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Eigentlich ist Luises Leben sehr beschaulich: Das Studium verläuft erfolgversprechend, Vater Stefan kümmert sich rührend um den Haushalt und das regelmäßige Balletttraining ist ein willkommener Ausgleich. An die früh verstorbene Mutter gibt es keine Erinnerung, doch die Träume, in denen sie ihr erscheint, helfen Luise, diese Leere zu füllen. Als das Schicksal sie mit Clara, einer charismatischen Musicaldarstellerin, zusammenbringt, nimmt Luises Leben eine schlagartige Wendung: "Es war ihr, als hätte diese Frau aus ihr einen anderen Menschen gemacht …" Doch plötzlich werden Wahrheiten zu Lügen, Vertrauen missbraucht, Ziele aus den Augen verloren. Was steckt wirklich hinter Claras makelloser Fassade und warum verhält sich Stefan eigentlich auf einmal so merkwürdig?
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Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0374-6
ISBN e-book: 978-3-7116-0375-3
Lektorat: Andrea Pichler
Umschlagfoto: Serghei Starus | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Kapitel 1
Der Schattenmann
Die Luft erstickte in dichten Nebelschwaden. Man konnte die eigene Hand vor Augen kaum sehen. Obwohl es nicht kalt war, kuschelte Luise ihren Hals so weit es ging in den Kragen ihrer Jacke und schob die Hände tief in die Taschen. Der Rauch ihres Atems schwebte über ihren Kopf hinweg, als sie das Auto zuschloss und sich in Bewegung setzte. Sie kaufte ein paar gelbe Tulpen bei der Friedhofsgärtnerei und bezahlte, ohne ein Wort zu sprechen. Dann schlenderte sie den Kieselweg entlang, die Blumen behutsam gegen die Brust gedrückt. Es war noch nicht spät, doch die dichte Wolkendecke versperrte der schüchternen Sonne den Weg. Es war fast schon dunkel. Den ganzen Tag über war es nicht richtig hell geworden. Aber Luise kümmerte das trübe Wetter nicht. Nichts kümmerte sie. Für sie war es nämlich ein Tag der Trauer und der Sehnsucht, des Schmerzes und der Einsamkeit. Sie war auf dem Weg zum Grab ihrer Mutter, die an diesem Tag vor 47 Jahren geboren worden war. Starr und leer schielte sie auf den Boden, den sie mit jedem Schritt ein Stückchen weiter hinter sich ließ. So wie sie durch den Nebel Kieselstein um Kieselstein passierte, sah es aus, als bildete sie eine Trauergemeinde, sie ganz allein. Wollte sie in Worte fassen, wie sie sich in diesem Augenblick fühlte, als sie das Piepsen einer flüchtenden Amsel für einen kurzen Moment ablenkte, hätte sie es nicht ausdrücken können. Jemand kam ihr entgegen. Die Person summte eine Melodie vor sich hin, eine melancholische und zugleich dramatische Melodie. Es musste eine Frau sein. Die Töne imponierten ihr. Sie brachten sie aus dem Gleichgewicht. Sie klangen glasklar. Sie schwangen sich um sie wie ein unsichtbares Band, das sie dazu zwang, sich klein zu machen. Unwillkürlich duckte sie sich und zog die Schultern hoch. Sie schaute auf. In diesem Moment verstummte das Lied und niemand war da. Merkwürdig. Hörte sie jetzt schon Gespenster singen? Sie schüttelte sich und drängte den Gedanken von sich.
Sie spürte nichts. Nichts außer Unverständnis und der tiefen Sehnsucht einer Tochter nach ihrer allerliebsten Mutter. Während sie langsam zum Grab ging, wünschte sie sich wieder nichts sehnlicher, als sie wenigstens kennengelernt zu haben. Es heißt, ein Kind vergesse niemals die Stimme der Mutter, aber für sie war es so, als hätte sie nie zu ihr gesprochen. Sie kannte einfach nichts von ihr. Während sich andere Mädchen die Bluse oder das Parfum der Mutter ausleihen konnten, hatte sie keinen Duft in der Nase, den sie mit ihr in Verbindung brachte, kein Kleidungsstück vor Augen, um das sie sie beneidete. Sie hatte nichts. Nichts, wovon sie zehren konnte, keine glückliche Erinnerung, die sie nur mit ihr teilte, kein Geheimnis, von dem nur sie wusste, noch nicht einmal eine Angewohnheit, die sie von ihr geerbt hatte, geschweige denn einen blassen Schimmer davon, wie es sein musste, glücklich in ihren Armen oder trauernd an ihrer Schulter zu liegen. Nichts, was sie an sie erinnerte, wenn sie nicht gerade von ihren Freunden damit konfrontiert wurde, die das Wort „Mama“ nur in den Mund nehmen mussten, um ihr die Laune zu vermiesen. Nichts hatte sie ihr hinterlassen, nicht einmal ein Schmuckstück, einen Ring etwa oder eine Halskette, keinen Besitz, an dem sie vielleicht gehangen hatte, ein Kuscheltier etwa, das sie ihr geschenkt hatte, als sie noch ein Baby war. Nichts. Alle Spuren waren verwischt. Einzig und allein ein paar unscharfe Fotos waren geblieben, auf denen sie kaum zu erkennen war. Aber sie stellte sie sich vor, jede Nacht und auch am Tag, wenn ihr Blick manchmal träumerisch im Hörsaal umherschweifte und sie sich vorstellte, sie würde draußen auf sie warten. Dann sah sie eine liebreizende Frau, wunderschön wie eine Königin, groß gewachsen, elegant und gertenschlank, mit der Haarpracht einer Opernsängerin und rot geschminkten Lippen. Dieses Bild gaben die Fotos nicht her. Es existierte nur in ihrer Phantasie. Und wieder einmal lächelte sie bei dem Gedanken daran, dass sie jetzt in diesem Augenblick an ihrem eigenen Grab auftauchte, um endlich den Irrtum aufzuklären, dass sie tot war. Mit ihrem Fortgehen war ein Puzzleteil aus Luises Welt herausgebrochen, das seit jeher verschwunden blieb.
Doch dann hielt sie plötzlich inne. Sie verbarg ihren Atem aus Furcht, entdeckt zu werden. Der Umriss einer finsteren Gestalt hatte sie aus ihren Träumen gerissen. Hastig versteckte sie sich hinter einem mit Moos bedeckten feuchten Baumstamm und lugte vorsichtig hervor, doch sie konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen. Sie war aufgeregt. Wer war das? Sie hatte noch nie jemanden an diesem Ort verweilen gesehen. War es ein Fremder, der auf dem Friedhof spazieren ging und das Grab nur ganz hübsch fand? Hatte er etwas mitgebracht? Blumen? Die Sicht war zu stark eingeschränkt, als dass sie abgesehen von dem vollständig vermummten Hinterteil der Kapuzengestalt irgendetwas erkennen konnte. Auf einmal sah er sich um. Luise zuckte ihren Kopf wieder hinter den sicheren Baum. Es begann zu nieseln. Die Elstern in den Kronen befanden sich in hellem Aufruhr. Als sie wieder einen Blick wagte, war da niemand mehr. Hastig schaute sie umher. Es war niemand da. Sie war ganz allein mit ihr. Verunsichert legte sie die gelben Blumen auf den grauen Grabstein. Von den herabgefallenen Magnolienblättern halb verdeckt flackerten die Buchstaben ihres Vornamens im sanften Feuer der Friedhofskerze: Marie. Sie wusste, dass ihr Vater nur ein großes Gesteck zu ihrem Geburtstag bestellt hatte. Aber da lag noch etwas: ein Kranz, den der Schattenmann mitgebracht haben musste. Aber woher kannte er sie? Als sie langsam wieder aufstand und die Tulpen behutsam durch die Finger gleiten ließ, flüsterte sie: „Happy Birthday, Mama.“
Sie hielt sich noch ein paar Minuten dort auf, es gelang ihr jedoch nicht mehr, sich mit ihr davon zu träumen. Die Begegnung hatte sie völlig aus der Bahn geworfen, sodass sie viel mehr den Drang verspürte, dem Vater unverzüglich davon zu berichten. Ob er den Mann wohl kannte? Sie vermochte es sich nicht vorzustellen, dass er einen Verwandten vor ihr verheimlichen würde. Auf der gesamten Strecke zurück zum Auto schaute sie sich immer wieder um, ob sie ihn noch einmal entdeckte, doch der Mann blieb verschwunden. Überhaupt begegnete sie keiner Menschenseele. Vollkommen durcheinander platzierte sie sich in ihren roten Flitzer und preschte über die Schnellstraße durch den Tunnel, gerade noch rechtzeitig, bevor dieser wegen eines Feueralarms gesperrt wurde. Eine dichte schwarze Rauchwolke jagte ihr die Panik durch die Glieder.
