sie warf einen rötlichen Schein auf sein blondes Haar und beleuchtete sein Jungengesicht.

„Glaub mir, Carol, nach dem Gewitter wirst du froh sein, wenn du es im Haus warm hast. Die Temperatur sinkt schlagartig und in der Nacht wird es empfindlich kalt.“

Er schloss die Kamintür, erhob sich und glättete sein Hemd. Ich wies einladend auf die Couch, und als er sich setzte, ging ich in die Küche, um Kaffee zu machen. Während die Maschine sich mit einem Ächzen in Gang setzte, beobachtete ich Quentin. Er schien sich hier wie zu Hause zu fühlen, hatte es sich in einer Sofaecke bequem gemacht, einen Arm lässig über die Lehne gelegt und sah ins Feuer – als ob er darauf wartete, dass seine treusorgende Ehefrau ihm den Kaffee brachte. Ich bekam eine Gänsehaut, und das lag nicht an der sinkenden Temperatur.

Mein Unbehagen war noch nicht ganz verflogen, als ich mich Quentin gegenüber in einen Sessel setzte. Ich schalt mich eine Mimose, weil ich jede Kleinigkeit als Übergriff empfand. Trotzdem jammerten meine Instinkte weiterhin, dass ich mir nicht alles gefallen lassen sollte. Ich schreckte aus diesen Gedanken auf, als Quentin seinen Becher auf den Tisch stellte und mir wiederum ein blendendes Lächeln gönnte. Ich hatte Mühe, es zu erwidern.

„Wie gefällt es dir hier, Carol?“

Das empfand ich als ambivalent, aber aus irgendeinem Grund schreckte ich davor zurück, es Quentin offen zu sagen. Er sollte nicht wissen, dass ich mich schon mehr als ein Mal gefürchtet hatte und vom Zustand des Hauses nicht begeistert war. Mir war selbst ein Rätsel, warum ich das vor ihm geheim halten wollte.

„Bisher gut. Allerdings habe ich ein paar Fragen, die du mir bestimmt beantworten kannst.“

Quentin nahm seinen Becher vom Tisch und machte mit der anderen Hand eine auffordernde Bewegung. „Nur zu.“

Donner grollte und ich zuckte zu meinem Ärger zusammen. Diese Schreckhaftigkeit musste ich mir abgewöhnen, insbesondere in Gegenwart anderer. Um Quentin keine Gelegenheit zu geben, mich mit Worten oder mehr zu beruhigen, stellte ich schnell meine erste Frage.

„Ein Wanderweg führt direkt zu meinem Haus, scheint aber in letzter Zeit nicht viel genutzt worden zu sein. Er wuchert zu. Weißt du, warum das so ist?“

In Quentins Gesicht fuhr mit einem Ruck ein Rolltor hinunter. Er wirkte plötzlich so verschlossen, dass es gar nicht zu seinem hübschen Jungengesicht passen wollte. Was war hier los? Ich hatte eine harmlose Frage gestellt. Er trank einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete.

„Der Weg wird tatsächlich so gut wie nicht mehr genutzt. Ist das wichtig für dich?“

Er hatte meine Frage nicht beantwortet, wobei ich den Eindruck hatte, dass er die Antwort sehr wohl kannte. Das ärgerte mich – und machte mich neugierig. Also musste ich ihm einen Köder hinwerfen, damit er mit weiteren Informationen herausrückte.

„Ich überlege, hier ein Café für Wanderer einzurichten. Dann könnte ich die Einnahmen für den Erhalt des Hauses verwenden und müsste es nicht verkaufen. Dafür brauche ich natürlich Gäste, sonst bleibe ich auf meinen Getränken sitzen.“

Quentins helle Brauen senkten sich. Er presste die Lippen aufeinander und blickte so düster drein, wie es mit einem solchen Lausbubengesicht möglich war. Ein Seufzer entschlüpfte mir. Das würde schwieriger werden, als ich gedacht hatte.

„Du willst dich wirklich langfristig an dieses Haus binden? Ich hatte geglaubt, dass du nur für ein paar Wochen zur Erholung hier bist und es dann loswerden willst.“

Ich ärgerte mich noch mehr. Entweder hatte Jenny geplaudert oder Quentin beschäftigte sich viel zu sehr mit meinem Leben.

„Der erste Teil stimmt, der zweite nicht. Ich habe dieses Haus von meinem Vater geerbt und möchte es nicht verkaufen. Viel würde ich ohnehin nicht dafür bekommen. Da ist es meiner Meinung nach besser, wenn ich etwas damit verdiene. Aber dafür brauche ich Gäste. Also, der Wanderweg …“

Quentin verschränkte die Arme vor der Brust, was wohl nicht an der Kühle lag, die langsam ins Haus kroch und die Wärme des Feuers vor eine Herausforderung stellte. Er wollte nicht antworten und überlegte, wie er mir ausweichen konnte. Als er den Mund öffnete, krachte der nächste Donnerschlag und Regen prasselte aufs Dach. Quentin musste seine Stimme erheben, damit ich ihn hören konnte.

