Comandante - Edoardo De Angelis - E-Book
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Comandante E-Book

Edoardo De Angelis

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Beschreibung

Über eine Heldentat im zweiten Weltkrieg. „Ein beeindruckendes Zeugnis von der Notwendigkeit, Menschen in Seenot zu retten.“ Roberto Saviano

Herbst 1940: Das mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündete Italien befindet sich im Krieg gegen die Alliierten. Das U-Boot „Cappellini“ unter Kommandant Salvatore Todaro patrouilliert vor Madeira im Atlantik und versenkt ein feindliches belgisches Frachtschiff. Doch dann macht Todaro etwas Einmaliges: Unter Missachtung höherer Befehle, gegen den Widerstand der eigenen Besatzung, aber im Einklang mit dem Seerecht rettet er die 26 Überlebenden vor dem sicheren Tod.
Der Schriftsteller Sandro Veronesi und der Regisseur Edoardo De Angelis erzählen, was sich an Bord des winzigen U-Bootes abspielte, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Solidarität und dem Kampf um das eigene Leben.

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Das ist das Cover des Buches »Comandante« von Edoardo De Angelis, Sandro Veronesi

Über das Buch

Herbst 1940: Das mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündete Italien befindet sich im Krieg gegen die Alliierten. Das U-Boot »Cappellini« unter Kommandant Salvatore Todaro patrouilliert vor Madeira im Atlantik und versenkt ein feindliches belgisches Frachtschiff. Doch dann macht Todaro etwas Einmaliges: Unter Missachtung höherer Befehle, gegen den Widerstand der eigenen Besatzung, aber im Einklang mit dem Seerecht rettet er die 26 Überlebenden vor dem sicheren Tod.Der Schriftsteller Sandro Veronesi und der Regisseur Edoardo De Angelis erzählen, was sich an Bord des winzigen U-Bootes abspielte, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Solidarität und dem Kampf um das eigene Leben.

Edoardo De AngelisSandro Veronesi

Comandante

Aus dem Italienischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube

Paul Zsolnay Verlag

Eile zur Rettung mit Liebe, der Frieden wird folgen.

River Phoenix

Es gibt drei Arten von Menschen: die Lebenden, die Toten und die, welche zur See fahren.

Platon

Einleitung

von Sandro Veronesi

Die Geschichte, die zur Entstehung dieses Buches führte, ist wundersam, und eine wundersame Geschichte gehört erzählt. Sie spielt im Sommer 2018.

Der Sommer 2018 in Italien war furchtbar. Wie in jedem Sommer stiegen die Zahlen derer, die aus den libyschen Lagern übers Meer flohen. Es gab nur drei Möglichkeiten: Entweder landeten die mit Menschen überladenen Boote auf Lampedusa, Malta, Sizilien, in Kalabrien, oder die Migranten wurden sofort von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und zurück in die Lager gebracht; oder aber die Fahrt endete in einer Katastrophe, wenn die Motoren ausfielen, die Schlauchboote havarierten, die Boote kenterten und die Flüchtlinge zu Schiffbrüchigen wurden. Dieser Sommer 2018 war deshalb so entsetzlich, weil in Italien anstelle einer starken Solidaritätsbewegung eine massive fremdenfeindliche Reaktion aufkam, die sich vor allem gegen diese dritte Personengruppe richtete, jene Menschen, die, selbst wenn sie sich an ein paar Wrackteile klammerten, bestenfalls nur noch wenige Stunden lang eine Überlebenschance hatten. Über sie, die Ärmsten der Armen, wurden in den sozialen Medien die niederträchtigsten Sprüche verbreitet: »Wir wünschen den Fischen guten Appetit«, »Der Spaß ist vorbei«, »Ende der Kreuzfahrt«, während die italienische Küstenwache am Eingreifen gehindert wurde und die Migranten ertranken. Nur ein paar wenige nichtitalienische Rettungsschiffe wie SAR (Search and Rescue) kreuzten in diesen Gewässern und führten von Zeit zu Zeit Rettungsaktionen durch. Danach begann jedoch die Odyssee auf der Suche nach einem Hafen, in dem die Schiffbrüchigen an Land gebracht werden konnten. Mittlerweile hatte die italienische Regierung die berüchtigte Politik der porti chiusi (geschlossene Häfen) eingeleitet, während die fremdenfeindliche Welle über die NGOs, die die Rettung organisiert hatten, hereinbrach und sie zum Ziel einer infamen Verleumdungskampagne machte: »Meerestaxis« wurden die Rettungsschiffe genannt, in Anspielung auf eine auch in den vielen gerichtlichen Ermittlungen nie bewiesene Komplizenschaft der Retter mit den libyschen Bootsführern — natürlich gegen Bezahlung.