Doch im Hausflur angekommen war der lebensgefährliche Zwischenfall schon nicht mehr von Bedeutung. Noch in die durchnässte Jacke gehüllt und mit nassen Schuhen kam sie umgehend auf den Punkt.
„Hallo Papa, ich habe einen Mann gesehen … auf dem Friedhof … bei Mama“, stotterte sie. Der Rauch hatte ihre Kehle strapaziert.
Luises Vater stellte das Falten von Pullovern auf dem Küchentisch abrupt ein.
„Papa, wer war das, den ich da gesehen habe?“, drängelte sie, als er keine Anstalten machte, irgendetwas dazu zu sagen. Er sagte noch immer nichts. Ungeduldig und mittlerweile auch ängstlich wurde sie lauter und vorwurfsvoller.
„Du hast gesagt, Mama hatte keine Verwandten mehr. Aber der Mann kannte sie, er hat einen Kranz dagelassen. Papa, sag mir jetzt die Wahrheit! Weißt du, wen ich da gesehen habe?“
Sie löcherte ihn über das aufgestellte Bügelbrett hinweg mit verschwommenem Blick. Er strich noch einmal über den ohnehin glatt gebügelten Pullover, den er soeben gefaltet hatte, und antwortete endlich.
„Lui, es ist wahr. Ich habe dir etwas über deine Mutter verschwiegen. Gott, ich wollte nicht, dass du ihn jemals triffst.“
Es wirkte so, als ob es ihm leidtat, aber davon ließ sie sich nicht besänftigen. Ihre Wut war geschürt. Das Blut in ihren Adern polterte. Sie forderte ihn dennoch ruhig und gefasst auf, ihr nun endlich zu verraten, was da vor sich ging. Und ihr Vater konnte sich, die Hände nun beide flach auf die Tischplatte gestützt und den Oberkörper vorgebeugt, zu einem Geständnis durchringen. Ihre Mutter hätte einen Bruder. Wahrscheinlich habe sie ihn gesehen.
Stille. Er sah sie erwartungsvoll an, doch Luise klappte nur die Kinnlade herunter. Orientierungslos griff sie nach einer Stuhllehne, um ihren getroffenen Körper zu stützen. Sie atmete laut aus. Sie wusste nicht einmal, was ihr mehr zusetzte: Die Tatsache, dass es einen Blutsverwandten ihrer Mutter gab, den sie nicht kennen sollte, oder seine Dreistigkeit, sie ihr Leben lang so widerlich angelogen zu haben. Sie sagten beide nichts. Luise hoffte, dass er sich schämte, sie gekränkt zu haben. Sie presste die Zähne aufeinander, um nicht zu weinen, aber eine kleine Träne konnte sie nicht verbergen.
„Wie heißt er?“, wollte sie wissen.
„Ich weiß es nicht genau. Richard oder so ähnlich.“
Wieder Schweigen. Noch immer in ihre Jacke gehüllt begann sie zu schwitzen. Mit kalten nassen Händen klammerte sie sich fester an die harte Stuhllehne. Wehmütig erklärte der überforderte Vater, dass der Onkel seiner Tochter ein jämmerlicher Nichtsnutz gewesen sei und er deshalb nicht wollte, dass sie ihn kennenlernte. Er habe nicht gewollt, dass das Bild der Mutter zerstört würde durch einen Obdachlosen, der von Liebe nichts verstand und stattdessen bei der Familie um Geld bettelte. Luise versuchte zu begreifen, was ihn zum Schweigen veranlasst hatte, und einerseits gelang es ihr auch, aber die Enttäuschung saß tiefer als der Wille, ihm sofort zu verzeihen.
„Es tut mir so leid“, fügte er reumütig hinzu, doch als er sie umarmen wollte, blockte sie ab. Sie fühlte sich nicht dazu in der Lage, seine Liebe zu ertragen. Schweigend entfernte sie sich. Es konnte einfach nicht wahr sein. Sie konnte es nicht glauben, was sie soeben erfahren hatte. Ihr Vater hatte Recht, die Gewissheit der Existenz des Bruders schwärzte die Illusion der perfekten Mutter. Nein, das durfte sie nicht zulassen. Sie wollte ihn auf der Stelle wieder vergessen. Wenn sie ihn noch einmal auf dem Friedhof erblicken sollte, würde sie sich wieder vor ihm verstecken. Es durfte nichts durch ihn verändert werden, die Träume nicht düsterer, die Sehnsucht nicht gelindert werden. Eine zerlumpte Schattengestalt hatte in ihrer Traumwelt nichts verloren.
Aber was, wenn Vater sich irrte und Richard doch kein schlechter Mensch war? Vielleicht bereue er ja heute, wie er seine Schwester behandelt hatte? Der Arme hatte sicher kein leichtes Leben, schließlich war auch er ohne Eltern aufgewachsen. Und da war es wieder: Mitleid. Mitleid mit der verstorbenen Mutter, die selbst nicht wusste, wie es war, von den Eltern geliebt zu werden. Sie spürte, wie es ihrem Herz einen Stich versetzte, als sie schließlich ihre Jacke an die Garderobe hängte. Was sollte sie noch denken? Am sinnvollsten schien es ihr, eine Nacht darüber zu schlafen. Vielleicht würde sie am nächsten Morgen mehr wissen. Sie sagte nicht einmal mehr Gute Nacht, als sie in ihrem Zimmer verschwand. Das Einschlafen jedoch fiel ihr schwerer denn je, obwohl es stockfinster war. Sie hatte aufgehört zu schluchzen, als sie unter die warme Decke kroch, wobei sie völlig vergaß, dass sie sich eigentlich auf das Gruppenlernen in der Universität vorbereiten wollte. Dieses Vorhaben war zerschlagen worden. Alles war zerschlagen worden. Ihre kleine Welt war zusammengestürzt. Und doch wünschte sie sich wieder, von ihr zu träumen. Langsam und mit unzähligen Bruchstücken von tausend Gedanken schlief sie schließlich ein.
Es war Sommer. Sie lagen nebeneinander im wispernden Gras einer wilden Wiese umgeben von bunten Blumen, kitzelnden Pollen und summenden Insekten. Sie ließen den azurblauen Himmel auf sich wirken. Glücksgefühle durchströmten sie, als sie in den sanften Schleierwölkchen die Form eines Herzens erkannte. Ihre rechte Hand tastete durch das Gras, bis sie die ihre fand. Sie streichelte ihren Arm. Dann merkte sie, dass sie aufstehen wollte. Sie setzte sich auf. Ihre Mutter hatte ihr den zarten Rücken zugedreht, der von ihrem roten Kleid nicht bedeckt wurde. Staunend beobachtete sie, wie sie das in der Sonne braun schimmernde Haar aus seinem Knoten befreite. Es sank federleicht herab und legte sich wie ein seidiger Schleier über ihre weiße Haut. Elegant glitt sie mit roten Fingernägeln durch die wallenden Locken, die ihr fast bis zur Hüfte reichten. Sie himmelte sie an und stand ebenfalls auf, doch das Gesicht hielt die Mutter vor ihr verborgen.
„Komm, mein Kind. Ich möchte dir etwas zeigen“, sagte ihre weiche Stimme. Sie schwebte langsam mit nackten Füßen voran. Sie folgte ihr, doch konnte sie sie nicht mehr erreichen, egal wie schnell sie sich fortbewegen wollte. Das Gras wuchs plötzlich an, als wollte es ihr den Weg versperren. Vor sich konnte sie noch vage ihren tanzenden Hinterkopf im lauen Wind erkennen, der nach und nach an Stärke zunahm.
