Chronik einer fröhlichen Verschwörung - Richard Schuberth - E-Book

Chronik einer fröhlichen Verschwörung E-Book

Richard Schuberth

4,4

Beschreibung

Vor der Tür des siebzigjährigen Philosophen Ernst Katz steht die Schülerin Biggy. Sie kennen einander von einer Bahnfahrt: Katz, dem verschrobenen letzten Mohikaner der Kritischen Theorie, war das Mädchen wegen seines scharfzüngigen Mundwerks aufgefallen. Mit einem Wiedersehen hatte er nicht gerechnet. Er nimmt Biggy bei sich auf und weiht sie ein in seinen Plan, den „Holocaustroman“ eines Jungschriftstellers zu verhindern – einen Roman über eine außergewöhnliche Frau, mit der Katz ein Geheimnis verbindet. Doch ihre kühnen Methoden drohen zu scheitern. Richard Schuberths Debüt ist ein moderner Schelmenroman und eine rasante Außenseiterballade zweier ungleicher Zeitgenossen.

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Zsolnay E-Book

Richard Schuberth

Chronik einer

fröhlichen Verschwörung

Roman

Paul Zsolnay Verlag

Gefördert durch das Land Niederösterreich

ISBN 978-3-552-05728-9

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2015

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln; unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/ Goto-Foto

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Erster Teil

1. Kapitel

Begegnung im Zug

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte der Schaffner.

Ernst Katz sah zu ihm hoch.

»Dieser Schmierfink wird Klara nicht bekleckern!«

»Nein, das wird er bestimmt nicht«, sagte der Schaffner, entwertete das Ticket, gab es Ernst Katz zurück und setzte seinen Gang durch den Waggon fort.

Hält er mich halt für einen Trottel. So unrecht hat er ja nicht. Ernst Katz schlug mit dem Hinterkopf gegen die Lehne und atmete schwer. Vor seinen Füßen lag ein zerknüllter Zeitungsteil. Passagieren, denen dies auffiel, bot sich ein befremdliches Bild. Der ältere Mann rieb sich so fest und schnell mit den Fingerkuppen die Kopfhaut, als wollte er sie vom Schädel schmirgeln.

Diese neuen Hochgeschwindigkeitszüge, sanft schweben sie durch die Landschaft: Selbst die Schaffner sind so freundlich, als wurden sie gecastet, um Touristen an der kolportierten Geschichte dieses Landes zweifeln zu lassen. Früher, da ratterten die Garnituren in monotonem Rhythmus, da konnte man sich noch vor den Mitreisenden, vor den eigenen Sorgen in beruhigenden Steadybeat flüchten. Doch nichts, nichts, woran der Verzweifelte Halt findet in dieser vollklimatisierten Servicekabine, die ihn bloß duldet. In a few minutes we arrive in Wels.

Was wollen die Juden noch? Wir haben unsere Lektion gelernt. Jetzt sind sie es, die beweisen müssen, ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit daran ist. Woran? Na, Sie wissen schon!

Schauen Sie doch nach Israel oder sehen Sie sich bloß diesen alten Neurotiker mit dem schlecht unterdrückten Wutanfall an. Spinner gibt es überall, aber so einer wird nie zu uns gehören. Und uns ist’s grad recht.

Ernst Katz presste seine rechte Wange an die Scheibe. Stupide starrte er die vorbeischwebenden Eigenheime des Traunviertels an, nicht minder stumpfsinnig glotzten sie zurück. Es darf einfach nicht wahr sein! Einer dieser Quader, eine dieser Einfamilienbatterien, eines dieser baumarktbarocken Spukschlösser also hat den jungen Autor in die Welt gespuckt, der sich nun sechzig Jahre später an den Gedemütigten vergreift. Warum gerade Klara? Hast du nicht genug Nazifilme gesehen, um dir fiktive Juden zu basteln?

Ernst Katz’ Hände ballten sich wieder. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, ich werde dich daran hindern. Das schwöre ich.

Er griff nach dem Zeitungsknäuel und versuchte die Falten zu glätten. Er hatte es nicht geträumt. Noch immer stand dort: Erfolgsautor schreibt KZ-Roman. Der vielprämierte oberösterreichische Schriftsteller René Mackensen – diesjähriger Adalbert-Stifter-Stipendiat – versucht sich an einem heiklen Sujet: der Holocaustprosa. In seinem nächsten Roman will er das Schicksal der jüdischen Psychologin Klara Sonnenschein aufarbeiten, die ihre Jugend in Mauthausen verbringen musste. »Eine irrsinnig interessante Frau. Und viel zu wenig bekannt.« »Überhaupt«, meint der literarische Shootingstar im Interview, »könne man gar nicht genug schreiben über dieses problematische Kapitel unserer Vergangenheit.«

Sie war Philosophin, Germanistin, alles, nur keine Psychologin!

Wer den Mann hier im Waggon beobachtete, konnte schwer entscheiden, ob die Verzerrung seines Gesichts von Schmerz oder Spott herrührte. Einem Instinkt folgend, versuchte er seiner Grimasse den Anschein von Vergnüglichkeit zu geben. Holocaustprosa, murmelte er. Der Boulevard bezeichnet schon ein eigenes Genre damit. Wir benutzten das Wort spöttisch, aber zaudernd, aus Angst, die Geschmacklosigkeit des Spotts könne die Geschmacklosigkeit des Verspotteten übertreffen. Und was machen sie? Sie bedanken sich für die Anregung und küren ihn zu einem Slogan.

Warum Klara, warum ausgerechnet Klara?

Nein, man konnte nicht behaupten, der siebzigjährige Mann mit dem braunen Teint und dem dichten, weißen Haar, das ihm halblang in den Nacken fiel, sei mit sich und der Welt im Reinen. Alle Attribute besaß er, um als interessanter Greis zu gelten. Er wirkte vital, sportlich, und war auch so gekleidet: blaues Hemd, graubeiger Mantel, Hose aus braunem Cord. Man hätte ihm den Amazonasforscher abgenommen, den Adria-Kapitän mit Business-Vergangenheit, den Globetrotter, den Bonvivant, der charmant noch jüngere Frauen- und vielleicht auch Männerherzen zu erobern weiß. In exotischen Ländern hängt man einem wie ihm gerne Blumenketten um den Hals, mit gefalteten Händen verbeugt er sich vor heidnischen Schreinen und fährt mit dem Dalai Lama Wasserski. Doch was tat Ernst Katz, um einer dieser Vorstellungen zu entsprechen? Gar nichts tat er. Auch als Philosoph hätte er durchgehen können, jedoch nicht als einer dieser Besserwisser, sondern eher von der Marke Weisheit & Lebensphilosophie. Mehr asiatisch verbindlich als jüdisch zersetzend. Doch Ernst Katz fehlte jeglicher Ehrgeiz, sich in seinem ansprechenden Äußeren einzurichten.

Er betrachtete die Mitreisenden. Längst hatten sie seine Wutspasmen bemerkt, längst starrten sie ihn aus Augenwinkeln an als das misslungene Leben, das behutsam aus dem Blick, aus dem Sinn geschaufelt gehört, damit ihres seinen gewohnten Lauf fortsetzen kann. In speckiger Jacke, mit strähnigem Haar und starker Ausdünstung hätte er sich einordnen lassen. Doch das Missverhältnis von würdevollem Aussehen und würdelosem Betragen verwirrte.

Ernst Katz starrte zurück; was sie konnten, konnte er schon lange. Dort, der schlafende Pendler, die Jungmutter, die drei Weiber zwei Reihen weiter, die er zwar nicht sah, deren Gewäsch ihm aber seit Salzburg unerträglich war und die er sich allesamt mit Kunstpelzmützen auf dem Kopf und bordeauxroten Pullovern vorstellte; die Laptoparbeiter, die Studenten auf dem Weg nach Wien, die zwei angeheiterten Teeniegören, die in Wels zugestiegen waren und glaubten, mit ihrem Kichern den ganzen Raum beherrschen zu dürfen …

Starrt mich ruhig an! Brütet euren Handlungsbedarf aus!