„Der Wanderweg war früher sehr beliebt. Er führt durch einen idyllischen Abschnitt des Waldes mit Bächen und kleinen Wasserfällen. Aber in den letzten Jahren wurde er immer weniger genutzt und heute kommt kaum mehr jemand hier durch.“

Gespannt beugte ich mich vor. Die Federn des Sessels quietschten. Quentin wich meinem Blick aus, aber ich war nicht bereit, aufzugeben. „Warum nicht?“

Jetzt rutschte er auf dem Sofa herum und starrte wie hypnotisiert in seine Kaffeetasse. Bei dem Gewitterlärm konnte ich seine Antwort kaum verstehen. „Ich will dir keine Angst machen, Carol. Kannst du nicht einfach hinnehmen, dass der Weg nicht mehr genutzt wird? Für das Haus lässt sich mit etwas Verhandlungsgeschick bestimmt ein guter Preis erzielen.“

Mir Angst machen? Was in aller Welt meinte er damit? Plötzlich zog sich alles in mir zusammen, und ich warf einen Blick aus dem Fenster Richtung Wald. Ich hörte das Zittern in meiner Stimme. „Hat es … Zwischenfälle mit Wildtieren gegeben, Quentin? Will deshalb niemand mehr herkommen?“

Vor meinem inneren Auge sah ich von Bären zerfetzte Leichen und menschliche Körper, die bis zur Unkenntlichkeit von Schlangengift aufgequollen waren. Ich verfluchte meine lebhafte Fantasie. Quentin hingegen sah mich mit offensichtlicher Verwunderung an.

„Nein, wie kommst du denn darauf? Klar gibt es hier viele Wildtiere, auch solche, die Menschen gefährlich werden können. Aber die leben nicht in der Nähe der Wanderwege. Darauf wurde natürlich geachtet, als die Wege angelegt wurden.“

Ich atmete auf, lehnte mich im Sessel zurück und merkte, wie sich meine Muskeln nach und nach wieder entspannten. Also keine menschenfressenden Bären und beißwütigen Schlangen. Was sonst?

„Das beruhigt mich, Quentin. Aber warum meiden die Leute dann diesen Weg?“

Quentin senkte den Blick und zog mit dem Finger Kreise auf seinem Bein. Langsam verlor ich die Geduld. Er erinnerte mich an Jenny, wenn sie sich etwas von mir geliehen und es ruiniert hatte. Dann dauerte es auch immer ewig, bis sie mit der Sprache herausrückte. Als ich Quentin nochmals fragen wollte, machte er endlich den Mund auf.

„Du und deine Familie, ihr wart sehr lange nicht mehr hier. Daher kannst du es nicht wissen. Vor zwei Jahren hat jemand ein Stück Gelände gekauft, das an deinen Grund und Boden grenzt. Der Wanderweg, der bei deinem Haus endet, führt über das Grundstück deines Nachbarn. Und es … gefällt ihm nicht, wenn Touristen über seinen Besitz gehen.“

Ich fand diese Auskunft nicht spektakulär. Warum sollte ich Angst vor irgendeinem alten Kauz haben, dessen Hobby es war, Leute zu vergraulen? Dafür ließ sich sicher schnell eine Lösung finden.

„Dann rede ich mit ihm. Ich könnte ihm für die Saison eine Durchgangspauschale anbieten – oder jeden Tag kostenlos Kaffee und Kuchen. Vielleicht ist er nur einsam, wie viele alte Leute.“

Quentin warf mir einen seltsamen Blick zu und schüttelte dann den Kopf. „Das hast du falsch verstanden, Carol. Das ist kein alter Witwer, der aus Verbitterung Touristen anschnauzt. Der Kerl ist in meinem Alter, benimmt sich wie ein Verrückter und sieht wie ein Wilder aus. Er rennt mit einer Armbrust durch die Gegend und hat so viele Wanderer erschreckt, dass es sich inzwischen überall herumgesprochen hat und keiner mehr herkommen will. Von den Warnschildern mal ganz abgesehen.“

Ich merkte, dass mir bei Quentins Worten der Mund offen stehengeblieben war und schloss ihn schnell. Was war das denn für eine merkwürdige Geschichte? Ein Wilder mit einer Armbrust? Ich kam mir vor wie in einem Western. Das durfte nicht wahr sein. Von so einem durchgeknallten Typen würde ich mir nicht mein Geschäft verderben lassen.

„Warum unternimmt niemand etwas gegen ihn, wenn er Leute mit einer Waffe bedroht? Und von was für Schildern redest du?“

Quentin stieß einen theatralischen Seufzer aus und fuhr sich durch seinen blonden Schopf. Das Thema nervte ihn immer mehr, aber ich wollte nicht locker lassen. „Er hat nie so offensichtlich jemanden bedroht, dass es zu einer Anzeige gekommen wäre. Stattdessen taucht er so geräuschlos hinter den Leuten auf, dass sie allein das schon halb zu Tode erschreckt. Meistens hat er die Armbrust dabei, hält sie aber gesenkt. Das wirkt bedrohlich, erfüllt aber keinen Straftatbestand. Und dann sagt er den Leuten, dass sie unbefugt seinen Besitz betreten haben und sofort gehen sollen. Warnschilder mit dem Hinweis „Privatbesitz“ hat er inzwischen auch aufgestellt. Wir können nichts dagegen tun.“

Na, großartig! Warum konnte nie etwas glatt laufen? Es würde schwierig genug sein, das Haus gegen den Widerstand meiner Familie zu behalten und genug Geld zu verdienen, um es vor dem Verfall zu bewahren. Jetzt schlich auch noch ein Steinzeitmensch mit Armbrust durch die Wälder und verschreckte die Wanderer, die meinen Kaffee kaufen sollten.

„Kann man den Wanderweg nicht umleiten, sodass er nicht mehr über das Nachbargrundstück verläuft, aber trotzdem bei mir endet?“

Quentin schüttelte den Kopf und lächelte bedauernd. „Leider nicht. Erstens ist das hier ein Naturschutzgebiet. Da darf man nicht so einfach neue Wege anlegen. Zweitens würde der Weg dann durch ein feuchteres Gebiet führen, in dem es mehr Schlangen gibt.“

Mit einem Stöhnen vergrub ich das Gesicht in den Händen. Aufgeben wäre jetzt so schön leicht. Einfach ein paar ruhige Wochen hier im Wald verbringen, das Häuschen auf Vordermann bringen und es dann zum Verkauf anbieten. Mein Vater hätte bestimmt Verständnis dafür gehabt. Beim Gedanken an meinen Dad zuckte ich zusammen. Nein, ich konnte das einfach nicht tun. Ich würde kämpfen. Rasch hob ich den Kopf wieder und fixierte Quentin.

