Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine Drohung im Netz hält die Welt in Atem. In ganz Europa werden zeitgleich berühmte Wahrzeichen zerstört. Neo-Nazis, Islamisten, Separatist:innen und Linksradikale arbeiten scheinbar zusammen. Was verbindet diese ideologisch sehr unterschiedlichen Gruppen? Wer koordiniert die Anschläge? Die Geheimagenten Julie und Tell geraten beim Versuch weitere Attacken zu verhindern selbst ins Fadenkreuz der Terrorist:innen. Doch diese sind nicht ihre einzigen Gegner:innen: Die sensationsgierige Berichterstattung der Mainstream-Medien, Fake News in den sozialen Netzwerken, machthungrige Politiker:innen und wütende Bürger:innen auf den Strassen machen es unmöglich die drohende Zerstörung zu verhindern.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Patrick Räx Schneider:
C1: LIKE – SHARE – Explode
©2023 Copyright by Patrick Räx Schneider
Alle Rechte vorbehalten
Cover, Innengestaltung und Satz: Patrick Räx Schneider
Lektorat: Urs Pedolin, machtwort.ch
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Hardcover: ISBN 978-3-757543-81-5
Softcover: ISBN 978-3-757543-80-8
eBook:
instagram: @pat_sch7 – www.patsch7.ch
«Es gilt das gesprochene Wort!»
Rede der EuCo-Generalsekretärin anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Europäischen Konföderation. – 3. Februar, EuCo-Parlament, Basel
Vor 20 Jahren wurde aus Vielen Eins.
Die Europäische Konföderation.
Jeder, der das Glück hatte, an diesem historisch bedeutsamen Ereignis beteiligt gewesen zu sein, denkt nicht ohne Bewegung an die Tage zurück, in denen sich Europa einer Fülle von Herausforderungen gegenübersah:
– dem Aufstieg des Populismus
– wiederaufflammendem Nationalismus
– wirtschaftliche Unsicherheiten
– Abstimmungsmanipulation in den sozialen Medien
– eine historisch gewaltige Flüchtlingskrise
– dem Austritt Grossbritanniens aus der EU
Die genannten Beispiele sind namhafte; daneben gab es aber noch etliche mehr, wie Ihnen allen bekannt ist.
Heute ist klarer denn je: Die Gründung der Europäischen Konföderation war geradezu eine geschichtliche Notwendigkeit.
Unabhängigkeitsbewegungen in ganz Europa bekamen starken Aufwind – Katalanen, Bayern, Wallonen, Padanen – alle wollten sie unabhängig an der Europäischen Gemeinschaft Teil haben. Viel zu oft wurden die Bitten dieser Bürgerinnen und Bürger ignoriert. Das Recht auf Mitbestimmung, wie wir es heute als direkte Demokratie leben – damals war es keine Selbstverständlichkeit.
Das Ansehen der EU litt immer stärker, als viele Volksgruppen die Unabhängigkeit forderten, meist vergebens.
«Demokratiedefizit» wurde zum geflügelten Wort.
Populistische Politiker:innen in hohen Ämtern forderten im Namen ihrer Wähler:innen ein immer stärkeres Mitspracherecht für die Bevölkerung.
Der Ruf nach einem neuen, föderalistischen Bündnis mit direktdemokratischen Instrumenten wurde immer lauter.
Die gewaltsame Spaltung Belgiens versetzte der EU schliesslich den Todesstoss.
Diplomaten aus den USA schmiedeten in der Schweiz ein neues zentraleuropäisches Bündnis. Der Zentralismus wurde aufgegeben, direktdemokratischen Elemente wurden konkret umgesetzt.
Der Rest ist Geschichte.
Als Schweizerin empfinde ich es als grosse Ehre hier in meiner Funktion als Generalsekretärin zu Ihnen zu sprechen.
Stolz blicke ich zurück auf die lange Tradition und Erfahrung mit der direkten Demokratie, die mein Land über Jahrzehnte geprägt hat. Aufgrund dieser Erfahrung wurde ein Schweizer Bundesrat vorübergehend zum Generalsekretär der Europäischen Konföderation ernannt. – Heute, 20 Jahre später, gibt es diesen Posten immer noch.
Die Schweiz blickt auf eine lange Tradition als neutrale Beraterin in Konflikten zurück. In der EuCo wurde diese Rolle institutionalisiert.
20 Jahre nach der Gründung der Europäischen Konföderation ist für viele Menschen die Chance echter Teilhabe und Mitbestimmung zur Tatsache geworden.
