12,99 €
Ein verlassenes Waisenhaus, ein grausames Geheimnis Vermont, 1968: An einem glühend heißen Sommertag verschwindet der neunjährige Tommy spurlos aus Coram House, einem Waisenhaus am Lake Champlain. Auch fünfzig Jahre später ist sein Verschwinden immer noch ungeklärt. Für Alex Kelley, eine angeschlagene True-Crime-Autorin, scheint der Auftrag, über das Waisenhaus zu schreiben, die perfekte Gelegenheit, sich aus ihrer beruflichen Krise zu befreien. Im winterlichen Vermont taucht sie tief ein in die Transkripte und Originaldokumente aus dieser Zeit. Schnell wird ihr klar, dass sie einen brisanten Fall vor sich hat: Was ist wirklich mit dem kleinen Tommy geschehen? Bereits wenig später taucht eine weitere Leiche auf und Alex beginnt zu begreifen, dass sie das nächste Opfer sein könnte …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 479
Veröffentlichungsjahr: 2025
Alex Kelley ist froh, im tief verschneiten Vermont Abstand von ihrem Alltag gewinnen zu können. Denn darüber, dass ihr letztes True-Crime-Buch ein unschuldiges Opfer gefordert hat, kommt sie einfach nicht hinweg. Der neue Auftrag scheint genau das Richtige zu sein: Die Geschichte eines verlassenen Waisenhauses zu recherchieren, kommt ihr angenehm harmlos vor.
Umringt von verstaubten Kisten, vergräbt sie sich tief in alte Transkripte und Tonaufnahmen. Doch schon bald stößt Alex auf seltsame Ungereimtheiten, und offenbar ist auch nicht jeder begeistert davon, dass sie die alten Geschichten wieder an die Oberfläche zerrt. Denn obwohl es schon 50 Jahre her ist, sind die grausamen Dinge, die in Coram House geschehen sein sollen, nicht vergessen.
Als eine Leiche auftaucht, die ebenfalls eng mit der Geschichte des Waisenhauses verknüpft ist, wird auch Alex klar, dass das Projekt alles andere als harmlos ist …
Bailey Seybolt
Thriller
Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg
Für Tim, natürlich
August 1968 – Coram House
Ich sehe einen Schwarm von Schatten unter der alten Eiche, die am Rand des Friedhofs wächst. Aber nein, die Sonne hat mich geblendet. Keine Schatten. Die Schwestern, deren schwarze Gewänder schlaff in der feuchten Luft herabhängen. Schwester Marguerite winkt mich zu sich. Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn, tränken ihren Schleier am Haaransatz. Sie sieht aus, als würde sie in ihren Gewändern zerfließen.
»Die Köchin macht Limonade«, sagt sie und deutet nach oben zum Haus, als wüsste ich nicht den Weg. »Geh sie holen, Kind.«
Die anderen spielen am Strand, schreien und planschen im kühlen Wasser, während Schwester Ann sie zur Ruhe ermahnt. Aber ich bin nicht traurig, dass ich weggeschickt werde. Ein paar Minuten allein sein sind kostbarer als der vollkommenste Sommertag. Ich gehe den Pfad hinauf durch den Sumach, der gerade Blüten bekommt. Sie sind noch grüne Zapfen – ganz anders als die feuerroten Büschel, in die sie sich im Herbst verwandeln. Die Luft ist schwer von allem, was wächst. Das Summen der Insekten überlagert die Geräusche vom Strand. Hier bin ich ganz allein.
Ich komme zum alten Teil des Friedhofs. Die ältesten Grabsteine stammen von 1800, doch die meisten Buchstaben sind verwittert oder mit grünem Moos überwachsen, sodass man nicht mehr erkennen kann, wer hier liegt. Wild wucherndes Gras kitzelt mich in den Kniekehlen. Die Toten hier bekommen nie Besuch, also mäht Marcus das Gras nur, wenn Father Foster es anordnet. Und auch dann beschwert er sich über die zusätzliche Arbeit. Aber ich finde den Friedhof sehr hübsch so, voll fedrigem scharlachrotem Bienenbalsam und violettem Anis-Ysop.
