Commissario Gaetano und der lügende Fisch - Fabio Nola - E-Book

Commissario Gaetano und der lügende Fisch E-Book

Fabio Nola

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Beschreibung

In Neapel mordet nicht nur die Camorra Die Neapolitaner feiern ihren Heiligen San Gennaro. Während in den engen Gässchen das Leben tobt, wird Commissario Salvatore Gaetano an den Schauplatz eines brutalen Mordes gerufen. In einem Appartamento mitten im Centro Storico sitzt ein Mann ohne Kopf – enthauptet wie Neapels Stadtpatron. Was steckt dahinter: Mafiafehde, Beziehungstat oder doch ein Ritualmord? Statt sich von vorgefertigten Meinungen lenken zu lassen, vertraut Gaetano lieber auf sein sensibles Gespür für die Bewohner und die Geheimnisse der Stadt. Doch der Mörder bleibt ihm immer einen Schritt voraus. Lesen Sie auch die anderen Neapel-Krimis von Fabio Nola! Alle Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden. Band 1: Commissario Gaetano und der lügende Fisch Band 2: Commissario Gaetano und das letzte Abendmahl

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Seitenzahl: 582

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Salvatore Gaetano kommt nicht zur Ruhe: Sein Bruder Aniello ist im Pflegeheim, seine Nichte Carla frisch verlobt, und die Neapolitaner warten gespannt auf das Blutwunder des San Gennaro. Jahr für Jahr würdigen sie ihren Stadtpatron mit einem ausgelassenen Fest, das früher oder später im Chaos mündet und für die Beamten der Polizia di Napoli nichts als Überstunden bedeutet. Als am Morgen des Festtags dann auch noch ein Turiner in Gaetanos Büro aufkreuzt und ihm eine krude Geschichte über einen angeblich bevorstehenden Einbruch auftischt, will Gaetano ihn zunächst wieder nach Hause schicken. Die Kapazitäten der Polizei sind zu begrenzt, als dass sie jedem Spinner Gehör schenken könnten. Doch der Mann scheint echte Angst zu haben. Gaetano lässt sich das Versprechen abringen, eine Streife an der genannten Adresse vorbeizuschicken – und ahnt nicht, dass damit der kniffligste Fall beginnt, den er je zu lösen hatte.

Fabio Nola

Commissario Gaetano und der lügende Fisch

Ein Neapel-Krimi

Non è vero … ma ci credo

 

Es ist nicht wahr … aber ich glaube es

VENERDÍ

1.

Neapel betete, und wer an diesem Morgen vom bewaldeten Capodimonte aus durch die Dunstglocke aus Abgasen, Schweiß, Salz und Fett auf das Centro Storico blickte, der konnte es hören. Flüche und Gemurmel stiegen aus den feuchtschwülen Bassi gen Himmel.

Unten in den Gassen standen sie an der Schwelle zum Wahnsinn. Seit Wochen riss er jeden mit sich, der auch nur einen Fuß vor die Haustür setzte: San Gennaro! Man bot das Gelbgesicht in allen Größen und Farben feil, säumte Hauswände und Fensterläden mit seinem Bischofsstab, ließ seine goldene Mitra über Straßenzüge flattern oder pinselte sein Gnaden spendendes Grinsen auf Töpferwaren. Gennaros Heiligenbildchen verstopften Kanalöffnungen und klebten an Schuhsohlen. Aus den Fenstern drang das Summen der Nonnas und Mamminas, die ihren Enkeln Gennaros Legenden vorsangen. Und die Kleinen lauschten mit offenen Mündern, wie der Stadtpatron wilde Tiere zähmte, einem glühenden Ofen entstieg – und wie sein heiliges Blut floss, als man ihm den Kopf abschlug. Blut, aufgefangen von einer umsichtigen Alten. Zweitausend Jahre lang staubtrocken konserviert. In wenigen Stunden würde es wieder erwachen, wenn es der Bischof unter dem Fluchen und Schreien des Volkes zum Fließen brächte.

Vor den Wettbüros waren sie in den letzten Tagen Schlange gestanden. Um wie viel Uhr würde sich Gennaros Blut verflüssigen und von welcher Konsistenz wäre es? Hellrot schäumend wie frisches Schweineblut oder dunkel, suppig und klebrig wie das Pflaumenkompott in Neapels Zuckerbäckereien? Und wie lange würde sich Gennaro bitten lassen, bis sein Blutwunder die Stadt erlöste? Wie viele Gebete mussten die Neapolitaner der Heiligenstatue entgegenschreien, damit diese eitle, eingebildete Heiligenfratze mit dem überheblichen Grinsen es noch einmal gut meinte mit der Stadt?

Bald ging es los. Aus den Bassi krochen schon die Zauberhexen, die dem tobenden Volk gleich Flüche und Gebete soufflieren würden. Ohne die schreienden Mütterchen war Gennaro nichts. Und ohne Gennaro war Neapel nichts.

Wenn es dann vollbracht wäre, würde eine unberechenbare Nacht über der Stadt zusammenschwappen. Und erst in den frühen Morgenstunden würde es Gewissheit geben, ob San Gennaro noch einmal Gnade hatte walten lassen mit Neapel oder ob sich die ekstatische Freude über das eingetretene Blutwunder – denn es musste ja eintreten – in Messerstechereien und Brandstiftungen entladen hatte. Nein, es würde keine ruhige Nacht werden. Ein Jahr lang hatte es unter Neapels Oberfläche rumort, und heute brachen sich alle aufgestauten Wünsche, Gebete, Sorgen und Leiden Bahn. Und so, wie niemand vorherzusehen vermochte, an welcher Stelle die süße Sünde aus den fettigen Santarelle der Zuckerbäcker herausplatzte, wenn man hineinbiss, so kannte auch niemand die Gesetzmäßigkeiten des Wo und Wann, nach denen sich Neapels Brodeln in die stinkenden Gassen des Centro Storico ergoss. Aber wenn San Gennaros Seele in den frühen Morgenstunden zur Ruhe kam, würde auch Neapel wieder in einen unruhigen Schlaf verfallen und sich ein Jahr lang albtraumgeplagt hin und her wälzen, bis der Heilige es von Neuem erlöste.

 

Commissario Gaetano stand am Fenster seines Büros im dritten Stock der Questura und kniff die Augen zusammen. Die milchige Morgensonne rieselte aus dem Himmel, brach sich am Nachbargebäude und flimmerte grell in sein Büro. Träge wippte er auf den Ballen vor und zurück. Als er das Fenster schließen wollte, hielten ihn der Lärm und die Gerüche der Straße gefangen.

Ein blonder Mann im Anzug streifte unten vorbei, schaute sich um und schien sich nicht sicher, ob er sich in der richtigen Straße befand. Er musterte kurz das Polizeigebäude, sah an der Fassade hinauf direkt in Gaetanos Richtung, sodass sich ihre Blicke für einen Sekundenbruchteil streiften, senkte dann verlegen den Kopf und ging weiter die Sandsteinmauer entlang, die im weißen Morgenlicht strahlte. Schläfrig sah Gaetano ihm nach. Dann lehnte er sich neugierig aus dem Fenster, ob sich schon etwas tat.

An der Mauer gegenüber fläzten Studenten in der Sonne. Sobald Mauro, der Zuckerbäcker, seine kleine Pasticceria unten am Ende der Via Santi Quaranta öffnete, würden sie sich wie von Zauberhand in Bewegung setzen. Doch niemand vermochte vorherzusehen, wann. Mauro hielt nichts von Öffnungszeiten. Waren die Pasticcini knusprig gebacken, goldbraun, fettglänzend, riss der Bäcker das Türchen seines kleinen Holzofens auf, und der Duft nach karamellisiertem Zucker schwängerte die verbrauchte, stickige Luft des Quartiere Pendino mit süßlichen Aromen. Aber noch hatte seine Pasticceria geschlossen. Es war 8 Uhr 32.

Durch das Bürofenster drang der schwüle, beißende Geruch von Urin, Müll und Abgasen. Irgendwo knatterten Vespas. Verkatert war Neapel die Hölle. Und letzte Nacht hatte er es deutlich übertrieben. Sein Magen gluckerte. Gaetano spürte, wie eine leichte Benommenheit ihn ergriff.

Der Spaziergang von der Piazzetta Orefici bis zu seinem Büro und das erwachende Quartiere Porto, wo eine feine Salzbrise die langsam heraufziehende Wolke aus Abgasen, Schweiß und Zigarettenrauch überlagerte, hatten ihn seinen Zustand für eine Weile vergessen lassen. Aber jetzt, zwischen den kahlen, vergilbten Wänden seines Büros, kehrte das Elend der letzten Nacht Stück für Stück zu ihm zurück.

Mit einer halb leeren Grappaflasche in der Hand war er auf der Couch seiner Nichte aufgewacht. Die Verlobungsfeier: Carla hatte ihn durchs halbe Centro Storico geschleift, doch sein Erinnerungsvermögen streikte. Sie würde ihm den ganzen schändlichen Rest schon noch wiederkäuen, denn im Morgengrauen hatte er sich heimlich aus ihrer Wohnung geschlichen. Jetzt war es dieses eine Bild, das ihm klar umrissen in Erinnerung trat. Wie er durch den Türspalt im Schlafzimmer Carla und Michele sah, zwei umeinander geschlungene Korkenzieher, ineinander verhakt, unmöglich zu trennen. Er kniff die Augen zu.

Da klopfte es an der Tür. Das Geräusch war so leise, dass Gaetano nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob es von außen gekommen war oder schon die ganze Zeit über in seinem Kopf rumort hatte. Erst als es erneut zaghaft pochte, brummte er mit belegter Stimme »Pronto?«, und während sich die alte Holztür quietschend öffnete, schob sich der eckige Kopf eines Mannes hindurch.