20 Jahre nach dem Zusammenschluss können wir stolz sein auf den Durchhaltewillen, der die Brüder und Schwestern Europas wiedervereint hat.
20 Jahre lang sind Freiheit und Selbstbestimmung für junge Erwachsene zur Selbstverständlichkeit geworden. Für sie ist es Teil ihrer Identität, über Grenzen hinweg zu studieren, zu arbeiten, zu leben und zu lieben.
Das ist der wahre Reichtum Europas.
Lasst uns alle daran arbeiten, dass sich die alten Grenzen in Europa nie mehr schliessen werden …
«Auf den Präsidenten! Möge sein baldiger Tod die Wiedergeburt unseres Amerikas sein.»
«Cheers!»
Gläser klirren und die beiden Herren mittleren Alters, beide in Hemd und Krawatte, lassen sich in ihre Sessel zurücksinken.
Stumm sehen sie auf den Hotelzimmerfernseher.
Auf dem Bildschirm prangen die Worte:
«Stephen, das ist ein verdammt guter Whiskey», versucht der Mann mit rotem Schlips die Anspannung der beiden etwas zu lockern.
«Mhm …», brummt Stephen noch immer recht angespannt.
Ein lautes Klopfen an der Zimmertür lässt beide zusammenzucken.
«Oh, shit! Conny! Schau dir das an!» Ein bräunlich-gelber Fleck breitet sich über Stephens Hemd aus. «Hab’ mich total eingesaut! Verfickte …»
«Reiss‘ dich zusammen! Zeig jetzt bloss keine Nerven!», zischt der andere, als er aufsteht, die Tür zu öffnen.
Ein stattlicher Mann mit Glatze und ernsten Gesichtszügen steht vor Conny. «Gouverneur», grüssend nickt er dem Mann mit der roten Krawatte zu und betritt das Zimmer.
«Guten Abend, Tom!», grüsst Stephen den Besucher.
«Gouverneur Toombs», grüsst Tom, während sich Stephen Toombs sein frisches Hemd zuknöpft.
«Und?» Conny sieht Tom ernst an, als er sich auf die Bettkante setzt.
«Gouverneur Toombs, Gouverneur Yancey, es läuft alles nach Plan. Mr. Johnson ist auf Position.»
«Hervorragend!», meint Conny Yancey.
Tom giesst sich selbst ein Glass Jack Daniels ein und wendet sich an die beiden Politiker: «Der Anschlag auf den Präsidenten durch einen Schwarzen [Wir haben es hier mit weissen, alten Rassisten zu tun. Er hat wohl ein anderes Wort verwendet.] wird die Öffentlichkeit ziemlich aus der Bahn werfen. Keiner wird mehr widersprechen, wenn Sie morgen die Entwaffnung der schwarzen Bevölkerung ankündigen.»
«Shht! Es fängt an!»
Auf dem Bildschirm ist zuerst das präsidiale Siegel zu sehen, gefolgt von Präsident Selva, der mit ernstem Blick an einem Rednerpult steht und zur Menge spricht: «My dear fellow Americans …»
«… der Grund, weswegen ich heute hier aus dem wunderschönen Charlotte zu Ihnen sprechen muss, ist bedauerlich.» POTUS rückt sich die kantige Brille mit dem schmalen Rand zurecht. Er blickt entschlossen zu den stehenden Zuhörer:innen, von denen alle ihr Telefon hochhalten: «Dunkle Kapitel unserer Geschichte wurden im Laufe der letzten zwei Jahre von den Gesetzgebern in den Bundesstaaten, die sich neu ‚The South‘ nennen, aufgeschlagen. Forderungen aus unserer Bevölkerung – einer diversen, vielseitigen Bevölkerung – überall in den Vereinigten Staaten endlich für die Gleichberechtigung aller Menschen zu sorgen und gegen den immer noch grassierenden, institutionellen Rassismus mit konkreten und wirkungsvollen Massnahmen vorzugehen, wurden weitgehend ignoriert. ‚Es gibt in den USA keinen Rassismus mehr!’ liessen die sogenannten Experten auf bestimmten Sendern immer wieder verlauten. Jene Sender boten auch Parlamentarier:innen diverser Staaten gerne eine Plattform für ihre veralteten, weltfremden und populistischen Aussagen.» Präsident Selvas dunkle Augen funkeln verständnislos in die Zuschauermenge. «‚Den Rassismus haben wir überwunden, wir hatten schliesslich einen schwarzen Präsidenten!’ haben sie alle das Lied der Ignoranz gesungen. Einen. Von 45! - Aber ich sage: «Solange es im Staate South Carolina eine Zweidrittelmehrheit des Parlamentes benötigt, um eine Flagge – genannt The Blood-Stained Banner – von ihrem Mast zu nehmen, ist Rassismus noch immer Teil unserer Gesellschaft. Es ist an der Zeit, mit solchen Ungerechtigkeiten endlich ein- und für allemal aufzuräumen!»