„Wie gut kennst du diesen … wie heißt der eigentlich?“

„Darren Drake.“

Quentin verzog bei dem Namen das Gesicht. Er war dem Mann offensichtlich in herzlichster Abneigung zugetan. Es wurde immer besser.

„Okay. Könnte ich mit ihm reden, ohne dass er mit Pfeilen auf mich schießt?“

Quentin runzelte zunächst die Stirn, überlegte es sich dann anders und lächelte mich beruhigend an. „Schießen würde er wohl nicht. Aber ein Gespräch wäre sinnlos.“

Ich sprang auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Donnergrollen, das jetzt fast ohne Unterbrechung durchs Haus dröhnte, passte zu meiner Stimmung.

„Wieso? Man kann mit jedem Menschen sprechen.“

Quentin schüttelte den Kopf. „Nicht mit dem. Ich habe es versucht. Trifft man ihn im Wald, geht er einfach weiter, wenn man ihn anspricht. Geht man zu seiner Blockhütte, weist er auf den Privatbesitz hin und verschanzt sich hinter seiner Armbrust. Antworten auf meine Fragen habe ich von ihm noch nie bekommen. Der Typ ist ein Spinner.“

Ich ließ mich wieder in den Sessel fallen. Was nun? Wirklich gefährlich schien dieser Darren nicht zu sein, denn schließlich hatte er niemanden ernsthaft bedroht oder gar verletzt. Er wollte nur keinen Menschen auf seinem Besitz haben. Aber bis jetzt hatte das noch keine Frau versucht. Laut Quentin war Darren in unserem Alter. Vielleicht war er milder gestimmt, wenn er mich sah – ohne Waffen, ohne maskuline Aggressivität, dafür mit langem rotem Haar und Kurven. Normalerweise verabscheute ich eine solche Denkweise, aber in diesem Fall war sie ein gutes Mittel zum Zweck.

„Wie weit ist es von hier bis zu seiner Blockhütte?“

Quentin zog die Brauen bis zu seiner blonden Tolle hoch und sah mich mit großen Augen an. Ich ahnte, was kommen würde.

„Du willst doch nicht etwa hingehen? Das ist Wahnsinn, Carol! Es würde nichts bringen, er erschreckt dich nur – und das ist in deiner jetzigen Situation bestimmt nicht gut.“

Verärgert fragte ich mich, was Jenny und meine Mutter den Rangern erzählt hatten, damit sie mich beschützten. Ich würde mit ihnen reden müssen. Sie mischten sich zu sehr in mein Leben ein. Ich reckte das Kinn vor und straffte die Schultern.

„Ich werde zu ihm gehen. Jetzt, wo ich weiß wie er ist, wird mich seine Art nicht erschrecken. Wenn er nicht mit mir sprechen will, ist es Pech. Aber dann habe ich es zumindest versucht und kann nach anderen Lösungen suchen.“

Quentin musterte mich, begriff offenbar, dass ich bei meinem Entschluss bleiben würde und nickte zu meiner Überraschung. „Okay. Dann begleite ich dich.“

Jetzt hatte ich nicht nur einen Höhlenmensch als Nachbar, sondern auch einen Ranger mit chronischem Beschützerinstinkt. Warum traf ich immer nur auf extreme Exemplare des anderen Geschlechts? Ich unterdrückte ein Seufzen.

„Das halte ich für keine gute Idee. Er scheint schlecht auf dich zu sprechen zu sein und macht bestimmt dicht, wenn er dich sieht. Ich würde es lieber allein versuchen. Wenn er mir auch nur annähernd bedrohlich erscheint, gehe ich wieder.“

Jetzt schüttelte Quentin wild den Kopf, stand auf, kam zu mir herüber und setzte sich auf meine Sessellehne. Unwillkürlich wich ich vor ihm zurück. Aber er schien es nicht gemerkt zu haben, griff sogar nach meiner Hand und sah mir in die Augen. Seine Stimme war Ton gewordene Besorgnis.

„Carol, bitte versprich mir, nicht allein zu ihm zu gehen. Sag mir Bescheid. Notfalls schicke ich einen Kollegen, der dich begleitet. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn dir etwas geschieht.“

Ich wandte den Kopf ab und verdrehte die Augen. In diesem Moment beschloss ich, auf jeden Fall allein zu Darren zu gehen und es Quentin später genüsslich zu erzählen. Dafür musste ich aber wissen, wo die Blockhütte war. Also täuschte ich ein Einlenken vor.

„Okay, du hast wohl recht. Wie weit ist es eigentlich bis zu Darrens Hütte?“

Quentin strich mit dem Daumen über meinen Handrücken und ich musste der Versuchung widerstehen, ihm meine Hand zu entreißen. Das war mir zu viel Vertraulichkeit und Nähe.