Was wäre, wenn Ernst Katz wirklich so ausgesehen hätte, wie er war? Wäre er eines dieser vergeistigten Glatzenmännchen mit tausend Dioptrien gewesen, wie man sie aus dem vorigen Jahrhundert kannte, die Bewunderung und Lebensberechtigung einzig in ihren akademischen Karrieren und Suhrkamp-Büchern fanden, aber seit der Erfindung der Talkshow ausgestorben waren? Die als Mahner der Nation nicht taugten, weil sie zu keiner Nation gehörten. Weder sexy noch charismatisch, diese letzten Kathederjuden, die man sich hielt, damit sie einem auf Knopfdruck verziehen. Aber wehe, sie verbänden ihre Besserwisserei mit Unversöhnlichkeit, als Erstes zerstörten ihnen die Studenten ihre Hornbrillen, weil französisches Denken cooler wäre, und dann tappten sie verzweifelt, die Tränensäcke zusammengekniffen, aus dem Campus auf die Straßen, wo der Mob darauf wartete, dass sich solch ein Professorchen vor ihre rostigen Ketten und gelackten Stilettos verirrte. Ernst Katz meinte es ernst.

Er machte sich keine Illusionen. Alle, alle, wie sie da im Waggon saßen, alle ohne Unterschied, würden ihn bespucken, verlöre er die Fassung. Wenn er Klartext redete mit ihnen. Und je klarer seine Sprache, desto unverständlicher wäre sie ihnen, und desto mehr würden sie ihn hassen, sie, die spürten, dass er nicht mit ihnen reden wollte, sondern bloß etwas zu sagen hatte. Nichts auf dieser Welt, wusste Ernst Katz, hassen sie so sehr wie den kritischen Gedanken, der es ihnen nicht erlaubt, sich’s mit der Welt zu richten. Die Rechten wie die Linken, Frauen und Männer, Skinheads wie deren Sozialarbeiter, Sinnsucher und Sinnverkäufer, Österreicher, Türken, Jugos, Deutsche, Ökos, Einzelhandelskaufmänner, Mechaniker und Lebensberaterinnen, alle ließen sie ihre Kämpfe ruhen, wenn einer wie er die Maske fallen ließe. Das Eigene und das Fremde merkten plötzlich, dass sie einander gar nicht so fremd seien in Anbetracht jenes störenden Fremden, das er, Ernst Katz, verkörperte und ihnen allen missfiel – dem Eigenen wie dem Fremden. Alle, wie sie da saßen, alle entlüden sie ihren Hass auf den Spaßverderber, der immer ein Haar in der Suppe findet.

Mein Denken, das ist meine Cyranonase und meine Judennase zugleich, obwohl ich angeblich wie eine Mischung aus Heinrich Harrer, Franz Liszt und Rutger Hauer aussehe. Es ist jener rast- und wurzellose Geist, der den mit ihrer Unfreiheit Versöhnten lästige Freiheit verspricht. Einträchtig mit ihren Knechtern und Verdummern müssen sie diese Ratte jagen, was für ein Spaß. Ernst Katz’ Phantasie nahm den Schrecken immer öfter in drastischen Bildern vorweg, und dabei blieb unklar, ob der Maler solcher Gespinste als fiktives Opfer nicht auch die Freuden der Täter mitgenoss.

Lasst ihn nicht entkommen!

Vor Jahrzehnten hatte ihm eine alte Frau, mit der er aus Sympathie ein Gespräch anfing, eine Sympathie, die er bald bereute, erzählt, dass sich damals im Achtunddreißigerjahr die Juden plötzlich über Nacht aus Innsbruck davongeschlichen hätten. Von einem Tag auf den anderen seien sie verschwunden. Der Ausdruck ihrer Augen hatte ihm verraten, dass sie die Juden für Verräter hielt, die sie und ihresgleichen im Stich, allein mit Hitler gelassen und damit all die Gründe bestätigt hätten, warum man sie jagte. Doch in Ernst Katz’ Tagträumen gab es keine Flucht.

Warum könnt ihr mich nicht leben lassen? So richtet er in seinen Tagträumen das Wort an die vermeintlichen Genossen im Mob. Reicht es denn nicht, meine Kritik und mich zu ignorieren? Es reicht eben nicht. Während wir den Mob mit dir beschäftigen, gewinnen Bessere als du – schöne Musliminnen und Juden mit echter jüdischer Identität – Zeit zur Flucht. Denn eines ist klar: So was wie du nützt niemandem! Das wirst du doch einsehen. Nicht zu einem konstruktiven Gedanken bist du fähig. Nicht einmal Klezmerklarinette kannst du spielen. Wärst du eine Tropenkrankheit, hätte man wenigstens den Nutzen eines gestärkten Immunsystems von dir. Aber du bist nichts als ein wuchernder Tumor.

Nimm dich nicht so wichtig, rief man ihn aus dem Wachtraum. Ich? Ich nehme mich wichtig? Aber das stimmt gar nicht. So eine Lynchung wär’ zu viel Anerkennung meiner Bedeutsamkeit, meinst du? Diese Worte dachte Ernst Katz stumm der Stimme entgegen, die ihn geweckt hatte. Wer sagt hier, ich solle mich nicht zu wichtig nehmen? Ernst Katz blickte in den Gang des Waggons.

»Na klar nimmst dich zu wichtig. Der Musti wollt einfach nix mehr von dir. Wennst das nicht einsiehst, dann hast ein Problem.«

Es war einer der beiden Teenager, der ihm zwei Sitze weiter schräg gegenübersaß. Sie belehrte ihre Freundin. Ihr Blick traf ihn, als sich seine Wangenmuskeln spannten und die Mundwinkel grotesk nach unten zerrten. Peinlich war ihm, in seinem Zorn von diesem jungen Menschen erwischt zu werden. Die Wutanfälle, deren Pathologie er jahrzehntelang geleugnet hatte, suchten ihn in immer kürzeren Intervallen heim.

Mit einem Lächeln gab Ernst Katz dem Mädchen Entwarnung. Sie erwiderte es knapp und wandte ihren Blick wieder ab. Doch sie behielt ihn im Auge, wie das nur Frauen können. Weil sie über das sogenannte Schläfenauge verfügen. Sie haben im Laufe ihrer Geschichte, die auch eine Geschichte der Belästigung ist, lernen müssen, gierigen Blicken auszuweichen und trotzdem ihre Neugierde nach Bestätigung zu stillen. Ernst Katz musste ein Vorurteil zurechtrücken. Dieser junge Mensch würde ihn vermutlich nicht lynchen. Bloß ignorieren. Das beruhigte.

Auch der nicht an ihn gerichtete Rat, sich nicht zu wichtig zu nehmen, hatte ihn beruhigt. Er atmete tief durch und wandte sich wieder der Landschaft zu. Doch weil diese zahllosen Einfamilienhäuser keine erquickliche Aussicht waren, schöpfte er mit kurzen, schnellen Blicken aus dem Gesicht des Teenagers: Nett sah sie aus, und einen kleinen Ring trug sie im Nasenflügel. Vielleicht war sie sogar ein guter Mensch. Ernst Katz verfügte über eine großzügige Definition des guten Menschen: Gut ist jemand, der ihn nicht lynchen würde. Was er nicht wahrhaben wollte: Auch er wurde immer öfter vom Bedürfnis zu lynchen übermannt. Doch wären das vermutlich Notlynchungen.