Die Leute brechen in jubelnden Applaus aus.
Das Gesicht des Präsidenten hellt sich auf und nimmt einen hoffnungsvollen Ausdruck an, als er fortfährt: «Die Flagge der alten Konföderation, ein Zeichen von Unterdrückung und Widerstand gegen diese unsere Vereinigten Staaten, hat am Regierungsgebäude eines US-Staates nichts verloren! Statuen von Sklavenhaltern, die gegen unser Land einen blutigen Krieg geführt und verloren haben, haben in unseren Parks nichts zu suchen!»
Erneuter Applaus.
In der jubelnden Zuschauermenge auf dem Sportplatz der Waddell Language Academy versucht ein elegant gekleideter Mann den Überblick zu bewahren, als alle Zuschauer jubelnd mit den Armen wedeln und ihre Fahnen schwenken.
«Walter [Englische Aussprache: Woltör], hörst du mich? Tell, bist du da?», knackt es im Earpiece des Mannes.
«Laut und deutlich, meine Liebe, laut und deutlich. Hast du Johnson im Visier?» Walter Tell zwinkert kurz hoch zum Schulgebäude.
«Ja, tammi! Die Menge ist zwar verdammt lebendig, aber das Ziel steht wie versteinert da und klammert sich an die Absperrung vor der Bühne. Wenn ich Glück habe, und es hampelt nicht im falschen Moment jemand in die Schussbahn, kann ich ihn treffen.»
«Wir können uns hier aber leider nicht auf Glück verlassen, Julie. Dann übernehme ich den Part aus der Nähe, keine Sorge», funkt Walter zurück.
«Ich habe doch gesagt, ich kann es schaffen, Tell. Ich muss nur den richtigen Zeitpunkt abwarten.» Julie versucht angestrengt Ruhe zu bewahren.
«Julie, die Chance, die falsche Person zu treffen, ist viel zu gross. Bleib bereit, falls etwas schiefgeht», beschwichtigt Tell seine Kollegin. Er fügt mit Bestimmtheit in der Stimme hinzu: «Aber überlass Johnson mir.»
Julie senkt das Gewehr und lässt den Blick über die Dächer gleiten. Auf jedem Gebäude rund um den Sportplatz stehen oder liegen amerikanische Agenten. Alle in den gleichen schwarzen Tenues wie sie. Sie schaut wieder durch das Zielfernrohr.
Tell bahnt sich ruhig, aber bestimmt einen Weg durch die johlende Menge. Er zieht seine Baseballmütze tiefer ins Gesicht als er die Abtrennung vor der Bühne erreicht. Zwei Meter von ihm steht Johnson verkrampft am Gitter, den Blick starr zum Rednerpult hoch gerichtet.
«Die USA kann diese groben Menschenrechtsverletzungen nicht weiter im eigenen Land dulden! Staaten von The South, wir sagen euch: Die Welt wird es nicht dulden, dass ihr Menschen ihre Rechte entzieht! Wir werden es nicht dulden, dass ihr unsere protestierenden Bürger mit Gewalt unterdrückt! Wir werden nicht dulden, dass ihr die Wahlrechte von Minderheiten systematisch beschneidet …»
«Sorry! Excuse me! Sorry! I’m so sorry!» Tell zieht irritierte Blicke auf sich, als er sich zu Johnson durchdrängelt. «Guten Tag, Mr. Johnson. Schauen Sie mich nicht an, hören Sie nur zu.», flüstert er dem Mann ins Ohr.
Johnson blickt Tell mit weit aufgerissenen Augen angsterfüllt an.
«Mr. Johnson», fährt Tell mit leiser Stimme auf English fort, «Sie haben nun zwei Möglichkeiten: a) Sie kommen friedlich mit mir mit. Wir verlassen beide diese Arena und es passiert niemandem etwas oder b) ich mache Sie hier und jetzt unschädlich und Sie werden diese Wiese auf einer Bahre der Ambulanz verlassen.»
Johnsons Blick huscht unwillkürlich zu Boden.
Tell schaut zum Präsidenten und flüstert, dass nur Johnson ihn hört: «Natürlich werde ich Sie unschädlich gemacht haben, bevor Sie die Waffe, die unten am Gitter klebt, hervorziehen können.»