„Mama!“, schrie sie. Ihre leise Stimme verpuffte im pfeifenden Wind. „Warte!“
Sie hielt sich die Hände schützend vor die Augen, die von wütenden Grashalmen ausgepeitscht wurden. Sie versuchte weiter vorzudringen, als der Sturm allmählich nachließ. Das hohe Grün verschwand wieder in den Boden, und die Wiese erblühte wieder in ihrer schönsten Pracht. Ganz hinten am Ende vor der blauen Wand erkannte sie ihr rotes Kleid. Es war nur noch so groß wie ein Punkt vor dem endlosen Hintergrund. Sie lief über den holprigen weichen Boden. Sie sprintete so schnell sie ihre trainierten Beine trugen. Sie rief immer wieder nach ihr. Es war ihr, als liefe sie auf Wolken und auch sie begann zu schweben. Ihre Füße hoben vom Boden ab, doch sie bewegte sich keinen Meter mehr vorwärts. In der Ferne war die Mutter fast verschwunden, aber sie konnte jetzt sehen, dass sie in ihre Richtung winkte.
„Nein, warte!“
War es ein Abschiedswinken? Oder sollte es bedeuten, dass sie auf sie wartete? Sie wollte das Winken erwidern, doch ihre Arme waren wie gelähmt.
Sie rieb sich die sandigen Augen, während der Wecker noch klingelte. Mit einem heftigen Schlag ließ sie ihn verstummen. Nur den Nachbarshahn konnte sie mit der Aggression nicht abwürgen. Das verbrauchte Federvieh krähte wie jeden Morgen unbekümmert von den gestressten Frühaufstehern weiter. Das Licht im Badezimmer blendete sie. Als sie sich daran gewöhnt hatte, schaute sie in den Spiegel. Müde grünbraune Augen musterten ihren morgendlichen Look. Die braune Kurzhaarfrisur stand wie gewöhnlich nach dem Aufstehen in alle Himmelsrichtungen ab, verklebt vom restlichen Haarwachs, das sie am Vorabend noch nicht einmal mehr grob ausgebürstet hatte. Das schmale Gesicht wirkte fahl und leer, die helle Haut krank. Sie wusch sich mit dem Waschlappen durchs Gesicht und die runden Wangenknochen bekamen ein wenig Farbe. Sie wählte das fruchtige Deo Spray, das nach dem letzten Sommerurlaub roch. Dann setzte sie die Kontaktlinsen ein. Nachdem sie ihre weißen Zähne geputzt und das Gesicht eingecremt hatte, brachte sie bei dem Gedanken an das wunderbare Erlebnis in der Nacht sogar ein kleines Lächeln ihrem Spiegelbild entgegen. Es war eigentlich kein besonders schöner Traum, aber er war glücklich. Diese Art von Träumen erlebte sie öfter. Sie konnte nie ihr ganzes Gesicht sehen, immer nur Bruchstücke. Entweder blieb es ihr gänzlich verborgen oder sie erkannte nur die Augen, dann aber nicht Nase und Mund, oder sie sah dicke rote Lippen, dafür konnte sie ihr aber nicht in die Augen sehen. Aus den vielen Bruchstücken stellte sich ihre Phantasie das Gesamtbild zusammen, das der makellosen Schönheit.
Nun fühlte sie sich in ihren Vater hinein. Wie musste er geschlafen haben? Wahrscheinlich gar nicht. Ihr Magen knurrte gewaltig und er schrie nach Wasser. Kein Wunder, schließlich hatte sie noch vor einigen Stunden ganze Bäche voll geweint. Fertig geschminkt öffnete sie die Badezimmertür. Da stieg ihr auch schon der Duft von Rührei in die empfindliche Nase. Ihr Vater erwartete sie am Küchentisch, den er mit einem reichhaltigen Frühstück und Milchkaffee gedeckt hatte. Seine Augen begrüßten sie wie die eines Rehs im Scheinwerferlicht. Erwartungsvoll beobachtete er wie sie sich ihm gegenüber niederließ und die knusprigen Croissants bestaunte.
„Guten Morgen“, sagte er vorsichtig, doch Luise war sich sicher, dass er ganz fest daran glaubte, dass sie ihm bereits verziehen hatte. Sie begrüßte ihn ebenfalls freundlich und griff beherzt nach dem Rührei. Der Hunger war so groß, dass sie es versäumte, vor dem Leeren ihres Tellers ein Wort ihrer Vergebung hervorzubringen. Zu ihrer Linken lag die aufgefaltete Tageszeitung. Der Brand hatte ein Todesopfer gefordert. Sie legte die Gabel beiseite.
„Papa, ich verstehe, dass du mir nur aus Rücksicht nichts gesagt hast. Du brauchst keine Angst haben. Ich habe mich wieder gefangen.“
Zum ersten Mal seit dem vergangenen Abend hatten sie wieder länger anhaltenden Blickkontakt. Er griff nach ihrem Unterarm und hielt diesen fest, so wie er es immer tat, wenn ihm etwas wirklich wichtig war. In sein rechtes Handgelenk mündete ein Gemälde in Schwarzweiß, das verdorrte Baumstämme und Zweige, Flügel aus tausend Federn und die Silhouette einer gekrümmten Figur zeichnete. Durch die kahlen Kronen des Waldes fiel ein Lichtstrahl ein. Luise kannte ihn gar nicht ohne das Kunstwerk auf der Haut.
Jetzt griff auch er nach etwas Essbarem.
„Lass uns nicht mehr davon sprechen.“
Luise stellte sich vor, wie vom Herzen des Vaters Steine wie in einem Berggeröll herunter krachten.
Und sie sprachen in den nächsten Tagen nicht mehr darüber. Beim Balletttraining begannen sie mit einer Choreographie zu TschaikowskisSchwanensee. Luises langjährige Freundin und Studienkollegin Michelle war nach ihrer mehrwöchigen Pause wegen einer Bänderdehnung im Sprunggelenk endlich wieder beim Training, jedoch musste sie es zu ihrem Verdruss noch langsam angehen lassen. Sie war sehr gut, aber lange nicht so gut wie Luise. Ihre unvergleichliche Präsenz und ihre grandiose Technik hatten ihr die Rolle des schwarzen Schwans eingebracht. Es war der pure Stolz, der sie über das Parkett gleiten ließ. Mit ihrer Leichtfüßigkeit und Erfahrung war sie ihrer Freundin und den anderen Tänzerinnen einen großen Schritt voraus. Aber es entstand kein Konkurrenzkampf. Voneinander zu lernen, hieß hier die Philosophie. Das Talent musste sie zweifelsohne von der Mutter geerbt haben, die selbst auf Galas und in Theatern getanzt und geturnt hatte. Wenn Luise tanzte, fühlte sie sich ihr nahe. Sie glaubte, sich sogar so zu fühlen, wie sie sich gefühlt hatte. Seit sie denken konnte zog es sie zweimal die Woche zum Ballettunterricht, der den perfekten Ausgleich zu ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung darstellte. Doch niemals zuvor hatte sie etwas Anspruchsvolleres getanzt, was sich in einem höllischen Muskelkater äußerte, und auch eine mehrere Jahre zurückliegende Knieverletzung meldete sich in Form von fiesen Stichen zurück. Unglaublich wie ein längst verheilter Bänderriss doch immer wieder Probleme bereiten konnte, gerade jetzt, da sie keine 15 mehr war. Ihre Gelenke würden bald schon zum älteren Semester zählen, aber das war kein Hindernis für sie. Ganz besonders heute strotzte sie vor Motivation und genoss das Gefühl, dass sie mit jedem kleinen Zwicken einen weiteren winzigen Schritt nach vorne machte. Aufhalten ließ sie sich erst, wenn ihre Knochen komplett versagten. In dieser Hinsicht war sie unvernünftig. Sie gönnte ihrem Körper nicht immer die Pausen, die er vielleicht brauchte. Das Tanzen ließ sie sich von nichts und niemandem nehmen.