Die beiden Mädchen tranken Bier aus Dosen und analysierten ihren männlichen Bekanntenkreis. Sie taten das so, dass niemandem im Waggon ein Wort entging. Es war ihnen völlig egal. Fröhlich waren sie, frech und besoffen. Die Nasengepiercte kam Katz besonders forsch vor. Die glaubt wohl, schon ein Leben hinter sich zu haben. Hat sie auch. Denn was folgen mag, könnte nicht der Rede wert sein. Diese trübe Aussicht würde Katz jedoch für sich behalten.

»Geh, Oide, mit dem Schierhuber Karli kannst mich jagen. Na geh, bitte. Der schaut so langsam. Wenn dich der anschaut, kannst zweimal um den Äquator düsen, bis sein Gschau bei dir ankommt. Ich glaub, der ist dauerbekifft. Und seine ranzigen Schmäh erst. Letztens sagt er zu mir: Biggy, wenn ich dich seh, hab ich Schmetterlinge im Bauch. Sag ich zu ihm: Dann friss nicht so viele Raupen.«

»Geh, du bist so arg.«

»Na, wenn’s wahr ist.«

Behagen schlierte inwendig durch Katz’ vergifteten Sinn und öffnete diesen mit herzhaftem Lachen. Hat sie soeben die Wirkung ihres Schmähs mit einem Hundertstelsekundenblick auf ihn getestet? Oder bildete er sich das ein? Schüchtern schaute er wieder in die dämmernde Hochgeschwindigkeitslandschaft hinein. Und er nahm noch mehr Vorurteile zurück. Diese Mädchen, besonders die Freche, adelte er zu natürlichen Verbündeten im Feindesland. Die anderen würden die bleiben, die sie waren.

Ernst Katz lauschte ihrem Gespräch. Die kommen weder aus Salzburg noch aus Wels, Wels vielleicht. Das Langgezogene ihrer Aussprache weist sie eher der Hauptstadt zu. Vielleicht deren Umgebung, Niederösterreich, wo das Proletoide, der Blueston durch eine Prise Ländlichkeit besänftigt wird. Eine Melodie schafft das, welche die formelhafte Coolness des Arbeiterklassenwienerisch mit bäurischer Geradlinigkeit individualisiert. Der Ton gibt in dieser Mischung nichts an Lässigkeit preis und gewinnt doch an Liebreiz. Ernst Katz tippte auf St. Pöltener Tiefebene. Die einzige österreichische Sprachmelodie, sieht man vom zart angewienerten Hochdeutsch eines Oskar Werner ab, die ihm nicht unerträglich war. Er hörte den Mädchen zu, und neben dem altersgemäßen Unsinn fand er einiges, was er sich von ihnen wünschte: den Ehrgeiz, einander an Wortwitz zu übertreffen, jenem Überschmäh, der von sich selbst nie genug kriegen kann und stets bereit ist, in Überüberschmäh zu metastasieren; gepaart mit der Freude daran, jene Naivität, die man sich im Dschungel einfach nicht erlauben darf, mit phantasievollem Hohn zu bestrafen. Nur hier im Niemandsland zwischen Stadt und ländlicher Trostlosigkeit, war Ernst Katz überzeugt, erwuchs dieses Naturell, das mit jeder Generation aufs Neue die Kunst veredelte, eine Sache zu sagen und mehrere zu meinen. Einzeln nur wuchsen diese Bäume, was ihnen jedoch Gelegenheit gab, sich kraftvoll und knorrig auszubreiten, ehe man sie stutzt.

Ernst Katz ließ sich vom Myzel dieses Geistes umfangen und wurde wieder jung, so jung, wie er es nie gewesen war. O glückliches Alter, in dem man glaubt, die Welt stünde einem tausendfach offen. Noch erforschen sie diese eigenständig, doch bald werden auch sie in die Großstadt gehen. Dort werden ihnen Großstadtfrisuren wachsen, dort werden sie ihre rotbäckige Widerborstigkeit mit schicken Diskursen überschreiben und sich als symbolischen Ritterschlag solcher Konfektionierung die angeschmirgelte Viennale-Plastiktasche über die Schulter hängen lassen.

Die Freundin der Gepiercten – sie war Ernst Katz weniger sympathisch – referierte soeben die Vorzüge von Sex auf einem Drehstuhl. Die Gepiercte bekannte, es noch nicht probiert zu haben. Ja, stimmt, dachte Ernst Katz, auf einem Drehstuhl, das muss toll sein.

Da mischte sich eine der Pelzkappenträgerinnen ein: »Tschuldigt’s, aber könnt ihr eure Fachgespräche nicht ein bissl leiser führen? Es sind nämlich nicht alle interessiert dran.«

»Wenn’s Ihnen nicht passt«, erwiderte die Gepiercte, »dann setzen Sie sich dort hinten hin, da sind noch ein paar Plätze frei.«

Schweigen.

Ausgezeichnet. Unter anderen Umständen hätte Ernst Katz der Dame beigepflichtet, doch hatte nicht auch sie in seinem Tagtraum auf ihn eingetreten?

»Kaffee, Tee, Sandwiches! Kaffee, Tee, Sandwiches!«

Die beiden Mädchen versorgten sich mit Bier.

Der Snackverkäufer schob sein schepperndes Wäglein an Katz vorbei und fragte, ob er Kaffee wolle oder Tee oder vielleicht ein Bier. Katz schüttelte den Kopf und konnte nicht abwarten, dass der Störenfried die Verbindung zwischen den beiden Gören und ihm wieder freigab. Ein weiteres Mal trafen sich ihre Blicke auf dem Gang. Das Mädchen lächelte. Zweifellos, sie hatte ihn, Ernst Katz, angelächelt. Kurz nur, aber doch. Kein Lächeln des Hohns, keines des Flirtens, sondern ein sympathisches Lächeln. Er haderte mit sich, dann rappelte er sich auf. Er würde die Mädchen ansprechen, aber nicht ohne Einstandsgeschenk. Katz dachte an den Snackverkäufer, der inzwischen weitergezogen war. Als er aufstand, sprach ihn die Gepiercte an.

»Kannst dich zu uns setzen, wennst magst.«

Er fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Diese kaum Volljährige hatte ihn soeben eingeladen, und sie hatte ihn geduzt. Ja, sie hatte ihn erkannt. Und er sie. Sie hatte ihn, wenn schon nicht als Gleichaltrigen, so doch Gleichgesinnten erkannt, auf gleicher Augenhöhe als Mensch und Bruder in einem Meer aus Untoten. Ernst Katz stammelte etwas von gleich und Getränken und errötete und lächelte und lief aus dem Waggon und spürte das spöttische Kichern in seinem Nacken, doch das gönnte er den Mädchen. Sollten sie ruhig glauben, er sei vor ihnen geflüchtet. Ernst Katz hatte den Snackverkäufer zwischen zwei Waggons übersehen und irrte keuchend bis zur Lokomotive vor. Nein, das darf nicht sein, der Zug hält in Linz. Was ist, wenn sie hier aussteigen? Wenn die einzigen Menschen, die dem Mob die Stirn böten, ihn hier verließen? Schweißnass kehrte er um. Da rollte ihm der Verkäufer entgegen. Ernst Katz hastete zurück. Die Mädchen waren noch da, er hob vier Bierdosen wie Trophäen, und alle Missverständnisse waren ausgeräumt.

»Hallo, ich bin die Biggy.« Sie streckte ihm den Arm entgegen. Er schüttelte ihre Hand und nahm Platz.