«… Wer die Polizei zur Unterdrückung des eigenen Volkes missbraucht und Gesetze erlässt, die einen Teil der Bevölkerung klar bevorteilt, muss auf den rechten Weg zurückgeführt werden. The South, die Bürger der USA möchten euch die Hand in Freundschaft reichen: Packen wir es an, noch heute!»
Erneut klatschen alle laut Beifall.
Johnson sieht seine Chance, er geht in die Knie und verliert das Gleichgewicht. Wie ein nasser Sack kommt er neben dem Gitter zu liegen.
Die Zuschauer um Johnson machen erschrocken einen Schritt zurück, doch Tell hat die Situation bereits unter Kontrolle: «Keine Sorge, ich bin Arzt!» Tell tastet Johnson ab, wie es ein Arzt tun würde. Er neigt sich über den Gestürzten, als wolle er überprüfen, dass der Patient noch atmet. Tell fixiert Johnson mit seinen stahlblauen Augen und flüstert mit klarer Stimme: «Ich sage Ihnen jetzt, wie die Sache für Sie enden wird: Die Lähmung hält noch mindestens zwei Stunden an. Das heisst, in wenigen Minuten wird Sie ein Team von Notärzten aufbahren und mit Verdacht auf Hitzschlag ins nächstgelegene Spital transportieren. Die Ärzt:innen werden dann die Waffe und diesen Brief in ihrer Jacke finden.» Tell nimmt einen Umschlag hervor und lässt ihn in die Innentasche von Johnsons Jeansjacke gleiten. «Es handelt sich um Ihr Auftragspapier. Sieht nicht gut aus für Sie.»
Johnson blickt Tell mit panischem Blick in die Augen.
«Mr. Johnson, ich habe Ihnen einen Ausweg angeboten: a) hätte die klügere Antwort geheissen. Adiä!» Tell richtet sich auf und knöpft sein Jackett zu. Zu den umliegenden Zuschauern gewannt, sagt Tell: «Ich werde 911 kontaktieren. Der Mann hat einen Hitzschlag und ist verwirrt. Lassen Sie ihn nicht aus den Augen, bis der Notarzt eintrifft!»
Die Zuschauer nicken pflichtbewusst.
Tell erhebt sich und verlässt die Menge, just bevor sich eine Agentin des Secret Service die Situation vor der Bühne genauer betrachten will.
«Tammi Siech!», entfährt es Julie, die alles auf dem Dach durch das Fernrohr ihres Gewehrs hindurch beobachtet hat. Mit geschickten Handgriffen packt Julie ihre Ausrüstung zusammen und rennt zur Rückseite des Gebäudes, wo sie sich gekonnt abseilt.
Als Julie am Treffpunkt in einer engen Seitengasse ankommt, sitzt da schon Tell auf der Haube eines parkierten Autos.
«Ah, Mme Chêneur!», sagt Walter im Aufstehen. «Mr. Johnson wollte sich leider nicht zu uns gesellen. Seine Körpersprache liess leider wenig Spielraum.»
«Klar. Hast du gut gemacht», meint Julie trocken.
Tell sieht Julie freundlich an: «Es war die sicherere Variante. Keine Angst, du bist noch jung. Du wirst noch genug Gelegenheiten haben, Terroristen unschädlich zu machen.»
«Ich hätte ihn auch treffen können. Betäubungsmunition ist meine Spezialität. Ich bin eine Top-Schützin!», meint Julie bestimmt.
«Unbestritten», bestätigt Tell.
Julie öffnet den Mund, um zu widersprechen, hält aber inne. Sie blickt Tell schief an und schnaubt frustriert. «Wir sollten abhauen», stellt Julie fest.
«Ja», er nickt, «bevor der Secret Service uns auf die Spur kommt.» Er bietet Julie seinen Arm an.
Julie streckt Tell die Zunge raus und beide steigen in das Auto.
«Danke Charlotte! Danke Waddell Language Academy! God bless you all and the United States of America! Good Night!» Aus dem Fernseher dröhnt Applaus, nachdem der Präsident seine Rede beendet hat, dann reisst der Ton ab, als Yancey den Fernseher auf Stumm stellt. [In den USA stellt man einen Fernseher eigentlich nie aus, solange man im Raum ist. Er wird höchstens auf Stumm geschaltet.]
«Conny! What the Fuck!? Er ist nicht tot!» Stephen Toombs schaut seinen Kollegen ratlos an.
«Ich weiss es nicht, ich meine … ich, Tom?», stottert Conny Yancey.