Ich nehme den Umweg durch den Feenkreis aus Weißkiefern, wo jemand namens May Sullivan eine eigene Bank hat. Sie muss geliebt worden sein, wenn sie so ein Fleckchen für sich allein hat. Auf der anderen Seite des Feenkreises kommt eine Reihe quadratischer Marmorplatten, von denen jede den Namen eines Leutnants oder Unteroffiziers trägt, die alle 1918 gestorben sind. Das Gras hier ist gemäht, die meisten Gräber sind mit Blumen oder winzigen Flaggen geschmückt. Es gibt immer noch Menschen, denen an diesen armen Jungen liegt, wie die Schwestern sie nennen. Die toten Jungen. Nicht die lebenden. Wir sind niemals arme Jungen oder Mädchen.
Der Weg führt in einem Bogen an einer Reihe Mausoleen vorbei, die wie steinerne Puppenhäuser aussehen. Oben auf dem Hügel ist das eiserne Tor, durch das man zum Haus kommt. Auf jedem Torpfosten sitzt ein steinerner Engel, die Hände vors Gesicht geschlagen. Ich habe mich immer gefragt, warum sie weinen, wenn alle hier doch jetzt an einem besseren Ort sind? Außer natürlich, ihre Tränen gelten gar nicht den Toten.
Spinnweben bleiben an meinem Gesicht hängen, als ich durch das Tor trete. Etwas krabbelt über meinen Arm, doch als ich hinschaue, ist nichts zu sehen. Im Garten ist es heute still. Alle sind unten am See oder spielen im Schatten der Bäume.
Die Küchentür wird von einem Stein offen gehalten, aber es ist zu dunkel, um drinnen etwas zu erkennen. »Hallo?«, stoße ich keuchend hervor. Der letzte Teil des Weges war steil.
»Warte«, knurrt die Köchin von drinnen. Ein Drache in seiner Höhle. Also warte ich.
Weit unter mir schimmert der See glatt wie ein Spiegel. Am anderen Ende des Strandes schaukelt ein Ruderboot im flachen Wasser. Daneben steht Schwester Cecile. Selbst von Weitem erkenne ich sie, weil sie ganz gerade und still wie eine Statue dasteht. Da bekommt wohl jemand Schwimmunterricht von ihr. Der Arme.
»Und, was willst du?«
Ich zucke zusammen und drehe mich um.
Die Köchin steht auf der Schwelle, die Arme bis zu den Ellbogen voller Mehl, als hätte sie Handschuhe an. Hinter ihr wogt heiße Luft aus der Küche. »Entschuldigung, Ma’am«, sage ich.
Aber sie sieht nicht wütend aus. Sie ist netter als die davor.
»Schwester Marguerite hat mich geschickt, ich soll Limonade holen.«
»Ach ja?« Die Köchin presst den Mund zu einer schmalen Linie zusammen. »Warte hier«, brummt sie und geht wieder rein.
Ich drehe mich um und sehe zu Schwester Cecile hinunter. Das Boot schaukelt, doch sie rührt sich nicht.
Hinter mir ertönt ein lautes Krachen. Bevor ich aus dem Weg gehen kann, kommt ein Junge durch die Tür geschossen und prallt mit seinem Metalleimer gegen mich. Ich falle auf den staubigen Boden. Ein scharfer Schmerz. Die Haut ist aufgeschürft, mein Knie pocht. Aber ich rapple mich hastig auf, als ich das rote, sommersprossige Gesicht über mir sehe.
Fred kneift die Augen gegen die Sonne zusammen. Er beugt sich vor, sein abgestandener Atem stinkt noch mehr als der Müll im Eimer. »Pass doch auf«, zischt er.
