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Chronisches Fatigue-Syndrom: in Erschöpfung gefangen Myalgische Enzephalomyelitis (ME) oder Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) ist eine erschöpfende Erkrankung, die zu einer tiefgreifenden Intoleranz gegenüber Anstrengung und dadurch zu erheblichen Beeinträchtigungen in den Aktivitäten des Alltags führt. Das charakteristische Merkmal von ME/CFS ist das Unwohlsein nach einer Anstrengung (PEM), bei dem die Anstrengung selbst zusätzliche Symptome und/oder eine Verschlimmerung der aktuellen Symptome verursacht. Die Anstrengung kann körperlich, kognitiv, sensorisch oder emotional sein und von den Funktionsstörungen können mehrere Systeme betroffen sein. Auch gesundheitstherapeutische Interventionen und Interaktionen können ein Auslöser für PEM sein. Daher sollten alle Health Professionals sich der Gefahren durch ihre Interventionen bewusst sein und ihre therapeutische Praxis anpassen können, um PEM zu vermeiden. Das Fachbuch zielt auf Information und Aufklärung der Health Professionals, vorrangig der Physiotherapie, Ergotherapie und Pflege, zu Schlüsselsymptomen von ME/CFS, auch in Bezug auf COVID-19 und Long COVID für eine sichere und angemessene Therapie. Auch will es dazu beitragen, die Qualität der Versorgung von Menschen mit ME/CFS zu verbessern. Konkrete Fallsituationen verweisen auf das individualisierte Management der Schlüsselsymptome. Zum Inhalt: - Teil 1: Definition und allgemeine Informationen über ME/CFS; Überblick über häufige Komorbiditäten und spezifische Erkrankungen bei Menschen mit schwerem und sehr schwerem ME/CFS (Kinder und Jugendliche, akute postvirale Zustände, COVID-19 und Long COVID) - Teil 2: Schlüsselsymptome von ME/CFS, Evidenzbasis für Management und Therapie - Teil 3: Managementprinzipien für Health Professionals, Überblick über Evaluations- und Outcome-Messungen, Energie-management, Herzfrequenzüberwachung und Bewegung. - Teil 4: Fallbeschreibungen von Menschen mit ME/CFS mit beispielhaften individualisierten Interventionen
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Seitenzahl: 598
Veröffentlichungsjahr: 2025
Karen Leslie
Michelle Bull
Nicola Clague-Baker
Natalie Hilliard
Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) verstehen und managen
Ein Leitfaden für Health Professionals
Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) verstehen und managen
Karen Leslie, Michelle Bull, Nicola Clague-Baker, Natalie Hilliard
Programmbereich Gesundheitsberufe
Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Gesundheitsberufe
Sophie Karoline Brandt, Bern; Jutta Berding, Osnabrück; Sinje Gehr, Göttingen; Heidi Höppner, Berlin; Heike Kubat, Feldbach; Christiane Mentrup, Zürich; Sascha Sommer, Bochum; Ursula Walkenhorst, Osnabrück; Claudia Winkelmann, Berlin
Karen Leslie, BSc(hons) Physiotherapy, BA(hons) Journalism Studies, Chartered Physiotherapist, Co-Founder of Physios for ME
Dr. Michelle Bull, DHRes, MSc, GradDipPhys, Chartered Physiotherapist, Co-Founder of Physios for ME,
Dr. Nicola Clague-Baker, PhD, MPhil, BA(hons) Sports Studies, GradDipPhys, PgCAPHE, SFHEA, Chartered Physiotherapist, Co-Founder of Physios for ME
Natalie Hilliard, BSc(hons) Physiotherapy, BSc(hons) Sports Science, Chartered Physiotherapist, Co-Founder of Physios for ME
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Hogrefe AG
Lektorat Gesundheitsberufe
z. Hd.: Barbara Müller
Länggass-Strasse 76
3012 Bern
Schweiz
Tel. +41 31 300 45 00
www.hogrefe.ch
Lektorat: Barbara Müller
Herstellung: Daniel Berger
Umschlagabbildung: microgen, GettyImages
Umschlag: Hogrefe intern
Satz: Claudia Wild, Konstanz
Dieses Buch ist eine Übersetzung aus dem Englischen. Der Originaltitel lautet: Leslie, K., Bull, M., Clague-Baker, N., Hilliard, N. (2023). A Physiotherapist’s Guide to Understanding and Managing ME/CFS. London: Jessica Kingsley Publishers, an imprint of John Murray Press, part of Mudder & Stoughton Ltd, and Hachette UK Company
© 2023 by Karen Leslie, Michelle Bull, Nicola Clague-Baker, Natalie Hilliard. ISBN-13: 978-1-83997-143-3
Format: EPUB
1. Auflage 2025
© 2025 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96371-6)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76371-2)
ISBN 978-3-456-86371-9
https://doi.org/10.1024/86371-000
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Danksagung
Zweck dieses Buches
Teil 1: ME/CFS verstehen
1 Definition und Begriffe
1.1 Ursache von ME/CFS
1.2 Prävalenz von ME/CFS
1.3 Symptome von ME/CFS
1.4 Behandlung von ME/CFS
2 Komorbiditäten
2.1 Endometriose
2.2 Fibromyalgie
2.3 Hypermobilitätssyndrom
2.4 Reizdarmsyndrom
2.5 Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS)
2.6 Migräne
2.7 Posturales orthostatisches Tachykardie-Syndrom (POTS)
2.8 Komorbiditäten des Rückenmarks und des Hirnstamms
2.9 Temporomandibuläre Dysfunktionen (TMD)
3 Schweres und sehr schweres ME/CFS
3.1 Definition
3.2 Symptome
3.3 Physiologische Veränderungen
3.4 Anpassung an die Praxis
3.5 Therapie der Health Professionals
4 Pädiatrisches ME/CFS
4.1 Symptome
4.2 Diagnose
4.3 Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ME/CFS
4.4 Therapie der Health Professionals
5 Management bei akuten postviralen Zuständen
5.1 ME/CFS nach viralen Infektionen
5.2 COVID-19 und Long COVID
5.3 Postvirale Fatigue
5.4 Therapie der Health Professionals
Teil 2: Symptome und Management
6 Post-exertional Malaise (PEM)
6.1 Definition von PEM
6.2 Symptome der PEM
6.2.1 Trigger von PEM
6.2.2 Beginn und Dauer der PEM
6.2.3 Physiologische Reaktionen auf körperliche Anstrengung
6.2.4 Ursachen von PEM
6.3 Therapie der Health Professionals
7 Fatigue
7.1 Definition von Fatigue
7.2 Symptome der Fatigue bei ME/CFS
7.2.1 Periphere Fatigue
7.2.2 Zentrale Fatigue
7.3 Therapie der Health Professionals
8 Kognitive Dysfunktion
8.1 Definition
8.2 Ursachen der kognitiven Dysfunktion
8.3 Therapie der Health Professionals
9 Schlafstörung
9.1 Diagnose der Schlafstörung
9.2 Schlafstörung bei ME/CFS
9.3 Therapie der Health Professionals
10 Schmerz
10.1 Diagnose und Pathophysiologie bei ME/CFS
10.2 Verbindung mit Komorbiditäten von ME/CFS
10.3 Therapie der Health Professionals
11 Neurologische Dysfunktion
11.1 Neurologische Dysfunktion bei ME/CFS
11.2 Therapie der Health Professionals
12 Autonome Dysfunktion
12.1 Physiologie des Nervensystems
12.2 Autonome Dysfunktion und ME/CFS
12.2.1 Hinweise für die Praxis
12.2.2 Therapie der Health Professionals
12.3 Orthostatische Intoleranz und ME/CFS
12.3.1 Hinweise für die Praxis
12.3.2 Therapie der Health Professionals
12.4 Dysfunktionale Atmung und ME/CFS
12.4.1 Hinweise für die Praxis
12.4.2 Therapie der Health Professionals
13 Immunsystem und neuroendokrine Dysfunktion
13.1 Immunsystem und neuroendokrine Dysfunktion bei ME/CFS
13.2 Therapie der Health Professionals
Teil 3: Health Professionals: Assessment und Management von ME/CFS
14 Assessment
14.1 Anpassungen des Assessment-Ansatzes
14.2 Vorbereitung des Assessments
14.3 Struktur des Assessments
14.4 Anwendung der Ergebnisse in der Praxis
15 Energiemanagement/Pacing
15.1 Definition
15.2 Energiemanagement für Menschen mit ME/CFS
15.3 Unterstützung des Energiemanagements
15.4 Techniken des Energiemanagements
16 Pacing mit einem Herzfrequenzmessgerät
16.1 Evidenz für Stimulation mit einem Herzfrequenzmonitor
16.2 Herzfrequenzgrenze für die Verwendung beim Pacing
16.3 Herzfrequenzvariabilität
16.4 Unterstützung der Health Professionals
17 Bewegung
17.1 Auswirkungen körperlicher Anstrengung auf Menschen mit ME/CFS
17.2 Abgestufte Bewegungstherapie (GET)
17.3 Menschen mit ME/CFS und Sport
17.4 Outcome-Messung
18 Messungen des Outcome
18.1 Outcome-Messungen und Screening-Tools
18.2 ME/CFS-spezifische Outcome-Messungen
18.3 Symptomspezifische Outcome-Messungen
18.3.1 Fatigue/Müdigkeit/Ermüdung
18.3.2 Kognitive Dysfunktion
18.3.3 Schlafstörung
18.3.4 Autonome Funktion und Dysfunktion
18.3.5 Respiratorische Messungen
18.3.6 Schmerz
18.3.7 Messung der körperlichen Funktion
18.3.8 Skalen für die Lebensqualität
Teil 4: Fallstudien
19 Fallstudie: Kim
20 Fallstudie: Oliver
21 Fallstudie: Mo
22 Fallstudie: Ana
23 Fallstudie: Faith
Anhang
Autorinnen
Sachwortverzeichnis
Die Autorinnen sind dankbar, dass sie vor der Veröffentlichung Kommentare und Rückmeldungen von ausgewählten Fachexpert:innen erhalten haben, und sprechen ihnen ihren tiefsten Dank aus:
Dr, Charles Shepherd, MB BS, Medical Adviser, the ME Association,
Dr. Todd E. Davenport, PT, DPT, MPH, OCS, Scientific Advisor to the Workwell Foundation and Professor in the Department of Physical Therapy, University of the Pacific, California,
Andrew Kewley.