„Ungefähr eine Meile den Wanderweg hinauf und dann einem Pfad nach Osten folgen. Es ist etwas mühselig zu gehen, schon deswegen solltest du nicht allein losziehen.“

Aha, jetzt wurde ich auch noch als Invalidin hingestellt. Ich ärgerte mich, bevor mir einfiel, dass ich nun wusste, wie ich zu Darren kam. Um mein triumphierendes Lächeln zu verbergen, entzog ich Quentin meine Hand und griff nach den leeren Tassen. „Möchtest du noch einen Kaffee? Der Regen lässt langsam nach. Nach der zweiten Tasse kommst du zum Auto, ohne völlig durchnässt zu werden.“

Quentin folgte mir in die Küche und begann, von seiner Arbeit als Ranger zu erzählen. Zum Glück hatte er nicht gemerkt, dass ich ihn mit meiner letzten Bemerkung hinauskomplimentieren wollte. Ich reichte ihm seine Tasse, nickte freundlich und dachte darüber nach, wie ich es verhindern konnte, mich im Wald zu verlaufen oder auf eine Schlange zu treten. Aufregung ließ mein Herz klopfen, nach Ängstlichkeit suchte ich vergeblich. Ich würde etwas ganz Neues erleben, mich einer Herausforderung stellen, die nichts mit Betriebswirtschaft, Mitarbeiterführung oder Kundenakquise zu tun hatte. Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich eine Meile durch den Wald gehen, eine Blockhütte finden und einen Querulanten von meiner Meinung überzeugen konnte. Außerdem war ich neugierig, wie dieser Darren wirklich war. Quentin konnte ihn nicht ausstehen und beschrieb ihn dementsprechend. Vielleicht war der Mann aber nur einsam und verbittert und daher froh, wenn jemand ein normales Gespräch mit ihm führte.

Endlich verabschiedete sich Quentin, nachdem er sich für meinen Geschmack viel zu lange mit seinem Kaffee aufgehalten hatte. Das Gewitter hatte sich verzogen, der Vollmond stand milchig am Himmel. Als Quentin vom Hof fuhr, glaubte ich, am Waldrand eine Bewegung zu erkennen. Als ich genauer hinsah, rührte sich nichts mehr. Da erinnerte ich mich wieder an die Reflektion von Metall im Sonnenlicht – das hätte durchaus eine Armbrust gewesen sein können. Beobachtete mich Darren etwa?

Nach einer Nacht, in der ich wieder kaum geschlafen hatte, hing ich mit meinem Kaffee auf einem Küchenstuhl und fragte mich, ob ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen sollte. Ich war zum Umfallen müde, noch nie allein in einem Wald abseits von Wanderwegen gewesen und brachte keine Begeisterung dafür auf, eine Armbrust auf mich gerichtet zu sehen. Wahrscheinlich hatte Quentin recht. Er kannte Darren schließlich, während ich ihn nur aus zweiter Hand einschätzen konnte. Anfangs hatte ich ihn für einen Rentner gehalten. Was war, wenn meine Vermutung, dass er nicht gefährlich, sondern nur verbittert war, auch nicht stimmte? Dann könnte ich mich in ernsthafte Gefahr bringen.

Die Alternative widerstrebte mir allerdings ebenso. Ich hatte ohne Darrens Kooperation keine Möglichkeit, mit dem Haus Geld zu verdienen. Da es auch um unser Restaurant nicht gut stand, würde ich das Haus bald verkaufen müssen. Alles in mir sträubte sich dagegen. Ich hatte das Gefühl, meinen Dad zu verraten, indem ich das Letzte aufgab, was noch von ihm übrig war.

Mir traten die Tränen in die Augen, als ich an sein warmes Lachen dachte, seine großen, schwieligen Hände und seine Lebensfreude. Und was tat ich? Ich ließ mich wie ein nasses Handtuch hängen, sobald die ersten Probleme auftauchten. Das durfte nicht sein. Ich musste wenigstens versuchen, mit Darren zu sprechen. Er würde mich schon nicht gleich erschießen – oder mir zumindest eine Vorwarnung geben, wenn er es vorhatte.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, sprang ich auf, rannte ins Schlafzimmer und warf mir ein paar Sachen über. Es war erfrischend, dass ich mir hier keine Gedanken über Garderobe und Frisur machen musste. Jeans, ein T-Shirt und Stiefel – letztere wegen der Schlangengefahr – reichten. Meine Haare band ich zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ich konnte nur hoffen, dass der Kontrast, den ihr Tizianrot mit dem Wald bildete, keine Wildtiere erzürnte. Darren reichte mir. Ich brauchte keine Kojoten oder Bären, die meine Haarfarbe als persönlichen Affront sahen.

Als ich die Tür öffnete, schlug mir die Hitze ins Gesicht. Dabei war es noch früh. Ich hoffte, dass es im Wald kühler sein würde, sonst wäre ich geschmolzen, bis ich bei der Blockhütte ankam. Und ich wollte nicht wie ein Wischmop aussehen.

Ich hatte kaum ein paar Schritte Richtung Wanderweg gemacht, als sich ein Auto näherte. Eine Sekunde lang zog ich in Erwägung, loszustürmen und mich im Unterholz zu verstecken. Aber wenn es, wie ich befürchtete, Quentin war, würde er mich suchen kommen, weil er sich Sorgen um mich machte. Ich stöhnte bei dem Gedanken, dass er mir sämtliche Ranger der Gegend auf den Hals hetzen könnte, weil ich einen Spaziergang machte.

Ohne mich zu rühren beobachtete ich, wie Quentin aus dem Geländewagen der Ranger-Station stieg und mit einem Stapel Absteckstangen unter dem Arm auf mich zukam. Wie immer strahlte er und erinnerte mich frappierend an Barbies Freund Ken. Jenny wäre entzückt gewesen. Mich langweilte es nur.

„Guten Morgen, Carol. Schön, dass du schon wach bist. Soll ich dir gleich die Grundstücksgrenzen zeigen?“

Ich erwiderte seinen Gruß so freundlich wie es mir in dieser Situation möglich war, nickte und folgte ihm auf den Wanderweg. Vielleicht war das gar nicht schlecht. Ich konnte mir in Quentins Begleitung die Gegend ansehen, mir den Pfad zeigen lassen, der zu Darrens Hütte führte und ihn wegen der Schlangengefahr befragen.

