Chorprobe - Sabine M Gruber - E-Book

Chorprobe E-Book

Sabine M. Gruber

4,3

Beschreibung

Seit Jahren schon nimmt Cindy Gesangstunden. Da bekommt sie die Chance ihres Lebens: eine Einladung zum Vorsingen beim charismatischen Leiter des berühmten Chorus, Wolfgang G. Hochreither alias: Wolf. Cindys Wunsch wird wahr. Doch die Wirklichkeit hat wenig Ähnlichkeit mit ihrem Traumbild. Cindy taucht ein in ein Wechselbad der Gefühle. Sie erlebt Menschlichkeit und beglückende musikalische Momente auf Konzertreisen mit dem Star-Dirigenten Viktor von Weiden. Zugleich ist sie, wie alle anderen im Chorus, dem Terror und der Willkür des egomanischen Wolf ausgeliefert. Von der Sucht nach Singen und Applaus befallen, verstrickt Cindy sich im Netz des manipulativen Systems aus Macht und Abhängigkeit und droht Wolfs erotischen Avancen zu erliegen. Da begegnet sie Emil. Psychologisch meisterhaft und vielschichtig analysiert Sabine M. Gruber am Beispiel eines Chores die Dynamik von Beziehungen und spielt in allen Tonarten menschlicher Gefühle.

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Sabine M. Gruber

CHORPROBE

Copyright © 2014 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, WienUmschlagabbildung: © WIN-Initiative/Neleman/Getty ImagesISBN 978-3-7117-2013-9eISBN 978-3-7117-5217-8

Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Sabine M. Gruber, 1960 in Linz geboren, studierte literarisches Übersetzen (Französisch, Russisch) und Cembalo in Wien; sie schreibt Romane, Erzählungen und Musikessays und lebt als freie Schriftstellerin und Musikpublizistin in Klosterneuburg bei Wien. Im Picus Verlag erschien 2010 ihr Erzählband »Kurzparkzone«, 2012 der Roman »Beziehungsreise« sowie 2014 »Chorprobe«.

www.sabine-m-gruber.at

Sabine M. Gruber

CHORPROBE

Roman

Für Rudi

Entflieht auf leichten Kähnen

berauschten Sonnenwelten

dass immer mildre Tränen

euch eure Flucht entgelten.

STEFAN GEORGE

Allerdings kann ich mich des Verdachts nicht erwehren, dass bereits der Chorklang als solcher etwas Illusionäres in sich enthält, dass er den fatalen Anschein einer sogenannten heilen, geborgenen Welt inmitten der ganz anderen hervorbringt. Allzu leicht macht es den Einzelnen glauben, in Einverständnis und Harmonie von Mensch zu Mensch aufgehoben zu sein, wie sie in der Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft nicht vorhanden sind. Die Chorgeselligkeit zeitigt künstliche Wärme.

THEODOR W. ADORNO

Inhalt

1Cindy lernt singen und erlebt ein Wunder

2Wolf baut Mist

3Cindy singt vor und lernt Aurelia kennen

4Chorprobe eins

5Cindy denkt nach und kommt auf keinen grünen Zweig

6Cindy macht einen Ausflug und singt im Freien vor ungewöhnlichem Publikum

7Chorprobe zwei

8Allerlei Chorus-Mitglieder kreuzen Cindys Weg, und sie lernt endlich Viktor von Weiden kennen

9Cindy entdeckt das Wesen der Hoffnung und ist verwirrt

10Cindy fliegt nach Amsterdam und entgeht nur knapp einer Katastrophe

11Cindy erlebt ihr erstes Chorus-Konzert und macht so ihre Erfahrungen

12Wolf verschenkt ein pinkes Herz und Cindy entwendet ein schwarzes Kuvert

13Cindy geht spazieren und macht die Bekanntschaft von jemandem, der vielleicht Emil heißt

14Robby singt auswendig vom Blatt und Cindy erfährt leider längst nicht alles

15Wieder einmal baut Wolf mächtig Mist und Cindy versteht die Welt nicht mehr

16Chorprobe drei

17Wolf unterliegt einem gewaltigen Irrtum und Cindy traut ihren Augen nicht

18Cindy trifft letzte Vorbereitungen für ihre große Reise

19Cindy erlebt fernöstliche Abenteuer und auch wieder nicht

20Ein Kleidungsstück wird zweckentfremdet, Wolf rastet aus und Cindy fasst einen Entschluss