»Und ich bin der Ernst. Ernst Katz. Aber Ernst reicht.«

»Freut mich, und das ist meine Freundin Beate, aber wir nennen sie nur The Symbol.«

Ernst Katz lachte künstlich und schüttelte auch ihr die Hand. Wie erwartet, wirkte Beate kindlicher als ihr Gegenüber, hatte dunkle Locken und ein rundes Dorfgesicht. Hinter ihrer förmlichen Höflichkeit spürte er das erwartete Misstrauen. Beate wagte es nicht, ihn zu duzen. Als er sie mit »Hi Symbol« begrüßte, kicherte die Gepiercte anerkennend. Ernst Katz sah, dass sie in seiner Liga spielte und die Kleine nur ein Trabant war. Beate interessierte ihn nicht, er wandte sich sofort an das Mädchen mit den kurzen Haaren, dem Nasenring, der Lederjacke, dem Kapuzenshirt, den vom Bier roten Wangen und den großen, grünen Augen.

»Biggy heißt du?«

»Ja, von Birgit.«

»Und wie noch? Etwa Hochholdinger?«

Bei der letzten Silbe dünnte sich seine Stimme aus, denn jäh genierte er sich, dass er mit einer unpassenden Stichelei hatte lässig wirken wollen. Doch Biggy lachte.

»Na, aber so ähnlich. Biggy Haunschmid. Gefällt mir nicht besonders, aber es gibt Schlimmeres. Reden wir über was anderes, ja?«

Sie gibt die Themen vor. Bravo!

Er öffnete eine Bierdose, Schaum spritzte auf seine Hose, gemeinsames Gelächter und Prost. Es dürfte mittlerweile offensichtlich gewesen sein, dass sich Ernst Katz wie im Traum fühlte. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass die drei Damen aus Salzburg zwei waren und keine Pelzmützen trugen. Ihre angewiderten Blicke bestätigten seine Ahnung, dass sie diese Erweiterung der fidelen Zechgemeinschaft als Zumutung empfanden. Gut so.

»Und was treibst du so on the railroad? Schaust aus, als ob du auf der Flucht wärst.«

Ernst Katz zog die Augenbrauen hoch und sprach leiser: »Könnt ihr ein Geheimnis bewahren? Ja? Ich bin auf der Flucht. Ich hab gestern meinen fünften Maturatermin gespritzt. Aber nix den Eltern sagen.«

Biggy schoss das Bier aus der Nase, Beate krächzte drauflos, Biggy stimmte ein. Dabei hatte Ernst Katz befürchtet, dass man aus dieser Anbiederung ein wenig das Altbackene hätte raushören können. Ein Lächeln spreizte sein braunes Gesicht. Schon bot ihm Biggy die Handfläche an. Er schlug seine dagegen. Und natürlich durfte auch Beate nicht nachstehen.

»War eh ein super Schmäh. Aber The Symbol und ich lachen auch wegen was anderem.« Biggy erwartete, dass Beate, ihre Hofchronistin, erzählte.

»Sie müssen wissen, die Biggy hat letzten Juni wirklich die Matura g’spritzt, weil sie aus der HTL g’flogen ist. Die hat nämlich der Senekowitsch eine aufg’legt, vor der ganzen Klasse.«

»Und ich muss natürlich wissen, wer die Senekowitsch ist.«

»Das war unser Klassenvorstand«, erläuterte Biggy.

»Na, du bist eine Wilde.«

»Yes, Sir.«

»Aber geh«, sagte Beate, »wenn Sie wüssten, wie die blöde Sau die Biggy provoziert hat. Zuerst hat die Senekowitsch ihr eine Watschen geben, und dann hat die Biggy zurückg’haut. Nur ein wenig fester. Das war zwei Jahre Psychoduell zwischen den beiden, aber die haben sich wirklich nix g’schenkt. Wie die Biggy Klassensprecherin worden ist, hat der Krieg ang’fangen. Bummzack. Wissen Sie, die Jungs lassen sich alles g’fallen. Aber nicht die Biggy. Das müssen Sie sich vorstellen. Der Trampel nennt einen Schulfreund von uns Mongo, weil er ein bissl chinesisch ausschaut wegen seine Großeltern, aus Sibirien oder wo sind die kommen.«

»Da gibt es Gesetze. Diese Frau hätte man nicht schlagen brauchen. Was ihr da erzählt, erfüllt den Straftatbestand rassistischer und behindertenfeindlicher Diskriminierung.«

»Aber geh«, hakte Biggy ein, »die hat die halbe Landesregierung hinter sich. Und die Stadt auch. Ihr Bruder ist ein hohes Vieh beim Bauernbund und ihr Schwager PR-Fuzzi im Bürgermasteramt.«

»Am wenigsten kann die Senekowitsch ertragen, dass die Biggy viel g’scheiter und gebildeter ist als sie. Ich mein’, Sie sind sicher auch g’scheit, aber die Biggy ist der g’scheiteste Mensch, den ich kenn.«

»Geh, Symbol, gib nicht immer so an mit mir.«

Scherzhaft fuhr Biggy ihrer Freundin durchs Haar. Wie die Kleine ihm da durch die Blume gesagt hatte, dass er die Biggy schwer an Bildung und Klugheit übertreffen könne – diese völlige Nichtbeachtung des Altersunterschiedes bereitete ihm Freude. Biggys Miene aber verdüsterte sich.

»Die Oide ist wirklich schwerkrank.«

Eine der Pelzmützenfrauen ohne Pelzmütze ließ ein tadelndes Zungenschnalzen vernehmen. Kaum eine Sekunde verstrich, ehe sie Biggy anbrüllte: »Was schaust denn so deppert? Passt dir irgendwas nicht?«

Katz zuckte zusammen. Diese jähe Explosion von Rohheit wirkte. Blitzschnell hatte Biggy ihr Gegenüber gebrochen und fixierte es wie die Raubkatze ihr Opfer. Dessen Lippen zitterten. So viel theatralischen Hass hatte Ernst Katz diesem an sich vernünftigen Mädchen nicht zugetraut. War das ein bewährtes Mittel der Einschüchterung oder das Signal echter Gewaltbereitschaft? Würde sie sich auch an ihm vergreifen, so ihr sein Gesicht oder seine Opposition nicht gefiele? Der Frau schossen die Tränen in die Augen. Nachdem sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, sprach sie Ernst Katz direkt an.

»Und Sie unterstützen dieses Benehmen. Meinen Sie, es fällt hier niemandem auf, wie Sie sich diesen Rotzlöffeln anbiedern? Wir wissen alle, was Sie im Schilde führen, aber vergessen Sie nicht, dass Sie dafür vor Gericht kommen können.«

Was für ein gespreizter Satz. Ernst Katz tippte auf Lehrerin in der Grauen-Maus-Zone zwischen ÖVP und FPÖ. Eine willkommene Gelegenheit, Biggy an den Senekowitschs dieser Welt zu rächen. Eine willkommene Gelegenheit auch, eingerostetes biblisches Pathos hervorzukramen.

»Es tut mir leid, gnädige Frau, ich muss dem Rotzlöffel recht geben. Mit wem ich mich abgebe und warum, das geht Sie einen Scheißdreck an. Das einzige Gericht aber, vor das wir beide einst treten werden, wird das Jüngste Gericht sein. Und dort habe ich die besseren Karten als Sie, Sie angedörrte Philisterin.«

Inspiriert von Biggys Bedrohlichkeit starrte er der Frau noch eine Weile lächelnd in die Augen, im Wissen, dass Biggy die Alte krankenhausreif prügeln würde, ginge diese mit ihrer Versandhaushandtasche auf ihn los.

»Yes, Sir«, bekräftigte Biggy.

Kaum je auf der Westbahnstrecke waren Pöchlarn und Melk weniger beachtet worden, von Loosdorf ganz zu schweigen, so angeregt unterhielten sich die drei Biertrinker über Eltern, Lehrer und die anderen Arschlöcher. Als Katz erfuhr, dass sie The Symbol in St. Pölten verlassen und Biggy bis Wien weiterfahren würde, verspürte er Behagen. Zweifelsfrei war Biggy der Boss und er, Ernst Katz, Vizechef der Gang. Dass ihm dieser gesellschaftliche Aufstieg zwischen Hörsching und St. Pölten gelingen konnte, erschien ihm als unverhofftes Wunder. Langsam fuhr der Zug in St. Pölten ein.