»Commissario Gaetano?«

Gaetano erkannte ihn. Es war der blonde Mann im Anzug, der wenige Minuten zuvor die Via Santi Quaranta entlanggelaufen war und die Fassade der Questura gemustert hatte. Er trat ins Zimmer, ohne dass Gaetano ihn darum gebeten hatte, und baute sich wie selbstverständlich vor seinem Schreibtisch auf. Er war gut zwei Meter groß, stand ganz ruhig da, beinahe statuenhaft, und war nicht außer Atem, obwohl er doch eben erst die Treppe in den dritten Stock hinaufgegangen sein musste. Der Mann gab Gaetano aus irgendeinem Grund das Gefühl, bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein.

»Sie kennen die Via Salvatore Tommasi?«, donnerte der Blonde. »Da wohne ich. Für heute Abend brauche ich jemanden, der dort nach dem Rechten sieht.«

Das kantige Kinn des Mannes schob sich beim Sprechen ruckartig auf und nieder. Gaetano starrte auf die riesigen Pratzen des Blonden und fragte sich, wie ein Mensch mit solch aggressiven Händen in der Lage war, derart leise an Türen zu klopfen. In beinahe unerträglicher Regungslosigkeit verharrte er. Er hatte mit norditalienischem Einschlag gesprochen, aber auch in einem Stummfilm hätte man ihm aufgrund seiner kantigen Art, ein Zimmer zu betreten, und der Selbstsicherheit, mit der er den Raum füllte, niemals die Rolle eines Süditalieners zugeschrieben, dachte Gaetano. Nie und nimmer war der Neapolitaner. Verwirrt setzte Gaetano sich.

Plötzlich öffnete sich der Mund des Mannes erneut: »Sie sind doch Commissario Salvatore Gaetano? Jedenfalls steht der Name draußen auf dem Türschild. Ich brauche jemanden, der …«

»Ich bin Commissario Salvatore Gaetano«, unterbrach er ihn ruhig, und aus dem Mund des Blonden kullerten noch einige Worthülsen, bis er verstand, dass man ihm ins Wort gefallen war. Mit großen Augen blickte er Gaetano an. Der ließ das Schweigen im Raum stehen, bis die Glocken der Chiesa di Santa Maria la Scala im Hintergrund zu läuten begannen. »Eine Wohnungsüberprüfung? Wegen der Feierlichkeiten? Seien Sie unbesorgt, Signore. San Gennaro feiern sie vor allem im Pendino, nicht in Ihrem Viertel.« Es war eine glatte Lüge.

Der Mann im Anzug dachte einen Augenblick nach, wobei er seinen Unterkiefer hin- und herschob und die Zähne aneinander rieb. »Es geht hier nicht um San Gennaro oder betrunkene Randalierer. Heute Abend wird es etwas in meiner Wohnung geben, und ich möchte, dass die Polizei vor Ort ist und den Einbrecher … zur Rede stellt.«

Gaetano stutzte. Irgendetwas in der Ausdrucksweise des Mannes irritierte ihn.

»Sie glauben, jemand könnte das Chaos heute Nacht nutzen, um in Ihre Wohnung einzusteigen? Geht es um Kunstgegenstände?« Gaetano dachte an die unzähligen Werkstätten und Ateliers in den Bassi um die Via Salvatore Tommasi. Eine Einbrecherbande hatte in den letzten Monaten dort zahlreiche Galerien leergeräumt. Mit seinem Bruder war Gaetano als Kind oft dort gewesen, wenn sie auf dem Wochenmarkt in den Spanischen Vierteln geholfen hatten, und während die Mutter die Holzkisten und den löchrigen Sonnenschirm in ihrem alten Piaggio verstaute und noch ein paar Besorgungen machte, ließen sie sich von den Tausenden engen Gässchen des Viertels verschlucken. Wenn das Marktgeschäft am Morgen gut gelaufen war, fanden sie in den Taschen ihrer Latzhosen ein paar Lira, die die Mutter dort hineingezaubert hatte. Gaetano sah es deutlich vor sich, wie Aniello und er die Schaufenster einer kleinen Kunsthandlung bestaunten, während sie in ihren Händen die Geldscheine der Mutter aneinander rieben. Fast ein halbes Jahrhundert, dachte er.

»Hören Sie«, riss ihn der Blonde aus seinen Gedanken. »Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand in meine Wohnung eindringt. Wer weiß, was als Nächstes kommt? Sie müssen dem Ganzen ein Ende machen, bevor es zu spät ist.«

»Ich verstehe, dass Sie sich nach dem Einbruch nicht mehr sicher fühlen«, murmelte Gaetano mit geschlossenen Augen. »Aber erfahrungsgemäß schlagen Einbrecher nicht zwei Mal hintereinander zu. Wann war das genau mit dem Einbruch? Haben Sie ihn gemeldet?« Er hatte sein Kinn auf die Hände gestützt. Er würde sich wohl oder übel mit dem Mann befassen müssen.

Der Blonde sah sich flüchtig im Zimmer um, bemerkte den hölzernen Besucherstuhl neben dem ockerfarbenen Waschbecken und trug ihn bedächtig vor den Schreibtisch. Dann baute er sich hünenhaft auf und setzte sich nach einem Moment des Innehaltens langsam auf den vorbereiteten Platz. All dies tat er mit einer unübersehbar durchdachten Theatralik, die ein kleines Kind aus Angst vor der nun bevorstehenden Standpauke hätte erzittern lassen. Gaetano versuchte, ein Schmunzeln zu verbergen.

»Noch einmal. Die … Einbrüche gelten mir, nicht irgendwelchen Wertsachen. Es geht einzig und allein darum … mich einzuschüchtern. Ich weiß nicht, ob heute Abend etwas …«, der Mann suchte kurz nach dem richtigen Wort, »… etwas eintreten könnte, was mir das Leben schwer macht. Ich mache Sie verantwortlich, wenn etwas passiert.«

Gaetano kniff die Lippen zusammen. Obwohl der Mann ruhig und bedächtig sprach, war es seltsam schwer, ihm zu folgen. Selbst die Pausen, die er machte, folgten einem verwirrenden Rhythmus, und die Art, wie er einzelne Silben hervorhob, wirkte in einer einstudierten Weise fehlerhaft, als sollten sie von etwas Entscheidendem ablenken.

Lange sahen sich die beiden an, und Gaetano war sich sicher, dass der Mann ahnte, dass Gaetano ihn durchschaute. In professioneller Manier nahm er einen Notizblock zur Hand. Durch das geöffnete Fenster drang Lärm ins Büro. Das Motorengeknatter, das für gewöhnlich vom Corso Umberto aus Stunde um Stunde die umliegenden Viertel heimsuchte, war verstummt, und an seine Stelle waren Geschrei und Musik getreten. Fetzen von Flüchen mischten sich mit Schellenklirren und Trompetenklängen. Die Prozession, dachte Gaetano.

»Wer bedroht Sie? Was will man von Ihnen? Und was macht Sie so sicher, dass derjenige zurückkommt, um Sie …?«, jetzt suchte Gaetano nach den richtigen Worten und entschied sich für eine behördliche Phrase, »… um Sie tätlich anzugehen?«

»Das habe ich nicht gemeint«, polterte der Mann. »Ich weiß nicht, was passieren wird, und ich werde auch heute Abend nicht zu Hause sein. Aber ich weiß, dass mich jemand glauben machen will, dass … dass etwas geschehen wird. Dass meine Zeit abläuft.«

Gaetano war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er den Mann ernst nehmen sollte. Sein Magen rumorte von den Sünden der vergangenen Nacht, er war nicht in Stimmung für Verschwörungstheorien oder Rätselspielchen. Von seinen Landsleuten war er es gewohnt, dass ihre Träume Lottozahlen preisgaben und sie in der bräunlich-schwarzen Marmorierung ihres Espresso nach Vorboten für Krankheit oder Tod suchten. Doch der Mann ihm gegenüber war alles andere als ein Neapolitaner, und was er bisher erzählt hatte, klang nach einem ganz gewöhnlichen Einbruch.

»Allora, ich nehme jetzt Ihre Personalien auf, und ab Montag, wenn dieser ganze Gennaro-Spuk vorbei ist, sehen wir weiter.« Aus einer Schublade zog er ein vergilbtes Formular und reichte es zusammen mit einem Kugelschreiber, den er unter einem Meer an Notizzetteln fand, über den Tisch. Der Blonde sah ihn fragend an. Gaetano seufzte. »Sie müssen entschuldigen. Normalerweise nehmen die im ersten Stock die Anzeigen auf und tragen alles gleich in die EDV ein, aber heute ist San Gennaro. Jeder wird irgendwo im Haus gebraucht. Füllen Sie bitte das Formular aus und überlegen Sie in Ruhe, ob Sie nicht doch etwas als gestohlen melden wollen.« Der Mann schien Gaetano nicht zu hören und starrte gedankenversunken auf das vor ihm liegende Formular. »Ich nehme Ihre Befürchtungen ernst«, log Gaetano, »aber ich denke nicht, dass es unbedingt notwendig ist, gerade heute …«

»Er kommt jeden Freitagabend in meine Wohnung, während ich in Turin bin«, fiel ihm der Mann ins Wort. »Aber er stiehlt nichts. Sonntagabend oder Montagmorgen, wenn ich aus Turin zurückkomme, ist er verschwunden.« Er trug es in der Monotonie eines pensionierten Priesters vor und brach dann unvermittelt ab, als wäre alles gesagt.