Sie danken auch Ben Howell für seinen Beitrag zur Zusammenstellung des Anhangs mit den Medikamenten1. Die spezifischen Erfahrungen von Menschen mit ME/CFS wurden verwendet, um Fallstudien zu erstellen und die klinischen Informationen in jedem Kapitel zu veranschaulichen. Die Autorinnen danken ihnen dafür, dass sie ihre Geschichten zur Verfügung gestellt und uns ihre wertvollen Stimmen verliehen haben.
Die Veröffentlichung dieses Buches wird Health Professionals2 auf der ganzen Welt wichtige Informationen liefern, und wir sind Claire Wilson von Jessica Kingsley Publishers sehr dankbar für die Möglichkeit und ihre Unterstützung bei diesem Prozess.
Abschließend möchten die Autorinnen einen besonderen Dank an die Menschen aussprechen, die mit ME/CFS leben und die uns weiterhin unterstützen, inspirieren und informieren3. Sie setzten ihre Großzügigkeit, ihre Zeit und Energie ein, um zu unserer Forschung beizutragen. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen zu teilen, war für die Arbeit von Physios for ME4 und die Erstellung dieses Buches von unschätzbarem Wert.
Der Anhang mit der Liste der Medikamente ist nicht in der deutschen Ausgabe übertragen. Hier empfehlen wir die Informationen des Bundesamts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfAM): https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelinformationen/Arzneimittel-recherchieren/_node.html
In der Originalausgabe werden gezielt die „physiotherapists“ angesprochen. Da es sich im Buch aber nicht um bestimmte fachbezogene Techniken der Disziplin, sondern um eine Grundlage aller Therapien für Menschen mit ME/CFS, sprechen wir hier mehrheitlich von „Health Professionals“, um alle Therapieberufe anzusprechen. Wenn Techniken und Interventionen der jeweiligen Disziplinen der Health Professionals wie Physiotherapie, Ergotherapie oder Pflege angesprochen werden, sind diese als solche benannt.
Weitere Informationen zur Erkrankung sehen Sie auf der Website der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS: https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/
Physios for ME ist ein Berufsverband aus Physiotherapeuten in Großbritannien, die sich zusammengeschlossen haben mit einem gemeinsamen Interesse für Menschen mit ME/CFS. Ihr Ziel ist es, zu forschen, aufzuklären und sich für die Verbesserung des physiotherapeutischen Managements für Menschen mit ME einzusetzen (https://www.physiosforme.com/)
Myalgische Enzephalomyelitis (ME) oder Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) ist eine lähmende Erkrankung, die zu einer tiefgreifenden Intoleranz gegenüber körperlicher Anstrengung und zu erheblichen Behinderungen führt.
Das Ziel dieses Buches ist es, Health Professionals über ME/CFS zu informieren und aufzuklären, damit sie eine sichere und angemessene Therapie anbieten können. Eine der wichtigsten Prioritäten ist die Verringerung des Risikos, dass die therapeutischen Interventionen unbeabsichtigt negative Auswirkungen auf eine Person mit ME/CFS haben.
Das Buch zielt auch darauf ab, Health Professionals in die Lage zu versetzen, die Qualität der Versorgung von Menschen mit ME/CFS zu verbessern, damit sich Menschen mit ME/CFS sicher fühlen können, wenn sie therapeutischen Rat und Unterstützung suchen.
Dieses Buch richtet sich an alle Health Professionals, unabhängig von ihrem Fachgebiet, denn ME/CFS kann mit Funktionsstörungen in mehreren Systemen einhergehen, darunter neurologische, muskuloskelettale, kardiovaskuläre, endokrine, gastrointestinale und immunologische Beeinträchtigungen. Die Art und der Schweregrad der Symptome können sich von Person zu Person erheblich unterscheiden.
Das charakteristische Merkmal von ME/CFS ist die Symptomverschlimmerung nach einer Anstrengung (Post-exertional Malaise, PEM), bei dem die Anstrengung selbst zusätzliche Symptome und/oder eine Verschlimmerung der aktuellen Symptome verursacht. Die Anstrengung kann körperlich, kognitiv, sensorisch oder emotional sein. Auch gesundheitstherapeutische Interventionen und Interaktionen können ein Auslöser für PEM sein. Deshalb sollten alle Health Professionals ein Bewusstsein für ME/CFS haben und wissen, wie sie ihre therapeutische Praxis anpassen können, um PEM zu vermeiden, unabhängig vom Grund der Intervention. Health Professionals können eine Person mit ME/CFS in jedem Setting behandeln, sei es, um die durch ME/CFS verursachten Symptome direkt zu behandeln, oder um davon unabhängige Gründe für die Therapie.
Dieses Buch ist besonders relevant für Health Professionals, die in den folgenden Einrichtungen arbeiten:
auf ME/CFS spezialisierte Zentren
Long-COVID-Kliniken
Fatigue-Sprechstunden
Muskuloskelettale Therapiedienste
Neurologische Rehabilitation
Einrichtungen der Akutversorgung
Sozialwesen und Sozialdienste
Pädiatrie
Rheumatologie
Schmerzambulanz
Orthopädie
Palliativmedizin
Beatmungspflege
Kardiologie.
Es ist wichtig zu erkennen, dass jede Art von therapeutischer Intervention oder Interaktion unbeabsichtigt eine Verschlimmerung der Symptome einer Person mit ME/CFS verursachen kann.
Dieses Buch ist kein „Behandlungshandbuch“ für ME/CFS. Jeder Interventionsplan für eine Person mit ME/CFS sollte individuell angepasst, überwacht und regelmäßig evaluiert werden. Das vorliegende Buch kann Seite für |11|Seite gelesen oder als Nachschlagewerk verwendet werden.
Teil 1 enthält Informationen über ME/CFS im Allgemeinen, einen kurzen Überblick über häufige Komorbiditäten und Kapitel über spezifische Erkrankungen bei Menschen mit schwerem und sehr schwerem ME/CFS, bei Kindern und Jugendlichen und bei akuten postviralen Zuständen, einschließlich der Diskussion von COVID-19 und Long COVID. (Informieren Sie sich über die S-1-Leitlinie zum Management postviraler Zustände am Beispiel Post-COVID-19 bei Rabady et al., 2023. (Anm. d. Lekt.))
Teil 2 beleuchtet die Schlüsselsymptome von ME/CFS, einschließlich einer Erörterung der aktuellen Evidenzbasis für Management und Therapie. Nicht jedes Symptom wird von jeder Person mit ME/CFS erlebt, so dass dieser Abschnitt ein hilfreicher Bezugspunkt für Symptome sein kann, die Health Professionals begegnen können.
Teil 3 erörtert allgemeine Managementprinzipien für Health Professionals, mit einem Überblick über Evaluations- und Outcome-Messungen und einer eingehenderen Untersuchung von Energiemanagement, Herzfrequenzüberwachung und Bewegung.
Der letzte Abschnitt dieses Buches, Teil 4, enthält praktische Beispiele für verschiedene Fallbeschreibungen von Menschen mit ME/CFS, die zeigen, wie die vermittelten Informationen bei der Anwendung in der Praxis individualisiert werden müssen.
Einige der dem ME/CFS zugrunde liegenden physiologischen Zusammenhänge erfordern ein biochemisches und immunologisches Verständnis, das über den für die meisten Health Professionals erforderlichen Standard hinausgeht. Wo es notwendig war, wurden die Informationen vereinfacht oder gekürzt, um eine möglichst große Relevanz für die direkte Anwendung in der klinischen Praxis zu erreichen. Health Professionals mit Spezialkenntnissen oder Interesse an diesen Bereichen sollten sich mit den Originalreferenzen befassen, um ein tieferes Verständnis zu erlangen.
Wo immer möglich, beruhen die Informationen in diesem Buch ausschließlich auf aktuellen Erkenntnissen, die zur weiteren Analyse und zum besseren Verständnis angemessen kritisch gewürdigt werden. Die Autorinnen haben sich zwar nach Kräften bemüht, ein ausgewogenes Nachschlagewerk zu erstellen, sind sich aber bewusst, dass dieses Buch in Bezug auf die Evidenzbasis einige Einschränkungen aufweist:
Es gibt viele Bereiche, in denen die Evidenzbasis fehlt oder von niedrigem Evidenzlevel ist. Diese begrenzte Forschung bedeutet, dass es immer noch viele „Unbekannte“ in Bezug auf physiologische Prozesse und angemessene Behandlung, einschließlich der gesundheitsbezogenen Therapie, gibt. Mehr qualitativ hochwertige Forschung in allen Bereichen ist dringend erforderlich.
Die Autorinnen führten eine gründliche Literaturrecherche durch, werteten die ermittelten Belege kritisch aus und holten externe Gutachten ein, um eine ausgewogene und umfassende Darstellung der Evidenzbasis zu gewährleisten. Es wird jedoch eingeräumt, dass bei der Auswahl der Studien und dem Niveau der Evaluation immer ein Risiko der Verzerrung (Bias) besteht.
Die Evidenzbasis wird sich bis zur Veröffentlichung dieses Buches und darüber hinaus weiterentwickeln. Health Professionals werden daher ermutigt, sich beruflich weiterzuentwickeln, indem sie Literaturrecherchen durchführen, um die neuesten Forschungsergebnisse zu erkennen, die für ihren Arbeitsbereich und ihre Klient:innen und Patient:innen relevant sind.
Daher mussten die Autorinnen ihre eigene klinische Erfahrung nutzen, zusammen mit jahrelangem Feedback von Menschen mit ME/CFS. Health Professionals sind für ihre eigene klinische Praxis verantwortlich und müssen ihre eigenen klinischen Argumentationsfähigkeiten nutzen, wenn sie eine Intervention in der Praxis anwenden. Es ist wichtig zu erkennen, dass das Management einer Person mit |12|ME/CFS individuell gestaltet, überwacht und regelmäßig evaluiert werden sollte.
Schließlich wird in den Forschungsberichten nicht immer die Lebenserfahrung von Menschen mit ME/CFS erfasst oder wiedergegeben. Um dieses Problem anzugehen, wird jedes Kapitel persönliche Kommentare von Menschen mit ME/CFS enthalten. Ihre Geschichten verleihen den objektiven klinischen Informationen Relevanz und erinnern daran, dass hinter der komplexen Physiologie und den vielfältigen systemischen Funktionsstörungen einzelne Menschen stehen, die mit den verheerenden Auswirkungen dieser Erkrankung konfrontiert sind.
Jede Person wird dann am Ende des Buches mit Evaluations- und Behandlungsnotizen aus der Sicht des behandelnden Health Professional vorgestellt, um zu zeigen, wie die Informationen in diesem Buch in der klinischen Praxis angewendet werden können.