»Seit die Glanzstofffabrik zug’sperrt hat«, sagte Biggy, »und es nicht mehr stinkt, hat die Stadt nix Bemerkenswertes mehr.«

Während Beate aufstand und den Rucksack schulterte, referierte sie noch eine von Biggys Heldentaten. In einem Aufsatz mit dem Titel »Ausflug auf den Ötscher« habe Biggy von einer Gruppe St. Pöltener Bergwanderer geschrieben, die auf dem Gipfel des Ötschers erstickten, weil sie die gesunde Höhenluft nicht ertrügen und sich nach dem Schwefelgeruch ihrer Heimatstadt zurücksehnten. Die Senekowitsch habe den Aufsatz mit zwei plus benotet. Und hinzugefügt: »Originell, aber übertrieben!« Erneut brachen die Freundinnen in Gelächter aus, und Ernst Katz stimmte mit ein.

»Wohnst du in St. Pölten, Beate?«

»Nein, Herzogenburg.«

»Und du, Biggy?«

»Mama Loosdorf, Papa St. Blöden, aufg’wachsen in St. Blöden.«

»Aber die Biggy ist eine Strawanzerin«, sagte Beate.

»I don’t wanna wake up in a city that always sleeps.« – »And if you make it there, you’ll make it no-owhere. It’s up to you, Sankt – Blö-ö-däääään.«

Beate und Biggy umarmten und küssten einander. Auch die pelzmützenlosen Pelzmützenfrauen verließen den Zug.

»Viel Spaß«, wünschte deren Wortführerin im Vorbeigehen.

»Danke. Den werd’ ich haben. Und nicht vergessen: Jüngstes Gericht.«

»Alter Spinner«, zischte sie.

Biggy stand auf.

»Soll ich ihr eine auflegen?«

Ernst Katz hieß sie niedersetzen. Als der Zug weiterfuhr, breitete sich schüchternes Schweigen aus zwischen Chefin und Vizechef.

»Die Beate ist schwer okay. Ein bissl oberflächlich, aber schwer okay.«

Diese Bemerkung über die Freundin erfüllte Ernst Katz mit Genugtuung. Biggy, schien ihm, gehörte zu jenem Typ Mädchen, der lieber Bursche sein will, weil er die üblichen Angebote weiblicher Rollen dämlich findet und die damit verbundenen Machtdefizite schmachvoll. Einen eigenen Ausdruck fand Katz dafür: präfeministische Selbstermächtigung. Niemals würde sie sich mit anderen Mädchen solidarisieren, weil die selbst schuld seien an ihrer Benachteiligung, lieber zeigte es den Halbstarken, wie stark es ist Aber vielleicht irrte er sich. Sie war es, die das Schweigen brach.

»Ich hab dich seit Wels beobachtet. Dir ist es nicht gut gangen, bevorst dich zu uns g’setzt hast.«

»Das stimmt. Ich war wütend.«

»Worüber?«

»Willst du wissen, warum ich mich zu euch gesetzt hab?«

»Weil wir leiwander sind als die Arschlöcher.«

»Das auch. Obwohl ich im Zweifelsfall immer für den Angeklagten bin und das Arschloch mir seine Arschlöchrigkeit erst beweisen muss. Nein, ich hab mit dir Kontakt aufgenommen, weil ich glaube, dass ich dich brauche.«

»Aha. Und wofür, wenn ich fragen darf?«

»Du bist doch belesen?«

»Früher in der Schulzeit hab ich viel g’lesen. Jetzt nicht mehr so.«

Ernst Katz musste schmunzeln.

»Kennst du den René Mackensen?«

»Wart, lass mich nachdenken. Deutscher? Gegenwartsautor?«

»Aus Oberösterreich kommt er. Den norwegischen Namen hat er von seinem Großvater, glaube ich. Und der René dürfte gefakt sein. Wahrscheinlich heißt er Reinhard. Noch ziemlich jung. Keine dreißig.«

»Was! So alt?«

»Danke! Er hat einen großen Erfolg mit seinem Debütroman gehabt. Raubecks Anlass heißt er. Oder Ablass? Keine Ahnung, diese Debütromane klingen alle ähnlich.«

»Ja, g’hört hab ich davon. Aber g’lesen nicht.«

»So dürfte es den meisten gehen, besonders denen, die das Buch gekauft haben.«

»Und was is’ mit dem Typ?«

»Sein neuer Roman muss um jeden Preis verhindert werden.«

»Das kriegen wir schon hin. Andererseits brauchst ihn ja nicht lesen. Wenn ich mich wegen jedem Scheiß, der veröffentlicht wird, aufregen würd’.«

»Da geht es um mehr. Um ein Prinzip. Hab ich dir übrigens schon gesagt, dass Biggy ein außergewöhnlich blöder Name ist, der überhaupt nicht zu dir passt.«

»Ich hab da so was rausg’spürt.«

»Darf ich dich Birgit nennen?«

»Nein! Weiter!«

»Okay. Ich mach’s kurz. Dieser Rotzbub, der bereits in den wichtigsten Zeitungen essayistisch dilettieren darf, weil man dem Irrtum aufliegt, ein Schriftstellerchen sei von Natur aus ein Denker und habe, weil er so viele Worte gebraucht, auch was zu sagen – dieser Rotzbub hat herausgefunden, dass Themen wie Holocaust und Nazis besonders hoch notieren auf dem Markt. Obwohl ich überzeugt bin davon, dass er nichts weiß von dieser Zeit und nichts als ein von seinem unverdienten Erfolg betrunkener Schnösel ist.«

»Du scheinst ihn ja gut zu kennen.«

»Ich brauch ihn gar nicht kennen. Er ist mir als Person völlig wurscht. Er interessiert mich nur als Symptom. Als Symptom einer Krankheit, die ich bekämpfen muss.«

»Also ich find’s super, wenn sich so viele Leute wie möglich mit dem Thema beschäftigen. Ich bin in die HTL gangen. Wenn du wüsstest, was dort für Nazisprüch’ klopft werden.«

»Da hast du recht, natürlich. Aber es kommt darauf an, wie man sich damit beschäftigt. Diese Schnösel haben weder eine geistige noch eine seelische Berührung mit dem Stoff. Die wollen bloß Tragik daraus wringen. Und sich als Aufklärer wichtig machen, damit die besseren Aufklärer zu ihren Gunsten in Vergessenheit geraten. René Mackensen will die Geschichte einer Frau besudeln, die ich gut gekannt habe. Das darf nie geschehen, und wenn es mir gelingt, dann handle ich in ihrem Sinne. Denn nie und nimmer hätte Klara gewollt, dass man sie auch nach ihrem Tod missversteht.«

Enthusiasmus funkelte plötzlich in Biggys Augen.

»Okay. Wie soll ich ihn beseitigen? Revolver, Messer, vergifteter Regenschirm? Oder soll er an der U-Bahn-Kante ausrutschen? Eine Überdosis Insulin ist am schwersten nachzuweisen.«

»Biggy. Ich mache keine Scherze.«

»Ich auch nicht.«

Schon näherte sich der Zug Wien-Westbahnhof. Am liebsten wäre er mit ihr nach Budapest weitergefahren, und von dort nach Wladiwostock oder Istanbul. Sie redeten viel und freimütig, denn für Kennenlernrituale fehlte die Zeit. Einig waren sich beide, aber das hatten sie von Anfang an gewusst, dass sie die Gesellschaft bis aufs Blut hassten. Doch Biggys Hass entbehrte der üblichen Floskeln von AllesScheiße und No future, die er, der sozialen Wirklichkeit lange entrückt, als typisches Merkmal renitenter Jugend seit den achtziger Jahren einschätzte. Auch wenn er ihr Brutalität und bösen Humor zutraute, ihr Herz, so wollte er sie sehen, das schlug auf dem rechten Fleck, ihre Worte wählte sie mit Bedacht, und ihre Zunge strafte die Bösen – die Dummen, Gemeinen, die Wegschauer und Arschkriecher also. Nur einmal wurde ihr Gespräch durch einen Anruf unterbrochen. Sie sprach englisch, gar nicht schlecht, sagte, sie werde zurückrufen. Danach tippte sie eine SMS und forderte Katz auf weiterzusprechen – sie höre zu.