In dieser verrückten, von Wut und Frustration dominierten Zeit konnte ich nicht mehr schlafen. Meine Gedanken kreisten um diese Ungeheuerlichkeiten, nichts anderes interessierte mich, in meinem ganzen Leben hatte ich noch nie eine derartig radikale und intensive Erfahrung gemacht. Um gegen mein Unbehagen etwas zu unternehmen, nahm ich Kontakt zu den Verantwortlichen der NGOs auf und ließ mich auf die Wartelisten für künftige Besatzungen setzen. Vor allem aber gründete ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Bewegung: Ich stellte fest, dass viele meiner Freunde und Freundinnen, denen ich meine Frustration gestand, ebenso empfanden wie ich, und versammelte sie unter dem Namen »corpi«, Körper. Das sollte den Wunsch zum Ausdruck bringen, den eigenen Körper zwischen diese xenophobe Welle und deren Opfer zu stellen. Dabei verfuhr ich freilich so, als würde ich eine Geburtstagsparty veranstalten: Ich lud die Menschen ein, deren Engagement und deren Gewissenhaftigkeit bei der Ausübung ihrer Arbeit ich stets geschätzt habe; dabei stellte sich heraus, dass sich viele nur deshalb der Gruppe anschlossen, weil sie mit mir befreundet waren, dass sie sich aber nicht untereinander kannten. Ich werde die Liste aller Teilnehmer erst am Ende meiner Einleitung aufführen, möchte jedoch die Antwort von Antonio Pennacchi zitieren, einem der ganz wenigen unter ihnen, die älter sind als ich, als ich ihn zum Mitmachen aufforderte: »Verone’, ich geh zwar auf zwei Krücken, aber wenn du mich bittest, dich auf dem Schiff zu begleiten, um diesen armen Teufeln beizustehen, bin ich dabei.«

Ich habe also diese Gruppe von Freiwilligen in einem Chatroom auf Signal namens »corpi« zusammengebracht. Mit dabei war auch Edoardo De Angelis, den ich erst kurz zuvor kennengelernt hatte, da meine Frau an der Werbekampagne für seinen Film Il vizio della speranza mitgewirkt hatte. Noch vor dem ersten Treffen und bevor ich mich von seiner brüderlichen Energie hatte anstecken lassen, war mir etwas aufgefallen: Während der Dreharbeiten schickte er jeden Morgen in der Frühe allen, die an dem Film mitarbeiteten, also auch meiner Frau, eine Nachricht, die er »Notiz« nannte. Darin gab er allen einen gemeinsamen Denkanstoß, auf den man sich während des Arbeitstages beziehen konnte. Es handelte sich jeweils um einen kurzen, brillanten Text, dessen Lektüre auch für mich, der ich gar nichts damit zu tun hatte und ihn nur beiläufig las, zu einer Quelle täglicher Inspiration wurde. Dabei wurde mir klar, dass Edoardo zu den Regisseuren gehört, die auch gut schreiben können, und das beeindruckte mich natürlich in besonderer Weise.

Unter anderem stellte Edoardo eines Morgens in unseren Chatroom einen Link zur Website von Avvenire ein, in dem die Erklärung Admiral Pettorinos, damals Kommandeur der Küstenwache, zitiert wurde. In seiner Ansprache zum Jahrestag der Gründung des Korps bekräftigte Pettorino zwar, dass den Anweisungen der Regierung Folge zu leisten sei, laut denen seinen Patrouillenbooten die Rettung Schiffbrüchiger vor der libyschen Küste untersagt war, doch zugleich betonte er, dass »die Rettung von Menschenleben auf See eine gesetzliche und moralische Pflicht« sei. Danach wich er von seinem Text ab, der den Behörden im Voraus übermittelt worden war, und nahm sich die Freiheit, an den Comandante Salvatore Todaro zu erinnern, der im Zweiten Weltkrieg mit seinem U-Boot mitten auf dem Atlantik ein belgisches Schiff versenkt und anschließend unter Missachtung des Befehls von Admiral Dönitz dessen Besatzung gerettet hatte. Daraufhin hatte ihn Dönitz höchstpersönlich als »Don Quijote des Meeres« bezeichnet (schon damals ein idiotischer Begriff), aber Todaro hatte ihm die Stirn geboten und energisch seine eigene Entscheidung verteidigt, das Leben der Feinde zu retten. Dabei hatte er die Erklärung abgegeben, die sich Pettorino nun zu eigen machte und mit der er zum Ausdruck brachte, dass er mit den Anweisungen der Regierung nicht einverstanden war: »Wir sind Seeleute«, hatte Todaro gesagt, und Pettorino bekräftigte: »Wir sind italienische Seeleute, unsere Zivilisation ist zweitausend Jahre alt, und so etwas machen wir einfach.«