Nach der anstrengenden Stunde trödelten die beiden Freundinnen heute beim Duschen und Anziehen herum und quatschten lange bei einem gemütlichen Dosengetränk aus dem Automaten. Es war nicht selbstverständlich, dass sie sich so unbefangen unterhalten konnten, denn Michelle hatte einen sehr launischen Charakter. Wenn sie etwas beim Tanzen störte, sie mit der Gestaltung der Stunde oder mit ihrer Leistung nicht zufrieden war, konnte man sie manchmal mit der Kneifzange nicht anfassen. Dann rauschte sie ohne ein weiteres Wort einfach aus der Kabine, was bei den anderen Mädchen für Unbehagen sorgte. Luise mochte sie trotzdem und meinte es auch nicht böse, wenn sie ihre Erziehung für das ungezügelte Temperament verantwortlich machte. Einzelkind, verwöhnt, wohlhabende Eltern. Das erklärte eigentlich alles. Aber sie konnte auch ebenso freundlich und hilfsbereit sein. In ihr hatte sie eine Freundin, auf die sie sich im Ernstfall verlassen konnte. Noch dazu war sie eine wahre Märchenbuchschönheit mit einem ansehnlichen runden Hinterteil, nussbraunem glattem Haar und großen braunen Augen, die unter dem schrägen Pony hindurch blitzten. Sie war immer stilvoll gekleidet, trug goldene Ballettschuhe, dazu wenigstens ein Kleidungsstück oder Accessoire im Leopardenmuster und besaß immer die begehrtesten Designer-Handtaschen. Zu dick aufgetragen? Nein, alles in einem sympathischen Maße. Als schüchterne Zehnjährige war Luise vor einer gefühlten Ewigkeit in diesen Kurs gekommen und heftete sich sofort an die Fersen der niedlichen offenherzigen Michelle. An Abenden wie diesen wurde ihr wieder klar, welch Glück sie hatte, sie damals kennengelernt zu haben.
An eine Ballettkarriere wollte Luise trotz ihres besonderen Talentes nicht denken. Ihr Entschluss stand fest, auch wenn die Ballettlehrerin ihr eine ruhmreiche Zukunft prophezeite. Das Lob tat ihr gut. Sie genoss es in vollen Zügen. Auch Michelle hatte es noch nicht aufgegeben, sie zu einem Vortanzen an einer richtigen Kunstakademie zu überreden und schenkte ihr sogar sündhaft teure Schläppchen zum 20. Geburtstag. Doch eine Karriere als Künstlerin stellte sich Luise überaus hart vor. Zu hart. Allein schon die Tatsache, dass sie nie wüsste, wo sie ihr nächstes Arrangement bekommen würde. Wenn sie überhaupt eines bekäme. Das war so unfair. Mit welchem Recht verdiente man in der Industrie oder als Manager einen Haufen Kohle und als Künstler, der jeden Tag das beste aus sich herausholte, womöglich gerade genug, um über die Runden zu kommen? Ein geregeltes Leben mit festem Einkommen in einer Forschungsgruppe gehörte da eher zur Kategorie der sichereren Existenz. Sie fand sich in beidem wieder, in der Kunst und in der Wissenschaft. Für ihren beruflichen Werdegang erschien ihr Letzteres die richtige Entscheidung gewesen zu sein. Eine Vernunftentscheidung, keine Frage. Jedenfalls sah es zu diesem Zeitpunkt danach aus.
Kapitel 2
Interessante Fremde
Kurz bevor die Abschlussprüfung zum aktuellen Praktikum ins Haus stand, traf Luise sich erneut mit ihren Freunden zum Lernen in der Universitätsbibliothek. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte ihren schweren Kopf in die freien Handflächen. Das Wetter hatte sich inzwischen um 180 Grad gedreht. Draußen war der Himmel klar und blau, und an seinem höchsten Punkt glitzerte die Sonne, die mit ihren kraftvollen Strahlen das oberste Geschoss der Bibliothek flutete. Es war ein wenig stickig zwischen tausenden von teilweise uralten Büchern, die dem Raum seinen charakteristischen Geruch verliehen. Zwischen rauchenden Köpfen von Studenten unterschiedlichster Altersklassen und dem hektischen Kritzeln von Kugelschreibern auf losem Papier herrschte dennoch eine angenehme Lernatmosphäre. Trotz des Feiertages hatte eine Vielzahl von Gleichgesinnten den Weg in die Uni gefunden, um zu lernen. Die meisten von ihnen bevorzugten noch immer die klassische Lernmethode mit Zettel, Stift und Textmarker. Auch Luise zählte zu ihnen. Und ihre Leistungen sprachen für sie, wenn sie sich aufopferungsvoll noch am späten Nachmittag mit John zusammensetzte, um ihm das gleiche Thema zum dritten Mal zu erklären. Doch es machte ihr nichts aus.
Das bedeutete nicht, dass ihr das Lernen nicht auch schwerfiel. Manchmal trieb es sie sogar an den Rand einer Depression, wenn sie tagelang keine frische Luft bekam. Das wussten die anderen nicht. Sie wussten nicht, dass sie des Öfteren mit der Rübe auf dem Bücherstapel und dem tonnenschweren Ballast auf den Schultern dasaß und sich wünschte, ausbrechen zu können, wenn die Kräfte sie verließen und sich das Ziel ihrer Sichtweite entzog, wenn sie sich nachts nach der Ballettstunde noch den Stoff reinzwängte, nur um bei der nächsten Prüfung nicht zu versagen, und wenn sie darauf verzichtete, mit ihrem Vater in den Urlaub zu fliegen, weil sie Angst hatte, nicht genug Zeit zum Lernen zu finden. Sie wussten nicht, wie schwer ihr die Unpersönlichkeit zusetzte, die niederringende Gewissheit, nur eine Nummer zu sein zwischen den vielen anonymen Figuren, eine Nummer auf den mit Abfall besudelten Fluren, zwischen den überlaufenden Mülleimern, in den nach Käsebroten und Schweiß stinkenden Hörsälen, nur eine Nummer für die Professoren, die sich nichts um die Opfer scherten, welche die Studenten zum Bestehen an dieser ach so tollen Hochschule aufbringen mussten, die sich nichts um die Menschenopfer scherten, die auf der Strecke blieben mit nichts in der Hand, die auf sich allein gestellt waren, die heimlich heulend hinter der geschlossenen Labortür zusammenbrachen, und das ohne Abschluss, ohne Aussichten, womöglich ohne finanzielle Absicherung, ohne Lebensmut und ohne Freunde. Derer gab es hier ganz bestimmt nicht viele. Hier gönnte der eine dem anderen den Dreck unter den Fingernägeln nicht. Hier wurden die Ellenbogen ausgefahren, wenn es darum ging, sich vor den Professoren zu präsentieren, vor den verachtenswerten Robotern ohne Gesicht, ohne Stimme, ohne jegliche Form von menschlicher Anmut, vor den missgünstigen Kommilitonen aus den höheren Semestern, die nur darauf aus waren, die Jüngeren zu vernichten, und das alles nur, um sich nicht mit der eigenen Inkompetenz auseinandersetzen zu müssen. Sie erwarteten anscheinend, dass sie für ihre Methoden geachtet wurden. Vielleicht genossen sie es sogar, dass sich manche vor ihnen fürchteten, dass manche die Prüfungen fürchteten, ganz besonders die mündlichen, in denen man den herzlosen Arschlöchern gegenübersaß, die nur darauf warteten, ein Defizit aufzudecken, in das sie hineinbohren konnten, um sich eine Macht zu verschaffen, die sie tragischerweise nötig hatten. Vielleicht genossen sie es, die Schwächeren zu erniedrigen, damit diese sich klein, ungenügend und minderwertig fühlten und den Studiengang abbrachen, damit wieder Platz in den maßlos überfüllten Praktikumslaboren geschaffen werden konnte, damit man um die Korrekturen der Klausuren herumkam, um den frühen Feierabend zu genießen, während die, die dem Druck nicht mehr standhielten, mitten in der Woche noch zur späten Abendstunde zu den Eltern in die Heimat fuhren, um sich auszuweinen, nur um dem kommenden Morgen mit gequollenen Augen angsterfüllt entgegenzutreten.