»Du hast mich umgerannt.« Ich versuche, entschlossen zu klingen. Er ist fieser, wenn man Angst zeigt.
Fred bückt sich und nimmt einen Stock, dick wie mein Arm. Er ist glatt und weiß gebleicht wie ein Knochen. Er wiegt ihn prüfend in der Hand. Mir tut schon alles weh, bevor ich den Schlag spüre.
Doch der Schlag kommt nicht.
Fred bemerkt etwas hinter mir, stößt mich beiseite und rennt davon, den Weg zum See hinunter, sein weißes Hemd blitzt zwischen den grünen Zweigen auf. Ich sehe ihm nach und zähle bis hundert, um sicherzugehen, dass er weg ist. Blut rinnt mein Bein hinunter und in meine weiße Socke.
»Soll ich den ganzen Tag hier stehen?«
Ich drehe mich um und sehe die Köchin in der Tür stehen, einen weißen, mit Feuchtigkeit beschlagenen Keramikkrug in der Hand.
»Entschuldigung«, murmele ich und versuche, mir den Staub von den Händen zu wischen.
»Ach, verflixt. Die wollen natürlich auch Gläser.«
Wieder wird sie von der dunklen Küche verschluckt. Diesmal stehe ich Gewehr bei Fuß, bis sie wiederkommt. Sie braucht ewig. Das Blut an meinem Bein trocknet zu einer Kruste. Dann taucht sie mit vier übereinandergestapelten leeren Einmachgläsern auf.
»Musste sie noch spülen. Hier, nimm die mit.«
Sie drückt mir die Gläser in den Arm. Aber ich verstehe nicht.
»Wo sind die anderen?«
Die Köchin zieht die Augenbrauen zusammen. »Die anderen was?«
»Gläser«, sage ich. Sollen wir uns alle eins teilen?
Aber sie versteht mich falsch. »Falls Schwester Marguerite richtige Gläser am Strand will, wo sie in tausend Scherben zerschlagen werden, kann sie sie selbst holen.«
Dann verschwindet sie brummend in die Küche.
Natürlich. Vier Gläser, vier Schwestern. Wie dumm von mir zu denken, dass die Limonade für uns sein könnte.
Ich trotte los, entschlossen, auch zurück den längeren Weg zu nehmen. Lieber eine Meile mehr gehen als womöglich Fred allein in die Arme zu laufen.
Das Ruderboot ist jetzt draußen auf dem Wasser, mitten in der Bucht. Am Heck sitzt Schwester Cecile, am Bug ein Junge, groß und schlaksig, sein weißes Hemd leuchtet in der Sonne. Darum hatte es Fred so eilig. Der Krug fühlt sich glitschig in meinen Händen an. Ich versuche, ihn fester zu fassen. Unten dreht sich das Ruderboot in der Brise. Jetzt sehe ich einen weiteren Jungen, eine kleine, im Boot kauernde Gestalt, bin aber zu weit weg, um sein Gesicht zu erkennen. Schwester Cecile streckt mit Schwung den Arm zum Wasser aus, als würde sie einen Stein werfen. Fred macht einen Satz nach vorn. In einem undeutlichen Handgemenge fliegt der kleinere Junge über Bord. Seine Arme und Beine wirbeln das Wasser zu Schaum auf. Die Zeit scheint sich auszudehnen.
Schwimmunterricht. Schwimmunterricht. Das Wort wiederholt sich in meinem Kopf wie ein Gebet.
Das aufgewühlte Wasser wird zu kleinen Wellen, dann ist es wieder ganz glatt.
Kein kleiner Kopf durchbricht die Oberfläche.
Ich bewege mich nicht. Ich kann mich nicht bewegen. Die anderen im Boot sind ebenfalls wie eingefroren. Schwester Cecile ein schwarzes Dreieck. Fred ein weißer Fleck. Nur noch zwei. Die Zeit dehnt sich endlos. Dann nimmt Fred die Ruder, das Boot setzt sich in Bewegung.