Auch wenn die Namen und Informationen zur Identifizierung geändert wurden, handelt es sich um echte Menschen, die mit ME/CFS leben:
Kim, 56 Jahre, leidet seit über dreißig Jahren in unterschiedlichem Maße an ME/CFS. Der Schweregrad ihrer Symptome schwankte zwischen leicht und mittelschwer, wurde aber nach der COVID-19-Infektion als schweres ME/CFS diagnostiziert.
Oliver, 14 Jahre, hat ME/CFS, seit er 12 Jahre alt ist. Er erholte sich nie vollständig von einer Virusinfektion, erlitt dann einen schweren Rückfall, nachdem er Fußball gespielt hatte, und kann nun nicht mehr zur Schule gehen.
Mo, 37 Jahre, hat seit seiner Infektion mit COVID-19 vor über einem Jahr mit starker Fatigue, kognitiven Störungen und Ganzkörperschmerzen zu kämpfen.
Ana, 53 Jahre, leidet seit über zwanzig Jahren an schwerem oder sehr schwerem ME/CFS. Sie erleidet regelmäßig Schübe, die sie vollständig ans Bett fesseln und eine ständige Pflege für alle Aspekte des täglichen Lebens erforderlich machen.
Faith, 42 Jahre, leidet seit zehn Jahren nach einer Virusinfektion an ME/CFS, mit Symptomen, die zwischen moderat und schwer schwanken. Faith muss ihr Energiemanagement mit den Anforderungen des Familienlebens in Einklang bringen.
Dieses Buch wurde von vier Physiotherapeutinnen aus Großbritannien geschrieben, die 2019 die Interessenvertretungs- und Bildungsgruppe „Physios for ME“ gegründet haben. Gemeinsam verfügt das Team über mehr als 80 Jahre Erfahrung in der Physiotherapie und hat mit Menschen mit ME/CFS und akuten postviralen Erkrankungen sowohl klinisch als auch auf persönlicher Ebene gearbeitet.5
Das Team verfügt über Erfahrungen und Qualifikationen in den Bereichen Physiotherapie, Sport und Bewegungswissenschaft, Forschung, Lehre, Journalismus und Medienkommunikation. Ihr Bestreben ist es, die therapeutische Praxis für Menschen mit ME/CFS zu verbessern und die Vorteile, die diese Berufe zu bieten hat, durch qualitativ hochwertige Forschung zu ermitteln.
Rabady, S., Hoffmann, K., Costa, U., Aigner, M., Altenberger, J., Brose, M., Denk-Linnert, D.-M., Gruber, S., Götzinger, F., Helbok, R., Hüfner, K., Koczulla, R., Kurz, K., Müller, C.A., Struhal, W., Rittmannsberger, H., Lamprecht, B., Leis, S., Löffler, J., … Zwick, R.-H. (2023). Leitlinie S1 für das Management postviraler Zustände am Beispiel Post-COVID-19. Wiener Klinische Wochenschrift, 135(Suppl 4), 525–598.
Die fachlichen Techniken der Physiotherapie stehen in diesem Buch nicht im Vordergrund, sondern die übergreifenden Interventionen wie Beratung, Coaching und Unterstützung von Menschen mit ME/CFS, die für alle Berufsangehörigen der Health Professionals interessant sind, die mit Menschen mit ME/CFS arbeiten.
Kapitel 1 gibt einen allgemeinen Überblick über ME/CFS, einschließlich der derzeit bekannten Ätiologie von ME/CFS, der Merkmale der Hauptsymptome, der Schwierigkeiten einer Diagnosestellung und der Überlegungen zur therapeutischen Behandlung.
Kapitel 2 gibt einen Überblick über die wichtigsten Komorbiditäten, die mit ME/CFS assoziiert sind. Die Liste ist alphabetisch geordnet und ist nicht erschöpfend. Diskutiert werden die Bedingungen bei Endometriose, Fibromyalgie, Hypermobilitätssyndromen, Reizdarmsyndrom, Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS), Migräne, posturalem orthostatischen Tachykardie-Syndrom (POTS), Komorbiditäten des Rückenmarks und des Hirnstamms, temporomandibulären Dysfunktionen (TMD).
Kapitel 3 beschreibt die Art von schwerem und sehr schwerem ME/CFS und die wichtigsten Anpassungen der Praxis, die Health Professionals berücksichtigen müssen, um die Verschlimmerung der Symptome zu minimieren.
Kapitel 4 erörtert die Diagnosekriterien, die Auswirkungen auf die Ausbildung und die Behandlungsmöglichkeiten sowie die Art und Weise, wie sich ME/CFS bei Kindern und Jugendlichen darstellt.
Kapitel 5 erörtert das historische Auftreten von ME/CFS nach Virusinfektionen und Pandemien, einschließlich COVID-19, die Art der postviralen Komplikationen wie postvirale Fatigue und Long COVID, und wie man eine Person mit diesen Erkrankungen beurteilt und behandelt.
Zweck des Kapitels
Dieses Kapitel gibt einen allgemeinen Überblick über ME/CFS, einschließlich der derzeit bekannten Ätiologie von ME/CFS, der Merkmale der Hauptsymptome, der Schwierigkeiten einer Diagnosestellung und der Überlegungen zur therapeutischen Behandlung.
Myalgische Enzephalomyelitis (ME) oder Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) ist eine chronische multisystemische Erkrankung (Bateman et al., 2021), die schwerwiegend und systemisch ist und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt (Institute of Medicine, 2015)6. ME/CFS kann sich stärker auf die Funktion und die Lebensqualität auswirken als andere chronische Erkrankungen wie Herzkrankheiten, Osteoarthritis, rheumatoide Arthritis, Diabetes und Krebs (Nacul, Lacerda, Campion et al., 2011). ME/CFS kann eine Person daran hindern, zu arbeiten oder zur Schule zu gehen, Aktivitäten des täglichen Lebens selbstständig auszuführen oder das Haus zu verlassen, wobei manche Menschen vollständig ans Bett gefesselt sind. Dennoch gibt es nach wie vor Widersprüche und Unsicherheiten bei der Diagnose und Behandlung der Krankheit in allen medizinischen und therapeutischen Berufen (Shepherd & Chaudhuri, 2019).
ME steht für „Myalgische Enzephalomyelitis“, ein Begriff, der erstmals 1956 eingeführt wurde (Lindan, 1956), um eine neu entdeckte Erkrankung mit Symptomen wie starke Müdigkeit und Muskelschmerzen zu beschreiben, die oft jahrelang anhielten und häufig in Schüben auftraten. „Myalgisch“ bezieht sich auf die typischen Muskelsymptome, und „Enzephalomyelitis“ beschreibt eine Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks (Shepherd & Chaudhuri, 2019). Da die Enzephalomyelitis nicht bei allen Menschen mit ME/CFS ein gesicherter pathologischer Prozess ist, wurde auch vorgeschlagen, den Begriff „Enzephalopathie“ zu verwenden, um eine signifikante Störung der Gehirnfunktion zu bezeichnen (Lindan, 1956).
Die alternative Bezeichnung „chronic fatigue syndrome“ (CFS) (Chronisches Fatigue-Syndrom) wurde 1988 eingeführt (Holmes et al., 1988), um zunächst die anhaltende Müdigkeit infolge des Epstein-Barr-Virus zu beschreiben, wurde dann aber erweitert, um die Art der chronischen Müdigkeit (Fatigue) zu beschreiben, die denen von ME ähnelt. Der Begriff „Chronisches Fatigue-Syndrom“ (CFS) versucht nicht, die Symptome einer bestimmten Ursache zuzuordnen, aber er wurde stark kritisiert, weil er ein breites Spektrum komplexer Symptome und multisystemischer Dysfunktionen auf das allgemeine Problem der „Müdigkeit“ reduziert (Shepherd & Chaudhuri, 2019). Dies führt dazu, dass CFS in der Forschung und in der klinischen Praxis häufig mit dem Symptom der „chronischen Müdigkeit“ verwechselt wird, das mit einer Vielzahl von nicht verwand|16|ten Krankheiten und Zuständen in Verbindung gebracht werden kann. Weitere Erörterungen zum Thema Müdigkeit/Fatigue finden sich in Kapitel 2, und Fragen zu den Diagnosekriterien werden weiter unten in diesem Kapitel ausführlich behandelt.
Der Begriff „post viral fatigue syndrome“ (PVFS) (postvirale Fatigue) wurde in den 1980er-Jahren verwendet, um Symptome zu beschreiben, die unmittelbar nach einer Virusinfektion auftreten (Jenkins, 1991), und kann auch auf Probleme nach einer akuten Infektion angewendet werden (Shepherd & Chaudhuri, 2019). Die postvirale Fatigue wird in Kapitel 1 ausführlicher behandelt. Da ME/CFS auch auf andere Ursachen als eine Virusinfektion zurückgeführt werden kann, trifft der Begriff „postvirale Fatigue“ nicht auf jede Person zu.
Im Jahr 2015 wurde ein weiterer Begriff entwickelt (Institute of Medicine, 2015), die „systemic exertion intolerance disease“ (SEID), das auf Deutsch am besten mit „systemische Unverträglichkeit von Anstrengung“ übersetzt werden kann (Anm. d. Lekt.). Er hebt die Belastungsintoleranz hervor, die ein charakteristisches Merkmal der Krankheit ist. Der Begriff wurde jedoch auch dafür kritisiert, dass er die Rolle des Immunsystems und die Funktionsstörung des zentralen Nervensystems nicht erfasst, und die für SEID vorgeschlagenen Diagnosekriterien waren nicht exklusiv genug, um ME/CFS von anderen Erkrankungen wie schweren depressiven Störungen und anderen medizinischen Erkrankungen zu unterscheiden (Jason et al., 2015).
Die Debatte über eine korrekte Bezeichnung für diese Erkrankung ist noch nicht abgeschlossen (Shepherd & Chaudhuri, 2019), da immer mehr Evidenzen für die Pathophysiologie beschrieben werden. Während einige Forscher:innen vorgeschlagen haben, dass ME und CFS zwei verschiedene klinische Einheiten mit teilweisen Überschneidungen sind (Twisk, 2015), wird in diesem Buch der Einfachheit halber der Begriff „ME/CFS“ verwendet, um die Terminologie widerzuspiegeln, die derzeit vom National Institute for Health and Care Excellence (NICE, 2021a) in Großbritannien und den Centers for Disease Control and Prevention (CDC, 2022) in den Vereinigten Staaten verwendet wird und die auch die am häufigsten verwendete Terminologie in den Evidenzquellen ist. Aufgrund der Vielzahl von Bezeichnungen, die zur Beschreibung dieser Erkrankung verwendet werden, müssen bei der Literaturrecherche nach Evidenzen alle Begriffe verwendet werden, um sicherzustellen, dass die Suche die Evidenzquellen vollständig erfasst.