Beeindruckt von diesen Worten, hatte Edoardo den Vorgang genauer untersucht und dabei mehr über die Person Salvatore Todaro erfahren: Kriegsheld der italienischen Marine, einmal mit einer Tapferkeitsmedaille in Gold, dreimal mit einer Silbermedaille und zweimal mit einer Bronzemedaille für Tapferkeit ausgezeichnet. Und vor allem hatte er zahlreiche Schilderungen der von Admiral Pettorino erwähnten Episode gefunden. Alle unterschieden sich ein wenig voneinander, aber alle stimmten in dem entscheidenden Punkt überein: Er hatte Feinde in Seenot gerettet, das illustrierte diese Geschichte in aller Deutlichkeit und beklemmenden Aktualität, und diese Entscheidung mit dem eindrucksvollen Satz erklärt: »Wir sind Italiener.«

Edoardo rief mich an und fragte mich, was ich von der etwas verrückten Idee hielte, einen Film aus dieser Geschichte zu machen. Einen Kriegsfilm. Einen historischen Film, in dem ein Offizier der Königlichen Italienischen Marine mitten im Krieg die Befehle der Deutschen missachtet und sechsundzwanzig Feinde rettet, deren Schiff er zuvor mit seinem U-Boot versenkt hat. Ich hielt das für eine großartige Idee, die wir unbedingt realisieren sollten, und erklärte, wir müssten dazu Argumente, Geschichten und Zeugenaussagen finden, auf die wir uns konzentrieren könnten, um zu beweisen, dass das, was wir für ehrlos und schändlich hielten, tatsächlich ehrlos und schändlich war. Natürlich würde das eine ganze Weile dauern, einen Kriegsfilm macht man nicht einfach so im Handumdrehen, aber das spielte keine Rolle: Ein paar Leute sollten sofort die Initiative ergreifen, andere sich mit zeitaufwendigeren Unternehmungen beschäftigen, alles wäre jedoch auf das eine Ziel ausgerichtet. Edoardo freute sich sehr über meinen Zuspruch und begann mit seinen Recherchen. Vorläufig sprachen wir nicht mehr darüber.

Und hier kommen wir endlich zum wundersamen Punkt der Geschichte, zur — ich weiß nicht, wie ich es als Nicht-Gläubiger sonst nennen soll —, zur direkten Offenbarung des göttlichen Willens. Zu den Personen, die ich eingeladen hatte, den »corpi« beizutreten, gehörte nämlich auch Jasmin Bahrabadi, eine Freundin aus Livorno, die sich mit der Förderung von Musikgruppen befasst und die ich schon lange kenne. Ich stellte sie den anderen «corpi» im Chatroom vor: Sie kannte kaum einen von ihnen. Doch, typisch für sie, chattete sie nicht nur, sondern erstellte mit großem Engagement die Teilnehmerlisten der Schiffsbesatzungen und organisierte die Unterstützungsveranstaltungen für die von uns geförderten NGOs. Bis mir Jasmin eines Morgens eine private E-Mail schickte, im Anhang einen von ihr angeregten Artikel, der auf der Titelseite des Tirreno veröffentlicht worden und dem von Pettorino zitierten Comandante Salvatore Todaro gewidmet war, »einen Artikel über meinen Großvater«, wie sie schrieb.

Das heißt: Jasmin war Todaros Enkelin.