Tom fährt sich mit den Händen über seine Glatze: «Vielleicht hat er ihn nach der Rede erschossen? Meet and Greet? Schalt mal auf CNN!»
Conny, der noch immer die Remote in der Hand hält, switcht zum News-Channel und unmutet den TV wieder.
«… in offensichtlicher Eile bereits verlassen und in die präsidiale Limousine gestiegen. Sie sehen CNN und wir werden in den nächsten Stunden darüber sprechen, was Präsident Selva gesagt hat und was er damit gemeint haben könnte. Wir werden auch analysieren, was er nicht gesagt hat und was er damit auszusagen gewollt haben könnte. Bleiben Sie dran!» Hinter dem weisshaarigen Anchorman ist der Konvoi des Präsidenten zu sehen, wie er das Schulgelände im Schein vieler blinkender Lichter verlässt.
«Er ist weg!» Conny stellt den Fernseher wieder auf stumm.
«Na ja, seht es doch so: besser ein Attentat, das gar nicht stattgefunden hat, als eines, das in die Hose ging!», meint Toombs.
«Du bist wohl noch erleichtert, dass unser Plan den Bach runterging, was, Stephen!?» Conny schäumt und geht im Zimmer auf und ab.
Stephen erhebt sich auch aus seinem Sessel und ruft aus: «Vielleicht bin ich ja auch erleichtert, dass an meinen Händen nun doch nicht das Blut des US-Präsidenten klebt!»
«Shh! Shh! Shh! Gouverneur bitte! Nicht so laut!», versucht Tom die beiden Politiker zu beruhigen. «Ich werde Johnson fragen, warum er versagt hat.» Damit wendet er sich zur Tür. Bereits den Knauf in der Hand fügt er hinzu: «Wir hätten es wissen sollen: Schwarzen ist nicht zu trauen!», spricht’s, geht aus dem Zimmer und lässt zwei enttäuschte und emotional konsternierte Gouverneure im Zimmer zurück.
Walter und Julie befinden sich im Wartebereich des Flughafens. Walter setzt sich über das Telefon mit der Zentrale in Verbindung und Julie versucht ihr Glück am Süssigkeiten-Automaten: «Es ist mir immer wieder aufs Neue unverständlich!», beginnt Julie, als sie gerade eine Ein-Dollarnote in den Automaten zu fummeln versucht. «Macht es denn Sinn, jeden Getränkeautomaten im Lande mit einem Geldschein-Einzug auszustatten? Es gibt doch Ein-Dollar-Münzen! Wozu denn noch einen kurzlebigen, umweltbelastenden Papierschein? Die US-Regierung könnte Milliarden sparen, wenn sie den 1-Dollar-Schein endlich abschaffen würde! Aber diese Amerikaner sind solche Gewohnheitsmenschen, unglaublich. – Kein Wunder müssen immer wir einspringen, wenn eine heikle Mission nicht in einer wilden Schiesserei und einem Blutbad enden soll! – Und nein, sag jetzt nichts! ‚Sei nicht immer so intolerant den jungen Kulturen gegenüber, Julie.‘ Ich kann es nicht mehr hören!»
«Die Zentrale ist verständigt und unser Flugzeug wird in wenigen Minuten bereit sein. Hast du etwas gesagt?» Walter lässt das Telefon in seine Jackentasche rutschen und zieht den Reissverschluss zu. Er lächelt seine Kollegin freundlich an.
«Nicht so wichtig», brummt Julie, als sie sich bückt, um die hart erkämpften M&Ms aus dem Automaten zu fischen.
Noch ziemlich verpennt sitzt Tell auf einem weissen Klappstuhl auf dem Balkon seiner Wohnung am Rande der Basler Altstadt. Vor ihm steht eine dampfende Tasse Kaffee und ein offenes Marmeladeglas. Gedankenverloren schaut er über die Brüstung nach unten. Sein Blick fällt auf einen Lastwagen, der sich durch die bereits belebte Strasse windet.
Gerade als er sich eine neue Scheibe Butterzopf mit Erdbeermarmelade bestreicht, kommt der Laster vor den roten Storen des Buchladens, direkt unter Tells Wohnung, zu stehen.
Der Fahrer steigt aus. Der Beschriftung auf der grauen Plane des Lkw nach könnte es sich um einen Getränkelieferanten handeln. Und tatsächlich verschwindet der Chauffeur auch im Café vis-à-vis.