Bislang konnte keine Ursache für ME/CFS gefunden werden (Shepherd & Chaudhuri, 2019). Ein Hauptgrund für die Unklarheit über die Erkrankung ist die begrenzte Menge an qualitativ hochwertiger Forschung. Eine Überprüfung der Forschungsfinanzierung in den Vereinigten Staaten ergab, dass ME/CFS, im Verhältnis zum Umfang der Krankheitslast, die am stärksten unterfinanzierte Erkrankung ist (Mirin et al., 2020). Bemerkenswert ist, dass ME/CFS häufiger bei Frauen auftritt und dass bei Erkrankungen, von denen hauptsächlich ein Geschlecht betroffen ist, Männer bei der Forschungsfinanzierung bevorzugt werden (Mirin, 2021).
Nach dem derzeitigen Stand der Forschung ist eine Erklärung für die Entwicklung von ME/CFS, dass eine Person eine Prädisposition für die Entwicklung der Krankheit hat, einem auslösenden Ereignis ausgesetzt ist und ME/CFS eine Folge der sich fortsetzenden pathophysiologischen Prozesse ist (Shepherd & Chaudhuri, 2019).
Da die meisten auslösenden Ereignisse, wie z. B. eine Infektion, von der Allgemeinbevölkerung erlebt werden, ohne dass sich ein ME/CFS entwickelt, wird angenommen, dass es eine besondere Veranlagung geben muss, damit eine Person die Krankheit entwickelt (Shepherd & Chaudhuri, 2019), obwohl bisher keine übergreifenden Faktoren identifiziert wurden. Ge|17|netische Studien haben Evidenzen für eine Vererbung der Prädisposition für ME/CFS gezeigt, wobei das Risiko, die Krankheit zu entwickeln, bei Verwandten ersten, zweiten und dritten Grades ansteigt (Albright et al., 2011). Eine erhöhte Häufigkeit spezifischer genetischer Varianten wurde auch in Bezug auf das Immun-, Hormon- und Stoffwechselsystem festgestellt (Perez et al., 2019). Allerdings haben Studien bisher keine durchgängig signifikanten Zusammenhänge zwischen Genetik und dem Risiko, an ME/CFS zu erkranken, aufgezeigt (Dibble et al., 2020).
Weitere Faktoren, die auf eine Prädisposition hindeuten könnten, wurden in einer prospektiven epidemiologischen Studie an Studierenden in den Vereinigten Staaten von Amerika gefunden. Bei Personen mit bereits bestehenden gastrointestinalen Symptomen wie Magenschmerzen, Blähungen und Reizdarm sowie abnorm niedrigen Werten bestimmter Immunmarker war die Wahrscheinlichkeit, nach einer Mononukleose-Infektion an ME/CFS zu erkranken, um 80 Prozent erhöht (Jason et al., 2022).
Bisher wurde noch kein einzelnes genetisches Merkmal gefunden, das jedem Fall von ME/CFS zugeordnet werden kann, aber dieser Bereich der Forschung wird weiter erforscht. Die weltweit größte genetische ME/CFS-Studie, „Decode ME“, startete 2021 in Großbritannien und zielt darauf ab, DNA-Proben von 20 000 Menschen mit ME/CFS zu sammeln, damit die genetischen Ursachen weiter erforscht werden können.
Eines der häufigsten auslösenden Ereignisse für ME/CFS ist eine Infektion. Es wurde jedoch keine einzelne Infektion nachgewiesen, was darauf hindeutet, dass die zugrundeliegende Ursache eher in der Immunreaktion als in einem bestimmten Infektionserreger liegen könnte. Bei der Art der Infektion kann es sich um eine virale, bakterielle oder parasitäre Infektion handeln (Komaroff & Bateman, 2021). So wurden in einer 2010 in Norwegen durchgeführten Studie Epstein-Barr- und Enterovirus-Infektionen bei 77 Prozent von 873 Menschen mit ME/CFS als Auslöser angegeben (Naess et al., 2010). Das Potenzial von ME/CFS-Fällen bei Masseninfektionen wie viralen Pandemien wird im späteren Verlauf des Kapitels erörtert. Obwohl Infektionen die am häufigsten berichtete Ursache für ME/CFS sind, wurden auch andere auslösende Ereignisse identifiziert (Capelli et al., 2010; Dietert & Dietert, 2008; Gherardi et al., 2019; Skufca et al., 2017), darunter:
Exposition gegenüber Giftstoffen, chemischen Substanzen oder Pestiziden
Frühkindliche Risiken für das Immunsystem wie die „developmental immunotoxidity“ (DIT) (entwicklungsbezogene Immunotoxizität)
Impfungen
Exposition mit anderen signifikanten Stressfaktoren für das Nervensystem.
Aufgrund der unterschiedlichen Diagnosen in der Forschung ist es jedoch nach wie vor schwierig, eindeutige Schlussfolgerungen zu den auslösenden Ereignissen zu ziehen.
Es zeichnen sich viele Theorien ab, die versuchen, die fortlaufenden Prozesse zu erklären, die im Rahmen von ME/CFS auftreten, und die auf Anomalien beruhen, die im zentralen und autonomen Nervensystem, im Stoffwechsel und im Immunsystem gefunden wurden (Komaroff, 2019). Jede Theorie kann die gesamte Erfahrung von ME/CFS nur teilweise erklären, und es ist möglich, dass es Überschneidungen gibt. Zu den Theorien gehören:
Wiederholte Belastung durch einen Stressor wie eine Infektion oder Chemikalien, die zu einer anhaltenden Stimulation und Überempfindlichkeit des Nervensystems führt (Jason et al., 2009)
Modell der Neuroimmunologie, bei dem eine chronische Immunaktivierung zu einer chronischen Aktivierung von immun-entzündlichen Signalwegen führt, die mitochondriale Schäden und oxidativen Stress verursachen (Morris & Maes, 2013)
|18|Funktionsstörung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA), einem System zur Aufrechterhaltung der Homöostase als Reaktion auf Stressreize (Papadopoulos & Cleare, 2012)
Anhaltende Präsenz von Krankheitserregern, die den Stoffwechsel, die Genexpression und die Immunität beeinträchtigen (Proal & Marshall, 2018).
Die Prävalenz von ME/CFS ist aufgrund der unterschiedlichen Diagnosekriterien schwer zu bestimmen (Lim et al., 2020). Die Schätzungen reichen von 0,42 Prozent der Bevölkerung im Jahr 1999 (Jason et al., 1999) bis zu 0,89 Prozent in einem internationalen systematischen Review von Lim und Kolleg:innen (2020), was 8 von 1000 Menschen entspricht. ME/CFS betrifft eher Frauen, mit einer Wahrscheinlichkeit von 3:1 im Vergleich zu Männern (Bateman et al., 2021). Die Geschlechtschromosomen und die endokrine Funktion scheinen einen signifikanten Einfluss auf das Auftreten von ME/CFS zu haben (Thomas et al., 2022), und es wurden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Expression von microRNA in Bezug auf körperliche Belastung bei Menschen mit ME/CFS festgestellt (Cheema et al., 2020). Es scheint einen Peak bei Menschen im Alter von 11 bis 19 Jahren und 33 bis 39 Jahren zu geben (Bateman et al., 2021; Rowe et al., 2017). Die spezifischen Überlegungen in Bezug auf ME/CFS bei Kindern werden in Kapitel 4 weiter erörtert.
ME/CFS in der älteren Bevölkerung ist eine Kohorte, die in der Forschung unterrepräsentiert ist. Eine Studie verglich Menschen mit ME/CFS im Alter von über 50 Jahren mit Menschen im Alter von 16 bis 29 Jahren und stellte fest, dass die älteren Erwachsenen ein höheres Maß an Fatigue und autonomer Dysfunktion aufwiesen, was möglicherweise auf die physiologischen Auswirkungen des Alterns zurückzuführen ist (Lewis et al., 2013). Widersprüchliche Untersuchungen haben ergeben, dass ältere Erwachsene möglicherweise eine bessere psychische Gesundheit und weniger schwere autonome, immunologische und neuroendokrine Symptome aufweisen (Kidd et al., 2016). In keiner dieser Studien wurden jedoch diagnostische Kriterien angesetzt, bei denen das charakteristische Symptom von ME/CFS, die Symptomverschlimmerung nach der Anstrengung (Post-exertional Malaise, PEM), für die Diagnose entscheidend ist. In Anbetracht der Tatsache, dass Müdigkeit bereits eine häufige Beschwerde in älteren Altersgruppen ist (Chou, 2013), ist ein ausschließliches diagnostisches Kriterium für jede zukünftige Forschung unerlässlich, um das Vorhandensein von ME/CFS bei älteren Erwachsenen untersuchen zu können.
Über ME/CFS wird weltweit und bei allen Ethnien berichtet (Shepherd & Chaudhuri, 2019). Es hat sich gezeigt, dass einige People of Color und ethnische Minderheiten eine höhere Prävalenz von ME/CFS haben als die weiße Bevölkerung (Bhui et al., 2011; Dinos et al., 2009). People of Color und ethnische Minderheiten erhalten auch seltener eine formelle Diagnose, was darauf hindeutet, dass es Barrieren für die Diagnose gibt, wie z. B. mangelnde Aufmerksamkeit, religiöse Überzeugungen, Sprache und die mögliche rassistische Voreingenommenheit des medizinischen Personals (Bayliss et al., 2014). Vielen Studien mangelt es jedoch an der Spezifität der Diagnose, was zu den im Abschnitt über die Diagnose in diesem Kapitel erörterten Problemen führt.
ME/CFS verursacht eine erhebliche Funktionsbeeinträchtigung, wobei die Symptome in verschiedenen Systemen auftreten, darunter neurologische, muskuläre, kardiovaskuläre, endokrine, gastrointestinale und immunologische (Bateman et al., 2021; Carruthers et al., 2011). Weitere Schlüsselsymptome von |19|ME/CFS werden in den einzelnen Kapiteln dieses Buches erörtert.