21Cindy macht eine Pause, was jedoch nicht auffällt, weil seinesgleichen geschieht – und nicht nur das

22Wolf macht eine Besetzungsliste und Ottilie kurzen Prozess

23Cindy reist nach Bulgarien und Wolf bleibt dran

24Es kommt immer alles raus und so auch in diesem Fall

25Wolf erklärt den Krieg und die Musik trägt kampflos den Sieg davon

26Ein Ereignis ist im Entstehen und vieles deutet auf ein gutes Ende hin

1Cindy lernt singen underlebt ein Wunder

Die automatische Schiebetür des eiskalt klimatisierten Supermarkts schließt sich hinter der jungen Frau. Ein Windstoß, angenehm warm, fast heiß, bauscht ihr dünnes Sommerkleid. Zwischen der Windschutzscheibe und dem Scheibenwischer ihres Autos, das sie direkt vor dem Eingang geparkt hat, entdeckt sie ein weißes Stück Papier in einer Plastikhülle.

Verdammt.

Keine zehn Minuten hat sie gebraucht, sie wollte doch nur schnell die Katzen-Snacks kaufen. Macht einen Euro neunundneunzig, plus einundzwanzig Euro für das Nichtentrichten der Parkgebühr. Alles nur dieses Katers wegen. Cindy ist wütend! Auf sich? Auf die Parkraumüberwacherin? Auf den Kater? Sie gerät in Versuchung, den Strafzettel wenigstens auszunützen, trotzig; doch was, wenn jemand das Stück Papier mutwillig entfernt oder wenn sie ein zweites Mal bestraft wird? Die Angst siegt. Sie füllt einen blauen Parkschein aus, platziert ihn sorgfältig hinter der Windschutzscheibe, lässt das Auto vor dem Supermarkt stehen und geht die paar Gassen zu Fuß.

Cinderella! Wie schön, dass du da bist! Ich freu mich!

Yvona drückt sie an ihren großen Busen, küsst sie auf beide Wangen und geht voraus ins Wohnzimmer, heute besonders schwerfällig. Mühselig. Wie alt mag Yvona sein? Fünfundsiebzig? Siebenundsechzig? Einundachtzig? Cindy stellt sich die Frage seit fast drei Jahren. Yvona selbst fragen? Daran hindert sie eine seltsame Scheu. Vor fast drei Jahren hat sie dieses Haus, diese Wohnung zum ersten Mal betreten; seit fast drei Jahren fährt sie jede Woche von einem Ende der Stadt zum anderen, um bei Yvona Gesangsunterricht zu nehmen. Yvonas Wohnung liegt im Erdgeschoß eines dreistöckigen Hauses aus der Jahrhundertwende. Der größte Raum ist das Wohnzimmer, und obwohl es hoch ist und Zugang zu einem Garten hat, durch eine Doppeltür mit unterteilten Glasfenstern erreichbar, wirkt es düster; der hellste Punkt ist die Klemmleuchte auf dem Notenständer des Flügels.

Während Cindy im Vorzimmer ihre Schuhe auszieht, barfuß ins Wohnzimmer geht, ihre Noten auspackt, auf dem hölzernen Notenständer zurechtlegt, redet Yvona ohne Unterlass über die anhaltende und für Anfang Juni ungewöhnliche Hitze, ihre schlechte und schmerzende Hüfte, ihre kaputte Waschmaschine, ihre nachlassende Sehkraft, die Unfähigkeit ihres Arztes, den sie aufgesucht hat oder aufsuchen will oder soll, in einem Jungmädchen-Singsang redet sie, der zum rosengemusterten wallenden Hauskleid passt, zu den rosa Hauspantoffeln mit den flauschigen Quasten, zu dem gelblich weißen Haar, ehemals blond, das sie weich gewellt und halblang trägt, wie die Prinzessinnen bei Walt Disney.

Yvona ist Sopran.

An der Wand hängt ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto aus der Blütezeit ihres Daseins als Sängerin, aufgenommen lange Zeit bevor ihr Gatte sich eines Morgens von ihr und den beiden Kindern verabschiedet hat, um zur Arbeit zu gehen. Tatsächlich ist er mit seiner Freundin nach Amerika gegangen, das hat sie sehr viel später von gemeinsamen Bekannten erfahren. Seither schlägt sie sich als Gesangslehrerin durch.

Cindylein! Wie geht’s dir denn heute, alles in Ordnung hoffentlich!