Kalte Nadeln stechen in meine Beine. Ich schaue an mir hinunter. Sie sind nass. Scherben liegen auf dem Boden. Ich muss den Krug fallen gelassen haben und habe es nicht bemerkt.
Als ich hochschaue, beobachtet mich Schwester Cecile aus dem Boot heraus. Es ist fast am Strand angelangt. Sie kann von dort unten unmöglich mein Gesicht erkennen, und doch würde ich mich am liebsten verstecken. Sie wird mich wieder auf den Dachboden schicken, ich weiß es.
Ein Geräusch entkommt meinen Lippen und ich drücke die Hand vor den Mund, stopfe es zurück. Die weiß gezackten Scherben des Krugs liegen im Dreck. Mir ist, als könnten sie jeden Moment hochspringen und sich wieder zusammenfügen. Als könnte ich die Zeit zurückdrehen und etwas anders machen. Als könnte ich ahnen, was passiert, und den Krug besser festhalten.
1. Mai 1988 – US-Bezirksgericht
Alan Stedsan: Guten Morgen, Ms Lafayette. Danke, dass Sie gekommen sind.
Karen Lafayette: Gerne, wenn ich helfen kann.
AS: Gut, fangen wir an. Sie haben von 1965 bis 1970 in Coram House, einer Institution für Waisenkinder, gelebt. Können Sie mir etwas vom Leben dort erzählen?
KL: [lacht] Jeder einzelne Mensch, der dort gearbeitet hat, gehört ins Gefängnis. Wissen Sie, dass sie sich die Schwestern der Gnade nannten? Können Sie sich das vorstellen? Nein, vergessen wir das Gefängnis. Schwester Cecile – die alle – sollen in der Hölle schmoren.
AS: Ich verstehe Ihren Zorn, Ms Lafayette. Aber je mehr Details wir kennen …
KL: Ich weiß. Schon gut.
AS: Was können Sie mir über Schwester Cecile sagen? Welche Aufgaben hatte sie in Coram House?
KL: Außer Folter, meinen Sie?
AS: Ich –
KL: Schon gut. Details … Sie war für den Mädchenschlafsaal zuständig. Hat dafür gesorgt, dass wir beten und unsere Betten machen. Solches Zeug. Ach, und Wanderungen, Schwimmunterricht. Schwester Cecile war sehr für Bewegung an der frischen Luft.
AS: Wie würden Sie ihren allgemeinen Umgang mit den Kindern beschreiben?
KL: [lacht] Sie war ein Ungeheuer. Außer man war ihr Liebling. Sie hatte immer einen Liebling.
AS: Vielleicht könnten Sie das ein bisschen genauer beschreiben.
KL: Sie wollen Einzelheiten? Okay, wie wäre es mit der Geschichte damals, als Schwester Cecile ein Mädchen aus dem Fenster gestoßen hat?
AS: Aus dem Fenster?
KL: Sie ist aus dem ersten Stock gefallen. Ich hab es selbst gesehen – sie ist auf dem Boden aufgeprallt und irgendwie noch mal so ein bisschen hochgehüpft.
AS: Und … hat das Mädchen den Sturz überlebt?
KL: Der Boden war gepflastert. Wohl kaum.
AS: Kennen Sie den Namen des Kindes?
KL: Amanda vielleicht? Oder Melissa? Ich glaube, sie war Sieben.
AS: Sieben Jahre alt?
KL: Nein. Sieben. Sie wissen schon – ihre Nummer. Die haben uns nur mit unserer Nummer gerufen. Von manchen Mädchen habe ich die richtigen Namen nie erfahren.
AS: Und warum hat Schwester Cecile – wie Sie sagen – das Mädchen aus dem Fenster gestoßen?
KL: Das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, wir haben sie geputzt. Ich und Sarah und sieben.
AS: Die Fenster?