Tells Blick gleitet dem gelben Haus mit den blauen Fensterläden hoch, das direkt hinter dem Lastwagen des Getränkelieferanten steht. Das Haus ist schmal und erweckt den Eindruck, als sei es zwischen den beiden Häusern links und rechts eingeklemmt. Dass es ausserdem das niedrigste Haus in seiner Zeile ist, verstärkt diesen Effekt noch.
Tell wird jäh aus seiner morgendlichen Träumerei gerissen, als durch die offene Balkontüre das Signet der Tagesschau nach draussen dringt:
«So, wir sind zurück. Einen guten Morgen wünsche ich all jenen, die gerade erst eingeschaltet haben. – Mehr als 30 Stunden ist es nun her, als in Charlotte im US-Bundesstaat North Carolina ein Attentat auf Präsident Selva …», der Nachrichtensprecher hält kurz inne, «man möchte sagen vereitelt wurde. Ein Attentat – oder ein vermeintliches Attentat auf Präsident Selva wurde wohl vereitelt und doch …, aus gesicherten Informationen geht bis zum jetzigen Zeitpunkt lediglich hervor, dass ein wohl geplantes Attentat gar nicht stattgefunden hat. Wie siehst du das, Oliver?»
Wechsel zu Kamera zwei, und jetzt sind beide Kommentatoren zu sehen, wie sie hinter einem rötlich-hölzernen Tresen vor einer riesigen Projektionsfläche stehen, auf der sich momentan ein stark stilisierter Globus dreht.
«Nun, Hannes, das FBI liess bis jetzt bloss verlauten, dass während der Rede des Präsidenten ein afroamerikanischer Mann mit Verdacht auf Hitzschlag notfallmässig ins Spital überführt werden musste.»
«So weit, so normal», wirft Hannes ein.
«Seltsam wird die Geschichte dadurch, dass der Mann offenbar einen Brief bei sich …, auf sich trug …, der sagte …; oder im Brief stand viel mehr … Der Brief enthielt einen genauen Auftrag, adressiert an den Mann …»
«Johnson. Spencer Johnson, heisst der Mann», versucht Hannes seinem Kollegen zu helfen.
Oliver atmet kurz ein und fährt gesammelt fort: «Genau, Johnson trug das Auftragspapier auf sich, und offenbar lautete der Auftrag, den Präsidenten während der Rede zu erschiessen.»
«Gezeichnet …, unterschrieben ist der Brief ja von zwei Prominenten. Zum einen von Gouverneur Stephen Toombs aus South Carolina und zum anderen von Conny Yancey, Gouverneur von Georgia. Von zwei hoch angesehenen Politikern also.»
«Genau. Beide sind erbitterte Gegner des Präsidenten und erklärte Separatisten.» Oliver nickt zustimmend.
«Rätselhaft an diesem Plot», fährt Hannes fort, «scheint aber immer noch die spontanen Lähmungserscheinungen des potenziellen Todesschützen zu sein. Was sind hierzu die bisherigen Erkenntnisse …?»
Zapp!
Tell steht mit der Fernbedienung in der einen, mit seiner Starbucks-Tasse aus Valencia in der anderen Hand hinter seinem Sofa und blickt mit erhobener Augenbraue auf den erschwarzten Bildschirm. Er lässt das Chäschtli [Schweizerisch, ugs. für Fernbedienung] auf die hellgraue Couch fallen und begibt sich in die Küche, um die Erdbeermarmelade und das Geschirr zu verräumen.
Gerade als er sich bückt, um den Geschirrspüler aufzumachen, erdröhnt ein lautes Surren vom Esstisch im Wohnzimmer. Mit stumm fluchendem Gesicht und hervor geschobenem Unterkiefer nimmt er den Anruf entgegen: «Guten Morgen.»
Knack!
Tell starrt entgeistert auf das Display. Abgehängt.
Durch die Zähne seines immer noch verkrampften Unterkiefers zischt Tell: «Schon wieder! Ihr huerä Telefonverchäufer, ihr verschofsecklete ihr!» Tell seufzt müde. «Wollt ihr mir etwas verkaufen oder nicht? Habt ihr im Ernst das Gefühl, ich rufe zurück? Ich bin es nicht, der euch anrufen will.»
Offensichtlich ist Telefonterror etwas, was sogar einen abgebrühten Geheimagenten wie Walter Tell zu frustrieren vermag.
Gotische, oder neugotische, Kreuzrippen spannen das Gewölbe über einer Art Einsatzzentrale auf. Grosse Monitore an der Stirnseite des Raumes zeigen animierte Karten von Ländern mit bewegten Punkten darauf; andere zeigen Bilder von verschiedenen Personen. Auf einigen sind neben TV-Stationen aus aller Welt auch die beiden marktstärksten Nachrichtensender der Schweiz, SRF und Hellebard.tv aufgeschaltet.