Völlig perplex bat ich sie um die Erlaubnis, den Artikel in den Chatroom zu stellen, und nachdem sie einverstanden war, teilte ich ihn mit den anderen und fügte die sensationelle Nachricht hinzu, die ich soeben erhalten hatte. Wenige Minuten später klingelte das Telefon: Es war Edoardo, ebenfalls fassungslos wie vor einer Marienerscheinung: »Du hast es gewusst, gib’s zu.«

»Ich schwöre dir, nein.«

Zwei Tage später traf Edoardo mit Graziella, Todaros Tochter, in Livorno im Haus von Jasmin zusammen — in demselben Haus, in dem Todaro vor dem Krieg mit seiner Frau gewohnt hatte. Edoardo erhielt Zugang zu den zwei pietätvoll aufbewahrten Koffern mit all den Dingen, die Todaro gehört hatten: seine Briefe, die Fotografien, die Auszeichnungen, seine Bücher über Yoga und Okkultismus und die, mit denen er als Autodidakt Farsi gelernt hatte. (Ich werde mich jetzt nicht länger über Wunder auslassen, aber wer will, mag sich vielleicht fragen, warum meine Freundin Jasmin mit Nachnamen Bahrabadi heißt, aus welchem Land sie stammt und was die Muttersprache ihres Vaters ist.)

Einen Monat später erhielt ich von Edoardo die Einladung, mit ihm zusammen das Drehbuch für den geplanten Film zu schreiben. Auch wenn das Verfassen von Drehbüchern nicht zu meinen Stärken zählt, schien das ein deutlicher Wink des Himmels, und ich sagte hocherfreut zu. Eingedenk der »Notizen«, die er allmorgendlich während der Dreharbeiten zu Il vizio della speranza geschickt hatte, und ermutigt durch die Selbstverständlichkeit, mit der er sich seit der ersten Fassung des Drehbuchs die Sprache Todaros angeeignet hatte, machte ich auch einen eigenen Vorschlag: Während die Produzenten Vorbereitungen für den Film trafen, sollten wir zusätzlich zum Drehbuch ein Buch schreiben, das von dieser exemplarischen italienischen Geschichte ausging. Auch dieser Vorschlag wurde begeistert angenommen.

Vier Jahre später, während sich die Dreharbeiten zum Film dem Ende zuneigen, liegt nun das Buch vor. Die Fremdenfeindlichkeit ist immer noch vorhanden, kann jederzeit in neuen, gewaltsamen Wellen in Erscheinung treten, und leider ist auch der Krieg nicht mehr so weit entfernt wie damals: noch mehr Gründe, warum die Italiener (die, die zur See fahren, aber vor allem die, die das nicht tun, die sich am Strand sonnen und Beachball spielen und Strandpartys besuchen und es für richtig, ja sogar für patriotisch halten, Menschen, die vor Armut, Verfolgung und Krieg fliehen, ertrinken zu lassen) wissen sollen, wessen Kinder oder vielmehr wessen Enkelkinder sie sind.

Hier der guten Ordnung halber die Liste der Teilnehmer in alphabetischer Reihenfolge:

Roberto Alajmo, Silvia Bacci, Jasmin Bahrabadi, Alessandro Bergonzoni, Caterina Bonvicini, Marco Cassini, Manuela Cavallari, Teresa Ciabatti, Massimo Coppola, Franco Cordelli, Francesca d’Aloja, Edoardo De Angelis, Luca Doninelli, Stefano Eco, Giuseppe Genna, Silvia Giagnoni, Gipi, Simone Lenzi, Antonio Leotti, Gabriele Muccino, Michela Murgia, Antonio Pennacchi, Ricardo Rodolfi, Elena Stancanelli, Chiara Valerio, Sandro Veronesi, Paolo Virzi, Hamid Ziarati.

1

Rina

Ich gestehe.

Ich gestehe: Als sie ihn mir mit gebrochenem Rückgrat zurückbrachten, mehr tot als lebendig, aber am Leben, war ich insgeheim erleichtert. Aber nicht, weil er am Leben war, das gebe ich zu, sondern wegen des gebrochenen Rückgrats. Wir waren noch nicht lange verheiratet, er machte schnell Karriere bei der Marine, weil er der Beste war, und ich hatte mich schon damit abgefunden, denn ich wusste, dass ich einen Krieger geheiratet hatte, und wusste, was alle wussten, nämlich dass es zum Krieg kommen würde. Ich wusste, dass er seinem Land dienen würde, ohne sich zu schonen, also sein Leben dafür hingeben würde. Das hat auch mich umgebracht. Es war, als ob ein Teil von mir, so jung ich auch war, bereits tot wäre. So stand es geschrieben, ich hatte es akzeptiert, aber es hat mich umgebracht.