Was musste bei der Anordnung der Synapsen dieser Menschen falsch gelaufen sein, wenn sie mit der Peitsche hinter ihnen standen, wenn sie sie einpferchten wie eine Herde wertloser Massetiere, wenn sie mit ihnen sprachen, als wären sie lästige Dummköpfe? Schublade auf, reinstopfen, Schublade zu, runterschlucken, erledigt. Das gelang vielleicht einigen männlichen Geschöpfen, jedoch weniger den unerfahrenen Mädchen, die sich vertreiben ließen.
Es war keineswegs als Schwäche zu bezeichnen, wenn sie die Notbremse zogen, um sich stattdessen umzuorientieren. Ganz im Gegenteil: Diejenigen, die den Mut aufbrachten, sich selbst zu schützen und sich das Mobbing nicht länger bieten ließen, waren zu beneiden. Luise hoffte, dass sie woanders die Wertschätzung erhielten, die jeder Einzelne von ihnen verdiente.
Wenn die Furcht vor dem alles vernichtenden Absturz sie einholte, musste sie sich eingestehen, dass auch sie durch diese toxischen Hoheiten ein Unrecht ereilen könnte. Es war nicht auszuhalten. Wenn sie sich vorstellte, ihr Vater erkrankte wieder und würde zum Pflegefall, würde es jemanden interessieren? Würde man ihr entgegenkommen, in welcher Form auch immer? Ganz bestimmt nicht. Was wäre dann? Blieb ihr dann noch eine Chance oder hätte sie schlicht und ergreifend Pech gehabt? Wäre sie nicht angetrieben worden durch seine Krebsvergangenheit, wäre sie wahrscheinlich längst an all dem zerbrochen. Sie hielt durch, um seine Erwartungen nicht zu enttäuschen. Sie tat es für ihn. Es könnte sie genauso ereilen. Doch die Studienkollegen wussten es nicht. Sie sahen in ihr nur die fleißige Vorzeigestreberin, die die Klausuren mit Bravour meisterte. Und das Schlimmste daran war: Es war in Ordnung. Es musste niemand wissen, dass auch sie sich quälte, dass auch sie schwach war und anfing, an sich selbst zu zweifeln und sich zu fragen, ob sie sich das alles vielleicht nur einbildete. Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt noch klar sehen konnte, weil sie einen solchen Hass gegen diese Kreaturen hegte.
Aus ihrer Lerngruppe war Luise aber tatsächlich die Beste. Da ihr das Studium keine unüberwindbaren Hindernisse in den Weg stellte, sah es so aus, als könnte sie im sechsten Semester wie geplant die Bachelorarbeit schreiben. Darauf konnte sie sich etwas einbilden, denn einige ihrer Kommilitonen schafften nicht einmal das erste Jahr, eben aus den genannten Gründen. Luises Freunde beschrieben sie gerne als den Ruhepol der Gruppe. Manche empfanden sie deshalb vielleicht auch als steif, schüchtern oder nerdig, aber das war sie keineswegs. Tatsächlich ließ sie sich leicht beeinflussen, duckte sich vor den Peinigern, bezog deren Verachtung auf sich persönlich, zerbrach sich über Kleinigkeiten den Kopf und dachte nachts unter der Bettdecke über ihre Zukunft nach. Die Mitglieder ihrer kleinen Clique gönnten ihr die guten Noten, denn der Grund für ihren Ehrgeiz ließ keinen von ihnen kalt. Sie bewunderten sie für ihren Mut, sich für Krebsleidende einzusetzen. Viele wussten noch nicht einmal ansatzweise, wofür sie eigentlich studierten. Irgendetwas müssten sie nach der Schule machen, rechtfertigten sie ihre Entscheidung. Dass sie sich trotzdem mit voller Motivation den vorherrschenden Umständen und dem knallharten Stoff stellten, konnte sie nur bewundern.
Leonard mit der ulkigen bunten Baseballkappe zum Beispiel. Bei ihm kam es nicht selten vor, dass er seinen Dackel mit zur Uni bringen musste, weil seine Eltern im Schichtdienst arbeiteten und sich sonst niemand um das Tier kümmern konnte. Der überfrachtete Bursche strotzte den Strapazen mit schwarzen Rändern unter den Augen. Ein Professor gestattete jedoch keine Hunde in seinem Seminar, weshalb dieser dann vor dem Hörsaalgebäude warten musste. Es zerriss ihm das Herz, das wusste Luise. Deshalb gab sie regelmäßig vor, auf die Toilette gehen zu müssen, um nach ihm zu sehen. Sie hatte sogar für den Fall der Fälle immer ein paar Leckerchen für ihren kleinen Freund dabei.
Agathe hingegen, die mit den dicken runden Brillengläsern und den strohigen Haaren aussah wie eine Vogelscheuche, hatte es innerlich schon aufgegeben. Es war Luise ein Rätsel, warum sie trotzdem immer wieder kam. Sie hatte bereits diverse Klausuren auf die lange Bank geschoben und befand sich mindestens drei Semester im Rückstand. Wenn es überhaupt einen Menschen gab, den Luise nicht ausstehen konnte, dann käme sie in die engere Auswahl. Sie war eine lupenreine Außenseiterin. Wenn sie nicht selbst alles dafür getan hätte, sich bei ihren Kommilitonen unbeliebt zu machen, wäre sie beweinenswert gewesen.
John stöhnte unaufhörlich über die riesigen langkettigen Moleküle, dessen Strukturformeln er sich einfach nicht merken konnte. Luise versuchte, ihm ein paar Tricks zum Auswendiglernen näherzubringen. Das Reaktionsverhalten zu erklären, stellte sich allerdings als noch viel schwieriger heraus. Wie hatte er es nur bis dahin geschafft, wenn er die simpelsten Regeln nicht beherrschte? Zugegeben, was sie als simpel empfand, konnte für andere eine große Hürde sein. Also atmete sie einmal tief durch, schluckte ihren Verdruss mit einem Hieb kalten Kaffee hinunter und startete noch einmal ganz von vorn. Sie schüttelte sich kurz wegen des bitteren Geschmacks. So wie sie es erklärte erschien es logisch, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass er noch immer nicht alles verstand. Vielleicht gab er es aber auch nur vor, um Zeit mit ihr zu verbringen.
Als sie am frühen Abend endlich die Mappen zusammenpackten, war Luise erleichtert, dass sie sogar viel mehr geschafft hatte, als erwartet. Sie war zusammen mit John die Letzte in der Bibliothek, bevor diese schloss. Schwungvoll warf sie sich in ihre schwarze Umhängetasche. Noch bevor sie das Gebäude ins Freie verließen und der netten Bibliothekarin einen schönen Feierabend wünschten, witterte sie die Wärme, die von draußen hereinströmte. Sie zog den rosafarbenen Kapuzenpulli aus. Auch John trug jetzt seine Jacke über dem Arm, während sie zur Bahnhaltestelle schlenderten. Er war groß und von kräftiger Statur mit kurzen hellbraunen Haaren, blauen Augen und einer unauffälligen Brille, die in seinem runden Gesicht unterging. Im Freien verdunkelten die Gläser. Insgesamt hatte er eher wenig zu bieten, was anziehend auf Frauen wirken könnte. Er kam ein wenig behäbig und gleichgültig daher, kleidete sich nicht sehr stilvoll und trug einen Rucksack, den vermutlich schon sein Vater mit zur Schule genommen hatte. All das hatte aber nichts damit zu tun, dass er ein ehrlicher und herzlicher Mensch war, der keiner Fliege etwas zuleide tat. Außerdem war sie nie einem aufmerksameren oder hilfsbereiteren jungen Mann begegnet. Er war ihr über die drei Jahre, die sie sich inzwischen schon kannten, wirklich ans Herz gewachsen. Sogar bei seiner Familie im Rheinland war sie schon zum Essen eingeladen worden. Wenn am Wochenende nichts in Stuttgart anstand oder am Montag nicht maßgebliche Testate auf sie warteten, nahm John gerne die mehrstündige Pendelstrecke auf sich, um bei seiner Familie zu sein. Das konnte sie voll und ganz verstehen. Sie hatten es wirklich schön mit einem eigenen kleinen Häuschen mitten im Feld, von wo aus der gigantische Fluss zu Fuß zu erreichen war. Auch seine Eltern waren freundlich. Sie fühlte sich bei ihnen wohl und geborgen. Sicher hofften sie, dass aus ihrer Freundschaft irgendwann doch mehr werden würde, aber das Thema kam nie zu Tisch. Zum Glück!