Cindy nickt.

Das ist fein, fangen wir gleich an, gell!

Trotz der Wärme draußen ist es drinnen kühl, und der Boden fühlt sich richtig kalt an. Cindy fröstelt, stellt den einen nackten Fuß auf den anderen, um ihn zu wärmen, dann den anderen auf den einen.

Schon bei der ersten Atemübung überfällt Cindy ein diffuses Gefühl des Unbehagens, angstähnlich, das sie wie gewohnt wegdrängt, während sie zugleich versucht, sich innerlich auf das einzustellen, was dieses Gefühl verursacht und sich dagegen zu wappnen. Auf das Übungsatmen folgen die Übungsgeräusche. Schnnnauben. Rrrollen. Ptkptkptk. Gääähnen. Oder was Yvona sonst noch alles einfällt. Danach Brummen oder Summen auf verschiedenen Konsonanten. Cindy wünscht sich, diese Phase der Vorbereitung möge ewig dauern. Trotzdem nähert sich unerbittlich der Moment, in dem sie zu singen anfangen wird, zu singen im eigentlichen Sinn.

(Es könnte der erste Ton einer Übungstonfolge sein, die schrittweise nach oben führt mit dem scheinbar sinnlosen Text Mein Herr das erfährt der Sekretär gefolgt von Oper opfert Augen voller Freud und Adam saß am Bach und war ganz nass sowie Ohne Männer lebt sich’s unbeschwert: Vokale und Konsonanten in bestimmter Reihenfolge und Häufigkeit, Eselsbrücken für die Stimmbänder. Heute allerdings wird es der Anfang einer Übungsarie von Vaccai sein, Avezzo a vivere, doch das weiß Cindy zu diesem Zeitpunkt nicht, denn sie ist noch mit Brummen beschäftigt.)

Willst du noch so eine Übung machen oder sollen wir mit dem Singen anfangen, Cindylein?

Noch eine Übung.

(Lieber noch einmal brummen, gähnen oder lallen oder was auch immer, wenn es nur das Singen hinauszögert, diese ersten gesungenen Töne, doch irgendwann ist es so weit.)

Soll ich dir’s einmal vorsingen, Kindchen?

Fragt Yvona schließlich und singt ohne eine Antwort abzuwarten mit ihrer uralten Jungmädchenstimme.

Cindy ist die Kurzform von Lucinda, Lucinda war der Name einer Balletttänzerin, Balletttanzen war der unerfüllte Kindheitstraum ihrer Mutter gewesen: Für ihr Leben gern wäre Lucindas Mutter Balletttänzerin geworden. Und so bekam Lucinda, wie ihre Mutter sie schon im Säuglingsalter zu nennen pflegte, als kleines Mädchen Ballettunterricht. Lucinda fand Ballett wunderschön! Am wunderschönsten allerdings fand sie nicht die Ballettstunden selbst, am glücklichsten fühlte sie sich: danach. Nach diesen Stunden, wenn sie sich in ihr Zimmer zurückziehen und einschließen konnte, rücklings auf dem Bett lag, die Augen geschlossen, in Vorfreude auf das, was sie gleich sehen würde in dem Film, in dem sie die Hauptrolle tanzte: Anmutig schwebt Lucinda, schlank und rank, in einem kurzen rosa Kleidchen über die Bühne, auf Zehenspitzen. Das lange blonde Haar streng zu einem Knoten hochgesteckt, liegt sie in den Armen des wunderschönen Jünglings, der sie mühelos hochhebt und dreht und dreht und dreht. Sie lächelt, ganz ohne Zahnspange. Das Publikum applaudiert, begeistert, tosend. Sie verbeugt sich, artig, und der junge Mann hält fest ihre Hand: Nachdem ihre Mutter der dritten Ballettschulaufführung beigewohnt hatte, in der Lucinda eine winzige Rolle tanzte, sagte sie zu ihrer kleinen Tochter nur diesen einzigen Satz: Du musst nicht mehr zum Ballett gehen, wenn du nicht mehr willst. Dabei wackelte sie heftig mit dem Kopf, schüttelte ihn rundherum und nach allen Seiten und dieses mütterliche Kopfwackelschütteln drückte alles aus, was sie nicht aussprach: Nachsicht, Enttäuschung, Vorwurf, Mitleid, Verachtung. Der Kopf der Mutter schüttelte das Mädchen brutal und ein für alle Mal aus ihrem rosa Traum. Auch Lucinda sprach nichts von dem aus, was sie dachte oder fühlte. Sie ging nie wieder zum Ballettunterricht. Sie weigerte sich, darüber zu sprechen oder auch nur daran zu denken, denn das bloße Darandenken brachte sie dazu, sich zu schämen. Fortan nannte sie sich Cindy und bestand darauf, so genannt zu werden. Von allen. Auch von ihrer Mutter.