Das charakteristische Merkmal von ME/CFS ist das Auftreten zusätzlicher Symptome oder eine Verschlimmerung bestehender Symptome aufgrund von körperlicher, kognitiver, sensorischer oder emotionaler Belastung (Bateman et al., 2021). Dieses Merkmal wird in verschiedenen diagnostischen Kriterien als „post exertional malaise“ (PEM), „post exertional neuroimmune exhaustion“ (PENE) oder „post exertional symptom exacerbation“ (PESE) bezeichnet (Chu et al., 2018). Der Einfachheit halber wird in diesem Buch der Begriff „post exertional malaise“ (PEM) (im Deutschen mit „Post-exertional Malaise“ übersetzt und hier durchgehend als „Symptomverschlimmerung nach Anstrengung“ bezeichnet; Anm. d. Lekt.) verwendet. Das Verständnis von PEM ist für Health Professionals von vorrangiger Bedeutung, da die meisten therapeutischen Maßnahmen, wie z. B. Bewegung, wahrscheinlich einen Auslöser darstellen und daher eine Verschlimmerung der Symptome verursachen können. Zu verstehen, wie man PEM erkennt, handhabt und vermeidet, ist für Health Professionals, die mit Menschen mit ME/CFS arbeiten, von wesentlicher Bedeutung und wird in Teil 2 des Buches ausführlich behandelt.
Zu den weiteren Symptomen, die in den verschiedenen Diagnosekriterien für ME/CFS genannt werden, gehören unerklärliche, anhaltende Müdigkeit, die das tägliche Leben erheblich beeinträchtigt, Schmerzen, nicht erholsamer Schlaf, kognitive Störungen, Störungen des autonomen Nervensystems und orthostatische Intoleranz (Bateman et al., 2021). Das Spektrum der vielfältigen Symptome, die mit ME/CFS verbunden sind, wird durch die verschiedenen in diesem Kapitel besprochenen Diagnosekriterien deutlich.
Es gibt viele Komorbiditäten bei ME/CFS, die in Kapitel 2 ausführlicher behandelt werden. Dazu gehören Endometriose, Fibromyalgie, Hypermobilitätssyndrome, Reizdarmsyndrom, Mastzellen-Aktivierungssyndrom (MCAS), Migräne, posturales orthostatisches Tachykardie-Syndrom (POTS), Komorbiditäten des Rückenmarks und des Hirnstamms, temporomandibuläre Dysfunktionen (TMD).
Derzeit gibt es keine allgemein anerkannten diagnostischen Tests oder Biomarker für ME/CFS (Nacul et al., 2020), und in der Forschung und der klinischen Praxis werden mehr als zwanzig verschiedene Diagnosekriterien verwendet (Nacul et al., 2019), ohne dass Einigkeit darüber besteht, welche davon allgemein verwendet werden sollten (Shepherd & Chaudhuri, 2019). Dies macht eine genaue Diagnose sehr schwierig. Das breite Spektrum an Symptomen kann auch bei vielen anderen Erkrankungen auftreten, so dass es wichtig ist, dass eine Person eine gründliche medizinische Untersuchung durchlaufen hat, um Differenzialdiagnosen auszuschließen. Eine Liste von Erkrankungen, bei denen chronische Fatigue häufig als Symptom auftritt, findet sich in Kapitel 2.
Wie Tabelle 1-1 zeigt, unterscheiden sich die einzelnen Diagnosekriterien darin, welche Symptome für die Diagnose wesentlich sind. Die Inkonsistenz bei der Kategorisierung oder Priorisierung der Symptome macht einen Vergleich zwischen den Kriterien sehr schwierig. Es ist nicht die Aufgabe von Health Professionals, eine medizinische Diagnose von ME/CFS zu stellen; es ist jedoch hilfreich, die Probleme im Zusammenhang mit der Diagnostik zu verstehen, um die Evidenzquellen kompetent beurteilen zu können.
|20|Tabelle 1-1: Diagnostische Kriterien für ME/CFS
Symptome
Kriterien des Institute of Medicine (IOM)/National Academy of Medicine (NAM) (2015) (Centers of Disease Control and Prevention, 2015)
Internationale Konsens-Kriterien (2011) (Carruthers et al., 2011)
Kanadische klinische Kriterien (2003) (Carruthers et al., 2003)
CDC-Kriterien (Fukuda) (1994) (Fukuda et al., 1994)
Oxford-Kriterien (1991) (Sharpe et al., 1991)
Zeitrahmen der Symptome
Mindestens sechs Monate
Akute Phase: weniger als sechs Monate
Chronische Phase: mehr als sechs Monate
Mindestens sechs Monate bei Erwachsenen
Mindestens drei Monate bei Kindern
Mindestens sechs Monate
Mindestens sechs Monate
Symptomverschlimmerung nach der Anstrengung (PEM)
Essenziell
Essenziell
Essenziell
Nicht essenziell. Eingruppierung in „vier oder mehr“ Symptome erforderlich.
Nicht enthalten
Fatigue
Essenziell. Schwerwiegend, neu oder definitiv auftretend, nicht das Ergebnis anhaltender Belastung und nicht wesentlich durch Ruhe gelindert.
Essenziell
Essenziell. Erheblicher Grad an neu auftretender, unerklärlicher, anhaltender oder wiederkehrender körperlicher und geistiger Fatigue, die das Aktivitätsniveau reduziert.
Essenziell. Fatigue ist nicht auf andauernde Anstrengung oder andere medizinische Gründe zurückzuführen und beeinträchtigt die täglichen Aktivitäten und die Arbeitsfähigkeit erheblich.
Essenziell. Behinderung und Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit.
Schlafstörung
Essenziell. Abschnitt B: Eingruppierung in „eine von bis mindestens drei von vier Kategorien“ erforderlich.
Nicht essenziell
Essenziell
Nicht essenziell. Eingruppierung in „vier oder mehr“ Symptome erforderlich.
Nicht essenziell. Kann vorhanden sein.
|21|Schmerz
Nicht essenziell. Muskelschmerzen, Schmerzen in Gelenken ohne Schwellung oder Rötung, Kopfschmerzen
Nicht essenziell. Abschnitt B: Eingruppierung in „eine bis mindestens drei von vier Kategorien“ erforderlich.
Essenziell. Schmerzen in Muskeln und/oder Gelenken, weit verbreitet.
Nicht essenziell. Eingruppierung in vier oder mehr Symptome.
Nicht essenziell. Kann vorhanden sein
Kognitive Beeinträchtigungen
Nicht unbedingt erforderlich, muss aber vorhanden sein, wenn keine orthostatische Intoleranz vorliegt
Beeinträchtigung des Denkens, des Gedächtnisses, der Exekutivfunktion und der Informationsverarbeitung
Aufmerksamkeitsdefizite und beeinträchtigte psychomotorische Funktionen
Nicht essenziell. Abschnitt B: Eingruppierung in „eine bis mindestens drei von vier Kategorien“ erforderlich.
Beeinträchtigte Verarbeitung
Beeinträchtigtes Kurzzeitgedächtnis
Nicht unbedingt erforderlich. Muss zwei oder mehr Symptome aufweisen.
Eingruppierung mit neurologischen Symptomen: Verwirrung, Konzentrationsstörungen, Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses, Desorientierung, Informationsverarbeitung, Kategorisierung und Wortfindungsstörungen
Nicht essenziell. Eingruppierung in vier oder mehr Symptomen
Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses
Beeinträchtigte Konzentration
Nicht enthalten
|22|Neurologische Beeinträchtigungen
Nicht essenziell. Sehstörungen, Empfindlichkeit gegenüber Licht und Schall
Nicht essenziell. Abschnitt B: Eingruppierung in „eine bis mindestens drei von vier Kategorien“ erforderlich.
Neurosensorik und Wahrnehmungsfähigkeit
Motorische Beeinträchtigungen
Müssen zwei oder mehr Störungen enthalten, gruppiert mit kognitiven Beeinträchtigungen: Wahrnehmungs- und Empfindungsstörungen, Ataxie, Muskelschwäche, Faszikulationen, Photophobie, Überempfindlichkeit gegen Lärm
Nicht enthalten
Nicht enthalten
Autonome Dysfunktion
Nicht unbedingt essenziell, muss aber vorhanden sein, wenn keine kognitive Funktionsstörung vorliegt
Orthostatische Intoleranz
Orthostatische Symptome: Benommenheit, Ohnmacht, verstärkte Müdigkeit, kognitive Verschlechterung, Kopfschmerzen oder Übelkeit
Nicht essenziell. Abschnitt D: eine aus dieser Kategorie:
Orthostatische Intoleranz
Herzklopfen mit oder ohne Herzrhythmusstörungen
Benommenheit
Anstrengungsbedingte Dyspnoe
Nicht essenziell. Mindestens ein Symptom aus zwei der mit a, b und c gekennzeichneten Kategorien:
Kategorie a: Orthostatische Intoleranz, Schwindelgefühle, extreme Blässe
Übelkeit, Reizdarmsyndrom, Blasenfunktionsstörung Herzklopfen mit oder ohne Herzrhythmusstörungen
Nicht enthalten
Nicht enthalten
|23|Neuroendokrine Manifestationen
Nicht essenziell. Schüttelfrost oder nächtliche Schweißausbrüche
Nicht essenziell. Abschnitt D: eine aus dieser Kategorie:
Verlust der thermostatischen Stabilität
Nicht essenziell. Mindestens ein Symptom aus zwei der mit a, b und c gekennzeichneten Kategorien:
Kategorie b: Verlust der thermostatischen Stabilität
Intoleranz gegenüber extremer Hitze und Kälte, starke Gewichtsveränderung
Nicht enthalten
Nicht enthalten
Immunologische Manifestationen
Nicht essenziell
Geschwollene oder empfindliche Lymphknoten am Hals oder in der Achselhöhle
Häufige oder wiederkehrende Halsentzündungen
Allergien oder Empfindlichkeiten gegenüber Lebensmitteln, Gerüchen, Chemikalien, Medikamenten
Nicht essenziell. Abschnitt C: eine bis mindestens drei von fünf Kategorien.
Grippeähnliche Symptome, Anfälligkeit für virale Infektionen, Empfindlichkeiten gegenüber Lebensmitteln
Nicht essenziell
Mindestens ein Symptom aus zwei der mit a, b und c gekennzeichneten Kategorien:
Kategorie c: Empfindliche Lymphknoten
Wiederkehrende Halsschmerzen
Wiederkehrende grippeähnliche Symptome
Allgemeines Unwohlsein
Neue Empfindlichkeiten gegenüber Nahrungsmitteln, Medikamenten und/oder Chemikalien
Nicht essenziell
Eingruppiert in „vier oder mehr“ Symptome erforderlich
Empfindliche Lymphknoten
Häufige oder immer wiederkehrend e Halsentzündungen
Nicht enthalten
Zu den Kritikpunkten an den Diagnosekriterien gehört, dass man sich bei der Diagnose zu sehr auf eine subjektive Anamnese verlässt und mögliche Untergruppen der Erkrankung nur begrenzt berücksichtigt werden (Nacul et al., 2020). Die mangelnde Einheitlichkeit der in der Forschung verwendeten Diagnosekriterien bedeutet, dass viele Forschungsergebnisse nur schwer vergleichbar und nicht zuverlässig sind (Nacul et al., 2020). „Müdigkeit“ ist ein Symptom, das bei einer Vielzahl von Krankheiten auftritt (siehe Kapitel 2), so dass einige Diagnosekriterien fälschlicherweise auch Personen mit |24|nicht näher spezifizierter chronischer Fatigue einschließen können, wodurch die Gefahr besteht, dass die Ergebnisse von Studien verallgemeinert werden (Nacul et al., 2019).