An der Haltestelle angekommen, trat sie von einem Fuß auf den anderen und ließ ihre mittlerweile müden Augen in der Gegend umherschweifen.
„Wo war eigentlich nochmal Michelle heute?“, fragte sie.
„Ihre Mutter hat heute Geburtstag und sie haben einen Brunch gemacht. Ach Mist, Entschuldigung …“
„Es ist schon gut, wirklich.“
Luise spielte es herunter, doch sie dachte unvermeidlich wieder an sie und dann an den Schattenmann. Ob er sie auch gesehen hatte? Mit dem Gedanken im Hinterkopf stieg sie in die Bahn ein. Sie sprachen nicht mehr viel miteinander, was aber weniger daran lag, dass John eben mit Anlauf in ein Fettnäpfchen getreten war, als dass sie beide von dem Lernmarathon völlig ausgelaugt waren. Ein kleines Lächeln warfen sie sich noch ab und an mal zu. Als John schließlich ausstieg, musste sie noch einige Stationen fahren. Der Magen hing auf den Schuhsohlen, und das widerliche Gefühl von gähnender Leere wurde durch den aufdringlichen Parfumgeruch ihrer Sitznachbarin nicht gerade gelindert. Es störte sie so sehr, dass sie überlegte, sich woanders hinzusetzen. Unauffällig spähte sie zu ihrer Rechten, doch die reife Frau hatte den Kopf abgewandt und schien ein Taschenbuch zu lesen. Vielleicht tat sie aber auch nur so. Jedenfalls bewegte sich weder ihr Kopf noch blätterten ihre Finger die Seiten um. Sie trug die glänzenden pechschwarzen Haare streng zusammengebunden. Ihre Augen wurden von ebenso schwarzen Wimpern auf dem halb gesenkten Lid verdeckt. Was sie da zu lesen vorgab? Sie schien nahezu eingefroren in der aufrechten Sitzhaltung. Vielleicht träumte sie. Doch kurz bevor die Bahn an der nächsten Haltestelle zum Stehen kam, klappte die Frau das Buch plötzlich zu und stand schnell auf, als hätte sie verschlafen, dass sie aussteigen musste. Es geschah so unvorhergesehen, dass sie nicht einmal einen Blick auf das Gesicht der Fremden werfen konnte. Luise beobachtete noch, wie sie den ersten Fuß auf den Bahnsteig setzte. Doch nanu? Was lag da auf dem leeren Sitz? Sie wollte gerade aufspringen und nach ihr rufen, doch genau in diesem Augenblick war die Bahn schon wieder angefahren. Wie rief man nach einer Fremden? Ey? Sie hatte die Knie noch nicht ganz durchgestreckt, als die Kraft sie bereits zurück in den Sitz schupste. Sie versuchte noch einen Blick auf den Bahnsteig zu erhaschen, doch die schlanke Person in Schwarz war verschwunden. Luise verstaute ihren Fund zunächst in der Tasche, ohne hineinzusehen.
Die Sonne verschwand bereits hinter den bescheidenen Häuschen der Siedlung, als sie vom Vater liebevoll begrüßt wurde.
„Da bist du ja endlich, Schatz. Ihr habt aber lange durchgehalten“, sagte er. Luise befreite ihre hitzigen Füße aus den weißen Sneakers und kühlte sie dann auf den Fliesen der Wohnküche, während er sie an den Tisch bat. Es duftete himmlisch nach seiner selbstgemachten Lasagne, die in diesem Moment gekonnt aus dem Ofen befördert wurde. Normalerweise schaufelte sie solche Kalorienbomben nur in abgezählten Portionen in sich hinein. Ihre Gesundheit und die Figur waren ihr wichtig. Sie achtete darauf, was sie aß und in welchen Mengen. Abends fiel die Mahlzeit meist kohlenhydratfrei und fettarm aus, aber heute machte sie eine Ausnahme, da sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte und sie ihren Vater sonst bitter enttäuschen würde. Sie freute sich auf die leckere Sünde und setzte sich an den kleinen Küchentisch, der umringt von vier Holzstühlen genau die richtige Größe für zwei Personen hatte. Er hatte ihn wie so oft geschmackvoll gedeckt mit einer frühlingshaften Tischdecke und leuchtend grünen Platzsets passend zur Wandfarbe der Küche. Er kümmerte sich wirklich um alles im Haushalt. Natürlich griff sie ihm auch ab und an mal unter die Arme, aber er war der Meinung, sie sollte sich lieber auf ihr Studium konzentrieren.
Dieser Teil der Wohnung war der hellste und beeindruckte des Öfteren mit bunter Dekoration, die sich stilvoll von dem glänzenden Weiß der Küchenmöbel abhob. Wenn sie Besuch hatten, saßen sie jedoch meistens auf der schwarzen Ledercouch nebenan, auf der mindestens zwei Personen bequem schlafen konnten. Der Bereich des Wohnzimmers grenzte sich auch farblich von der Küche ab. Dort regierten eher sanfte Erdtöne, die zum gemütlichen Verweilen einluden. Nicht selten kam es vor, dass ihr Vater auf der einen und sie auf der anderen Hälfte der Couch abends vor dem Fernseher einschliefen. Meistens war das der Fall, wenn sie ausgiebig gegessen hatten, sich anschließend ein langweiliges Fußballspiel anschauten und der prachtvolle Deckenfluter in der Ecke auf niedrigster Stufe stand.
Luises Vater hieß Stefan und arbeitete schon seit vielen Jahren als Angestellter bei einer Versicherung, weshalb er meistens spießige blaue Businesshemden trug, die ihm durchaus gut standen und das Tattoo verdeckten. Er war sehr dankbar dafür, dass die Firma ihm nach seiner schweren Krebserkrankung vor knapp 15 Jahren einen Festvertrag angeboten hatte, und mit dieser Einstellung stand er jeden Morgen auf, hoch motiviert und zutiefst dankbar. So eine Lebenseinstellung konnte nur jemand haben, der dem Tod ins Auge gesehen hatte. Was das anging, war er einzigartig.
Außerdem war er streng katholisch. Sein nie endender Glaube stärkte ihn darin, in allem stets das Gute zu sehen. Diese positive Eigenschaft hätte Luise nur zu gern von ihm geerbt. Was das anging, war er ein beneidenswerter Optimist.
Nur wenn es um die Sicherheit seiner Tochter ging, schlug er manchmal ein wenig über die Stränge. Er war so extrem vorsichtig, dass es mitunter ganz schön nervte. Sie durfte nirgendwo alleine hingehen und nicht nach 22 Uhr nach Hause kommen. Was das anging, war er streng. Sehr streng. Er besuchte fast jeden Sonntagmorgen die Kirche, wo er sich regelmäßig mit Freunden und Bekannten traf. Ansonsten verließ er eher selten seine gewohnte Umgebung, höchstens um gelegentlich eine Runde mit dem Motorrad zu drehen. Was das anging, war er eigen.
Sie glaubte, dass er die abgöttische Liebe zu seiner Frau nach deren Tod über sie ausgeschüttet hatte, sodass er sie in gewisser Weise für zwei Menschen gleichzeitig liebte. Er dachte, sie würde es nicht bemerken, dass er nachts zwischen seinen Aktenordnern im Lichtkegel der Schreibtischlampe hockte und über den alten Fotos weinte. Er besuchte sie nie auf dem Friedhof. Es tue zu sehr weh. Aber er dachte an sie zu jeder Stunde. Was die Liebe anging, war er gebrochen. Was das für Luise bedeutete? Hatte sie die Befürchtung, im Schatten der Mutter zu stehen? Ja, manchmal quälte es sie, dass er sie nicht in ihr wiederfand. Es quälte sie, ihm nicht zu genügen und gleichzeitig quälte es sie, dass er ihr in gewisser Weise auch nicht genügte. Sie schämte sich beinahe für dieses Empfinden.