Sobald Yvonas jungmädchenhaft gealterte Stimme verklungen ist, bereitet Cindy sich auf das eigentliche Singen vor, das Hervorbringen des ersten gesungenen Tones, atmet diesen ersten Ton ein, so, dass sich ihr Brustkorb zugleich dehnt und hebt, und versucht, sich trotzdem gegen das zu wappnen, was gleich geschehen wird, wie das sprichwörtliche Amen im Gebet, unweigerlich geschehen wird, weil es jede Woche geschieht.

Seit drei Jahren, seit sie ihr Jura-Studium nach der ersten Staatsprüfung abgebrochen hat, arbeitet Cindy für einen Hungerlohn als Sekretärin in der Kanzlei eines Wiener Rechtsanwalts. Ihre Wohnung liegt in keiner guten Gegend und besteht aus einem Wohnküchenzimmer mit Schlafkabinett. Ihr Geld muss Cindy sich sehr genau einteilen. Das Auto ist ein Luxus. Cindy fährt selten irgendwohin, doch könnte sie es jederzeit tun: irgendwohin fahren. Ein Auto zu besitzen gibt ihr das Gefühl von Freiheit. Zu ihren Gesangsstunden könnte sie auch mit Straßenbahn, U-Bahn und Bus fahren, doch im Auto kann sie tun, was sie in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht tun könnte: singen. Im Auto fühlt sie sich frei und singt, nach Herzenslust. Nur im Auto. In ihrer Wohnung: nie. Ihre Wohnung hat Wände aus Pappe, die Nachbarn könnten sie hören. Nur in ihrem Auto kann Cindy sicher sein, dass niemand sie hört. Sie achtet darauf, dass die Fenster fugenlos nach oben gekurbelt bleiben, selbst wenn es Sommer ist und sehr, sehr heiß. Und wenn ihr jemand zusehen würde? Menschen, die seltsame Mundbewegungen machen, sind ein gewohnter Anblick, solange sie im Auto sitzen. Viele Menschen reißen im Auto den Mund auf, trällern vor sich hin, zu einer Musiknummer aus dem Radio, kauen Kaugummi, gähnen, bohren in der Nase oder telefonieren mithilfe ihrer Freisprecheinrichtung. Das ist normal. Das fällt nicht auf. Und so legt Cindy allwöchentlich die CD einer berühmten Sängerin in den Player und singt aus vollem Halse mit. Der kleine Innenraum des Autos vergrößert ihre Stimme, die sich mit der Konservenstimme vermischt, mit ihr zu einer einzigen verschmilzt. Im Auto ist Cindys Stimme groß und wunderschön. Auch wenn sie nicht die Augen schließen kann, wie sie es als kleines Mädchen nach der Ballettstunde in ihrem Zimmer getan hatte, gelingt es ihr mühelos, sich wegzuträumen, in einen Film, in dem sie die Hauptrolle spielt: eine Bühne, ein wunderschönes Kleid aus cremefarbenem Seidentaft, das Lucindas vollkommene Figur perfekt zur Geltung bringt. Strahlend nimmt Lucinda einen riesigen Blumenstrauß in Empfang. Lucinda verbeugt sich, Hand in Hand mit dem weltberühmten Pianisten, der sie begleitet hat. Eine blonde Locke löst sich aus dem hochgestecktem Haar, während das Publikum applaudiert, begeistert, gerührt, ja erschüttert von Lucindas einzigartigem Gesang.

Das Wegträumen gelingt Cindy auf der Hinfahrt. Auf der Rückfahrt jedoch, auf der Rückfahrt ist es ihr noch nie geglückt.

Denn allwöchentlich, während Cindy in Yvonas Wohnzimmer ihre Gesangsstunde hat, schläft nebenan, in Yvonas Schlafzimmer, Wolfgang, tief und fest schläft er. Sobald jedoch Cindy ihren ersten Ton gesungen hat, vielleicht ist es auch der zweite oder dritte, erwacht Wolfgang und erscheint schreiend in der Schlafzimmertür, den Schwanz hoch aufgerichtet, die Nackenhaare gesträubt.