Angestrahlt von den Monitoren ihrer PCs arbeitet etwa ein Dutzend Männer und Frauen an der Filterung der herein strömenden Informationsflut.
Ein blonder, schlanker Mann mit ordentlich gebundener Krawatte und weiss-blassblau gestreiften Hemd klickt hastig auf den Replay-Button des YouTube-Clips, den er sich gerade angesehen hat. Mit ernster Miene öffnet er ein Tool auf seinem Browser, um das Video auf die Festplatte zu laden.
Er faltet seine Hände auf seinen kurzen Haaren und lehnt in seinem Stuhl nachdenklich zurück.
Ein Ping ertönt und der Download ist abgeschlossen, und der Blonde macht sich auf den Weg zum hinteren Teil des Gewölbes.
In seinen schwarzen Schuhen bewegt er sich forsch die kurze Stahltreppe hoch und kommt vor einer gläsernen Bürotür zum Stehen.
Er hebt die Faust, doch durch die Glasscheibe wird er hereingewinkt, und seine Faust schnellt von Kopfhöhe wieder hinab, um die Türklinke mit festem Griff nach unten zu drücken.
Das Büro ist nicht riesig, und wie der Rest der Zentrale ist es fensterlos. Das Rippenkreuz des Gewölbes ist im Gegensatz zum Gewölbe im Kontrollraum bunt bemalt und mit Gold verziert, zwischen den Rippen befinden sich Fresken, womöglich grosser historischer Ereignisse.
Hinter einem grossen Schreibtisch mit vielen Stapeln aus Papier und Mappen steht eine Frau mit schwarzem Rossschwanz. Ans rechte Ohr hält sie einen Telefonhörer. Sie gibt ihrem Besucher wortlos zu verstehen, dass er kurz warten soll.
«Genau … ja …, in diesem Sinne. Merci, Frau Präsidentin! Bis bald!»
Mit einer ruhigen, flüssigen Bewegung hängt sie den Hörer auf und dreht sich zu ihrem Besuch um.
«Agent Datalpa?» Obwohl sie hinter ihrem Schreibtisch stehen bleibt, muss sie ihren Blick nach oben richten, um Matteo-Maria Datalpa fragend in die Augen zu sehen.
«Direktorin, ich bin bei YouTube auf etwas gestossen, das müssen Sie sich ansehen. Das Video liegt auf dem Server.»
Die Frau sucht mit dem Mauszeiger nach der richtigen Datei. Sie setzt ihre Brille auf und fixiert für drei Minuten ohne mit der Wimper zu zucken den Bildschirm.
Datalpa steht schweigend da.
Die Bilder des Videos flimmern in den schwarz gefassten Brillengläsern der Direktorin. Dann schaut sie vom Bildschirm zum wartenden Agenten hoch: «Rufen Sie Tell und Chêneur an. Sagen Sie ihnen, es täte mir fürchterlich leid, doch leider müssen wir ihren Urlaub bereits unterbrechen.«
Schlurfend begibt sich Julie Chêneur von ihrem Schlafzimmer in die Küche. Sie rüttelt am Wassertank ihrer Kaffeemaschine. Endlich von der Maschine getrennt, hält sie selbigen unter den Hahn, stellt ihn zurück, wirft eine Kapsel ein und drückt den Knopf für Lungo.
Müde wirft sie einen Blick in den Kühlschrank.
Gähnende Leere.
Sie drückt die Tür wieder zu und sieht durch das Küchenfenster die beiden Türme der Klosterkirche, die hinter dem Dach der Schule auf der gegenüberliegenden Strassenseite hervorragen.
Die Kaffeemaschine hat aufgehört zu surren und die Luft ist erfüllt vom Geruch frisch aufgebrühten Kaffees.
Als sie sich zum Kaffeeautomaten umdreht, verdreht Julie genervt die Augen: «Tammi-Siäch-nomol [Schweizerisch für #@?!§%&]!» Leise fluchend leert sie den dampfenden Inhalt der Tropfschale in den Schüttstein.
«Gopferdelli! Nicht nötig!», brummt’s und knallt eine Kaffeetasse auf das Tropfgitter.
Noch ehe sie jedoch die neue Kapsel einlegen kann, läutet bereits das Telefon. Sie drückt auf die Annahmetaste und brummt: «Nicht da, hinterlassen Sie eine Nachricht! Danke!»