„So, bitte sehr.“
Er füllte eine Portion Lasagne auf. Seine schwarzen Augen funkelten sanftmütig. Er war groß, schlank und ein paar graue Strähnen dekorierten sein volles schwarzes Haar. Den Vollbart hatte er zum Glück vor ein paar Wochen abrasiert. Luise mochte seinen Bart nicht. Sie war der Ansicht, er habe sein weiches Gesicht älter und strenger erscheinen lassen.
So erzählte sie gut gelaunt von ihrem Lernerfolg, gab aber auch zu, sich nach dem Essen zur Ruhe legen zu wollen.
„Danke, Papa. Es war sehr lecker wie immer“, schmatzte sie mit dem letzten Bissen noch im Mund.
Über Stefans Gesicht huschte ein stolzes Lächeln.
„Ach so, Papa. Ich habe in der Bahn ein Portemonnaie gefunden. Ich glaube, die Frau, die neben mir saß, hat es verloren.“
Sie holte das kleine Portemonnaie hervor und öffnete es, während Stefan das dreckige Geschirr in die Spülmaschine räumte.
„Du solltest es beim Meldeamt oder bei der Polizei abgeben. Ist denn ein Ausweis darin?“
„Ja, ich habe ihn hier. Ich glaube, das ist die Frau auf dem Bild. Kommt auf jeden Fall hin.“
Sie streckte die Karte ihrem Vater entgegen, der überhaupt nicht hinschaute.
„Ich kann es morgen mitnehmen und abgeben, wenn du möchtest. Wenn ein Ausweis dabei ist, dann sollte es für sie kein Aufwand sein, die Person zu finden und ihr die Sachen wieder zu geben“, schlug er vor.
„Nein, danke. Ich mache es schon selber.“
„Wie du möchtest, Lui. Aber warte nicht zu lange, die arme Frau vermisst ihre Wertsachen bestimmt schon.“
Sie warf sich mit dem ohnehin heißgelaufenen Laptop und der Brieftasche aufs Bett und gab aus plötzlich in ihr aufkommender Neugier den Namen der Unbekannten in die Suchmaschine ein. Vielleicht fand sie ein paar Informationen über die Frau, die ihr irgendwie mysteriös vorgekommen war. Ungeduldig wartete sie, bis das System hochgefahren war. Vorher zog sie aber noch die roten Kuschelsocken an, denn die Füße wurden schon wieder kalt. Und tatsächlich gab es unzählige Einträge im Internet zu dem Namen Clara Vargar.
Irre. Die Frau war eine berühmte Bühnendarstellerin. Warum fuhr so jemand mit der U-Bahn? Sie riss die Augen weit auf, als sie prachtvolle Fotos von ihr entdeckte. Luises Neugier wuchs weiter. Sie drehte den steinschweren Körper etwas auf die Seite, um nicht auf dem vollen Magen zu liegen und vergrößerte ein Bild, auf dem nur ihr makelloses Gesicht zu sehen war und zoomte ihre geschminkten Augen heran. Das Foto war in Graustufen aufgenommen. Sie konzentrierte sich weiter auf die grauen ausdrucksvollen Augen, die wie ein Laserstrahl in sie eindrangen und sie analysierten. Irgendwo hatte sie diese Augen schon einmal gesehen, so vertraut kamen sie ihr vor. Wie paralysiert ließ sie die Fotos auf sich wirken. Für einen kurzen Moment dachte sie …
Sie schreckte leise zurück. Nein, das war nicht möglich. Welch wilde Verschwörungstheorien spukten auf einmal in ihrem dummen Gehirn herum? Doch dann war es ihr plötzlich so, als stünde jemand im Raum, ganz nah an der Bettkante. Doch es war niemand da. Niemand beobachtete sie. Vorm Fenster schoss ein großer Schatten durch die Luft. Aber es war nicht der Vogel da draußen, der sie erschreckt hatte. Es waren vielmehr ihre eigenen irren Gespinste. Wovor hatte sie nun wirklich Schiss bekommen? Was es auch immer war, es trieb ihr den kalten Schweiß zwischen die Schulterblätter, der sich langsam seinen Weg über die Wirbelsäule bahnte. Sie schnaubte und atmete mit aufgeplusterten Wangen einmal tief ein und aus, doch sie erholte sich so bald nicht von dem Schreck.
Völlig aufgelöst stöberte sie weiter auf der Homepage der Darstellerin und fand heraus, dass sie momentan für eine längere Zeit in Stuttgart im SI-Zentrum zu sehen war. Somit warf sie den Gedanken, zum Meldeamt zu gehen, relativ schnell über Bord und nahm sich stattdessen vor, ihr das Portemonnaie am nächsten Abend persönlich vorbeizubringen. Irgendetwas in ihr verleitete sie dazu, das tun zu müssen, irgendetwas in ihr witterte die Notwendigkeit, diese Clara zu sprechen, sie live zu sehen und zu erleben. Ja, warum sollte sie sich nicht auch das Musical ansehen, wenn sie schon einmal da war?
Aufgeregt sprintete Luise auf den rutschigen Socken zurück ins Wohnzimmer, wo sich Stefan soeben aufs Sofa hatte sinken lassen.
„Papa, das ist voll cool. Ich habe heute neben einem Star gesessen und wusste es nicht“, prahlte sie, doch das erhoffte Staunen äußerte sich bei ihm in nüchterner Gleichgültigkeit.
Luise führte sich noch einmal das Kärtchen vor Augen, um den Namen zu lesen.
„Ja, sie heißt Clara Vargar und spielt im Moment die Hauptrolle hier in … den Namen des Stücks hab ich vergessen. Kennst du auch nicht, oder? Ich glaube, sie ist eher in der Theaterszene bekannt.“
„Zeig mal das Bild“, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen, die ein wenig zitterte. Nichts Böses ahnend setzte sie ihn von ihrer Absicht, Clara persönlich zu treffen, in Kenntnis.
„Auf keinen Fall!“, war die cholerische Reaktion ihres Vaters, der dabei explosiv aufsprang. Luise riss die Karte erschrocken wieder an sich und starrte ihn verunsichert an.
„Warum denn nicht? Kennst du sie etwa?“
„Was, nein!“
„Du hast wie schockgefroren auf das Bild gestarrt. Ich verstehe es nicht. Du bist auf einmal so aufgebracht. Was ist los?“, sagte sie giftig. Seine Reaktion behagte ihr überhaupt nicht. Sie verstaute Claras Ausweis in ihrer Hosentasche, als wollte sie das Kärtchen vor ihm beschützen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er war wie ausgewechselt. So hatte sie ihn noch nie erlebt.
„Bitte“, sagte er jetzt etwas sanfter und legte die Hände aufeinander, als betete er sie an.
„Ich möchte nicht, dass du nachts allein in dieser Gegend herumläufst.“
Sie versuchte zu lächeln. Seine übertriebene Vorsicht und die überspannte Angst rührten ihr Herz. Liebevoll umarmte sie ihn und versicherte ihm, dass er sich keine Sorgen machen brauche, aber dennoch versuchte er weiter, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
„Ist es wegen diesem Richard? Glaubst du, er hat mich vielleicht gesehen und könnte mir auflauern? Das ging mir jetzt schon ein paar Mal durch den Kopf.“
„Nein, das glaube ich nicht. Trotzdem wimmelt es hier von Gefahren.“
„Ich frage John, ob er mitkommt, ok? Und wenn er nicht kann, dann geh ich zum Amt, versprochen.“
Luises Rührung schwenkte in Unverständnis um, und sie rollte, natürlich nur gedanklich, mit den Augen. Er nickte kaum vernehmlich. Sie gab ihm ein Bussi auf die Wange.
„Ich will doch nur nicht, dass dir etwas zustößt“, nuschelte er leise.
„Das weiß ich doch. Aber schau mich an, ich bin jetzt erwachsen und ich muss lernen, die Gefahren selbst einzuschätzen. Mir wird schon nichts passieren.“
Sie nahm seine Hand und drückte sie. Es erinnerte sie daran, wie er ihre Hand so festhielt wie es ihm nach den Strapazen der Chemotherapie noch möglich gewesen war und ihr ein Versprechen gab, von dem er selbst nicht wusste, ob er es halten konnte.