Oh Gott, hat Cindy gedacht, als es das erste Mal geschehen ist, oh mein Gott, nicht einmal der Kater erträgt meinen furchtbaren Gesang. Du musst nicht, hört sie den Kater schreien: Du musst nicht mehr singen, wenn du nicht willst!

Wolfgang, muss man wissen, ein in die Jahre gekommener fetter Siamkater, ist mit einer Stimme ausgestattet, die geradezu unheimlich menschenähnlich klingt, und er erhebt diese Stimme Woche für Woche, genau in dem Augenblick, in dem Cindy zu singen anfängt. So schnell die dünnen Beinchen seinen tonnenförmigen Körper nur tragen können, durchquert er Yvonas Wohnzimmer, setzt sich dicht an die Tür, die in den Garten führt, trommelt mit seinem dunkelbraunen Schwanz, der sich sträubt, auf den Boden, gibt Laute von sich, sprechend, singend: Sprechgesang. In hoher Baritonlage oder im Falsett sprechsingt er nun, Glissando hinauf und hinunter, in verschiedenen Tonarten. Dann wieder gibt er Einzeltöne von sich, lang ausgehalten, über mehrere Takte mit Bindebogen. Oder kurz. Fast staccato.

Dazwischen legt er Pausen ein.

Die Pausen sind das Allerschlimmste. In den Pausen schöpft Cindy Hoffnung: Jetzt – hat er aufgehört, jetzt – wird er ruhig bleiben. Doch nach diesen Pausen, Generalpausen, in denen er Cindys Gesang besonders kritisch zu lauschen scheint, sprechsingt er noch lauter, noch eindringlicher sein Missfallen.

Du musst nicht mehr singen, wenn du nicht mehr willst!

Er schüttelt nicht nur den Kopf, sondern seinen ganzen fetten Körper, schüttelt und wackelt ihn nach allen Seiten und drückt Nachsicht, Enttäuschung, Vorwurf, Mitleid aus, vor allem aber: Verachtung. Pfui!, singt er. Pfuipfuipfui!

Cindys Lehrerin hört und sieht den Kater nicht oder will ihn nicht hören und sehen, sie spielt einfach weiter, auf einem Klavier, das seit drei Jahren verstimmt ist und es auch bleibt, weil das Geld für den Klavierstimmer fehlt. Erst wenn Cindy geendet hat, ruft Yvona aus: Wolferl! Singst du aber heute wieder schön! Erhebt sich mühsam von ihrem Klavierhocker, öffnet die Tür zum Garten. Egal wie das Wetter ist. Wolferl, mit vollem Namen Wolfgang Amadeus, schießt hinaus, mit einer sogenannten affenartigen Geschwindigkeit, erstaunlich für sein Alter und sein Gewicht.

Cindy atmet jetzt tief ein. Sie dehnt ihren Brustkorb, füllt ihn mit Luft und – hält sie an. Wieder spürt sie das klamme Unbehagen in sich aufsteigen, das sich wie Angst anfühlt. Angst, die eigene Stimme zu hören. Angst vor der Demütigung. Angst, sich zu blamieren. Vor wem? Vor einem Kater? Oder vor ihrer Mutter? Du musst nicht mehr singen, wenn du nicht mehr WILLST. Gleich wird das Tier in der Tür stehen. Oder ihre Mutter? Cindy vergisst einzusetzen, nach Yvonas Vorspiel zu Avezzo a vivere.

Weißt du eigentlich, Cindylein, dass Nicola Vaccai für seine Übungen lauter Texte vom berühmten Metastasio verwendet hat? Würde man gar nicht draufkommen, gell. Also, ich spiele noch einmal zwei Takte voraus, wenn’s dir recht ist.

Yvonas Lobeshymnen über Cindys Stimme haben von der ersten Stunde an keine Grenzen gekannt.

Deine Stimme klingt, wie soll ich sagen, wie Kupfer!, sagt sie in jeder Stunde, mehrmals.

Ja, pflichtet Cindy bei, jedes Mal.