«Julie? Ti Pajass [Rumantsch für Scherzkeks]!» Tells Stimme klingt freundlich, aber eine Spur Frust schwingt darin mit. Dass er sie auf Rumantsch anspricht, zeigt Julie, dass es sich um interne Kommunikation handelt. «Wir sollen zum Hauptquartier kommen. Datalpa hat angerufen. Kate meint, es sei dringend, und es täte ihr schrecklich leid!», fährt Tell auf Rumantsch fort.
Julie lässt sich mit dem Gesicht nach unten auf ihr Sofa fallen, den Hörer immer noch am Ohr. «Okay. Bin in einer halben Stunde dort. Chau dentant!»
Julie dreht sich auf der Couch auf den Rücken und blickt sehnsüchtig zum Fernseher im Bücherregal.
«Tja, alter Freund, du musst noch etwas länger auf mich warten, bevor wir das nächste Mal bingen», sie seufzt und begibt sich ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
In der Ferne läutet eine Glocke Viertel nach, als ein schwarzhaariger Mann auf seinem Fahrrad in eine Quartierstrasse in Zürich Oerlikon einbiegt. Die Uhr auf einer Verkehrsinsel zeigt, dass der Biker bereits zu spät ist, als er vor einem flachen Bürogebäude, gerade mal zwei Stockwerke hoch, zu stehen kommt. Er schwingt sich vom Velo und sichert es mit einem Fahrradschloss. Fahrig öffnet er den Reissverschluss seines Rucksacks aus recycelten Lkw-Planen und zieht einen Badge hervor. Auf der Karte steht: Gjok Mullixhi, Anchorman, TagesShow.
Die gläserne Schiebetüre gibt sofort den Weg frei, nachdem er den Badge kurz an ein blinkendes Kästchen gehalten hat.
Nach der Schiebetüre wendet er sich nach links und geht die Nagelfluhstufen der Treppe in den ersten Stock hoch.
Am Ende der Treppe befindet sich eine weisse Tür mit dem Logo der TagesShow drauf. Ein weiteres blinkendes Kästchen öffnet ihm die Tür in die Redaktions-Räumlichkeiten der Satiresendung.
«Sali Gjok!»
«Guete Morgä allersyts!» Gjok geht den Gang entlang. Rechts und links befinden sich halbhohe Trennwände, die den Raum in kleinere Arbeitsnischen unterteilen.
Einige Mitarbeitende sind am Telefon und winken ihm stumm zu.
Nach einer Rechtskurve marschiert er weiter, einer Backsteinmauer entlang an verschiedenen Türen vorbei, einige davon geschlossen, andere offen stehend, bis Gjok schliesslich in ein grosses Sitzungszimmer gelangt.
Am Tisch sitzen schon einige Team-Kolleg:innen, am Handy oder am Laptop beschäftigt.
Er legt die Tasche auf den Tisch und macht sich daran auszupacken.
«Guten Morgen! Neuer Tag! Was steht an?»
«Michu ist krank, Havva kommt später, ihr wurde das Fahrrad geklaut, sonst sind alle im Haus.»
«News?»
«Das Übliche halt, alle drehen durch wegen der Wahlen, die Sache in den USA, echt strange …, ansonsten nichts besonders Aufregendes.»
«Gut», Gjok schaut auf seine Uhr, «es sind ja noch ein paar Minuten bis halb zehn. Ich hol’ mir auch noch ’nen Kaffee, sonst wer?»
Allgemeines Kopfschütteln.
Sanft öffnet sich die Flügeltüre eines kleinen Gefährts auf Schienen – dem Aussehen nach einem Achterbahn-Wagen nicht unähnlich.
Auf einem Bahnsteig, neben einem zweiten Wagen des gleichen Typs, steht Walter Tell wartend unter dem gekachelten Tonnengewölbe à la Métro und begrüsst die eben eingetroffene Julie mit drei Küsschen.
«Guck nicht so!», murrt Julie.
«Wie hab’ ich denn gekuckt?»
«Na so halt!»
«Sorry … Hast du gut geschlafen?», fragt Tell freundlich.
Julie erwidert Tells Begrüssung mit einem düsteren Blick.
Tell hebt die Augenbrauen. «Nein! Kann nicht sein! Es ist doch erst heute Sprittwoch!», meint Tell ungläubig.
«Das scheint den HSG-Studis wohl egal zu sein; genau wie es auch nie was gebracht hat, sich zu beschweren», grummelt Julie.
«Und wie lange ging’s dieses Mal?»
Nun grinst Julie Tell diabolisch an.