Verdutzt hakte Gaetano nach: »Woher wissen Sie …? Ich meine, sind Sie sicher, dass jemand da gewesen ist? Sie sagten doch, es sei nichts gestohlen worden.«

»Er geht ans Telefon, wenn ich von Turin aus anrufe. Aber er spricht nicht mit mir.«

»Was will er von Ihnen?«

»Ich sagte doch, er spricht nicht. Er hebt einfach nur den Hörer ab. Dann legt er auf. Wenn ich wieder anrufe, geht er nicht mehr ran. Aber ich weiß, dass er da ist.«

Der Blonde zuckte zusammen und blickte sich verstohlen um. Aus dem Nichts war, so erschien es Gaetano, ein kalter Schauer über ihn gekommen.

»Con calma. Warum rufen Sie überhaupt bei sich zu Hause an?«

»Mio Dio, wegen meiner Putzfrau, was tut das zur Sache? Sie kommt samstags oder sonntags, während ich in Turin bin. Was zu erledigen ist, spreche ich ihr Freitagabend auf den Anrufbeantworter.«

»Warum schreiben Sie keinen Zettel?«

»Was geht Sie das an?«, versetzte der Mann, hatte sich aber im nächsten Augenblick wieder in der Gewalt. »Sie kann nicht lesen. Irgend so ein vertrocknetes, altes Mütterchen aus den Spanischen Vierteln. Sie spricht nur Napulitano. Sie geht in die Wohnung, drückt auf den Knopf am Telefon und bekommt ihre Anweisungen. Basta! Reicht das jetzt?«

Gaetano schluckte seinen Ärger über die abfällige Wortwahl hinunter. Der Mann hatte tatsächlich Angst. »Haben Sie das Telefon überprüft? Vielleicht irgendein Defekt?«

»Das Telefon ist in Ordnung. An allen anderen Tagen der Woche funktioniert es doch. Sorgen Sie dafür, dass das aufhört! Dass er verschwindet.«

»Können Sie beweisen, dass jemand da war? Kameras! Haben Sie eine Überwachungskamera?«

»Hat er mitgehen lassen. Geklaut. Oder meine Putzfrau war’s, was weiß ich. Jedenfalls ist sie weg.«

Die ganze Sache klang unglaubwürdig, konstruiert, beinahe, als habe sie sich jemand ausgedacht, um die Polizei zum Narren zu halten. Aber der Mann schien todernst. Verschwommen blickte Gaetano auf den noch jungfräulichen Block vor sich und wartete auf eine Eingebung, wie er den blonden Mann auf einen anderen Tag vertrösten könnte. Um Zeit zu gewinnen, stand er auf und ging zum Fenster, als ob unten auf der Straße die Lösung für sein Problem lag. Noch immer lehnten die Studenten an der Sandsteinmauer. Mauro musste noch geschlossen haben. Gaetano zog den Vorhang zu. Im gedämpften Licht fühlte er sich schlagartig wohler.

»Es kann viele Erklärungen geben. Vielleicht war Ihre Putzfrau schon freitags da und ging an den Apparat.«

»Was ist mit Ihrem Gehirn, hä? Ich hatte doch gesagt, dass das Ganze nicht nur einmal passiert ist, sondern jeden Freitag exakt so abläuft! Und warum sollte meine Putzfrau ans Telefon gehen? Sie bekommt ihre Befehle über den Anrufbeantworter. Und außerdem ist da noch die Sache mit der Uhr, die …«

Mit einem Schlag flog die Bürotür auf und Danilo Paese stolperte ins Zimmer. »Salvatore!«, plärrte er wie von Sinnen. »Wo ist dein Tipp, eh? Du bist der Letzte.« Verdutzt verstummte er. »Was zum Teufel treibst du hier? Warum ist es so finster? E che cazzo, du stinkst nach Grappa.« Danilo knipste mit dem Ellbogen das Licht an und ließ einen grellen Blitz ins Büro fluten, sodass Gaetano schmerzverzerrt zusammenfuhr. »Hier!« Danilo klopfte mit einem Kugelschreiber auf ein Blatt Papier, das er wie ein Kruzifix vor sich hielt. »Trag was ein, aber dalli!« Blass und trostlos wie ein vergessener Fischteich stach Danilos Halbglatze aus einem schwarzen Haarkranz heraus. »Du bist der Einzige in der ganzen Questura, der sich drückt. Die Prozession hat längst angefangen.« Paese sah schlimmer aus, als Gaetano sich im Moment fühlte. Die Augen von dunklen Ringen umrandet, die Lippen blass und spröde. Im Mund die allgegenwärtige Wunderalgenpastille, die ihm seine Schwiegermutter, wenn es sein musste, sogar in den Espresso bröselte, um aus ihm einen schönen Jüngling zu machen. Aber Danilo glich eher einem Junkie als einem Kriminalpolizisten. »Was ist jetzt?«, nervte er weiter, während er mit dem Kugelschreiber herumfuchtelte und sich den Schweiß von der Stirn strich. »Die Prozession kommt jeden Augenblick in Santa Chiara an. Wenn du nicht sofort eine Uhrzeit einträgst, bist du disqualifiziert.«

»Bleib mir gestohlen, Danilo. Ich bin mitten im Gespräch. Der Mann hier fühlt sich bedroht«, flüsterte Gaetano und nickte in Richtung des Blonden.

»Jetzt komm schon, es ist gegen die Regeln, wenn du noch länger wartest.«

»Herrgott, trag halt irgendwas ein. Wann war’s denn das letzte Mal?«

»Um 10 Uhr 26 verflüssigte sich letztes Jahr unter dem tosenden Beifall der Betenden …«

»Dann schreib 10 Uhr 36! Mach, dass du rauskommst!«

»So spät? Bist du sicher? Ich meine … im letzten Jahr war es kälter, und trotzdem hätte niemand gedacht, dass es so lange …«

»Raus jetzt! Gib Bescheid, wenn du was weißt!«

 

Als die Tür ins Schloss gefallen war, fühlte sich Gaetano binnen weniger Sekunden besser. Der Anblick des heruntergekommenen, algenlutschenden Danilo hatte wie ein Jungbrunnen auf ihn gewirkt. Von draußen strömte süßlicher Duft herein. Mauros mit Haselnusscreme und Nougat gefüllte Pasticcini, die in diesem Moment weich, knusprig und dampfend aus dem Holzofen gezogen wurden, ließen wie von Zauberhand alle Trägheit verdunsten. Neugierig spähte er durch den Vorhang und sah, dass die Studenten sich in Bewegung setzten. In der Ferne klang Musik.

»Sie sehen, San Gennaro hält uns ganz schön auf Trab.« Er schmunzelte, ging zurück zum Schreibtisch und ließ sich beschwingt auf den Stuhl fallen. Doch der Besucher verzog keine Miene. »Es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht glaube. Sie kommen lediglich zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Vielleicht alles nur ein Dummejungenstreich, eine Mutprobe. Vielleicht hat sich einfach jemand den Schlüssel Ihrer Putzfrau genommen und verbringt ein paar Stunden in Ihrer Wohnung, um seinen Freunden zu imponieren. Neapel ist voller seltsamer Gestalten.« Gaetano warf seinen Kugelschreiber auf den Schreibtisch. »Reden Sie mit Ihrer Putzfrau und allen, die einen Schlüssel haben, dann klärt sich alles auf. Und wenn doch etwas fehlen sollte, melden Sie sich. Aber nicht vor nächster Woche. Lassen Sie erst San Gennaro seinen Auftritt.« Er erhob sich und ging zur Tür. »Ich kann für den Moment wirklich nichts für Sie tun. Nichts spricht dafür, dass es einen Anschlag auf Sie geben wird.«

»Doch, das tut es!« Der Mann schoss wie eine Silvesterrakete in die Höhe. Er zitterte. Mit einem Schlag hatte er seine beherrschte Körperspannung verloren, die ihn bisher so unverletzlich hatte wirken lassen. Er schnaufte heftig, doch so schnell die Maskerade über den Blonden gekommen war, so plötzlich hatte er sich wieder im Griff.

Was wurde hier gespielt? Gaetano fühlte, dass sich etwas Giftiges in dem Mann befand. Etwas, das nach außen drängte, aber um jeden Preis zurückgehalten werden sollte. Er verbarg etwas. Das Verhalten des Mannes erinnerte ihn an den Zwischenzustand, an dem er selbst noch vor wenigen Stunden gelitten hatte, als er auf der Couch seiner Nichte gegen den Drang angekämpft hatte, sich zu erbrechen. Ging es dem Blonden ebenso? Verschwieg er etwas, um es nicht wahr werden zu lassen? Gaetano sah es für gewöhnlich, wenn Menschen einfach nur Angst hatten, aber der Mann in seinem Büro schien unter etwas Besonderem zu leiden, unter einer Art wuchernder Ungewissheit, die ihn nach und nach von innen heraus auffraß. Doch was es auch war, er hatte es wieder in sich zurückgedrückt, stand ruhig im Zimmer und sprach klar: »Meine Wanduhr im Esszimmer wird jedes Wochenende verstellt. Deshalb weiß ich, dass es heute Abend einen Anschlag geben wird. Es ist ein Countdown. Erst ist es mir nicht aufgefallen. Ich war verwirrt, weil der Anrufbeantworter nicht ranging, als ich von Turin aus anrief, und ich ärgerte mich, dass das Telefon kaputt war. Erst später kam es mir so vor, dass während des Telefonats meine Uhr im Hintergrund geschlagen hatte. Da wusste ich, dass jemand in meiner Wohnung war und den Hörer abgenommen hatte.«

Gaetano stand noch immer mit der Hand an der Klinke da. Er dachte einige Sekunden nach. »Was ist so ungewöhnlich daran, dass Ihre Uhr geschlagen hat? Dazu sind Uhren nun einmal da.«

»Ich glaube, sie schlug vier Mal. Aber als ich von Turin aus anrief, war es erst kurz nach halb elf.«

»Sie wissen nicht mit Sicherheit, wie oft die Uhr schlug?«

»Es muss vier Mal gewesen sein. Denn eine Woche später, vor genau drei Wochen, schlug sie drei Mal – um kurz vor halb. Vor zwei Wochen zwei Mal. Ich habe extra darauf geachtet und es mir notiert, sehen Sie?« Er zog einen kleinen Notizzettel aus seiner rechten Sakkotasche, auf dem penibel verschiedene Daten und Uhrzeiten vermerkt waren. Am unteren Rand hatte er eine Zeile leer gelassen, nur das heutige Datum stand in der linken Spalte. Laut der Notizen hatte die Uhr des Mannes am Freitag, den 29. August, um 22 Uhr 27 drei Mal geschlagen. Eine Woche später, am 5. September, zwei Mal und vergangenen Freitag ein einziges Mal, und zwar um 22 Uhr 23.