Verzweifelt versucht sie, das Kupfer in ihrer Stimme zu hören und ihre Fortschritte, die Yvona Woche für Woche herbeibeschwört. Oder tatsächlich wahrnimmt? Cindy weiß nicht, ob sie Kupfer hört oder Fortschritte, eines aber weiß sie ganz sicher: Das Leben wird ständig teurer, die Unterhaltszahlungen von Yvonas nach Afri- od. Ameriko entflohenem Ehemann sind nicht wertgesichert, und Yvonas Tochter hat den Schock über das Verschwinden des Vaters nie verkraftet: Sie ist darüber ein wenig verrückt geworden und wird sich vielleicht nie selbst erhalten können. Das Geld, das Cindy am Ende der Stunde auf das ungestimmte Klavier legt, zusammen mit einer Packung Katzen-Snacks, das Geld braucht Yvona ganz dringend.

Dank dir schön, Cindylein, da wird sich der Wolferl aber freuen, wenn er die Stangerl kriegt! Warte noch, Cindylein, ich hol ihn. Wolferl! Komm, Wolferl!

Woche für Woche rafft Cindy sich auf, seit drei Jahren, seit sie bei diesem Rechtsanwalt arbeitet. Kurz nachdem sie damals ihren Dienst angetreten hat, fiel ihr in einer Mittagspause in einem Supermarkt der Aushang auf: Opernsängerin erteilt Gesangsunterricht. Erfolgsgarantie! Seit damals steigt sie Woche für Woche am anderen Ende der Stadt ins Auto und hofft: vielleicht heute. Heute vielleicht wird meine Stimme so wunderschön klingen wie jetzt, auf der Hinfahrt, im Auto. Heute vielleicht wird Wolfgang, der Kater, still sein und meinem Gesang ehrfurchtsvoll lauschen.

Cindy atmet tief ein und hält die Luft an, zwei Takte lang; sie senkt den Kopf und starrt auf die Noten, die sie längst auswendig können müsste; zaghaft setzt sie ein; als sie die ersten Töne singt, vibriert ihre Stimme ängstlich. Avezzo a. Gleich wird das Tier in der Tür erscheinen. Vivere. Gleich wird das Tier zur anderen Tür laufen. Senza conforto. Und sein Missfallen lautstark zum Ausdruck bringen. Pfuipfuipfui! In mezzo al porto. Du MUSST nicht mehr singen, wenn du nicht WILLST. Pavento il mar. Sie wartet auf die Angst, sie wartet auf das Tier. Avezzo a vivere senza conforto, das Tier erscheint nicht, in mezzo, noch immer nicht, al, das Tier schläft weiter, porto, seelenruhig, pavento, nebenan im Schlafzimmer, il mar, und Cindy kann es nicht fassen. Sie schöpft Mut. Noch einmal!, sagt sie zu Yvona, atemlos. Nach dem Vorspiel setzt sie weicher ein, viel weicher, und in ihrer Stimme ist weniger Angstvibrato. Gut, Cindy! Avezzo a vivere wunderschön, fast wie im Auto, nein, viel wunderschöner, denn es ist nur ihre Stimme, senza conforto, nicht vermischt mit der Stimme der berühmten Sängerin. Cindys Kehle weitet sich in mezzo al porto pavento il mar. Cindy hat es geschafft.

Sehr gut, Cindylein! Du hast so tolle Fortschritte gemacht seit letzter Woche!

Findest du?, sagt Cindy und lächelt.

Ich freu mich ja so für dich Cindylein! Willst du gleich die nächste Übung machen?

Cindy wirft einen Blick zur Tür-vor-der-kein-Kater-sitzt.

Nein, sagt Cindy, nein, noch einmal!

Später wagt sich Cindy an die nächste Übungsarie, vorsichtig. Delira dubbiosa incerta vaneggia ogni alma che ondeggia fra i moti del cor. Der Kater bleibt stumm. Auch bei der übernächsten Übung taucht er nicht auf, und mit jeder Sekunde, in der niemand sein Missfallen äußert, in der niemand sagt: Du musst nicht mehr singen, wenn du nicht willst, gewinnen sie und ihre Stimme an Sicherheit. Yvona lobt ihre Schülerin in den höchsten Tönen, wie sie das jedes Mal tut, im selben Jungmädchen-Singsang, im selben Überschwang. Doch diesmal wird Cindy vom Lob ihrer Lehrerin beflügelt. Sie blüht auf, und mit ihr auch ihre Stimme.

Willst du noch ein Lied singen?

Jetzt wird Cindy richtig übermütig.

Ja, sagt sie feierlich und strahlt, ja, will ich. Wie Ulfru fischt!