Dafür musste ich in der nächsten halben Stunde seinen Smalltalk ertragen, auf den ich so einsilbig antwortete, dass ich mich wunderte, dass ihm meine Schweigsamkeit nicht auffiel. Bald kannte ich seine halbe Lebensgeschichte. Er hatte drei Brüder, einer von ihnen war ebenfalls Ranger, die anderen beiden Cops. Alle vier trafen sich jeden Samstag zu Schießübungen. Danach kochten seine Schwägerinnen reihum. Quentin war nämlich der Einzige, der noch nicht verheiratet war. Ich hatte den Eindruck, dass er mir einen abschätzenden Blick zuwarf. Meine Befürchtung wurde bestätigt, als er nach George fragte.

„Jenny hat mir erzählt, dass ihr euch vor Kurzem getrennt habt und es dir nicht so gut geht.“

Ich presste die Lippen zusammen und ballte die Fäuste. Warum konnte Jenny nie den Mund halten? Sie hatte schon als Kind jedes Geheimnis ausgeplaudert.

„Ja, ich habe mich von George getrennt, komme inzwischen aber klar.“

Quentin rammte eine weitere Absteckstange in den Boden. Dabei spannten sich dicke Muskelstränge in seinen Oberarmen. Ich fragte mich, ob er eine Show für mich abzog. Für meinen Geschmack sah er zu sehr nach Bodybuilder aus, alles war zu viel, zu künstlich. Jetzt nahm Quentin seinen Hut ab und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Das überzeugte mich endgültig davon, dass er mich beeindrucken wollte. Ich unterdrückte ein Ächzen, während Quentin mir ein weiteres blendendes Lächeln schenkte.

„Das freut mich zu hören. Du liebst ihn also nicht mehr?“

Ich merkte, wie mir das Blut heiß ins Gesicht schoss und sich ein Grollen in meiner Kehle bildete. Was fiel diesem Möchtegern-Romeo eigentlich ein? Sah er mich schon jeden vierten Samstag das Essen für seine Familie kochen?

„Die Frage ist mir zu persönlich, Quentin. Könnten wir über etwas Anderes sprechen?“

Er riss die Augen auf und trat dichter zu mir heran. Dann wollte er schon wieder nach meiner Hand greifen, aber dieses Mal wich ich ihm aus. Er zuckte zusammen und ließ seinen Arm sinken.

„Es tut mir leid, Carol. Ich wollte keine Wunden aufreißen. Natürlich müssen wir nicht darüber reden.“

Zwischen ein paar jungen Bäumen sah ich ein neues Thema aufblitzen – ein Schild mit der Aufschrift „Privatgrundstück – Betreten verboten!“. Dahinter führte ein schmaler Pfad Richtung Osten. Ich sah zu Quentin hoch und wies auf das Schild.

„Geht es da zu Darrens Blockhütte?“

Es war faszinierend zu beobachten, was eine missmutige Miene aus seinen Märchenprinz-Zügen machte. Jetzt sah er aus wie ein Junge, der gleich mit dem Fuß aufstampfen würde. Ich ertappte mich dabei, dass Darren bei mir nur deswegen Sympathiepunkte sammelte, weil Quentin ihn nicht ausstehen konnte – und schämte mich. Im Großen und Ganzen war Quentin ein lieber Kerl, der nur manchmal etwas über das Ziel hinausschoss.

„Ja, etwa eine halbe Meile den Pfad entlang. Allerdings verdient er die Bezeichnung Pfad nach einigen Schritten nicht mehr. Es ist alles völlig zugewuchert. Man muss sich richtiggehend durchkämpfen. Ich weiß nicht, was der Typ sich dabei denkt. Wahrscheinlich will er alle Verbindungen zur Zivilisation kappen.“

Ich zuckte mit den Schultern. Für mich war es nachvollziehbar, dass man manchmal keinen Menschen sehen wollte. So konsequent wie Darren würde ich das allerdings nie durchziehen. Das musste schrecklich einsam sein.

Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr mich der Pfad faszinierte – am liebsten hätte ich mich sofort auf den Weg zur Blockhütte gemacht – und folgte Quentin, der mir voranging und ab und zu Stangen in den Boden rammte. Dabei wurde seine Laune schnell wieder besser.

Nach drei schweißtreibenden Stunden hatten wir es endlich geschafft. Inzwischen war es Mittag und die Sonne schien fest entschlossen, jedes Lebewesen zu grillen, das so dumm war, keinen Unterschlupf zu suchen. Daher sah ich mich gezwungen, Quentin einen Eistee anzubieten.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er zwei Gläser getrunken und mir einen weiteren Teil seiner Familiengeschichte erzählt hatte. Als er endlich wegfuhr, wollte ich nur noch unter die Dusche. Danach machte ich den Fehler, mich bäuchlings auf das Sofa fallen zu lassen. Als ich wieder aufwachte, war es fast fünf Uhr. Ich fluchte und setzte mich auf. Was nun? Sollte ich mich noch auf den Weg machen? Es war mit Sicherheit etwas kühler geworden, aber laut Quentin waren wieder Unwetter angesagt. Ich nagte an meiner Unterlippe. Dann sprang ich auf, lief zur Tür und war kurz darauf auf dem Wanderweg unterwegs.

Es war ein Leichtes, bis zur Abzweigung zu kommen. Dann begannen die Probleme. Quentin hatte recht gehabt. Der Pfad verlor sich nach wenigen Metern in Farnen und Dornbüschen. Außerdem war das Laubwerk so dicht, dass ich mich nicht an der Sonne orientieren konnte und somit nicht wusste, ob ich nach Osten ging. Ich zerrte mein Handy aus der Jeanstasche, hatte aber, wie befürchtet, keinen Empfang. Unschlüssig sah ich zum Wanderweg zurück. Sollte ich umkehren oder mein Glück versuchen? Jetzt war ich schon mal allein hier. Morgen konnte das wieder anders sein. Quentin war nicht der Typ, der schnell aufgab.