Gaetano nahm dem Blonden den Notizzettel aus der Hand und betrachtete ihn lange. Es bestand kein Zweifel. Wenn der Blonde die Wahrheit sagte und nicht verrückt war, wenn er sich die Zahlen auf dem Notizzettel nicht einfach nur ausgedacht hatte, sprach alles dafür, dass irgendjemand einen Countdown herunterzählte, an dessen Ende der heutige Tag stand. Doch was sollte die Hexerei? Nachdenklich schlurfte er zu seinem Schreibtischstuhl zurück und bedeutete dem Mann, sich wieder zu setzen.

»Ich verstehe jetzt ein wenig, was Sie beunruhigt. Ihre Uhr schlug letzten Freitag nur ein einziges, ein letztes Mal, und Sie denken jetzt, dass die Person in Ihrer Wohnung heute Abend … irgendetwas anstellt?« Er starrte weiter auf den Zettel. »Ich nehme mal an, Sie haben die Uhr überprüft?«

»Ich habe sogar einen Uhrmacher beauftragt. Sie funktioniert einwandfrei und geht immer beinahe auf die Sekunde genau, wenn ich aus Turin zurückkomme. Nur während der Telefonate spielt sie verrückt.«

»Das hört sich ja beinahe wie ein Mafiaspielchen an«, flüsterte Gaetano, doch als er das erschrockene Gesicht des Mannes registrierte, schob er ein sachliches »Und es war ganz sicher Ihre Uhr, ja?« hinterher. »Nicht vielleicht irgendein anderes Geräusch … von der Straße oder …«

»Mio Dio, ich kenn doch meine Uhr! Es ist ein Familienerbstück. Das Ding hing schon über meinem Bett, da war ich noch ein Säugling.«

Die einsetzende Stille im Raum glich den finalen Sekunden einer Schachpartie. Der Mann saß aufrecht auf seinem Holzstuhl und hatte die fleischigen Hände elegant auf seinen Oberschenkeln gefaltet. Sein regungsloser Blick strahlte entspannte Erwartung aus, und wenn Gaetano den Blonden ansah, gelang es ihm nicht, das arrogante Grinsen zu ignorieren. Sein triumphales Schweigen wirkte wie ein Würgegriff.

»Sie sehen, es führt wohl kein Weg daran vorbei, heute Abend in meiner Wohnung nachzusehen, wer dort sein Unwesen treibt.«

»Das entscheide nicht ich, sondern der Primo Dirigente«, sagte Gaetano, obwohl ihm im selben Augenblick bewusst war, dass der selbstgefällige Turiner ihm diese Lüge niemals abkaufen würde. Und dennoch war es vollkommen irrsinnig, dem Mann irgendetwas zu versprechen: Gaetano hatte für die kommenden Stunden klare Dienstanweisungen, die penibel auf die Feierlichkeiten und das zu erwartende Chaos abgestimmt waren. Bis zum späten Nachmittag würde er die Einsätze im Quartiere Pendino koordinieren. Ab 18 Uhr begann an der Piazza Garibaldi seine Nachtschicht, wo er sich vergeblich darum bemühen würde, blauäugige Jugendliche von den Schwarzmarkthändlern fernzuhalten, die aus scheinbar unversiegbaren Quellen Waffen und Munition für billiges Geld unter die Feiernden streuten. Nicht die verlorenen Seelen aus dem Quartiere Sanità. Die bekamen ihre Revolver und Klappmesser beizeiten von Vätern und Onkeln. Es waren die reichen Kinder vom Posillipo, die vom Bahnhofsviertel magisch angezogen wurden und die den Marokkanern in naiver Neugier und mit ungeübtem Blick rostige Pistolen abkauften, um damit zu Ehren San Gennaros in den rauchverhangenen Nachthimmel über dem Plebiscito zu schießen. Im besten Fall gingen die Dinger gar nicht erst los, im schlimmsten Fall aber würde sich der zarte, zitternde Zeigefinger des Teenagers genau in dem Moment zum letzten Mal rühren, wo er unter dem antreibenden Gejohle seiner Freunde den verrosteten Abzug der Waffe drückte. Mit viel Glück riss eine explodierende Kanone nur die Hand oder den Unterarm vom Körper. Aber wer hatte schon Glück in Neapel?

Der Einsatzplan des Primo Dirigente sah vor, dass Gaetano ein bisschen von diesem seltenen Glück unter die Jugendlichen streute, indem er zumindest einen der unzähligen Waffenhehler dingfest machte, bevor der im dunklen Gassengewirr verschwand. Keine Sekunde Zeit also für Wohnungsüberprüfungen. Am Ende würde ihm Gabriele D’Annunzio den Kopf abreißen, wenn Gaetano seinen Posten an der Piazza Garibaldi wegen einer Nichtigkeit verließ und tote Jugendliche dem Primo Dirigente die Beförderung zum Vice Questore versauten.

»Sobald der Chef wieder im Haus ist, werde ich mit ihm über Ihre Angelegenheit sprechen«, log er weiter. »Er nimmt gerade an der Prozession teil und wird erst gegen Mittag zurückerwartet. Machen Sie sich aber nicht allzu große Hoffnungen. Gabriele D’Annunzio wird einen Teufel tun und mich oder jemand anderen vor Ihrer leeren Wohnung postieren, während der Rest Neapels in Randalen versinkt.«

»Sie glauben mir nicht!«

»Warum melden Sie sich erst jetzt? Immerhin geht das Ganze schon mehrere Wochen. Warum haben Sie nicht längst einen Wachdienst beauftragt oder einen Nachbarn gebeten, Ihre Wohnung zu beobachten, wenn Sie sich schon selbst nicht die Mühe machen?«

Plötzlich schrie der Blonde: »Meine Nachbarn scheren sich einen Dreck um einen aus dem Norden, die stecken doch alle mit der Camorra unter einer Decke, und ein neapolitanischer Wachdienst ist in etwa so zuverlässig wie ein ausgehungerter Straßenköter, der auf eine Salami aufpasst. Er frisst und verschwindet!«

Gut gespielt, dachte Gaetano. Wenn er die Bedenken des Mannes nicht ernst nahm und am Abend tatsächlich die Wohnung eines Turiners verwüstet wurde, könnte er Ärger bekommen. Fehlte nur noch, dass ihm der Mann ein paar Scheine zusteckte, um ihm die Entscheidung zu erleichtern. In den Augen des Blonden dürfte der Polizeiapparat von allerlei korrupten Strukturen durchzogen sein. Damit hatte er zwar recht, aber Gaetano wollte sich das nicht von einem Turiner erklären lassen.

Für einige Sekunden schloss er die Augen und nahm die melodielose Musik, die in Wellen von der Straße ins Büro drang, in sich auf. Eine schwüle, schwere Brise hatte sich im Centro Storico verfangen, wand sich durchs Fenster und kündigte die erdrückende Hitze des Tages an. Zu dieser Jahreszeit glich die Stadt einem Ofen, wie ihn Mauro in seiner kleinen Pasticceria nutzte. Der kühlte über Nacht nicht gänzlich aus, blieb gerade so temperiert, dass er am folgenden Morgen in kürzester Zeit wieder erhitzt werden konnte. Genauso saugten die engen Gassen, die klebrigen Kopfsteinpflaster und sandsteinernen Fassaden während des Tages gierig Hitze und Schweiß ein, ließen in den milden Nachtstunden alles ein wenig abdampfen und gähnten die abgestandene, nasse Wärme des Vortages dann stöhnend in den Morgentau, sobald die ersten Sonnenstrahlen sie streichelten. Der Alkohol der vergangenen Nacht schnürte Gaetano die Kehle zu und drückte ihm den Schweiß aus den Poren. Nein, er würde sich nicht von einem arroganten Turiner Lackaffen provozieren lassen. Nicht an San Gennaro!

Als er die Augen wieder öffnete, blickte er auf ein zitterndes kleines Wesen. Es war ihm schleierhaft, wie ein Hüne wie der Blonde in Sekundenbruchteilen derart schrumpfen konnte. Aber seine Angst schien echt. »Madonna Mia! Was zum Teufel stimmt nicht mit Ihnen?«, fragte Gaetano.

»Helfen Sie mir gefälligst! Dazu sind Sie verpflichtet«, wimmerte der Turiner.

»Gar nichts bin ich. Was soll dieses Affentheater? Wer ist der Typ in Ihrer Wohnung?«

»Ich weiß es nicht, verdammt!« Der Blonde pfriemelte umständlich ein Schnäuztuch aus seiner Hosentasche. Dabei verzog er schmerzverzerrt das Gesicht und stöhnte auf.