Der Abend entwickelte sich noch zu einem ganz gewöhnlichen Beisammensein. Sie saßen auf der Couch und ließen sich vom Fernsehprogramm berieseln. Jedoch irgendwas war hier faul. Sie beobachtete Stefan noch eine Weile. Er schwieg. Sie konnte sein Gehirn qualmen sehen. Er blieb völlig still und nachdenklich. Schaute er etwa diesen abgrundtief schlechten Film so aufmerksam oder tat er nur so? Was ging ihm durch den Kopf? Was machte ihm wirklich Angst? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er die Person auf dem Foto kannte und es nur nicht zugab. Hielt er sie wirklich für so naiv, dass sie nicht merkte, was die Nennung ihres Namens bei ihm ausgelöst hatte? Vielleicht kannten sie sich von früher aus der Schulzeit. Immerhin waren sie in demselben Alter. Aber auch das wäre noch lange kein Grund, so in die Luft zu gehen. Sei es drum. Sie würde der Frau den Ausweis und das Geld zurückgeben und sie danach nie wieder sehen. Das war’s. Das war der Plan.
Die Zeit verabschiedete allmählich den Tag. Und während Luise sich von der rechten Seite auf die linke und wieder zurück wälzte und Stefan sich bereits im Tiefschlaf befand, kontaktierte sie John, der sie gerne unter der Bedingung, dass sie sich die Show auch ansahen, ins Theater begleitete. Freudestrahlend legte sie das Smartphone beiseite und wartete, bis der todlangweilige Film sie ebenfalls einschläferte.
Kapitel 3
Der Filmriss
Hochmotiviert brach Luise zur letzten Vorlesung der Woche auf und recherchierte währenddessen im Internet, welche Plätze in der Abendvorstellung noch frei waren. Eine vollkommen unbekannte Welt wartete auf sie. Warum war sie eigentlich noch nie in einem Musical gewesen? Sie zuckte gedanklich mit den Achseln und schob die Schuld Stefan zu. Wie sie dem Abend entgegenfieberte! Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit galt natürlich Clara, der unbekannten Frau mit den tiefsinnigen Augen und dem pechschwarzen Haar, die sie auf den Bildern so faszinierte. Wer war sie? Wie würde sie reagieren? Würde sie ärgerlich sein oder sich erleichtert freuen? Was für ein Typ Mensch war sie? Ach, wahrscheinlich ganz normal so wie sie und ihre Freunde! Wie Luise es auch drehte und wendete, es wollte ihr einfach nicht gelingen, sich nicht für Clara zu interessieren, für ihr Wesen, ihre Motivationen, für ihre beispiellose Karriere und dafür, wie sie es geschafft hatte, tausende von Menschen mit ihrer Kunst zu erreichen, sie mitzureißen, sie zu erlösen von ihrem langweiligen Alltag, sie zu entführen und zum Staunen zu bringen, Tag für Tag aufs Neue. Was musste das für ein Gefühl sein? Wie ein Rausch! Menschen glücklich machen. Gab es denn eine sinnvollere Art, sein Dasein zu fristen?
Moment mal, sie schweifte schon wieder zu weit ab. Sie brachte der Frau nur die Wertsachen wieder. Das war alles. Luise klappte den Laptop mit der eben noch geöffneten Seite entschlossen zu. John lächelte herüber. Natürlich entging ihm das Glitzern in den Augen seiner Freundin nicht.
„Wir nehmen die beiden Plätze in der sechsten Reihe, die noch frei sind „, flüsterte er ihr zu, während der Mathematikprofessor eine komplizierte Herleitung an die Tafel schmierte, der sie sowieso nicht folgen konnten.
„Bist du verrückt?“, schoss es aus ihr heraus. „Die kosten 120 Euro. Wir warten erstmal ab, womöglich sind die bis heute Abend verkauft worden.“
„Hast du dir schon den Trailer zu dem Stück angesehen?“
„Nein, gibt es einen?“
„Ja“, sagte John mit hochgezogenen Augenbrauen. Luise entflammte noch mehr.
„Und? Gut?“
John versuchte, seriös zu sprechen, als interessierte es ihn eigentlich gar nicht.
„Voll gut. Und diese Clara ist echt geil.“
Beinahe hätten sie in ihrer Geistesabwesenheit verpasst, dass die ersten Studenten bereits aufstanden. Die Vorlesung war vorbei, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hätte sie die zwei Stunden auch länger schlafen können. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Es war mittags. Freitags hatten sie immer um diese Zeit Feierabend, seit sie das Praktikum beendet hatten. Das heißt, die letzten beiden Wochen, bevor nächste Woche ein neues Praktikum startete.
Luise und John beschlossen, in der Stadt auszusteigen und sich mit einem belegten Dinkelbrötchen vom Bäcker in den frühlingshaften Schlosspark zu setzen. Der prächtige Brunnen spuckte fröhlich Wasser, Concordia thronte stolz hoch oben auf der Jubiläumssäule und die warme Sonne schien auf ihre hitzigen Köpfe. Bei schönem Wetter genossen sie es des Öfteren, mit einem Kaffee oder anderen Leckereien dort auf einer Bank zu sitzen und den Kindern beim Toben, den Tauben beim Lauern oder den Passanten beim Einkaufen oder Pausieren zuzuschauen. Außerdem fanden sie es lustig, den Menschen beim Sprechen zuzuhören. Sie selbst war nicht mit dem typischen Schwäbisch bei ihrem Vater aufgewachsen, da er selbst nicht aus Stuttgart stammte, sondern aus Kiel, und John half sein rheinländischer Dialekt hier auch nicht weiter. Er tat sich manchmal sehr schwer, die Leute zu verstehen, wenn sie schnell sprachen. Manchmal plagte sie das Gefühl, dass er sie lange ansah, wenn sie interessiert die Gegend inspizierte oder von ihrem Brötchen abbiss. Sie versuchte, dieses unangenehme Detail auszublenden, denn sie mochte ihn wirklich sehr und wollte ihn unter keinen Umständen als Freund verlieren. Ein leichter Windstoß wirbelte plötzlich die leere Tüte von der Bank. Sie griffen gleichzeitig nach ihr. In solchen Situationen fühlte sie sich nicht besonders wohl, auch wenn sie es nach außen hin belächelte. Michelle war der Ansicht, dass sie ein schönes Paar abgeben würden, und sie glaubte, das war auch der Grund, warum sie manchmal urplötzlich nach Hause musste.
„Die Plätze sind immer noch frei. Hier, ich zeig dir mal den Trailer“, sagte John schließlich und gewährte ihr Einblick auf den Bildschirm seines Smartphones.
Während sie den letzten Bissen herunterschluckte, griff sie nach dem Kaffeebecher und beugte den Oberkörper ein Stückchen näher in seine Richtung. Es war ihr, als hätte ihr Herz für einen Augenblick aufgehört zu schlagen. Sie sei der absolute Wahnsinn, hauchte sie ehrfürchtig. Da sie nicht den gesamten Stadtpark damit unterhalten wollten, drosselten sie die Lautstärke. Angestrengt horchte sie der Melodie, die ihr aus unerklärlichen Gründen bekannt vorkam. Wo hatte sie diese Töne schon einmal gehört? Es ließ ihr keine Ruhe. Sie runzelte die Stirn und dachte nach. Vielleicht kannte sie es aus dem Radio? Vielleicht spielten sie Werbespots für das aktuelle Stück. Das wäre ja möglich. Doch Moment mal. Es dämmerte ihr. Die Person auf dem Friedhof hatte genau diese Melodie gesummt. Also war es doch kein Geist gewesen.
Das mitreißendste Psychodrama der deutschen Musicalgeschichte. Mit diesem Slogan warb das Stuttgarter Musicaltheater für sein neues Stück. Das knallrote Plakat glitzerte in der inzwischen tiefer stehenden Sonne. Luise spazierte heute ausnahmsweise am SI-Zentrum vorbei nach Hause. Die Kasse hatte noch nicht