Vor der Ankunft tippte Biggy ihre Telefonnummer in sein Handy. Er überreichte ihr eine weichgewetzte Visitenkarte aus seinem abgenutzten Portemonnaie. Schließlich bedankte er sich dafür, ihn vor ihrer Freundin kein einziges Mal Katzi genannt zu haben. Ein letzter Lacherfolg. Westbahnhof. Am Kopfende des Gleises fragte er, in welche Richtung sie müsse. In die andere, antwortete sie und lächelte. Da wartet einer, dachte Ernst Katz, und freute sich für sie.

»Es war mir eine außergewöhnliche Ehre, deine Bekanntschaft zu machen, Biggy. Pass auf auf dich.«

»Du auch. Vielleicht sieht man sich mal. Auf an Kaffee.«

Auweia, dachte Ernst Katz, das Großvaterprogramm. Nach ein paar Schritten drehte sie sich um und sagte: »Mir g’fällt dein Schmäh.«

»Danke.«

Kein einziges Mal hatte ihn dieses Mädchen spüren lassen, dass er für einen alten Knacker ganz in Ordnung sei. Am liebsten hätte er ihre Hand geküsst. Ernst Katz wusste, dass er sie nie wiedersehen würde, doch betrübte ihn das nicht. Er freute sich, dass es diesen Menschen gab. Und was er soeben erleben durfte, war mehr, als er zu hoffen gewagt hätte. Er wollte jetzt nicht die Straßenbahn nehmen, und er wollte sich nicht vom U-Bahn-Schacht verschlucken lassen. Einige Zentimeter über dem Boden schweben würde er in seine Sechzigquadratmeterwohnung im neunten Bezirk, die er früher sein Diogenesfass genannt hatte und neuerdings sein Mausoleum nannte. Noch Tage zehren würde er von dieser Begegnung, ehe die alte Griesgrämigkeit wieder in seine Glieder kröche.

Arschloch: Tunnel, in den die Karriereleiter führt und an dessen Ende es kein Licht gibt.

Klara Sonnenschein, aus: Funken & Späne

2. Kapitel

René im Café

René Mackensen betrat das Café Schwarzenberg. Als er seinen Mantel aufhängte, warf er kurze, scheue Blicke in den Raum. Er zog die Ärmel seines Tweedsakkos stramm, wischte sich dezent die Nase, griff nach einer Tageszeitung und nahm Platz. Der junge Kellner war höflich und zuvorkommend. Mackensen bestellte einen Einspänner.

Er durchstöberte die Tageszeitung nach TV-Kritiken, fand aber nicht, wonach er suchte. Am Vortag war in der wichtigsten Kultursendung des Landes ein Porträt von ihm gesendet worden. Und Mackensen hatte just in dem Moment das Café betreten, als er erste Selbstzweifel in sich erwachen spürte. Sie hätten den alten Baumgartner nicht interviewen dürfen. Schon als kleinen Jungen habe er ihn gekannt, der alte Baumgartner, ein bisschen eigen sei er schon gewesen, der Reini. Jetzt nenne er sich Renne, aber damals habe man ihn Reini gerufen, den Renne. Wie er das meine, hatte die Fernsehtante nachgefragt. Etwas mürrisch war er geworden, der alte Baumgartner. Es könne ja schließlich nicht jeder so wie die anderen sein. Während andere Buben Fußball gespielt hätten, sei der Reini halt im Garten auf und ab gegangen und habe mit sich selber geredet …

Mackensen hatte lange darüber nachgedacht. Und nach anfänglicher Freude wuchs bei jedem weiteren Abspielen der Aufnahme in ihm der Verdacht, die Redakteurin habe sich einen Schabernack erlaubt. Schnitttechnik, O-Töne und Materialauswahl verrieten Absicht. Das Interview mit dem Baumgartner, dem alten Trottel, stellte ihn, Mackensen, irgendwie als jungen Trottel hin, und dass die Szene, in welcher er seine Fähigkeit zur Imitation von Stimmen seltener Vögel bekundete, ausgerechnet dem Baumgartner-Interview folgte, darin sah er plötzlich eine Intrige.

Ein anderer tweedgewandeter Mann mit blondem Scheitel durchsuchte das Café mit energischen Blicken. Als er Mackensen erblickte, der zaghaft wie ein Schüler aufzeigte, begann sein Gesicht zu strahlen. Mackensen erhob sich, spürte, dass der Sessel aus seinen Kniekehlen zur Seite kippte, bekam ihn rechtzeitig an der Lehne zu fassen und lächelte unsicher. Carsten Kempowskis Auftreten machte ihn immer etwas verlegen.

»René, alter Junge, lass dich umarmen. Bravo, bravo.«

Mackensen ließ sich umarmen und so stürmisch auf beide Wangen küssen, dass sich die Brille verschob. Kempowski war sein Agent und Verleger. Er rückte ihm die Brille wieder zurecht.

»Ich weiß nicht, Carsten. Irgendwie haben die mich geschnitten. Ich komm als Sonderling rüber.«

»Ach, mach dir keinen Kopf – einen Cappuccino bitte! –, das ist doch charmant. Das Publikum will Wiedererkennbarkeit, und in seinen Köpfen muss der Literat, dies seltene Tier, in seiner Jugend ein Sonderling gewesen sein. Niemand interessiert sich für einen Autor, einen Chronisten der gesellschaftlichen Brüche und Seismografen des genialischen Leidens, der als Teenie nur kickt und an der Spielkonsole hängt. Dann, wenn ihr berühmt seid, könnt ihr – touché – mit Bodenständigkeit und Volksnähe prahlen. Immerhin bist du Libero im Schriftstellerteam, und dein Essay über Fußball war allererste Sahne. Imagemäßig brillant.«

»Du gewinnst jeder Sache was Positives ab, Carsten, aber mit den Vogelstimmen hast du mich wirklich in was reingeritten.«

»Aber woher denn, mein Junge. Du wärst ein Narr, wenn du mit dieser Fähigkeit hinterm Busch halten würdest. Ein Schuss Exzentrizität ist ein Wettbewerbsvorteil, den zu unterschlagen fahrlässig wäre. Wie viele Schriftsteller kennst du schon, die den Kookaburra imitieren können? Und den – wie hieß er? – den tasmanischen Graurücken-Leierschwanz? Es war amüsant und erfrischend.«

»Das hat die Kuh absichtlich nach dem Interview mit dem Baumgartner gebracht …«

»Erspar mir bitte Verschwörungstheorien. Du bist ein notorischer Schwarzseher. Ich mein’, das sollst du als Wiener Schriftsteller auch sein. Aber lass dir gesagt sein: Ein interessanter Autor mit Brüchen und Widersprüchen wurde gezeigt gestern.«

»Ein Kasperl …«

»Noch einmal, René, bitte, wie macht der tasmanische Graurücken-Leierschwanz?«

»Du verarschst mich.«

»Nee wirklich, komm schon. Mach mir den tasmanischen Graurücken-Leierschwanz, oder ich erzähl dir nicht, was Cornelia Falk über dich gesagt hat.«

Carsten Kempowski begann René Mackensen über die Tischplatte hinweg zu kitzeln und kneifen, Mackensen kicherte, begann leise zu tschirpen.