»Was ist, was haben Sie?«

»Nichts, es ist nichts.«

»Sie haben doch Schmerzen.«

»Nur eine Begegnung mit einem eurer Straßenköter. Hat mir den Anzug zerfetzt und mich in den Oberschenkel gebissen. Aber das hat er teuer bezahlt.« Der Mann zog vielsagend ein Klappmesser aus seinem Sakko.

»Machen Sie das bloß nicht mit Ihrem Einbrecher!«

»Das heißt, Sie helfen mir?«

Gaetano schielte auf die Uhr über dem Türstock. Es war 9 Uhr 24. Auf dem Gang war alles still. Irgendwo brummte ein Kopiergerät. Die Kollegen saßen in der Kantine vor dem Fernseher und verfolgten die Liveübertragung des Gottesdienstes aus der Basilica Santa Chiara. Im letzten Jahr hatte man den Schrei bis in den dritten Stock gehört, als das Miracolo eingetreten war. Aber jetzt war alles ruhig.

Lange saß der Turiner regungslos da. Gaetano sah, dass er nachdachte, kämpfte, mit sich haderte, und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde sein Zittern stärker. Dann fuhr es wie ein Tobsuchtsanfall aus ihm heraus: »Verdammt, das ist doch eine Chance für Sie, begreifen Sie das denn nicht? Ein Erpresser auf dem Silbertablett!«

Gaetano schwieg, und der Blonde schrumpfte weiter. Draußen läuteten Kirchenglocken. Da trat etwas ein, womit Gaetano nie gerechnet hätte. Der Turiner stand auf, ging um den Schreibtisch herum, beugte sich ganz nah zu ihm herunter und flüsterte, so leise, dass er es wohl selbst kaum hörte: »Bitte!« Und dann noch einmal: »Bitte!«

Immer noch läuteten die Glocken.

»Ich kann es versuchen.« Gaetano hatte geantwortet, ohne es zu wollen. Er wusste selbst nicht, wie es kam. »Es ist nicht viel Zeit … und wir haben einen durchgetakteten Dienstplan … Vielleicht schaffe ich es gegen halb elf. Aber wenn sich nichts Ungewöhnliches tut, verschwinde ich sofort wieder.«

Das Gesicht des Blonden hellte sich schlagartig auf. »Ich rufe genau um 22 Uhr 30 von Turin aus an. Sie können das Läuten vom Treppenhaus aus hören. Es klingelt vier Mal, bevor der Anrufbeantworter rangeht. Wenn es kürzer klingelt, wissen Sie, dass jemand abgenommen hat.«

Gaetano reichte dem Mann einen Zettel und einen Kugelschreiber. »Notieren Sie alles. Ihre genaue Anschrift und eine Telefonnummer, unter der ich Sie heute Abend erreichen kann.«

Der Blonde schrieb wie wild, als ob er fürchtete, Gaetano könne es sich noch einmal anders überlegen. »Der Hauseingang liegt im Innenhof. Das Tor ist immer offen. Meine Wohnung liegt im dritten Stock, da gibt es nur den einen Eingang. Es sind zwei Wohnungen, aber meine Frau und ich haben sie vor Jahren zusammengelegt, als sie krank wurde.«

»Sie sind verheiratet?« Gaetano runzelte die Stirn. »Das hatten Sie nicht erwähnt. Ist Ihre Frau in Sicherheit?«

»Ich war verheiratet«, knurrte der Mann. »Meine Frau ist an Krebs gestorben.«

»Das tut mir leid.«

»Ach was, sie wäre so oder so bald tot gewesen.«

Gaetano fiel die Kinnlade herunter. »Wie lange ist das her?«, fragte er aus einer traurigen Unbeholfenheit heraus.

»Sie starb genau vor zehn Jahren. Wegen diesem Gennaro-Humbug hatten wir Mühe, einen Priester aufzutreiben. Ein Bekannter der Familie hat das dann erledigt. Die Bestattung, meine ich.« Der Witwer sprach mit einer kalten Sachlichkeit, als habe er eben die Katze eines Kindes überfahren und müsse sie eilig verscharren, um noch rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. »Alles längst vergessen. In zwei Wochen bin ich wieder unter der Haube. Es gibt ein großes Fest in Turin.«

»Sie heiraten wieder?«

»Was dagegen? Soll ich etwa ins Kloster gehen? Das meinen Sie doch, oder?« Er fing wieder an zu toben. »Ich soll bis ans Lebensende den trauernden Witwer spielen. Jeden Sonntag Blumen aufs Grab meiner Frau tragen. Dem Fleisch entsagen, um die Verwandten meiner Frau nicht zu brüskieren. Ihr Süditaliener seid doch alle gleich!« Im nächsten Augenblick stoppte er sich, als ob er fürchtete, etwas zu sagen, was ihm später leidtäte.

Verdutzt nahm Gaetano den spärlich beschriebenen Zettel entgegen und überflog alles.

Dott. Capuano, Via Salvatore Tommasi 13, 3. Stock.

cellulare: 0039-3773187363, Anruf 22 Uhr 30.

»Ist Dottore Ihr Vorname, Dottore Capuano?«

»Mio Dio, Dottore ist doch ein akademischer Grad.« Capuano verschränkte die Arme. Anscheinend hielt er ihn für total beschränkt.

»Ach wirklich? Und Ihr Vorname?«

Capuano guckte pikiert. »Ianus«, druckste er. »Ich heiße Ianus. Ianus Capua…«

Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, prustete Gaetano los: »Ianus Capuano? Wirklich Ianus Capuano?« Er rutschte fast vom Stuhl vor Lachen. »Für einen Turiner haben Sie einen erstaunlich neapolitanischen Vornamen. Ianus ist die alte Bezeichnung für Gennaro, wussten Sie das? Dann ist heute Ihr Gedenktag. Herzlichen Glückwunsch, Dottore Gennaro Capuano. Obwohl, attenzione, passen Sie auf Ihren Kopf auf, Signore!« Er bekreuzigte sich.

Capuano verzog angeekelt den Mund. »In meinem Fall ist Ianus der Familienname meiner Mutter, und die war Dänin.«

»Ganz wie Sie wünschen, Dottore Gennaro Capuano!« Gaetano kicherte.

»Dieser Vorname ist eine echte Plage, wenn man in Neapel lebt. Ich wünschte, mein Vater hätte sich bei meiner Namensgebung durchgesetzt.«

»Aha.«

»Mein Vater war ein stolzer Norditaliener. Er weigerte sich mit Händen und Füßen, mir den Namen Ianus zu geben. Es war von Geburt an klar, dass ich einmal seine Firma übernehmen sollte – Turiner Chocolatiers in vierter Generation. Da passt ein süditalienischer Märtyrer nicht ins Firmenkonzept.«

»Chocolatiers, eh? Braucht man als Schokoladenhersteller einen Doktortitel?«

»Die Firma meines Vaters gibt es nicht mehr. Ich bin Chirurg. Übrigens auch Betriebswirt. Ich habe beide Studiengänge in Mailand mit Auszeichnung abgeschlossen, und das immerhin, obwohl ich Ianus heiße. Ich arbeite für Belchiron, die Klinik für Plastische Chirurgie. Schokolade interessiert mich nicht.«

Gaetano musste plötzlich an Mauro, den Zuckerbäcker, denken und fragte sich, ob jemand, der so wenig menschliche Wärme in sich trug wie der Turiner, etwas so Sinnliches wie Schokolade herstellen könnte. Hätte der Blonde in Mauros Pasticceria Nougattörtchen verkauft, wäre der Laden längst pleite. Mauro hingegen hatte selbst dann Kundschaft, wenn ein Stromausfall im Quartiere Pendino den Ofen für mehrere Stunden kalt werden ließ. Die Freude über seine Pasticcini strahlte aus jeder Furche seines goldbraunen Gesichtes, dampfte aus jeder Pore seines Körpers. Wer Mauro sah, schmeckte sofort karamellisierten Zucker, und der Gang zu ihm war stets der letzte vor einer langen Reise und immer der erste, wenn man zurück ins Pendino kam.

»Hören Sie mich eigentlich?« Capuano hatte weitergeredet, ohne dass Gaetano es merkte.

»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«

»Mein Vater wollte sich nie auf den Vornamen Ianus einlassen. Aber meine Mutter war genauso stur, obwohl sie erst fünfzehn war. Ihre Eltern waren Großindustrielle in Kopenhagen – Ianus Electronics. Sie das einzige Kind. Meine Mutter sah es als ihre Pflicht an, die Familiengeschichte wenigstens als Vornamen weiterzugeben, also drohte sie meinem Vater, meine Geburt so lange hinauszuzögern, bis er sich mit dem Namen Ianus abfand. Zuerst belächelte er das Ganze, aber als ich in der 43. Schwangerschaftswoche noch immer im Bauch meiner Mutter war und ihre Kräfte immer weiter schwanden, wurde er dann doch nervös und stimmte zu. Lieber ein Firmenerbe mit einem süditalienischen Vornamen als ein toter Firmenerbe.«

»Eine starke Frau, Ihre Mutter.«

»Wie man’s nimmt. Sie ist noch während meiner Geburt gestorben.«

»Das tut mir leid.«

Capuano überhörte seine Worte und sprach gebannt weiter. Etwas Martialisches war in seinen Blick gefahren. »Mein Vater behauptete zeitlebens, er habe noch nie so viel Blut gesehen wie in dem Bett, in dem meine Mutter mich geboren hat. Es muss ausgesehen haben wie nach einer Schächtung.«

Gaetano wandte sich angeekelt ab, sprang auf und ging zur Tür. »Ich denke, für den Augenblick ist alles geklärt.« Schweißgebadet und von Magenkrämpfen gemartert wartete er, bis Capuano sich erhob und mit majestätischen Schritten auf den Gang trat.