Ein Symptom, das als Kardinalsymptom und diagnostisches Schlüsselmerkmal beschrieben wird, ist PEM (Carruthers et al., 2011; Shepherd & Chaudhuri, 2019). Dieses Symptom wird in Kapitel 2 behandelt. Wenn die Diagnosekriterien das PEM nicht als wesentliches Merkmal enthalten, besteht die Gefahr, dass Menschen, die nicht an ME/CFS leiden, in die Daten aufgenommen werden (Baraniuk, 2017). In einer Studie wurde beispielsweise das Schlafverhalten von Personen mit der Diagnose „Chronisches Fatigue-Syndrom“ anhand der Fukuda-Kriterien gemessen, die PEM nicht als wesentlich einstufen. Von den 343 untersuchten Personen wiesen 30,3 Prozent eine primäre Schlafstörung auf, die ihre Diagnose erklären könnte (Gotts et al., 2013). Eine andere Studie (Thapaliya, 2022) untersuchte das Volumen des Hippocampus und verglich Personen, die nach den Fukuda-Kriterien und den ICC-Kriterien, die PEM einschließen, diagnostiziert wurden, und fand signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.
Einem Bericht zufolge würden von 15 Personen, die nach den Oxford-Kriterien diagnostiziert werden, 14 die Anforderungen der kanadischen Kriterien nicht erfüllen (Nacul et al., 2019). Infolgedessen wurde empfohlen, die Oxford-Kriterien „in Rente“ zu schicken (Smith et al., 2014). Um die Wirksamkeit einer Behandlung zu bestimmen, müssen Health Professionals in der Lage sein, die Evidenzbasis zu beurteilen und sicher sein, dass die Studienteilnehmer:innen repräsentativ für die relevante Population sind. Ein systematischer Review (Wormgoor & Rodenburg, 2021) untersuchte randomisierte kontrollierte Studien (RCTs), die in den letzten zwei Jahrzehnten veröffentlicht wurden und die Interventionen von Health Professionals bewerteten. Er teilte die Studien in Gruppen ein, je nachdem, ob PEM in den Diagnosekriterien enthalten war oder nicht. Von den 18 RCTs verwendete nur eine Studie Kriterien, die PEM als unerlässlich einstuften, 14 Studien verwendeten Kriterien, die PEM als fakultativ einstuften, und drei Studien verwendeten Kriterien, die PEM überhaupt nicht berücksichtigten. Die Überprüfung ergab, dass alle positiven Interventionseffekte abnahmen, wenn die Kriterien spezifischer wurden, und kam zu dem Schluss, dass es keine Belege für die Wirksamkeit einer therapeutischen Intervention gab, wenn PEM als wesentliches Diagnosekriterium verwendet wurde.
Die Diagnose basiert auf einer subjektiven Anamnese, aber viele Symptome von ME/CFS können als normale akute Reaktion auf eine Infektion auftreten und Tage oder Wochen andauern (Shepherd & Chaudhuri, 2019) oder durch eine beliebige Anzahl anderer Erkrankungen verursacht werden. Ohne Tests oder Marker basiert die Diagnose auf einem Ausschlussverfahren.
Der empfohlene Zeitrahmen für die Diagnose variiert weltweit. In Großbritannien empfiehlt das National Institute of Health and Care Excellence (NICE, 2021a), dass ME/CFS eine Verdachtsdiagnose sein könnte, wenn die Symptome Fatigue, PEM, nicht erholsamer Schlaf und kognitive Schwierigkeiten bei Erwachsenen länger als sechs Wochen und bei Kindern länger als vier Wochen anhalten und andere Erkrankungen, die ähnliche Symptome verursachen können, untersucht und ausgeschlossen wurden, während in den USA die Centers for Disease Control and Prevention (CDC, 2018) einen Zeitrahmen von sechs Monaten angeben.
Obwohl diese Zeitspannen als Empfehlung gelten, müssen viele Menschen viel länger auf eine offizielle Diagnose warten. So führte eine britische Wohltätigkeitsorganisation eine Umfrage durch, bei der mehr als 60 Prozent der Befragten angaben, dass sie ein Jahr oder länger auf die Diagnose warten mussten, nachdem ihre Symptome aufgetreten waren (Shepherd & Chaudhuri, 2019). Umfragen unter Allgemeinmediziner:innen haben ergeben, dass die Grün|25|de für die Verzögerung der Diagnose u. a. in unzureichender Ausbildung und unzureichendem Wissen, mangelndem Vertrauen, dem Gefühl, dass die Bezeichnung ME/CFS schädlich sein könnte, und Schwierigkeiten beim Verständnis der Behandlungsmöglichkeiten liegen (Bayliss et al., 2014; Chew-Graham et al., 2010). In Großbritannien behandelten 2018 bis 2019 59 Prozent der medizinischen Fakultäten das Thema ME/CFS in ihrem Lehrplan, wobei die Unterrichtsdauer im Durchschnitt eine Stunde über die gesamte fünfjährige Ausbildung betrug (Muirhead, 2021).
Eine frühzeitige Diagnose ist von Vorteil, da Menschen mit ME/CFS zeitige Aufklärung und Ratschläge zum Umgang mit den Symptomen und zur Vermeidung einer Verschlimmerung erhalten können. Einige Menschen, die ein schweres oder sehr schweres ME/CFS entwickelt haben (siehe Kapitel 3), sind der Meinung, dass sie einen solchen Schweregrad der Symptome hätten vermeiden können, wenn sie frühzeitig eine Diagnose erhalten hätten (Williams & Isaacson-Barash, 2021).
Die International Consensus Criteria (ICC) (Carruthers et al., 2011) schlugen vor, verschiedene Schweregrade der Erkrankung zu kategorisieren, um eine bessere Einheitlichkeit in der Forschung zu erreichen, die Behandlung zu steuern und die Krankheitslast zu bestimmen (van Campen et al., 2020a). Die Bells Disability Scale kann verwendet werden, um den Schweregrad einer Person mit ME/CFS zu quantifizieren, und selbstberichtete Schweregrade können mit objektiven Messungen korreliert werden (van Campen et al., 2020a). Es besteht ein Konsens darüber, dass es verschiedene Schweregrade von ME/CFS gibt (Bateman et al., 2021; Carruthers et al., 2011; Shepherd & Chaudhuri, 2019), aber keine einheitliche Definition der einzelnen Schweregrade. Obwohl es hilfreich sein kann, die verschiedenen Schweregrade zu verstehen, kann der Versuch, ME/CFS in strenge Kategorien einzuteilen, die gelebte Erfahrung von ME/CFS nicht wirklich widerspiegeln. Eine kombinierte Version von Schweregraden wird als pragmatisches Instrument für die klinische Praxis vorgeschlagen:
Mild: Erfüllt die Kriterien für ME/CFS mit einem deutlich reduzierten Aktivitätsniveau; kann ohne Hilfe arbeiten und Aktivitäten des täglichen Lebens durchführen.
Mäßig: Ungefähr 50 Prozent weniger Aktivität als vor der Krankheit. Erhebliche Einschränkung der Mobilität im Freien, benötigt möglicherweise Hilfe bei den Aktivitäten des täglichen Lebens.
Schwer: Meistens ans Haus gebunden, benötigt möglicherweise einen Rollstuhl oder verbringt den Großteil des Tages im Bett; benötigt Hilfe bei der Körperpflege und bei den Aktivitäten des täglichen Lebens.
Sehr schwer: Meistens bettlägerig, benötigt Hilfe bei den grundlegenden Funktionen rund um die Uhr.
Es sollte beachtet werden, dass die Verwendung des Begriffs „mild“ eine ungenaue Beschreibung der Auswirkungen von ME/CFS auf die Lebensqualität ist, da ein „reduziertes Aktivitätsniveau“ bedeuten kann, dass eine Person nicht mehr in der Lage ist, zu arbeiten, ihre Kinder ohne Unterstützung zu versorgen oder ihren Hobbys und Interessen nachzugehen. Die Arbeit mit Menschen, die an schwerem und sehr schwerem ME/CFS leiden, birgt weitere Schwierigkeiten, die in Kapitel 3 erörtert werden.
Es ist üblich, dass die Symptome des ME/CFS in Bezug auf ihren Schweregrad und ihren Auswirkungen auf das tägliche Leben schwanken (Carruthers et al., 2011). Menschen mit ME/CFS können Phasen erleben, in denen sich der Schweregrad der Symptome verbessert oder sogar eine vorübergehende vollständige Remission eintritt (Bateman et al., 2021), aber es kann auch zu wiederholten Rückfällen kommen, die häufig durch Faktoren wie ausgelöst werden:
Körperliche, kognitive oder emotionale Überanstrengung
Sensorische Stimulation
Neuinfektionen
|26|Impfungen
Chirurgie und allgemeine Anästhesie
Extreme Temperaturen
Alkohol
Menstruationszyklus, Schwangerschaft und Menopause
Nebenwirkungen von Arzneimitteln
Umweltschadstoffe (Chu et al., 2019; Rowe et al., 2017; Shepherd & Chaudhuri, 2019).
In einer Längsschnittstudie von Helliwell und Kolleg:innen (2022) wurde die DNA von zwei Personen mit ME/CFS über einen Zeitraum von elf Monaten analysiert und es wurden Veränderungen in Bezug auf die primäre Immunfunktion sowie die metabolische, neurologische und mitochondriale Funktion festgestellt, die in Abhängigkeit von den schwankenden Symptomen der einzelnen Personen variierten. Interventionen der Health Professionals müssen den Schweregrad des ME/CFS und die möglicherweise im Laufe der Zeit schwankenden Symptome berücksichtigen.