»Ich hör dich nicht, René, singt so ein tasmanischer Graurücken-Leierschwanz, wenn er eine tasmanische Graurücken-Leierschwänzin bezirzen will, ha? Lauter! Conny Falk!«

Das erste Mal seit seinem Bestehen erschallte der hochkomplexe Ruf des tasmanischen Graurücken-Leierschwanzes durch das Café Schwarzenberg. Mancher legte die Zeitung weg oder unterbrach das Gespräch, konnte dieses Geräusch aber mit nichts in Verbindung bringen und setzte seine Tätigkeit fort.

»So, und jetzt du: Was hat die Falk gesagt?«

»Älabätsch, ich treff sie erst am Montag.«

Carsten Kempowski war kein gewöhnlicher Deutscher in Wien, wie es jetzt viele gab. »In Hamburg«, pflegte er zu sagen, »bin ich der einäugige König unter den Blinden, hier werde ich wie ein Blinder unter Schaßaugerten behandelt.« Er war Lektor und Leiter jener Abteilung des Verlages in München, der auf Mackensen aufmerksam geworden war. In der Szene war Kempowski für sein goldenes Händchen bekannt. Sein PR-Geschick und der große Erfolg, den er mit jungem österreichischem Nachwuchs wie Dr@g@n M@tić, Dietlinde Mattuscheck und René Mackensen einfahren konnte, verleiteten ihn zur Gründung einer eigenen Agentur. René war sein erstes und deshalb liebstes Pferd im Stall und wurde von ihm liebevoll gestriegelt. Vielleicht weil man ihn so wunderbar manipulieren konnte. René wusste nie recht, was an Carsten Kempowskis Gewinnerattitüde Bluff war, was Professionalität. Nie war er aus der Fassung zu bringen, seine Spitzen konnte er stets mit entwaffnendem Lächeln polstern, und er beherrschte die Kunst, jeden noch so berechtigten Zweifel an seiner Person in Wohlgefallen aufzulösen. Wie anders hätte es der Henning Holdt Verlag geduldet, dass Kempowski vor dessen Nase eine Agentur aufzog und den gefeierten Hausautor Dragutin Draculescu für die aufsteigende Edition Danuvius abwarb. Henning Holdt, oder besser, seine Nichte Beatrice, die die Verlagsagenden seit dessen Autounfall treuhänderisch verwaltete und die Mehrheit der Firmenanteile im Vorjahr an den Multi Splendid House verkauft hatte, bestrafte Carsten Kempowskis Illoyalität nicht, sondern trug ihm die neue Reihe »Klassiker der Moderne neu übersetzt« zu.

Kempowski besaß ein deutsche Maßstäbe überforderndes Maß an Ironie und Kultiviertheit, das er mit einer rheinländischen Mutter und einem hanseatischen Vater erklärte. Kein Wunder, dass er sein berufliches Standbein in den Süden, nach München, setzte und mit dem anderen in Wien herumtappte, wo seine Ironie durch den berüchtigten Schmäh herausgefordert wurde. Wie viele Geistesmenschen aus protestantischen Ländern erfuhr er die Wiener Wirklichkeit durch die kulturelle Verallgemeinerungsbrille und filterte jede Wahrnehmung durch historisches Wissen. Wien war für ihn, was Paris für manche Amerikaner oder Tiflis für manche Russen gewesen sein muss. Er imitierte gerne dialektale Redewendungen, die längst nicht mehr in Gebrauch waren, bestellte sich mit Vergnügen beim Würstelstand eine Eitrige, während alle Welt Kebap den Vorzug gab, fand sich zwischen Touristen in den Cafés wieder, während die österreichischen Studentinnen, die er gerne aufgerissen hätte, bei Starbucks saßen, und versuchte das Geheimnis der Wiener Hinterfotzigkeit zu ergründen, die seine Selbstgefälligkeit provozierte, denn das schlaueste Miststück auf der Welt war nach eigenem Dafürhalten noch immer er selbst.

»Also René, wie geht es mit Klara Morgenstern voran?«

»Sonnenschein …«

»Noch besser.«

»Ich weiß nicht, Carsten. Das ist nicht mein Thema.«

»Unsinn, Schatzel. Dafür hast du zu laut in die Trombones getrötet. Es würde als Rückzieher empfunden.«

»Und wenn schon. Ich fühl mich dem Thema nicht gewachsen.«

»Es gibt nichts, dem sich ein René Mackensen nicht gewachsen fühlt.«

»Diese Holocaustgschichtln, wie soll ich sagen, das bin nicht ich. Verstehst? Das nimmt man mir einfach nicht ab. Es gibt Hunderte, die das besser können. Die Historiker und Politologen werden mich in der Luft zerreißen. Und die Essayisten erst.«

»Wieso? Nur weil die das Monopol darauf behaupten? Hör zu, das Thema gehört uns allen. Du musst nicht perfekt sein, kommunizier das in die Öffentlichkeit als das, was es ist: als das allmähliche Herantasten eines Neugierigen an eine Geschichte, von der er zu wenig wusste. Das wirkt allemal sympathischer als das ewige Besserwissen der Spezialisten und Berufsmahner. Weil sich die Leser damit identifizieren können. Du musst nicht die Geschichte der Judenvernichtung und auch nicht die der jüdischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts erzählen, du erzählst die Geschichte einer Frau am Scheideweg der Geschichte. Ein harter Brocken, ich geb’ es zu, aber einer, an dem du wachsen wirst, an dem du wachsen musst.«

»Was willst du damit sagen?«

»Sei nicht eingeschnappt, gell. Raubecks Anlass war ein Achtungserfolg, witzig, frech, voll barocker Sprachgirlanden und derber Erbaulichkeiten, doch auch nicht arm an Unbedarftheit und kompositorischer Schwäche …«

»Aha, das hör ich aber das erste Mal aus deinem Munde.«

»Aus deinem Munde. Süß. Lieber René, ich will dich nur vor einem berufsüblichen Fehler warnen, deinen Erfolg mit deinen Fähigkeiten zu verwechseln. Ein bisschen hat da der liebe Gott auch mitgepokert.«

Bei diesen Worten deutete Carsten Kempowski mit einer zarten, beinah beiläufigen Handbewegung auf sich und ließ seinen Blick unschuldig nach rechts und links wandern, um ihn dann aggressiv in sein Gegenüber zu bohren.

»Du weißt, wie knapp die Juryentscheidung bei den Klagenfurter Literaturtagen war. Roger Finkstedt hatte ganz recht mit seiner Kritik. Du weißt auch, wie die knappe Mehrheit zu deinen Gunsten zustande kam.«

»Ich habe mich hundertmal bedankt, und wie oft soll ich es wiederholen: Es hätte mir auch gereicht, dass ich nur ins Finale komme.«

»Ich will nicht sagen, dass wir dich gemacht haben, aber überschätz dich bitte nicht. Du hast das Göttliche in dir, keine Frage. Aber der größte Gott ist noch immer der Markt, und ihr Götterbote die PR. Wir können Scheiße als Gold verkaufen. Wir tun es auch. Das Publikum frisst es. Sogar das Feuilleton sagt jammi, jammi, wenn wir es wollen. Daher sehe ich meine Aufgabe darin, echtes Gold als Gold zu verkaufen. Damit meine ich Leute wie dich oder Linde Mattuscheck.«

»Ich halt nicht aus, wie die schreibt.«

»Kleiner Tipp. Zeig dich kollegialer. Deine Stutenbissigkeit kommt nicht gut. Du bist Gold wert, und ich glaub an dich, aber das Gold ist noch Golderz und muss von Kies und Schlacken befreit werden. Ich denk an deine Zukunft. Du bist fast dreißig, René. Du könntest mit der gehobenen Spaßkultur fortfahren, aber ich sag dir, die Zeit war für dich bis jetzt eine Dampflokomotive, von nun an ist sie ein TGV. Morgen bist du vierzig und in eineinhalb Tagen fünfzig. Es ist an der Zeit, dass du den Kulturmarkt mit einem großen, ernsten Roman überraschst und dich als seriöser Autor positionierst, der sich den großen Fragen der jüngeren Geschichte stellt. Wenn du diese Nuss knackst, dann bist du unschlagbar.«