Schubert. Eigentlich ein Lied für tiefe Stimme. Doch sie liebt dieses Lied und findet es auch im Sopran wunderschön. In den unteren Oktaven bleiben regelmäßig zwei oder drei Klaviertasten hängen, die dringend repariert werden müssten. Heute nimmt Cindy die Aussetzer nicht wahr, so sehr ist sie berauscht vom neuen Klang ihrer Stimme, in die sich kein Katzengejammer mischt.

Als sie am Ende der Stunde zwei Zwanzig-Euro-Scheine auf das Klavier legt und dazu die Katzen-Snacks, strahlt sie noch immer.

Dank dir schön, Cindylein, da wird sich der Wolferl aber freuen! Warte noch, ich hol ihn. Wolferl! Komm, Wolferl!

Nein, sagt Cindy schnell, nein, so viel Zeit hab ich heute leider nicht, ich muss ganz dringend weg.

Sie eilt ins Vorzimmer, streift rasch die Schuhe über, Yvona schleppt sich hinter ihr her, schwerfällig, öffnet ihr die Wohnungstür.

Also dann bis nächste Woche! Freu mich!

Ruft Yvona und winkt.

Freu mich auch, sagt Cindy und winkt zurück.

Sie fühlt sich leicht, so leicht. Während sie zu ihrem Auto geht, den Kopf gesenkt, lächelt sie befreit, fast glücklich. Sie nimmt den Strafzettel von ihrer Windschutzscheibe und steigt ein. Es ist sehr warm, fast schwül, Cindy merkt es kaum. Sie startet den Motor, legt keine CD ein und singt, vorsichtig erst, dann aus vollem Halse. Dass sie die Augen nicht schließen kann, hindert sie nicht am Träumen. Lucinda steht auf einer Bühne, in einem wunderschönen Kleid, cremefarben, das ihre Figur perfekt zur Geltung bringt; strahlend nimmt sie einen riesigen Blumenstrauß in Empfang, verbeugt sich; eine blonde Strähne löst sich aus ihrem hochgesteckten Haar. Und während die Sängerin wieder und wieder den Applaus des begeisterten Publikums vernimmt, betritt ihre Lehrerin Yvona das Schlafzimmer, um ihrem Kater Wolfgang Amadeus die Katzen-Snacks zu bringen, die Cindy für ihn gekauft hat.

Wolferl, komm, ruft sie, schau, was Cindy dir mitgebracht hat!

Der Kater liegt auf dem Bett, zur Seite hingestreckt, seltsam steif. Die Hitze? Yvona kommt mühsam näher, ihre Hüfte schmerzt, sie beugt sich über ihn, greift ihn an, er ist seltsam kalt.

Wolferl? Er rührt sich nicht. Wolferl!

Der Applaus aber, der Applaus in Lucindas Traum tost so laut, dass sie das verzweifelte Läuten ihres Handys nicht hören kann. Als der Applaus verebbt und sie es endlich hört und endlich abhebt, ist die Leitung: tot.

2Wolf baut Mist

Während Wolfgang G. Hochreither in die Tasten des Klaviers hämmert, wippt sein rechter Fuß sockenlos in einer braunen Gesundheitssandale stetig und heftig auf dem Pedal.

Die Sopranistin, die letzte von fünf Sängerinnen, die an diesem Montagvormittag im Wiener Innenstadtbüro von Chorus zum Vorsingen angetreten sind, kann den nackten Sandalenfuß ebenso wenig sehen wie die khakifarbenen Bermudas, die behaarten Beine und das eng anliegende schwarze Rundhals-T-Shirt, unter dem sich ein Bäuchlein wölbt. Auch der Mund bleibt der Singenden verborgen und die wulstigen Lippen, die sich in dem blassroten Gesicht nach oben schürzen bis zur Nase und sich bisweilen leicht öffnen, vor unregelmäßigen Vorderzähnen. Nur die Halbglatze taucht von Zeit zu Zeit auf, hinter der schwarzen, mit weißen Ringen bemalten Rückwand des Instruments, und die randlose Rundbrille vor zwei teichwassergrünen, rot geäderten Augen.

Wolf hat der Sängerin ein besonders schwieriges Zwölftonstück von Anton Webern vorgelegt; der Probenraum ist von heißer Luft erfüllt an diesem späten Vormittag im frühen Juni.

Die Sängerin bleibt cool.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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