Dann kam der Unfall. Nicht etwa in Afrika (diesen Krieg hatten wir, vor dem großen Krieg, da unten geführt), sondern hundert Kilometer von zu Hause entfernt, in La Spezia. Es passierte nicht bei einer waghalsigen Aktion, sondern während einer Übung. Die von einem Torpedo erzeugte Welle traf das Flugzeug, mit dem er gerade wasserte, und riss ihn um. Fraktur der Wirbelsäule, für immer gelähmt. Und ich gestehe: So war er mir viel lieber, ein Invalide statt eines Gesunden, ein Rentner statt eines Comandante, mein Gefangener und der der Familie, die wir gründen wollten. Es war ein Wunder, dass er nicht tot war, aber noch wunderbarer war, dass er nicht mehr kämpfen konnte und dass er mich brauchte.

Doch das war nur von kurzer Dauer. Auch die Genesung war ein Wunder. Das Stützkorsett aus Metall war eine Tortur, es beraubte ihn jedoch nicht seiner Kraft, sondern machte ihn im Gegenteil stärker. Schon als es ihm zum ersten Mal um den Oberkörper geschnallt wurde, habe ich das begriffen. Zwei Truppenärzte, ein älterer und ein jüngerer, legten es ihm in der orthopädischen Abteilung der Accademia an. Ich war dabei und sah von der anderen Seite des riesigen, lichtdurchfluteten Raumes zu — aber ich war weit weg, spielte keinerlei Rolle, so, als wäre ich gar nicht da. Wer da war, und das merkte man, war der Kämpfer, der den Körper von Salvatore Todaro wieder in Besitz nahm. Dieses Metallkorsett, das er nie wieder ablegen konnte und das ihm ins Fleisch schnitt, war ein Segen für ihn, denn es verhinderte, dass er wie eine abgebrochene Blume entzweiknickte; dieses Ding hielt ihn aufrecht, und solange er aufrecht stehen konnte, konnte er kämpfen.

Es bereitete ihm große Schmerzen, doch Schmerzen zu ertragen war für ihn kein Problem — und wenn sie unerträglich wurden, gab es die Morphiumampulle.

Mit der Erleichterung war es bald vorbei. Ich kannte ihn, ich wusste, was in ihm vorging, trotzdem unternahm ich den Versuch: Ich sprach mit ihm, malte ihm das Leben aus, das ich mir mit ihm vorstellte und mit dem sich jeder andere in seinem Zustand abgefunden hätte: das Haus in der Stadt verkaufen, hinauf nach Montenero ziehen, auf halber Höhe über der Küste, wo die kleinen Bauernhöfe nichts kosteten. Von den Früchten der Erde leben, Tiere halten. Wein, Öl, Bienen, guter Honig. Kinder, die in sauberer Luft aufwachsen und sich von dem ernähren würden, was wir selbst anbauen würden, weit weg von dem Krieg, der früher oder später kommen würde. Ich konnte ihn pflegen, seine Schmerzen lindern, ihn lieben, verehren, glücklich machen, jeden Tag, jede Stunde, immer: Das sagte ich ihm nicht, aber das war auch unausgesprochen klar. Ich habe ihm meine ganze Liebe vor Augen geführt. Ich habe ihm aber auch von seiner eigenen Liebe gesprochen: Ich sagte ihm, dass er bei diesem Unfall bereits sein Leben für sein Land hingegeben hatte. »Zwei Mal?«, fragte ich ihn, »willst du es zwei Mal hingeben?«

Er hörte mir zu, sagte aber nichts. Er ging zu Betti.

Betti war Schneider, aber auch ein Medium. Salvatore suchte ihn jedes Mal auf, wann immer er eine Entscheidung treffen musste, denn Betti war in Kontakt mit seinem Geistführer — einem Krieger aus dem alten Griechenland, wie er sagt. Blind, wie er sagt. Er war Teil seiner verborgenen Seite, die eigentlich gar nicht verborgen war, denn sein Interesse an okkulten Dingen, seine orientalischen Praktiken, seine Beschäftigung mit Magie und Metempsychose verbarg er keineswegs — ich war diejenige, die nichts damit anfangen konnte. Ich glaube an Gott, basta. Nachdem Salvatore mich angehört hatte, ging er also zu Betti, und ich kann mir die Szene lebhaft vorstellen, denn einmal, vor dem Unfall, noch bevor wir verheiratet waren, nahm er mich mit zu ihm. Ein winziger Laden, vollgestopft mit Stoffen, Nadeln, Spulen, Fäden, sowie eine Tretnähmaschine, aufgestellt wie ein Altar. Betti steht schweigend da, die Augen geschlossen, das Maßband um den Hals. Salvatore sagt zu ihm: »Rina möchte, dass ich die Invalidenrente annehme. Die Mindestoption. Das Haus auf dem Land.« Betti verharrt schweigend, die Augen geschlossen und die Hände auf dem Arbeitstisch, ein, zwei, drei Minuten lang, dann beginnt er zu reden — doch es ist nicht er, der spricht: Wer da spricht, spricht Altgriechisch, eine Sprache, die er nicht beherrscht, da er nur drei Jahre in die Grundschule gegangen ist. Dann nimmt er ein Blatt Papier, seine Schneiderkreide, und schreibt — aber nicht er ist es, der schreibt:

ἔνθα δὲ Σίσυφος ἔσκεν, ὃ κέρδιστος γένετ ’ ἀνδρῶν, Σίσυφος Αἰολίδης· ὁ δ ’ ἄρα Γλαῦκον τέκεθ ’ υἱόν, αὐτὰρ Γλαῦκος τίκτεν ἀμύμονα Βελλεροφόντην·

Ich gebe zu, dass ich wie eine eifersüchtige Ehefrau die Taschen meines Mannes durchsuchte und den Zettel darin fand. Ich gebe zu, dass ich den griechischen Text abgeschrieben und das Papier wieder in seine Tasche gesteckt habe.

Er trug es bei sich, als er ging.

2

Todaro

Ich erlebte ein paar Momente unermesslichen Glücks.

In der dunkelsten Verzweiflung blitzt hin und wieder ein Augenblick der Freude auf, der dann entsteht, wenn ich mich eins mit meinem Körper fühle.

Ein Kind.

Bienenhonig an meinen Fingern.

Beim Segelunterricht.

Don Voltolina zieht seinen Mantel aus und gibt ihn dem, der mehr friert.

Deine Beine und der Spalt, in den ich gleite.

Noch ein Kind, das meinen Tod hinauszögert.

Aber ich strebe nicht nach Glück, meine Rinuccia, ich erhebe keinen Anspruch darauf, Glück ist etwas für zufriedene Menschen, ein Gefühl, dass alles abgeschlossen ist, ein Stillstand, etwas Bürgerliches. Der blinde Grieche hat mein Schicksal vorhergesehen: Mein Sieg ist die Schlacht. In jenen Monaten der Rekonvaleszenz habe ich begriffen, dass mein Zustand als Versehrter von einem schwachen Geist erzwungen und eines Kriegers unwürdig ist. Ich öffnete und schloss meine Hand tausendmal und wartete darauf, dass das Morphium durch meine Adern strömte.

Ich habe mir eingebildet, der Schmerz sei von Bedeutung.

Dieses Metall auf meinem Körper nimmt mir den Atem, aber es beschützt mich auch. Dieses Metall ist in mein Fleisch eingedrungen, und mein Fleisch hat sich in Metall verwandelt und ist stärker geworden. Vielleicht bin ich kein Mensch mehr, oder vielleicht bin ich in ein neues Stadium der Evolution eingetreten, in dem sich das Fleisch des Menschen das Metall zu eigen macht. Und jetzt bin ich stark. Ich war innerlich verstümmelt, innerlich krank und schwach geworden. Betti hat mir die Worte des Griechen mitgegeben und meine Uniform genäht:

ἔνθα δὲ Σίσυφος ἔσκεν, ὃ κέρδιστος γένετ ’ ἀνδρῶν, Σίσυφος Αἰολίδης· ὁ δ ’ ἄρα Γλαῦκον τέκεθ ’ υἱόν, αὐτὰρ Γλαῦκος τίκτεν ἀμύμονα Βελλεροφόντην·

Ihm ist es möglich, Dinge zu sagen, die er nicht weiß, die er nicht versteht. Er sagte sie präzise und mit Überzeugung. Dann schrieb er sie auf ein Stück Papier, damit ich sie immer wieder zu Rate ziehen kann, dieses mein Orakel. Ich steckte sie mir in die Tasche, den Griechen und seine Worte.

Ich habe das Kind gewiegt. Ich habe es genossen, wenn du das Intermezzo aus der Cavalleria rusticana auf dem Klavier gespielt hast. Zugleich mit der sanften Geste deiner Finger, die über die Tasten strichen, habe ich mir deine Stimme eingeprägt. Ich habe deinen wütenden Schweiß getrunken, deine bitteren Tränen geküsst.

Ich habe den Schmerz geschluckt, ohne ihn auszukosten, weil ich ihn für gänzlich bedeutungslos hielt.