»Carsten, ich hab von dieser Frau nicht mehr als ein Foto, einen Essay über das Inkontinenzproblem bei Hegel blabla und einen Artikel aus der Jerusalem Post. Das Internet ist nicht sehr großzügig mit Information. Ich kann mir nicht anmaßen …«

»Andersrum, Junge. Je weniger du weißt, desto mehr kannst du erfinden und dich desto weniger in die Nesseln setzen.«

»Dann könnte ich ja gleich jemanden erfinden.«

»Auch wieder nicht. Ein Hauch von Authentizität, ein paar reale Bausteine einer realen Person erhöhen deine Autorität. Wichtig ist, dass du die Juden auf deine Seite kriegst.«

»Das hört sich zynisch an.«

»Quatsch. Du weißt schon. Die jüdischen Essayisten. Jewgenij Beltzmann. Noch besser den Freddy Rothenstein. Das ist die eitelste Sau, die ich kenne. Gewinne sein Vertrauen. Ist nicht schwer. Du weißt schon. Rezensier seinen neuesten Roman. Das wäre gut. Aber gar nicht notwendig. Lob allein genügt.«

»Ich hab gehört, dass er meinen Kommentar der anderen sehr gelobt hat.«

»Bingo. Siehst du, er liebt dich. Bessere Voraussetzungen kannst du gar nicht haben. Freunde dich an mit ihm, hör dir seine erfundenen Familiengeschichten an. Hast du einmal den Sanktus der Oberrabbiner unseres Kulturlebens, gehört dir die Welt, von der Ostküste bis zur Westbank.«

»Gutes Wortspiel, aber nicht politically correct.«

»Gutes Wortspiel, weil politically nicht correct. Langer Rede kurzer Sinn … Hast du übrigens gesehen, wie dich die Kleine dort drüben, die mit dem Tartanbarett, anhimmelt? Anyway. Langer Rede kurzer Sinn: Kneif nicht, stürz dich in die Arbeit, greif in die Brennnesseln. Das ist das Leben. Herr Ober, zahlen bitte! Ich weiß, dass du es kannst. Reiß die Kleine dort drüben auf und fütter dein Selbstvertrauen mit ihrem jungen Germanistikstudentinnenfleisch.«

»Du bist so blöd.«

»Aber charmant. Los, sag schon, dass ich charmant bin.«

In diesem Augenblick näherte sich das Mädchen mit der karierten Pommelmütze dem Tisch.

»Entschuldigung, sind Sie der René Mackensen? Ich komm mir so blöd vor, aber ich hab mir gedacht, wenn ich ihn jetzt nicht anspreche …«

»Ja, der bin ich.«

»Meine Liebe, haben Sie ihn etwa gestern im Kulturjournal gesehen?«

Die junge Frau sah Kempowski verwirrt an.

»Ja.«

»War doch ein toller Beitrag?«

»Ich fand ihn super.«

»Ich auch, und wie toll unser Poeta laureatus Vogelstimmen imitieren kann.«

Das Mädchen lächelte Mackensen an.

»Ich mag schräge Vögel.«

»Siehst du, Schatzel«, sagte Kempowski.

Mackensen gab ihm unterm Tisch einen Tritt gegen das Bein und fragte die Bekappte:

»Haben Sie meinen Roman gelesen?«

»Um ehrlich zu sein, ich hab eine Seminararbeit darüber geschrieben.«

»Ist nicht wahr?«, triumphierte Kempowski, »du bist Unterrichtsgegenstand. Wissen Sie, schönes Kind, dass unser Meisterdichter soeben einen Roman über das Schicksal einer jüdischen Intellektuellen im KZ begonnen hat?«

»Wow.«

»So, ihr Hübschen, ich lass euch jetzt allein, Onkel Carsten muss düsen.«

Mackensen kam mit der Frau ins Gespräch. Während sie ihn vom Stand der Mackensen-Rezeption im Germanistikinstitut unterrichtete, tippte Kempowski vergnügt eine SMS. Erst nachdem er bezahlt hatte, sandte er sie und erhob sich. Mackensen konnte dem Piepen in seiner Jacketttasche nicht widerstehen und entschuldigte sich bei seinem Fan. Er fand folgende Kurzmitteilung in der Inbox: Wohlan, mein Dichterfürst. Wenn du dir diesen Superzahn nicht aufzwickst, schmeiß ich dich aus dem Verlagsprogramm und lass alle lagernden Raubecks verbrennen. ;-) Und vergiss ihr nicht den Kookaburrra zu machen. ;-) Wir hören uns morgen. ;-)

Mackensen zeigte Kempowski die Zunge, der fröhlich das Café verließ.

Die Germanistikstudentin fragte Mackensen: »Ist das wirklich Ihr Onkel?«

»Nein, nur mein Agent und Verleger.«

»Ein unsympathischer Kerl.«

Mackensen war dieser Standortvorteil unangenehm, denn er wusste, dass Kempowski, hätte er gewollt, die junge Frau jederzeit für sich hätte einnehmen können. Er hatte absichtlich diese Show abgezogen, um seinen, Mackensens, Wert vor ihr zu heben.

Verbitterung: Angemessene seelische Reaktion von Menschen, die sich über die Versalzung ihrer Lebenssuppe nicht durch Beigabe von künstlichem Süßstoff hinwegtäuschen lassen.

Klara Sonnenschein, aus: Funken & Späne

3. Kapitel

Alter Mann im November

Flüssiger Rotz hing von den Spitzen seiner Bartstoppeln und mischte sich mit dem Kondensat seines Schnaufens. Nebel. Friedhof. Tod. Warum tat sich Ernst Katz das an? Warum machte er es wie alle, die an Novembergräbern den Tod um Ablass baten? Warum flog er ihm nicht davon und genoss das Leben? Leisten hätte er es sich können, er hatte geerbt. Sechs Jahre lag Tante Josepha nun unter der Erde, jene Tante, die ihn nicht und die er nicht leiden konnte und die in einem plötzlichen Anfall von Familiensinn ihre Zweihundertquadratmeterwohnung an der Linken Wienzeile nicht der Kirche, sondern doch ihrem Neffen vermachte. Ernst Katz fühlte keine Dankbarkeit für Tante Josepha, die wie die gesamte mütterliche Seite der Familie seinen Vater Sándor Katz verachtete, dessen Frau Maria bedauerte und den kleinen Ernö hin und wieder als Judenbengel beschimpfte. Keinen Groschen hatte die Brut lockergemacht, um seine Eltern im Londoner Exil zu unterstützen. Sie hofften bloß, Sándor würde Maria so schlecht behandeln, dass sie wieder zurückkehrte, mit oder ohne Judenbalg, und wenn mit, dann hatte man schon seine Beziehungen zum Reichsrassenamt, um die Schande zu kaschieren. Doch Maria stand zu ihrem Filou, wie die Seidlers ihn nannten. Nach dem Krieg warf die Familie dem geflüchteten Paar vor, es würde ihr den kleinen Ernst absichtlich vorenthalten. Doch als es Anfang der fünfziger Jahre nach Wien zurückkehrte, scherten die Seidlers sich nicht um den Buben, lediglich Besuche zu den Feiertagen, ungewollte Geschenke wie selbstgestrickte Socken, einmal ein Pullover, Fragen nach Schulerfolgen und Bemerkungen über seine blonde Schönheit und dass er ganz und gar der Maria nachgerate – Gott sei Dank.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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