KL: Ja, die Fenster. Wir haben sie geputzt und, keine Ahnung, vielleicht war sie nicht gründlich genug. Vielleicht hat sich das alte Miststück auch nur gelangweilt. Wer weiß. Ich hab gehört, ein anderes kleines Mädchen ist verbrannt. Schwester Cecile hat ihr gesagt, sie soll einen Ball aus dem Feuer holen, und dann ist ihr Schneeanzug in Flammen aufgegangen. Und dann war da der Junge, der ertrunken ist. Und natürlich Father Foster. Aber das wissen Sie ja alles. Ich kann Ihnen sagen, zumindest wenn es um Father Foster ging, war es ein echter Vorteil, ein Mädchen zu sein.
3. Mai 1989 – US-Bezirksgericht
Alan Stedsan: Danke, dass Sie gekommen sind, Ms Dale. Ich würde Ihnen gern einige Fragen über das Leben in Coram House stellen. Ist das in Ordnung?
Sarah Dale: Ja. Einverstanden.
AS: Wurden die Kinder Ihres Wissens nach manchmal von den Nonnen oder Priestern bestraft?
SD: Oh ja. Das kam ziemlich häufig vor.
AS: Wofür wurden sie bestraft?
SD: Wenn wir während des Essens geredet haben. Den Nonnen Widerworte gegeben haben. Unsere Arbeiten nicht gut genug erledigt haben.
AS: Und wie wurden Sie bestraft?
SD: Geschlagen, mit einem Lineal. Oder man musste stundenlang in der Ecke stehen und die Arme ausstrecken, bis es sich anfühlte, als würden sie brechen. Solche Sachen. Wenn sie richtig wütend waren, schickten sie einen auf den Dachboden.
AS: Den Dachboden?
SD: Da war es kalt. Und dunkel. Es gab wohl keine – wie nennt sich das – Wärmedämmung. Nur Holzbretter und darüber das Dach. An manchen Stellen waren Ritzen, durch die Licht fiel. An beiden Enden gab es Fenster. Riesengroße runde, die waren größer als ich. Aber es war trotzdem immer dunkel. Keine Ahnung, wieso. Vielleicht, weil der Dachboden so groß war. Und kalt. Die Hälfte der Fenster war kaputt, da blies der Wind rein. Und außerdem waren da lauter Geister. [Lacht]
AS: Sie glaubten, dass es dort spukte?
SD: Nein, die Geister waren ganz real. Es waren Statuen – große Statuen aus Stein. Von Heiligen, nehme ich an. Aber die waren alle mit weißen Tüchern verhängt. Ich habe keine Ahnung, wie sie die da raufbekommen haben. Die müssen Hunderte Kilo gewogen haben. Wenn der Wind reinwehte, bewegten sich die Tücher. Sie sahen aus wie Geister. Die alle im Dunkeln tanzen.
AS: Das klingt unheimlich.
SD: Sie brachten einen nach oben. Meist Schwester Cecile. Da stand dieser alte Kleiderschrank. Man musste reinsteigen und dann hat sie die Tür abgeschlossen.
AS: Sie hat Sie im Kleiderschrank eingeschlossen?
SD: Ja.
AS: Für wie lange?
SD: Das weiß ich nicht. Einmal haben sie Mary reingesteckt, sie ist die ganze Nacht dringeblieben. Es war im Winter, und als sie sie runterholten, hatte sie ganz blaue Lippen. Wir dachten, sie wäre tot.
AS: Ms Dale, ich möchte Sie nach etwas fragen, das Karen Lafayette erwähnt hat.
SD: Vierzehn.
AS: Wie bitte?
SD: Karen war Nummer vierzehn. Ich war elf und sie war vierzehn.
AS: Erinnern Sie sich an einen Vorfall beim Fensterputzen? Das muss irgendwann in den Sechzigerjahren gewesen sein.
SD: Ach, das mit Schwester Cecile.