Mit einem Seufzen schlug ich mich weiter ins Unterholz, wobei ich mich bemühte, in einer geraden Linie zu gehen. Nach einiger Zeit war mir klar, dass ich wesentlich mehr als eine halbe Meile gegangen sein musste. Trotzdem war nirgendwo ein Haus oder auch nur eine Lichtung in Sicht. Mir wurde mulmig zumute, vor allem, weil in der Ferne schon wieder Donner grollte. Ich entschied, umzukehren und mein Glück bei besserem Licht und mit einem Kompass zu versuchen.

Bald merkte ich, dass es nicht so einfach war, den Rückweg zu finden. Das Unterholz sah an jeder Stelle gleich aus, und ich hatte beim Hinweg keine für mich erkennbaren Spuren hinterlassen. Ich blieb stehen, wischte mir den Schweiß von der Stirn und spähte in die Richtung, in der ich den Wanderweg vermutete. Bäume, Sträucher, Unterholz. Kein Weg. Mein Puls beschleunigte sich. Ich redete mir zu, ruhig zu bleiben. So weit war ich nicht in den Wald hineingegangen. Es sollte nicht allzu schwierig sein, zum Wanderweg zurückzufinden.

Bereits zehn Minuten später musste ich diese Meinung revidieren. Um mich herum war dichter Wald, über mir grollte der Donner und in mir dröhnte mein panischer Herzschlag. Ich atmete keuchend und war den Tränen nah. Was sollte ich jetzt tun? Rufen? Weitergehen? Warten, bis mich jemand fand? Bis dahin würde es dunkel sein. Jetzt konnte ich mir nicht länger einreden, dass mir Schweiß übers Gesicht rann. Es waren Tränen der Verzweiflung. Wie hatte ich mich nur in diese Lage bringen können? Warum hatte ich nicht auf Quentin gehört? Ich drehte mich im Kreis, konnte aber beim besten Willen nichts entdecken, was auf den Wanderweg hingewiesen hätte. Noch mitten in der Bewegung hörte ich plötzlich eine tiefe Männerstimme und hätte vor Schreck beinahe das Gleichgewicht verloren.

„Du bist auf meinem Land.“

Reflexartig fuhr meine Hand an mein wummerndes Herz und ich fragte mich, ob es diesen Schreck heil überstehen würde. Hektisch blickte ich mich um, konnte aber niemanden sehen. Eine Sekunde war ich in Versuchung, wegzurennen. Aber dann würde ich mich noch mehr verirren. Plötzlich war da eine Bewegung nur wenige Meter vor mir im Unterholz, und ein Mann trat auf mich zu. Vor Verblüffung vergaß ich die Angst. Ich wusste sofort, wen ich vor mir hatte. Quentins Beschreibung passte.

Darren sah aus wie ein Mann, der zu viel Zeit allein im Wilden Westen verbracht hatte. Die dunklen Haare hingen ihm bis zur Nasenspitze und fielen ihm dicht über die Wangen, die von einem Dreitagebart bedeckt waren. Seine nackten Arme glänzten vor Schweiß. Die Muskeln spannten sich, als er eine Armbrust anhob. Ich zuckte zusammen. Es wurde Zeit, dass ich etwas sagte.

„Äh, ja, weil ich zu Ihnen wollte. Aber ich habe mich verlaufen.“

Darren starrte mich eine gefühlte Ewigkeit wortlos an. Da ich seine Augen im Dämmerlicht und unter seiner dunklen Mähne nicht sehen konnte, hatte ich nicht die geringste Ahnung, was er denken mochte. Schließlich senkte er die Armbrust, wies mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung nach rechts und ging los. Mir blieb nichts Anderes übrig, als ihm zu folgen. Dabei konnte ich nur hoffen, dass er mich zu seiner Hütte führte und nicht etwa zu dem perfekten Platz für einen Mord.

Viel Zeit, um Angst zu bekommen, hatte ich allerdings nicht. Darren legte ein solches Tempo vor, dass ich Probleme hatte, mitzuhalten. Da ich ahnte, dass es nichts nützen würde, beklagte ich mich nicht darüber. Stattdessen starrte ich auf seinen Rücken, der von einer ärmellosen Lederweste bedeckt war, die von einer Art geflügeltem Dämon geziert wurde. Ich war so hypnotisiert von dem Motiv, dass ich zu spät merkte, dass Darren stoppte und mit ihm kollidierte. Erschrocken wich ich zurück, musste mir aber im selben Moment eingestehen, dass es kein unangenehmes Gefühl gewesen war. Unter dem Dämon verbargen sich beeindruckende Muskeln.

Darren wandte sich zu mir um. Ein Blitz beleuchtete kurz sein kantiges Gesicht. Begeistert wirkte er nicht. Eher so, als wollte er probieren, wie sich einer seiner Pfeile in meinem Herz machte. „Entschuldigung.“

Statt einer verbalen Antwort wies Darren mit der freien Hand nach vorn. Ich trat an ihm vorbei und sah mein Haus vor mir. Vor Erleichterung wären mir beinahe die Knie weich geworden. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sehr ich mich in den letzten Minuten angespannt hatte. Jetzt, wo ich wieder zu Hause war, fühlte ich neuen Mut in mir erwachen und sprach Darren an.

„Danke, dass du mir geholfen hast. Würdest du auf einen Kaffee mit reinkommen? Ich muss dringend mit dir reden.“

Er schüttelte den Kopf und zeigte auf den Platz vor dem Haus. Dort standen, wie ich erst jetzt bemerkte, zwei Autos: ein Geländewagen der Ranger und ein Dienstwagen der Stadt. In meinem Haus brannte Licht. Die Männer hatten sich mit dem Schlüssel Zutritt verschafft, den mein Vater ihnen vor Jahren für Notfälle gegeben hatte. Das durfte doch nicht wahr sein! Darrens Stimme lenkte mich von meiner Wut ab.