Capuano sah ihm lange und eindringlich in die Augen. »Vergessen Sie nicht Ihr Versprechen!« Dann stiefelte er in Richtung Treppenhaus und war nach wenigen Augenblicken aus Gaetanos Blickfeld verschwunden.

2.

In der Via Salvatore Tommasi war kein Durchkommen. Wie ein buntes Knäuel durcheinandergewürfelter Farben schoben sich Menschenmassen durch die schmale Gasse. Grimassen zogen an ihm vorbei. Über ihm, zwischen die Häuserschluchten gespannt, flatterte San Gennaro, mit Möwenkot bespritzt. Unter ihm, auf dem Kopfsteinpflaster, klebte San Gennaro, die Augen von Stilettos durchbohrt. Der Geruch von Maronen, Maiskolben und gebrannten Mandeln strömte durch die Gasse und mischte sich mit dem sauren Schweiß der Feiernden. Er sah ihnen in die Augen.

Niemand würde sich heute an ihn erinnern. Heute konnte er über Stunden inmitten der Menschen stehen und die Wohnung beobachten. In der Ferne läuteten die Kirchenglocken. Die Chiesa di San Giuseppe dei Nudi. Ein kalter Hauch überkam ihn. Trauer kroch in seinen Magen. Dieselben Glocken wie damals. Nie würde er ihren Klang vergessen.

Die Kirchturmuhr schlug zur Nachmittagsmesse. Er kannte inzwischen alle Glocken des Viertels sowie alle anderen Geräusche in der Via Salvatore Tommasi. Bei Nacht und bei Tag. Das Bellen der Hunde, wenn sie rausgelassen wurden, das Klirren von Hausschlüsseln und Türgittern, wenn die Anwälte ihre Kanzleien absperrten, das Surren von Markisen, wenn die Bar an der Ecke schloss. Er wusste, wie alles klang und wann es kam. Immer waren sie da. Nur er und die Geräusche.

Wie damals, als sie gestorben war, nächtelang. Nur ihr Wimmern hatte in den letzten Wochen gefehlt. Schon im Türsturz war die Stille über ihn hereingebrochen. Da hatte er geweint.

Sein Blick wurde neblig. Zum hundertsten Mal überprüfte er sein Cellulare. Warum hatte er noch keine Nachricht? Nachdenklich betrachtete er das billige Gerät. Morgen würde er es nicht mehr brauchen. Er konnte es verkaufen und von dem Geld die Blumen bezahlen.

Er atmete tief durch. Nur noch ein paar Stunden.

Wie musste sie gelitten haben. Sie hatte nie darüber gesprochen. Doch ihre Stille war mehr gewesen als bloßes Schweigen. Alles, was einmal die Schranke ihrer eisblauen Augen passiert hatte, war auf den Boden ihrer Seele herabgesunken und niemals von dort zurückgekommen. Alles, was sie erlebt hatte, war dort unten liegen geblieben, ohne dass irgendeine Regung ihrer Gesichtszüge etwas über ihre Demütigung preisgegeben hätte. Doch wer sie wirklich gekannt hatte, dem war es gelungen, Unterschiede in der Art ihres Schweigens zu deuten.

Er begann zu zittern. Unentwegt lief er die Via Salvatore Tommasi entlang. Als ihn jemand anstarrte, setzte er sich in eine Bar an der Ecke. Beiläufig sah er sich um. Die meisten Gäste waren Touristen, Russen. In wenigen Tagen würden sie die Stadt wieder verlassen, in Richtung Sorrent, die Amalfiküste entlang oder nach Capri, zur blauen Grotte.

Er erinnerte sich, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie zusammen Ferien auf Capri gemacht hatten. Die wenigen Tage im Jahr, in denen sie rausgekommen waren und etwas anderes als Staub oder lehmvertrocknete Weiden gesehen hatten. Jedes Mal hatte es ewig gedauert, bis das Meersalz ihre Haut und die Erinnerung von allem Gestank des Festlandes reingewaschen hatte. Erst da waren sie wirklich frei gewesen.

Manchmal hatten sie sich einen rostigen Kutter gemietet und waren im Morgengrauen zur blauen Grotte gefahren, mutterseelenallein. Da stoppten sie jedes Mal den Motor, lauschten und warteten, während die leisen Wellen sie wiegten. Oft hatte er in diesen Augenblicken das Gefühl, ihr Boot berühre das blaue Wasser nicht mehr, sondern schwebe irgendwo darüber. Nicht auszumachen, an welchem Punkt das blaue Weben der Wellen endete, wo der blaue Äther begann und wo das Blau von der Höhlendecke zurückgeworfen wurde. Überall zugleich. Ungreifbar. Dann wünschte er sich, ihre Körper würden ganz in diesem Blau aufgehen. Sie würden nicht zurückkehren.

In ihren Augen flimmerte das zitternde Wasser. Auch sie waren von diesem geheimnisvollen, seelenhaften Blau, undefinierbar, verschwommen schimmernd. Unergründbar, ob das, was sie betrachtete, noch herumschwebte, bereits auf ihrer Iris schwamm, schon ihr Bewusstsein erreicht hatte oder längst von dort in die Welt zurückgeworfen worden war.

Als sie starb, floss alles in ihren trotzigen, eisblauen Augen zusammen. Noch lange hatte er in sie hineinsehen müssen, als der Rest von ihr schon längst gegangen war, und erst nach endlosen Minuten hatte er ihre Augen geschlossen. Das Blau, so glaubte er damals, hatte danach durch ihre blassen Lider geschimmert, doch als er dann die Glocken hörte, wusste er, dass sie wirklich gestorben war.

Bei dem Gedanken an ihre letzten Augenblicke kamen ihm die Tränen, und er legte die Hände vors Gesicht. Eine Bedienung trat heran und beschwerte sich, dass er einen Vierer-Tisch belegte. Er steckte ihr einen Schein zu und bestellte eine Flasche San Pellegrino. Dann lehnte er sich erschöpft zurück. Am Nachbartisch stritt ein russisches oder polnisches Pärchen.

Als die Chiesa di San Giuseppe dei Nudi dreimal schlug, ging er auf die Toilette. Genau um 16 Uhr 52 kehrte er an seinen Tisch zurück. Noch einmal sah er in Richtung Fenster. Aber nichts rührte sich.

3.

Gaetano hatte den Hörer seines Diensttelefons bereits am Ohr, bevor er Carlas Nummer auf dem Display erkannte. Sein erster Impuls war, wieder aufzulegen, aber Carlas laute Stimme hielt ihn wie immer gefangen.

»Geht’s dir schlecht?« Im Hintergrund hörte Gaetano den Fernseher laufen, sakrale Musik, die von monoton vorgetragenen Gebetsformeln unterbrochen wurde. Seine Nichte sah sich mit Michele die Wiederholung des Gottesdienstes an.

»Dreh den Fernseher leiser!«

»Klirrt es dir in den Ohren?«, brüllte sie voller Inbrunst. »Eh, Michele! Schalt mal das Ding aus. Salvatore zerreißt’s den Schädel. Ich glaub, er verträgt keinen Grappa mehr.«

»Was soll das, Carla, mir fehlt nichts. Sag, was du willst.« Er griff sich an den Kopf und presste vor Schmerz die Augen zusammen. Dann kontrollierte er sein privates Cellulare, das stumm geschaltet war. Sofort fühlte er sich ertappt. Es war bereits kurz nach 17 Uhr. Sie hatte in unregelmäßigen Abständen die ganze Zeit über versucht, ihn zu erreichen.

»Na, ob es dabei bleibt, was wir gestern besprochen haben.«

Gaetano schwieg. Diese kleine Hexe. Sie weiß genau, dass ich mich an nichts erinnern kann, dachte er. Mit der freien Hand begann er, seinen Schädel zu massieren. »Warum sollte es nicht dabei bleiben?«

»Schön!« Sie lachte. »Wusste ich doch, dass ich mich auf meinen Patenonkel verlassen kann.« Michele flüsterte etwas. Gaetano hörte beide kichern. Sie spielten mit ihm. Gaetano hatte keine Chance.

»Können wir das nicht verschieben? Du weißt, was hier los ist.« Beschämt sah er zur Bürotür, hinter der sich im Moment nichts weiter verbarg als ein Haus voller erschöpfter Kollegen, die vor dem Fernseher saßen und sich die x-te Wiederholung des Miracolo reinzogen.

»Wirklich? Du hörst dich gar nicht so gestresst an. Soll ich dir was sagen, Salvo? Du hast keinen blassen Schimmer, wovon ich rede, weil du nämlich absolut nichts mehr in deinem Schädel hast. Wahrscheinlich weißt du nicht einmal mehr, wer dich in meine Wohnung gebracht hat.«

Gaetano brach der Schweiß aus. Vor sein inneres Auge rutschte das verschwommene Bild eines großen runden, schwitzigen Frauengesichts.

»Salvo, geht’s dir nicht gut? Du röchelst so komisch.«

»Verdammt, erzähl schon, aber spar dir die schmutzigen Details.«

Carla krächzte: »Schmutzig? Wieso schmutzig? Du hast Versprechungen gemacht. Schöne Versprechungen. Solche, die einer Frau Freude bereiten, die …«

»Che cazzo, lass deinen Rätselspaß, capisc’!«, schrie er.