Derzeit gibt es keine endgültige Studie zurPrognose (Bateman et al., 2021). Ein oft zitierter systematischer Review (Cairns & Hotopf, 2005) berichtet, dass fünf Prozent der Menschen mit „chronischer Müdigkeit“ und „Chronischem Fatigue Syndrom“ sich vollständig erholen; die in diese Überprüfung einbezogenen Studien weisen jedoch Probleme in Bezug auf die diagnostischen Kriterien (siehe Abschnitt: Diagnose), kleine Stichprobengrößen und „ungenügende Definitionen von Erholung“ auf (Bateman et al., 2021). Die Messung der Genesung ist problematisch, wenn man die fluktuierende Natur der Symptome und ihre Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Funktion berücksichtigt. Menschen mit ME/CFS können sich selbst als „genesen“ bezeichnen, wenn sich ihre Symptome in den Aktivitäten des Alltags stabilisiert haben, ihr Funktionsniveau aber immer noch deutlich geringer ist als vor ihrer Erkrankung (Bateman et al., 2021). Schätzungen zufolge sind 50 Prozent der Menschen mit ME/CFS arbeitslos, 75 Prozent sind die meiste Zeit ans Haus gebunden und 25 Prozent sind die meiste Zeit ans Bett gefesselt (Chu et al., 2019; Collin et al., 2011).
Kim: ME/CFS hat einen verheerenden Einfluss auf mein Leben. Ich musste meinen Beruf aufgeben, was wiederum große finanzielle Auswirkungen hatte. Ich war lange Zeit ans Haus gebunden und war manchmal ans Bett gefesselt. Ich konnte nicht an sozialen oder familiären Zusammenkünften teilnehmen.
ME/CFS führt nachweislich zu anderen chronischen Krankheiten wie Krebs, Depression und rheumatoider Arthritis (Nacul, Lacerda, Campion et al., 2011), und es wurde ein signifikanter Zusammenhang zwischen den Auswirkungen auf die Lebensqualität von Menschen mit ME/CFS und ihren engsten Familienangehörigen festgestellt (Vyas et al., 2022).
Ohne wirksame Behandlungen können Menschen mit ME/CFS jahrzehntelang oder möglicherweise sogar ihr ganzes Leben lang unter den Symptomen leiden. Aufgrund von Faktoren wie erheblicher Behinderung und Krankheit, dem Fehlen wirksamer Behandlungen, sozialer und physischer Isolation, Verlust der beruflichen Karriere, Verlust der Unabhängigkeit und potenzieller Unterbrechung der Familienplanung, sind Menschen mit ME/CFS einem erhöhten Suizidrisiko ausgesetzt (Chu et al., 2021; Johnson et al., 2022; Williams & Isaacson-Barash, 2021). Hinzu kommt, dass Menschen mit ME/CFS aufgrund der anhaltenden falschen Zuordnung von ME/CFS zu körperlicher Dekonditionierung oder psychiatrischen Störungen (Chu et al., 2021) eher zögern, sich an Health Professionals zu wenden.
Die Forschung zur Behandlung von ME/CFS ist begrenzt und es gibt derzeit keine zugelassenen Behandlungen speziell für ME/CFS (|27|Bateman et al., 2021). Spezifische Symptome können durch pharmakologische und nicht-pharmakologische Maßnahmen behandelt oder reduziert werden, wobei das primäre Ziel jeder Behandlung die Reduzierung der Krankheitslast und die Verbesserung der Lebensqualität ist (Bateman et al., 2021). Es gibt nur sehr wenige randomisierte, kontrollierte Studien über pharmazeutische Behandlungen für ME/CFS (Castro-Marrero et al., 2017.
Ana: Das Leben mit ME/CFS hat mein Leben zerstört und mir das Gefühl genommen, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein.
Medikamente können helfen, spezifische Symptome wie Schmerzen, Schlafstörungen oder orthostatische Intoleranz zu mindern (Castro-Marrero et al., 2017). Die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln, Vitaminen und Mineralien scheint bei Menschen mit ME/CFS weit verbreitet zu sein (Weigel et al., 2021), obwohl die Evidenzbasis für die Wirksamkeit dieser Mittel schwach ist oder bisher nicht vorliegt (Shepherd & Chaudhuri, 2019). Zu den nicht-pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten gehört in erster Linie die Aufklärung über das Energiemanagement mit dem Ziel, die Verschlimmerung der Symptome zu minimieren und die individuelle Funktion und Lebensqualität zu maximieren (Bateman et al., 2021). Weitere Informationen zu Techniken des Energiemanagements finden Sie in den Kapiteln 3 und 4. In jedem Kapitel dieses Buches werden symptomspezifische Behandlungen und Managementoptionen diskutiert, die für Health Professionals relevant sind.
Health Professionals sollten sich des Themas ME/CFS bewusst sein, wenn sie mit Menschen arbeiten, unabhängig davon, ob ihre Therapie auf die Reduzierung der Symptome der ME/CFS abzielt oder eine andere Ursache hat. Bei der Behandlung von Symptomen, die in direktem Zusammenhang mit ME/CFS stehen, können Health Professionals mit Menschen mit ME/CFS arbeiten und eine Vielzahl von Maßnahmen und Dienstleistungen anbieten:
Beratung zum Energiemanagement
Schmerztherapie
Orthostatisches Management und Pflege für bettlägerige Personen
Hilfsmittel und Anpassungen
Anleitung zur körperlichen Betätigung als Teil des Plans zum Energiemanagement.
Weitere Informationen zu all diesen Maßnahmen werden in diesem Buch ausführlich behandelt.
Health Professionals können mit einem Menschen, der an ME/CFS leidet, in jedem Setting und aus jedem Grund arbeiten, auch wenn ME/CFS eine Komorbidität anderer Erkrankungen ist. In diesem Fall muss jeder Behandlungsplan ME/CFS berücksichtigen und so angepasst werden, dass er kein PEM verursacht. Health Professionals müssen daher in der Lage sein, PEM zu verstehen und zu erkennen, die Mittel zur Überwachung von Anzeichen einer Verschlimmerung der Symptome zu schaffen und den Behandlungsansatz so anzupassen, dass er für den betroffenen Menschen geeignet ist. Da Bewegung eine zentrale Behandlungsmaßnahme von Health Professionals ist und auch ein wahrscheinlicher physischer Auslöser von PEM, ist es von entscheidender Bedeutung, dass Health Professionals die Auswirkungen von Bewegung auf Menschen mit ME/CFS berücksichtigen. Dies wird in Kapitel 3 eingehend erörtert.
|28|Zusammenfassung
ME/CFS ist eine Erkrankung, die mehrere Systeme betrifft und zu erheblichen Behinderungen führt.
Es besteht nach wie vor kein klarer Konsens über die Terminologie, die Diagnose oder die Kategorisierung des Schweregrads von ME/CFS, und es fehlt derzeit an qualitativ hochwertigen Evidenzen.
Die Symptome sind unterschiedlich stark ausgeprägt und können bei jeder Person variieren.
Es gibt keine anerkannte direkte Behandlung für ME/CFS. Einzelne Symptome können sowohl mit pharmakologischen als auch mit nicht-pharmakologischen Maßnahmen behandelt werden.
Anwendung in der Praxis
Health Professionals sollten routinemäßig nach einer ME/CFS-Diagnose in der Krankengeschichte einer Person suchen und diese als Vorsichtsmaßnahme für jeden Eingriff behandeln.
Therapeutische Maßnahmen können ME/CFS nicht „heilen“, aber wie bei jeder anderen Langzeiterkrankung können Health Professionals die Symptome behandeln und die Aufrechterhaltung ihrer physischen und psychischen Funktion unterstützen, um die Lebensqualität zu verbessern.
Das Ziel dieses Buches ist es, Health Professionals dabei zu unterstützen, sichere und angemessene Interventionen für Menschen mit ME/CFS auszuwählen und anzuwenden.
Zur Begriffsklärung nach ICD-10 und ICD-11 siehe auch die Unterlagen vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfAM): https://multimedia.gsb.bund.de/BfArM/downloads/klassifikationen/icd-10-gm/vorschlaege/vorschlaege2023/icd2023-017-chronisches-fatigue-syndrom.pdf
Zweck dieses Kapitels
Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die wichtigsten Komorbiditäten, die mit ME/CFS assoziiert sind. Die Liste ist alphabetisch geordnet und nicht ausreichend. Diskutiert werden die Bedingungen bei Endometriose, Fibromyalgie, Hypermobilitätssyndrom, Reizdarmsyndrom, Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS), Migräne, posturalem orthostatischen Tachykardie-Syndrom (POTS), Komorbiditäten des Rückenmarks und des Hirnstamms und temporomandibuläre Dysfunktionen (TMD).
Es gibt mehrere Erkrankungen, die häufig mit ME/CFS assoziiert zu sein scheinen (Shepherd & Chaudhuri, 2019) und von denen viele sich überschneidende Symptome aufweisen, so dass es wichtig ist, sich möglicher Komorbiditäten bewusst zu sein und zu wissen, dass eine Person mit ME/CFS mehrere Komorbiditäten aufweisen kann.
Eine Person mit ME/CFS kann wegen Symptomen, die mit einer Komorbidität zusammenhängen, eine therapeutische Behandlung in Anspruch nehmen. Dennoch sollte die Behandlung immer ME/CFS als Priorität betrachten, da jede Intervention zusätzliche Symptome oder eine Verschlimmerung der aktuellen Symptome hervorrufen kann (Post-exertional Malaise, PEM). Darüber hinaus kann es sein, dass bei Patient:innen noch keine Komorbidität diagnostiziert wurde, so dass Health Professionals auf Anzeichen und Symptome achten sollten, die fälschlicherweise für ME/CFS gehalten werden, obwohl sie in Wirklichkeit auf eine andere Erkrankung hinweisen könnten.
Dieses Kapitel soll einen Überblick über die einzelnen Erkrankungen geben als ein vertiefter Leitfaden für das Krankheitsmanagement. Gegebenenfalls ist es ratsam, weitere Lektüre zu einem bestimmten Bereich zu lesen, bevor Managemententscheidungen getroffen werden.
Bei der Endometriose handelt es sich um eine östrogenabhängige entzündliche Erkrankung (Burney & Giudice, 2012), bei der Gewebe, das der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, in anderen Teilen des weiblichen Fortpflanzungssystems wie den Eierstöcken und Eileitern zu wachsen beginnt (National Health Service (NHS), 2019a). Es wird angenommen, dass 7 bis 10 Prozent der Frauen weltweit von Endometriose betroffen sind (Baldi et al., 2008). Die genaue Ursache der Endometriose ist nicht bekannt, obwohl mehrere Faktoren eine Rolle spielen können, z. B. die Genetik und eine Störung des Immunsystems. Zu den Symptomen gehören Fruchtbarkeitsprobleme und Schmerzen im Unterbauch oder im Becken, die während der Menstruation stärker sind (NHS, 2019a).