„Nicht, wenn die dabei sind.“

Ich sah eine Chance und packte sie. „Aber unter vier Augen schon?“

Darren hob leicht eine Schulter, was alles Mögliche bedeuten konnte. Plötzlich legte er mit einer einzigen fließenden Bewegung einen Pfeil auf die gespannte Armbrust und schoss. Ich fuhr bei dem zischenden Geräusch zusammen. Mit rasendem Puls sah ich in die Richtung, in die der Pfeil geflogen war. Er steckte im linken Hinterreifen des Dienstwagens der Stadt. Fassungslos wirbelte ich zu Darren herum, der gelassen auf das Auto zuging.

„Bist du verrückt? Das ist Sachbeschädigung!“

Darren zog den Pfeil aus dem Reifen, woraufhin zischend die Luft entwich. Dann schlenderte er an mir vorbei in den Wald zurück. Aus der einsetzenden Dämmerung hörte ich seine Antwort: „Nein, das ist Spaß.“

Das war alles. Mehr hatte er weder zu der Sachbeschädigung noch zu meiner Aufforderung zu einem Gespräch zu sagen. Wie ein Schatten war Darren im Wald verschwunden. Ich dagegen stand immer noch wie festgefroren am Rand der Lichtung und starrte ihm nach. Noch nie war es mir so schwergefallen, einen Menschen auch nur annähernd einzuschätzen. Das löste in mir eine Art widerwillige Faszination aus, denn bisher wusste ich nur eins ganz sicher: Quentins Urteil war zu oberflächlich. Ein echter Misanthrop hätte mich ohne weiteres im Wald stehen lassen. Darren hatte mich nach Hause gebracht.

Als ich mich zu meinem Häuschen umdrehte, ballte ich die Fäuste. Im Wohnzimmer brannten alle Lampen, was den Generator irgendwann überfordern würde, und ich sah Gestalten hinter dem Fenster. War es für Bewohner einer Kleinstadt wie Milton üblich, es sich ohne Einverständnis oder auch nur Anwesenheit des Besitzers in fremden Häusern gemütlich zu machen? Quentin diffamierte Darren, weil er seinen Grund und Boden verteidigte, beging aber selbst Hausfriedensbruch.

Erste Regentropfen klatschten schwer auf mein Haar, als ich auf meine Haustür zustapfte. Es war mir egal, ob ich dadurch Nachteile haben würde. Die Kerle würden etwas von mir zu hören bekommen. Wenn ich dieser Dreistigkeit jetzt kein Ende setzte, würde ich Quentin das nächste Mal, wenn ich nach Hause kam, womöglich in meinem Bett vorfinden. Bei diesem Gedanken erschauderte ich.

Als ich die Haustür aufriss, schlugen mir Wärme und der Duft nach Kaffee entgegen. Es war mein Kamin, in dem für mich fast Fremde ein Feuer entzündet hatten, und es war mein Kaffee, den sie da so gemütlich tranken. Ich kam mir vor wie ein Eindringling, obwohl es doch mein Haus war. Meine Wangen glühten, und das kam sicher nicht von der übermäßigen Wärme im Wohnzimmer. Ich baute mich vor dem Sofa auf, wo Quentin und Mortimer Calvin, der stellvertretende Bürgermeister der Stadt Milton, saßen. Als ich die Brauen herunterzog und die Fäuste in die Hüften stemmte, sprang Quentin auf und hob beschwichtigend die Hände. Aber ich wollte nichts hören, sondern meiner Wut ein Ventil geben.

„Schmeckt euch mein Kaffee? Habt ihr die Kekse etwa nicht gefunden? Erstaunlich, wo ihr euch hier ja wie zu Hause fühlt!“

Ich war mit jedem Wort lauter geworden. Meine Stimme hallte von den Wänden wider. Jetzt stand auch Calvin auf und schmatzte mit seinen dicken Lippen. Beide Männer überragten mich und zumindest Calvin bemühte sich, diesen Vorteil auszunutzen, und sah an seiner Knollennase entlang auf mich herunter. Die Überheblichkeit in seinem Ton fachte meinen Zorn nur noch mehr an.

„Mrs. Ryerson, Ihr Vater hat uns einen Schlüssel für dieses Haus zur Verfügung gestellt, damit wir ab und zu nach dem Rechten sehen können. Sie waren nicht zu Hause, als wir kamen und ich dachte mir, dass Sie bestimmt nicht wollen, dass wir Ewigkeiten im Auto sitzen und auf Sie warten.“

In diesem Moment hätte ich dem Mann am liebsten in sein feistes Gesicht geschlagen. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die sich nicht nur alles erlaubten, sondern sich dabei auch noch im Recht sahen und beleidigt reagierten, wenn andere sie in ihre Schranken wiesen. Aber ich hatte nicht vor, mich von ihm einschüchtern zu lassen.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass wir heute einen Termin vereinbart hatten, Mr. Calvin. Sonst wäre ich selbstverständlich pünktlich zu Hause gewesen. Da Sie unangekündigt hierhergekommen sind, lautet meine Antwort: ja, ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie außerhalb meines Hauses auf meine Rückkehr warten. Was sie getan haben, nennt man Hausfriedensbruch.“

Quentin unterbrach mich, und dafür hätte ich ihm am liebsten ans Schienbein getreten, so hart ich konnte. Ich brauchte keinen Mediator, sondern wollte den Typen von der Stadt in seine Schranken weisen.