»Ist ja schon gut«, sagte Carla. In ihrer Stimme schwang auf einmal etwas Trauriges. »Ich habe dich gestern Abend gefragt, ob du mein Trauzeuge werden willst, erinnerst du dich, Salvo? Und mich zum Altar führst … an Papàs Stelle, meine ich … Und … und du hast sofort zugesagt. Sag jetzt bitte nicht, dass du nur zugestimmt hast, weil du betrunken warst! Papà hätte sich sicher … Ich meine, er würde sich sicher auch …« Carla verstummte, und Gaetano wusste, dass sie kurz davor stand zu weinen. Er hörte ein sanftes Rascheln, als ihr Verlobter sie an sich drückte. Und auch er spürte, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Er wünschte sich auch jemanden neben sich, der ihm einflüsterte, was er tun sollte. Hilflos lauschte er Carlas Schluchzen. Verdammter Beruf. Jeder Ermordete, dem er die Augen schloss, jede Todesnachricht, die er Müttern, Onkeln oder Kindern überbrachte, ein hölzerner vernarbter Jahresring. Aber hier ging es um Carla, nicht um irgendeinen zerschossenen Schädel im Quartiere Scampia.

»Sag nichts.« Carla schluchzte. »Es tut mir leid, es ist meine Schuld. Überleg dir alles in Ruhe … Ich … Papà geht es nicht gut. Ich war gestern bei ihm, und er hat mich gar nicht gehört, als ich ihm das mit der Hochzeit erzählt habe. Er sah grauenvoll aus, eingefallen, stierte vor sich hin. Der Pfleger meinte, es mache keinen Sinn, mit ihm zu reden. Irgendetwas passiert mit Papà.« Carlas Stimme zitterte wie die eines kleinen Mädchens, und jetzt stand die Krankheit seines Bruders wie so oft wie eine Wand aus Milchglas zwischen ihnen und gab ihnen beiden die Möglichkeit, sich zu verstecken. Er hinter seinem kranken Bruder, sie hinter ihrem kranken Vater. Aniello musste wieder einmal herhalten. Gaetano hatte nie ergründen können, wie dieses Vermitteln funktionierte, aber wenn es zwischen ihm und Carla knallte, wenn sie manchmal wochenlang nicht miteinander sprachen, dann begegneten sie sich bei Aniello, redeten aneinander vorbei und verließen hinterher Arm in Arm das Pflegeheim.

»Wann hast du ihn das letzte Mal besucht, Salvo?«

Der Vorwurf kam wie ein Hammer, und Gaetano stellte beschämt fest, dass er sich nicht erinnerte.

»Wir werden ihn nach Hause holen, Salvatore. Er verreckt dort.«

»Bist du wahnsinnig?« Gaetano sprang auf. »Tu dir das nicht an! Aniello braucht Überwachung. Was ist mit deiner Ausbildung, wenn du ständig zu Hause bist?«

»Das geht schon!«

»Hast du vergessen, was letztes Jahr passiert ist?« Aniello war ausgebüxt und hatte den Jasmin im Heimgarten tranchiert. »Die Psychologen sagen, niemand kann vorhersehen, was er in der nächsten Sekunde denkt oder tut. Er ist nicht … zurechnungsfähig.«

»Aber gefährlich ist er auch nicht. Es war Mitte März. Zeit für den Rebschnitt. Deshalb ist er abgehauen. Er ist Weinbauer.«

»Er war Weinbauer, Carla! Bis er betrunken vom Traktor gefallen ist.«

»Er war nicht betrunkener als du oder Nonno!«, protestierte sie. »Gib ihm nicht die Schuld. Entweder haben alle Schuld oder keiner.«

Natürlich hatte Carla recht. Alle trugen sie Schuld an Aniellos Schicksal. Jeder Einzelne in der Familie. Aber keiner traute sich, morgens genau hinzuschauen, wenn er in den Badezimmerspiegel sah. Jedem von ihnen blickte immer nur der Draufgänger Aniello entgegen. Aniello, der Witzbold, der anderen Salz in den Espresso streute. Aniello, der Hampelmann, der keine Sekunde ruhig sitzen konnte. Aniello, der nie wusste, wann Schluss war, auch nicht beim Trinken.

Nachdenklich drückte sich Gaetano den Telefonhörer ans Ohr. Er hasste es, wenn er an diesen Tag erinnert wurde, an diesen einen verdammten Abend, der alles verändert hatte. Es war der 18. September gewesen. Ein Tag vor San Gennaro. Er erinnerte sich noch heute an jedes grauenhafte Detail, obwohl es schon zehn Jahre her war. So oft war er den Tag durchgegangen, hatte die Stelle gesucht, an der das Schicksal seinen Lauf nahm, den Zeitpunkt, als klar war, dass sie alle am nächsten Tag nicht mehr dieselben sein würden. Im selben Jahr noch bewarb er sich bei der Polizei. Es war ein Unfall der ganzen Familie.

Sie wollten unbedingt noch vor dem Feiertag die Trauben in den Keller bringen, nur dann würde Gennaro seine schützende Hand über die Bottiche legen. Das sagten sie, aber in Wahrheit hatten sie nur Angst, dass sich einer der Hilfsarbeiter während der Feierlichkeiten verletzte und ausfiel. Sie schufteten wie die Stiere, es war brutal heiß, und Aniello trank die ganze Zeit über nur Wein. Dann lagen die Reben tatsächlich in der mückenumnebelten Abendluft auf dem Anhänger. Es roch nach warmer Erde, sie legten sich auf den Boden, sahen gemeinsam in die Dämmerung. Rückblickend glaubte Gaetano, später nie wieder einen so schönen Vesuv gesehen zu haben wie an jenem Abend. In Blaugrau getaucht lagen die beiden Kuppeln da, die Spitzen glühten in der Abendsonne, davor das gold-orangefarben erleuchtete Neapel, aus dem die ersten Raketen hervorschossen, und daneben das verschwommene Spiegelbild der Stadt, flimmernd vom Meer zurückgeworfen. Der Vesuv, Neapel und das Meer. Alles erschien ihm in diesem Augenblick untrennbar verschmolzen. Keiner der drei konnte ohne den anderen. Das Weingut würde bald genug für alle abwerfen. An diesem Abend beschlossen sie im Scherz, ihre Jobs zu kündigen und sich ganz dem Weinbau zu widmen.

Als es dunkel wurde und der Mond den Weinberg in Weiß tauchte, brachen sie auf. Sie mussten ja die Trauben in den Keller fahren. Papà saß schwitzend und müde im Traktor, Aniello links auf dem Radkasten, er selbst rechts. Sein Bruder sprang noch einmal hinunter, um eine Weinflasche zu holen, die im Mondlicht zwischen den Rebstöcken schimmerte. Er hielt sie triumphierend in die Höhe. »Die ist für den Heimweg.« Es war der letzte vollständige Satz aus seinem Mund.

Dann ging alles ganz schnell. Aniello sprang zurück auf den Radkasten, entkorkte die Flasche mit den Zähnen – verdammt, wie oft hatte er das schon getan? –, in dem Moment fuhr sein Vater los. Der Traktor hüpfte nach vorn, und Aniello fiel rücklings vom Radkasten. Sein Vater trat auf die Bremse. Sie lachten, als sie Aniello im Gras liegen sahen, wie er mit Beinen und Armen zappelte wie ein Käfer. Viel zu betrunken, um aufzustehen. Als sie bemerkten, dass etwas nicht stimmte, war Aniello schon ganz blau im Gesicht. Ein grauenhaftes, durchdringendes Blau, dem das Mondlicht seine Bleiche aufgezwungen hatte. Nie mehr würde Gaetano es vergessen, auch nicht Aniellos Augen, diese riesigen, panischen, fragenden Augen. Oft erschienen sie ihm im Traum, nur die Augen, ihr tiefes, bodenloses Braun, in dem die Sterne schimmerten. Sie standen im Raum und flehten ihn ratlos an: Warum tust du nichts? Hilf mir! Warum tust du nichts, Salvo?

Sie begriffen nicht. Erst als Aniello schon fast schwarz war, griff Gaetano ihm in den Mund, fischte nach seiner Zunge, wühlte wie wild in seinem Rachen herum, bis er merkte, dass er sie die ganze Zeit über zwischen den Fingern gedrückt hielt. Er beatmete ihn durch Mund und Nase, doch die Luft wollte nicht in Aniellos Lungen. Sie plusterte nur Aniellos Backen auf und fuhr Gaetano weinstinkig ins Gesicht zurück. Noch Wochen später übergab er sich bei der Erinnerung. Auf einmal war Aniello still, doch er lebte noch, sonst wäre seine Angst nicht so lebendig aus seinen Augen gekrochen. Diese Augen … in unerträglicher Verzweiflung aufgerissen … er starrte auf die erdverklumpte Gartenschere, die Papà in der Hand hielt. Sein Vater schrie: »Schneid ihm in die Kehle, er stirbt. Schneid ihm in die Kehle, Salvatore!«

Wie es vor sich gegangen war, konnte Gaetano nicht mehr erinnern, nur, dass Aniello irgendwann blutüberströmt vor ihm lag, in seinem Hals ein Loch, durch das ihm sein Vater einen Benzintrichter in die Luftröhre schob. Sie pusteten abwechselnd, und Aniellos Lungen blähten sich vom Leben, das in ihn drang. Seine Augen lächelten dankbar. Das Blau seines Gesichtes wich der Bleiche des Mondes. Aniello lebte. Und wäre da nicht der blutverschmierte Korken gewesen, hätte man meinen können, er schlafe friedlich. Aber Gaetano wusste im selben Augenblick, dass sein Bruder ein anderer geworden war und dass weder Aniello noch er jemals wieder Weinbauern sein konnten. Als das Blau aus Aniellos Gesicht geströmt war, hatte es etwas von ihm aufgesogen und mit sich fortgeschwemmt. Es musste etwas sehr Bedeutendes gewesen sein, denn seither hatte Gaetano seinen Bruder nie wieder anblicken können, ohne dabei nach dessen Seele suchen zu müssen. Aber er fand nie etwas anderes als Sinnlosigkeit.