Endometriose gilt als Komorbidität bei Frauen, die an ME/CFS leiden (Boneva et al., 2019). In einer Studie wurde beispielsweise festgestellt, dass 36,1 Prozent von 36 Frauen mit ME/CFS eine Endometriose hatten, verglichen mit 17 Prozent in einer Kontrollgruppe (Boneva et al., 2019), und in einer anderen Studie wurde bei 19 Prozent von 150 Frauen mit ME/CFS eine Endometriose diagnostiziert, verglichen mit 8 Prozent in einer entsprechenden Kontrollgruppe (Harlow et al., 1998). In beiden Studien |30|wurden die Fukuda-Kriterien zur Auswahl der Teilnehmerinnen verwendet, die keine PEM als Voraussetzung für die Diagnose verlangen (siehe Kapitel 1).
Eine Querschnittserhebung (Sinaii et al., 2002) bei 3680 Frauen in den USA, bei denen eine Endometriose diagnostiziert wurde, ergab, dass bei 4,6 Prozent auch ein ME/CFS diagnostiziert wurde, verglichen mit 0,03 Prozent der veröffentlichten Raten in der Allgemeinbevölkerung der Frauen in den USA zu dieser Zeit.
Es gibt keine Heilung für Endometriose, aber die Behandlung kann sich auf Schmerzlinderung und Fertilität durch Analgetika, Hormonbehandlung und einer Operation zur Entfernung des zusätzlichen Gewebewachstums konzentrieren (NHS, 2019a). Eine Frau mit ME/CFS, die Beckenschmerzen oder Fruchtbarkeitsprobleme hat, sollte zur Untersuchung überwiesen werden, um festzustellen, ob diese Komorbidität vorliegt und um Zugang zu entsprechenden Behandlungen zu erhalten.
Fibromyalgie tritt häufig gemeinsam mit ME/CFS auf (McManimen & Jason, 2017). Die Hauptsymptome der Fibromyalgie sind weit verbreitete Muskelschmerzen, Müdigkeit, Morgensteifigkeit, nicht erholsamer Schlaf und kognitive Dysfunktion (Häuser et al., 2008). Genau wie bei ME/CFS ist die genaue Ursache der Fibromyalgie noch nicht bekannt, aber ihr Ausbruch wird mit einer Virusinfektion oder einem Trauma in Verbindung gebracht, und eine Theorie legt nahe, dass eine autoimmune Dysfunktion vorliegt, die zu niedriggradigen Entzündungsprozessen und oxidativem Stress führt (Bazzichi et al., 2020).
Die Diagnose der Fibromyalgie erfordert eine bestimmte Punktzahl auf dem Wide Spread Pain Index und Schmerzen in mindestens vier oder fünf verschiedenen Körperregionen, die seit mehr als drei Monaten bestehen (Wolfe et al., 2016). Die genaue Diagnose der Fibromyalgie kann jedoch im klinischen Umfeld problematisch sein, was zu möglichen Fehldiagnosen führt (Wolfe et al., 2019).
ME/CFS und Fibromyalgie unterscheiden sich diagnostisch voneinander, da die Diagnose einer Fibromyalgie nicht das Vorhandensein von Fatigue oder PEM erfordert (Nijs et al., 2012). Auch physiologisch gibt es Unterschiede: So wurden bei Menschen mit Fibromyalgie erhöhte Werte der Substanz P festgestellt, einem Neurotransmitter, der mit Entzündungsprozessen und Schmerzen in Verbindung gebracht wird (Russell et al., 1994), während bei Menschen mit ME/CFS normale Werte gefunden wurden (Evengard et al., 1998).
Es ist wichtig anzumerken, dass Fibromyalgie als Komorbidität mit ME/CFS den Schweregrad der Symptome der ME/CFS erhöhen kann. So kann das Vorhandensein von Fibromyalgie die Häufigkeit und den Schweregrad von PEM signifikant erhöhen und daher zu einem signifikant schlechteren körperlichen Zustand führen (McManimen & Jason, 2017). Darüber hinaus zeigt eine Studie (Serrador et al., 2018), dass das Gleichgewicht bei Menschen mit ME/CFS im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppen signifikant schlechter ist, aber die zusätzliche Diagnose einer Fibromyalgie verringert die Leistung der Menschen mit ME/CFS noch weiter, insbesondere in Bezug auf die vestibuläre Funktion (Serrador et al., 2018). Diese Verstärkung der Symptome der ME/CFS durch Fibromyalgie unterstreicht, dass es sich um unterschiedliche klinische Zustände handelt (McManimen & Jason, 2017).
Es hat sich gezeigt, dass die Massagetherapie bei Fibromyalgie-Patient:innen eine kurzfristige Linderung von Schmerzen, Angstzuständen und Depressionen bewirkt (Li et al., 2014; Yuan et al., 2015), obwohl die Forschungsergebnisse von geringer Qualität sind und die Empfehlung lautet, dass jede Intervention schmerzfrei sein und mit geringer Intensität beginnen sollte, wobei die Symptome sorgfältig überwacht werden sollten (Kalichman, 2010). In einer Studie wurde jedoch festgestellt, dass |31|der Nutzen der Massage bei Fibromyalgie tatsächlich geringer ist, wenn eine komorbide Diagnose von ME/CFS vorliegt (Falaguera-Vera et al., 2020).
Aerobic und Krafttraining können sich nachweislich positiv auf das Wohlbefinden und die körperliche Funktionsfähigkeit von Menschen mit Fibromyalgie auswirken, doch ist die Beweislage in Bezug auf Schmerzen und Triggerpunkte schwächer (Busch et al., 2008). Ein systematischer Review und Metaanalyse ergab mäßige Evidenzen für eine Schmerzlinderung bei Fibromyalgie durch Bewegung, aber es fehlte Evidenz für eine langfristige Verbesserung (Mascarenhas et al., 2021). Außerdem hat sich gezeigt, dass isometrische Übungen die Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen bei Menschen mit Fibromyalgie (Staud et al., 2005) steigerten, was dem entgegengesetzt ist, was man in der Allgemeinbevölkerung erwarten würde.
Wenn Fibromyalgie eine Komorbidität von ME/CFS ist, kann Bewegung zu körperlicher Anstrengung und anschließender PEM führen, so dass die Vorteile, die bei Fibromyalgie festgestellt wurden, bei Personen, die auch an ME/CFS leiden, möglicherweise nicht gegeben sind. Die Problematik der Bewegung bei ME/CFS wird in Kapitel 3 ausführlich erörtert.
Das Hypermobilitätssyndrom wird im Allgemeinen im Rahmen von vererbbaren Bindegewebsstörungen (HDCT) (Grahame, 1999) beobachtet, zu denen Erkrankungen wie diese gehören:
Hypermobilitätssyndrom der Gelenke: übermäßige Laxität der Gelenke, die symptomatisch ist (Grahame, 2009).
Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS): Kennzeichen des Ehlers-Danlos-Syndroms sind die Elastizität der Haut, die Hypermobilität der Gelenke und die Fragilität des Gewebes, wobei bei einigen schweren Formen auch innere Bindegewebsstrukturen wie Arterien und der Darm betroffen sind (Steinmann et al., 2002).
Marfan-Syndrom: eine multisystemische Bindegewebsstörung, die oft schon im Kindesalter durch Skelettanomalien erkennbar ist (Dean, 2007).
In einer retrospektiven Querschnittsstudie (Bragee et al., 2020) von Personen, die in einer auf ME/CFS spezialisierten Klinik in Schweden behandelt wurden, wurde die Prävalenz von Hypermobilität untersucht (sowie von kraniozervikalen Obstruktionen und Anzeichen einer interkranialen Hypertension, die später in diesem Kapitel behandelt werden). Von 229 Personen, bei denen ein schweres ME/CFS diagnostiziert wurde, wurde bei 115 (50 Prozent) eine allgemeine Gelenkhypermobilität festgestellt, wobei bei 20 Prozent bereits ein hypermobiles EDS diagnostiziert worden war. In anderen Studien wurde eine geringere Prävalenz festgestellt, wobei bei 25 Prozent (Nijs et al., 2004) bzw. 20 Prozent (Nijs, Aerts et al., 2006) der Menschen mit ME/CFS Anzeichen für Hypermobilität gefunden wurden, im Vergleich zu nur bis zu vier Prozent in der Allgemeinbevölkerung (Nijs, Aerts et al., 2006).
Beim Vergleich von ME/CFS und dem Ehlers-Danlos-Syndrom zeigt sich eine Überschneidung der Symptome, und es ist wahrscheinlich, dass ein Teil der Menschen, bei denen ME/CFS diagnostiziert wurde, auch ein nicht diagnostiziertes EDS haben könnte (Hakim et al., 2017). Fatigue ist ein häufiges und klinisch bedeutsames Problem bei Menschen mit EDS (Voermans et al., 2010), obwohl die Ursache der Fatigue mit Schlafstörungen, chronischen Schmerzen und Funktionsstörungen des Herz-Kreislauf-, Blasen- und Darmsystems in Verbindung gebracht werden könnte (Hakim et al., 2017).
EDS wurde mit Chiari-Fehlbildungen, Instabilität der oberen Halswirbelsäule und Tethered Cord Syndrom (Henderson et al., 2017) in Verbindung gebracht, die alle im Kapitel 2.8 behandelt werden. Aufgrund der höheren Präva|32|lenz bei Menschen mit ME/CFS sollte die Hyperbeweglichkeit der Gelenke in die therapeutische Untersuchung einer Person mit ME/CFS einbezogen werden (Nijs, Meeus et al., 2006; Rowe et al., 1999), z. B. mit Hilfe eines einfachen Tests wie der Nine-Point-Beighton-S7 (Beighton et al., 1973).
Hauptziel der Behandlung von Hypermobilitätssyndromen ist die Linderung und Vorbeugung von Gelenkschmerzen (Keer & Simmonds, 2011). Allgemeine Übungen werden häufig als Behandlung zur Verringerung der Schmerzintensität bei Menschen mit Hypermobilität in Betracht gezogen (Palmer et al., 2021), aber die Evidenzbasis ist schwach und es fehlt an Details zur Spezifität der Intervention (Palmer et al., 2014), wobei der Schwerpunkt eher auf einzelnen Gelenken als auf dem ganzen Körper liegt (Palmer et al., 2021). Schulungen zur Positionierung oder funktionelle Schienen können ebenfalls zum Schutz der Gelenke beitragen (Keer & Simmonds, 2011).
Wenn neben ME/CFS auch eine Hypermobilität vorliegt, muss jedes Bewegungsprogramm das Potenzial der körperlichen Anstrengung als Auslöser für PEM berücksichtigen, so dass typische Ansätze möglicherweise angepasst werden müssen. In Kapitel 3 werden Anpassungen und Überlegungen in Bezug auf Bewegung und ME/CFS erörtert.