„Carol, beruhige dich bitte. Es war meine Schuld. Ich hatte den Schlüssel und habe den Vorschlag gemacht, ins Haus zu gehen. Weil wir uns kennen, hätte ich nicht gedacht, dass du wütend wirst. Hier in der Gegend schließen die meisten Leute ihre Häuser nicht mal ab und haben nichts dagegen, wenn Freunde einfach reinkommen.“

Ich warf die Haare zurück, reckte das Kinn vor und starrte Quentin mit meinem Todesblick an. Es verschaffte mir eine gewisse Befriedigung, als er zurückzuckte. Jenny hatte mich so immer zum Fürchten gefunden, darum hatte ich mir den Blick eingeprägt.

„Ich bin aber nicht aus dieser Gegend und hasse es, wenn jemand in meine Privatsphäre eindringt. Gib mir den Schlüssel, sofort!“

Betreten zog Quentin den Schlüssel aus seiner Hosentasche und hielt ihn mir hin. Ich riss ihn aus seiner Hand und machte eine Faust. So, jetzt konnten die Kerle nicht noch mal in mein Haus eindringen. Ich beruhigte mich etwas, ertrug es aber kaum zu sehen, wie Calvin Mortimer sich mit einem verächtlichen Grunzen wieder setzte und in aller Ruhe meinen Kaffee trank.

Als ich mich umdrehte, um Jacke und Schlüssel zur Garderobe zu bringen, stutzte ich. Vor mir stand ein ungefähr siebzigjähriger Mann, dessen graues Haar zu einem langen Pferdeschwanz gebunden war. Er war eindeutig indianischer Abstammung und wirkte im Gegensatz zu den anderen beiden Männern in seiner Gelassenheit wie ein Buddha. Trotzdem hatte er nichts in meinem Wohnzimmer zu suchen. Bevor ich etwas sagen konnte, ergriff er das Wort. Seine Stimme klang, als hätte ein Redwood-Baum sprechen gelernt.

„Wir wurden uns noch nicht vorgestellt. Ich bin Bill Honon, Ranger in Rente.“

Als sich seine Mundwinkel ein wenig hoben und dadurch sein Gesicht in noch dichtere Falten legten, musste ich unwillkürlich lächeln. Meine Wut war wie weggeblasen. Ich reichte Bill meine Hand, die er sofort ergriff. „Freut mich. Ich bin Carol Ryerson.“

Er nickte und ließ meine Hand wieder los. „Carol, ich wusste nicht, dass Quentin ohne dein Einverständnis den Schlüssel benutzt hat. Ich kam nach den beiden an und wurde von ihnen reingelassen.“

Damit war er der einzige Mann im Raum, der wusste wie man sich benahm. Ich lächelte ihn an und wies auf den Sessel. „Setz dich doch wieder. Ich hole die Kekse.“

Nachdem ich mich mit Kaffee und alle mit Gebäck versorgt hatte, wurde ich neugierig, was diese unverhoffte Zusammenkunft zu bedeuten hatte. Ich wandte mich an Quentin, dem seine Schuldgefühle weiterhin anzusehen waren. Inzwischen hatte er sich so oft entschuldigt, dass es mir auf die Nerven ging.

„Weswegen seid ihr denn hier?“ Ich tunkte einen Keks in meinen Kaffee und sah in die Runde.

Calvin ergriff mit seiner näselnden Stimme das Wort. „Ich möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten, Mrs. Ryerson. Soweit ich weiß, wurde dieses Haus von Ihrer Familie in den letzten Jahren nie genutzt. Quentin sagte mir, dass Sie momentan nur für einige Wochen hier sind, um sich von einem Zusammenbruch zu erholen.“

Ich schoss meinen Todesblick auf Quentin ab, der in sich zusammensackte. Konnte heutzutage denn niemand mehr etwas für sich behalten?

Calvin quakte weiter. „Ich gehe davon aus, dass bei Ihnen kein langfristiges Interesse an diesem Besitz besteht. Die Stadt Milton ist bereit, Ihnen ein großzügiges Angebot für Haus und Gelände zu machen.“

Calvin sah mich mit einem Lächeln an, bei dem ich das Gefühl hatte, ein ekliges Insekt würde mir die Wirbelsäule hinaufkriechen. Ich konnte gerade noch verhindern, mich zu schütteln. Diesem Mann und Seinesgleichen würde ich das Erbe meines Vaters bestimmt nicht überlassen. Aber aus Neugier reagierte ich diplomatisch. „Darf ich fragen, was die Stadt für ein Interesse an einem Stück Land hat, auf dem sich nur Wald und ein verfallendes Haus befinden?“

Wieder dieses Ekel-Insekt-Lächeln. Es war, als würde der Mann ein Schild mit der Aufschrift hochhalten, dass er niemals eine ehrliche Antwort geben würde. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um ein Erschaudern zu unterdrücken.

„Das lassen Sie mal unsere Sorge sein. Sie können froh sein, wenn Sie Haus und Grund zu einem anständigen Preis loswerden.“

Ich sah eine Weile auf meine Kaffeetasse, als würde ich nachdenken. Dann blickte ich den siegesgewissen Calvin an und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will nicht verkaufen. Zumindest momentan nicht.“

Es fiel mir schwer, meine Schadenfreude nicht zu zeigen, als Calvins Mundwinkel samt Hängebacken eine Etage tiefer rutschten. Offensichtlich war er überzeugt gewesen, leichtes Spiel mit mir zu haben. Seine Schweinsäuglein begannen zu funkeln.

„Überlegen Sie sich das gut, Mrs. Ryerson. Unser Angebot bleibt nicht ewig bestehen und niemand sonst wird sich für Ihren Besitz interessieren. Ach ja, von der Idee, hier ein Café zu eröffnen, rate ich Ihnen dringend ab. Außer Schulden wird Ihnen das nichts bringen. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“