Bei Carla war das anders. Sie, die dieses Blau nie hatte ansehen müssen, betrachtete ihren Vater auch nach dem Unfall mit den gleichen töchterlichen Augen wie zuvor. Sie war nicht Zeugin seiner Transformation gewesen. Am Morgen nach der Lese stand sie am Krankenbett und blickte in ein Gesicht, das ebenso wohlgeformt und einnehmend in den Kissen ruhte wie an den anderen Morgen, an denen sie barfuß ins Elternschlafzimmer getapst war. Nur dass dieses Gesicht nicht reagierte, wenn man es küsste. Doch es machte für das kleine Mädchen keinen Unterschied. Und wahrscheinlich tat es das auch heute nicht. Jetzt, da Carla im Begriff stand, eine verheiratete Frau zu werden. Sonst wäre sie nie auf den irrsinnigen Gedanken gekommen, ihren Vater nach Hause zu holen.

Gaetano kratzte sich in der linken Achsel. Ohne ein Wort von ihm würde Carla nichts in die Wege leiten. Wollte man sie von etwas abhalten, sagte man am besten gar nichts. »Hör zu, Carla! Du feierst jetzt Hochzeit. Danach besprechen wir alles ganz in Ruhe.«

»Papà zieht zurück auf die Tenuta. Da kann er arbeiten wie früher. Die Ärzte meinen, dass er in seiner gewohnten Umgebung wieder zu sich selbst findet.«

»So ein Quatsch! Er hat überhaupt kein Selbst mehr. Sie wollen ihn aus dem Pflegeheim raushaben, weil er Probleme macht.«

»Wir wohnen dann alle zusammen. Papà, ich, Michele, Nonno und du.«

»Jetzt spinnst du total. Ich tue einen Teufel und ziehe zu deinem besoffenen Großvater auf die Tenuta«, rief Gaetano. »Und Aniello auch nicht. Er bleibt im Heim. Basta!«

»Du bist genau wie Màmma«, kam Carlas wütende Stimme aus dem Telefonhörer. »Du, Nonno, ihr seid alle gleich. Weil ihr Aniellos Anblick nämlich nicht ertragen könnt. Ihr würdet ihn am liebsten …«

»Pass auf, was du sagst, Carla!«

Plötzlich schrie jemand. Gaetano fuhr zusammen. Verdutzt lauschte er in die Leitung, bis er verstand: Unten in der Kantine plärrten alle wild durcheinander. In den Nachrichten hatten sie das Miracolo gebracht.

»Carla?«

In der Leitung blieb es still.

»Carla?«

Da hörte er, dass sie wieder weinte. Er legte auf.

Draußen feuerte jemand in die Luft.

Im Augenwinkel sah Gaetano den Notizzettel mit Capuanos Adresse. Da kam ihm eine Idee. Danilo, dachte er. Sollte der sich um die seltsamen Anrufe kümmern. Der hätte heute Abend sicher eine Viertelstunde Zeit.

4.

Gegen 20 Uhr stahl sich Gaetano von der Garibaldi und nahm den Bus raus nach Fuorigrotta. Aniello sollte heute wirklich nicht allein sein. Und schließlich hatte Gaetano bereits siebzehn illegale Pistolen und fünf Gewehre beschlagahmt. Das machte zusammen zweiundzwanzig. In Napoli die Zahl der Verrückten. Auf ins Pflegeheim!

Tatsächlich hatte er Glück gehabt, dass Danilo Paese so gutmütig war und ihm die seltsame Sache mit der Wohnungsüberprüfung abnahm. Sein Kollege versprach, exakt um 22 Uhr 30 im Treppenhaus des Turiners zu stehen und in dessen Wohnung anzurufen. Wenn niemand abnahm – und es würde niemand abnehmen –, konnte Danilo wieder zurück auf seinen Posten an der Garibaldi.

Aniello saß allein an einem lieblos gedeckten Tisch im Speisesaal vor dem Fernseher und verfolgte teilnahmslos grinsend die Wiederholung der Gennaro-Prozession. Er sah verwirrt aus. Die ganze Zeit über griff er nach benutzten Servietten und legte sie sich übers Gesicht. Carla hatte die neue Marotte erwähnt, mit der Aniello sein Grinsen verdeckte. Nichts machte Gaetano wahnsinniger als das dauerhaft naive Pokerface seines Bruders.

Als er ihn nach zwei Stunden im Saal zurückließ, ohne auch nur ein einziges Wort mit ihm gesprochen zu haben, lief ihm zu seiner Überraschung Carla im Foyer über den Weg. Auch sie wollte ihren Vater augenscheinlich an San Gennaro nicht allein lassen.

»Hol mich morgen früh hier ab«, murmelte sie ihm im Trabschritt entgegen. »Ich schlafe heute bei Papà.« Sie ging weiter, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.

Ihre kühle Ruhe traf ihn direkt in die Magengegend. Als ob seine Nichte ihm jegliche Gefühle absprach. Glaubte sie wirklich, ihn ließe es völlig kalt, Aniello so dahinsiechen zu sehen? Noch dazu an Neapels Hochfest, das wie kein anderes für Zusammenhalt und Zuversicht stand. Aniellos Verwahrlosung zerriss ihm das Herz. Nur dass es bei Gaetano ein Miracolo brauchte, die Worte dafür zum Fließen zu bringen.

Stumm stellte er sich seiner Nichte in den Weg. Als sie versuchte, ihn zu umkurven, breitete er die Arme aus und fing sie ein. Für Sekunden hielten sie sich gegenseitig fest. Als sie sich von ihm löste, lächelte sie zart. Ihre Augen trugen Tränen.

»Natürlich hole ich dich morgen ab, Carlina«, flüsterte er, zog sie noch einmal an sich heran und küsste sie auf die Stirn. Dann gingen sie in entgegengesetzte Richtungen davon.

An der Bushaltestelle hatte das Bild vom traurigen Aniello das Versprechen schon wieder aus seinem Gedächtnis verdrängt. Plötzlich klingelte sein Cellulare. In der Leitung räusperte sich jemand, als habe er sich verschluckt.

»Salvatore?« Es war Danilo.

»Was ist? Wo steckst du?«

»Ich bin noch bei dieser Wohnung. Ich … ich bin zu spät gekommen.« Er klang verstört, als wolle er etwas Ekelerregendes vertreiben. »Hier vor der Wohnung bin ich …« Er sprach übertrieben laut.

»Danilo, ist alles in Ordnung?«

»Ich glaube, es ist besser, wenn du sofort herkommst.«

Dann hörte Gaetano, wie Danilo sich übergab.

 

Als Commissario Gaetano kurz vor Mitternacht die Treppe der Via Salvatore Tommasi 13 hinaufsprintete, war das Gebäude voller Polizisten. Auf einem Treppenabsatz hielt er inne und rang nach Luft. Durchs Fenster erkannte er Pietro und Emilia im Innenhof, sie waren einige der wenigen Beamten in Zivil. Die meisten trugen Uniform.

Man hatte sie also von ihren Posten abgezogen und hier versammelt, während ganz Neapel feierte. Wenn D’Annunzio für dieses Großaufgebot verantwortlich war, musste es sich um ein schweres Verbrechen handeln. Gaetano hatte keinen blassen Schimmer, was ihn in Capuanos Wohnung erwartete, aber zumindest war er erleichtert, dass er den blonden Turiner nicht dazu überredet hatte, am Abend selbst nach dem Rechten zu sehen.

Er blickte sich um. Verzweifelt suchte er nach jemandem, bei dem die Fäden zusammenliefen. Die Kollegen um ihn herum schienen ihrerseits auf jemanden zu warten, und keiner machte Anstalten, ihn darüber aufzuklären, wer das sein könnte. Ein leichter Windhauch zog durchs Treppenhaus und verteilte Wortfetzen. Im ganzen Gebäude roch es verbrannt. Einige Kollegen hatten herumliegende Putzlumpen zerrissen und hielten sie sich vor Mund und Nase.

Im zweiten Stock sprach er eine junge, untersetzte Carabiniere an und bat sie um Aufklärung. Genervt steckte sie ihr Cellulare weg.

»Keine Ahnung, was das Casino soll. Wir stehen hier seit einer Stunde rum und niemand tut was. D’Annunzio wird toben, wenn er davon erfährt.« Sie zog einen Schmollmund. Aus ihrer Uniform kroch ein Hauch von Schweiß.

Gaetano trat einen Schritt zurück und musterte sie, während er die Luft anhielt. Sein Blick blieb auf der Stupsnase der Kollegin haften, die ihn an Kleopatra erinnerte. Verwirrt hakte er nach: »D’Annunzio weiß überhaupt nicht, dass ihr alle hier seid? Aber wer hat euch angefordert?«

Die Carabiniere fing an zu grinsen. »Danilo Paese war’s. Hat bei Antonella in der Questura angerufen und Panik gemacht … was von ›San Gennaro‹ geschrien und dass wir sofort alle herkommen sollen. D’Annunzio dreht durch. Das kostet Paese seinen Kopf. Der ist doch nicht mehr ganz dicht.«

Gaetano gab ihr ein Zeichen, sich zu mäßigen. Das Gör war frech, aber ihr Lächeln hatte etwas Aufrichtiges. Erschöpft schloss er die Augen. »Wo ist Danilo jetzt?«

»Oben im dritten Stock. Steht wie ein Wachhund vor der Wohnungstür und lässt keinen durch. Affentheater.«

Er ließ sie stehen und stapfte weiter. Unter seinen Füßen knirschte rötlicher Baustaub. Im Erdgeschoss hatte er grobe Steinbrocken herumliegen sehen wie nach einem Erdbeben. Mit dem Eintritt des Miracolo war hier alles stehen und liegen gelassen worden. Die Baustelle unten sah aus, als seien die Handwerker Hals über Kopf auf die Straße gerannt, um zu feiern.