AS: Können Sie mir sagen, was an jenem Tag geschehen ist?
SD: Nicht viel.
AS: Nicht viel?
SD: Na ja, nichts Außergewöhnliches. Ich habe im ersten Stock Fenster geputzt, auf der Rückseite des Gebäudes. Es muss in einem Klassenzimmer gewesen sein, die hatten nämlich sehr hohe Fenster aus lauter winzigen Glasscheiben. Die ließen sich furchtbar schwer putzen, weil man jede Scheibe einzeln machen musste, mit einem Tuch, das man sich um den Finger wickelte.
AS: Das klingt mühselig.
SD: Es dauerte ewig. Ich war fast zwanzig Jahre im Haus, müssen Sie wissen. Das sind Tausende Fensterscheiben. Vielleicht Zehntausende. Wenn man die alle zusammenrechnet, habe ich wohl Monate meines Lebens damit verbracht, diese Fenster zu putzen.
AS: Ms Dale, der Tag, von dem Sie sprachen –
SD: Ja, natürlich. Ich habe also mit vierzehn – Karen – und einem anderen Mädchen Fenster geputzt. Ich glaube, sie hieß Missy. Sie war noch nicht lange da. Schwester Cecile kam rein. Sie war sehr wütend. Das hatte nichts mit uns zu tun, aber so lief es eben. Sie sagte, die Fenster wären ja immer noch dreckig, und Missy erklärte, dass der Dreck draußen war, wo wir nicht hinkamen. Sie hatte recht, aber es war dumm, das zu sagen. Sie war halt noch neu.
AS: Was geschah dann?
SD: Oh, Schwester Cecile hat eine Weile getobt und dann zu Missy gesagt, sie sollte sie dann eben auch von außen putzen.
AS: Die Außenseiten der Fenster?
SD: Die Fenstersimse waren sehr breit. Also hat Schwester Cecile ihr befohlen, sich draußen auf das Fenstersims zu stellen, und wir sollten sie von drinnen an den Fußgelenken festhalten.
AS: Mein Gott.
SD: Glauben Sie mir, der hatte nichts damit zu tun. Wir haben das Mädchen so fest gehalten wie nur was. Mir taten danach richtig die Hände weh.
AS: Und Missy – was ist aus ihr geworden?
SD: Ich weiß nicht genau. Ich glaube, sie wurde adoptiert. War ein süßes kleines Ding. Blonde Locken wie eine Puppe. Diese Sorte ließ sich gut vermitteln.
AS: Sie ist nicht – ich meine, sie ist an dem Tag nicht hinuntergestürzt?
SD: [lacht] Natürlich nicht. Klar, sie hatte Angst. Hatten wir alle. Aber es war nicht … verstehen Sie, solche Sachen waren nicht weiter ungewöhnlich.
AS: Ms Dale, ich muss Ihnen das sagen. Ms Lafayette – Karen – erinnert sich daran, dass das Mädchen hinausgestoßen wurde.
SD: Vierzehn hat immer gern Geschichten erzählt. Aber ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst sagen soll, Mr Stedsan. Ich kann Ihnen versichern, dass niemand aus diesem Fenster gestiegen und nicht zurückgekommen ist. Ehrlich gesagt erinnere ich mich auch nur deshalb an den Tag, weil Karen danach so verstört war.
AS: Sie erwähnte auch einen Jungen, der ertrunken sein soll. [Pause] Ms Dale?
SD: Ja.
AS: Erinnern Sie sich daran?
SD: Ja, das ist wirklich passiert.
AS: Was können Sie mir dazu sagen?
SD: Es war ein paar Jahre später. Karen war an dem Tag nicht da, ich weiß nicht, warum sie Ihnen davon erzählt hat.
AS: Aber Sie waren dabei?
SD: Nicht direkt. Dabei war niemand außer Schwester Cecile und den Jungen im Boot.
AS: Aber wie –
SD: Ich war oben im Haus. Ich sollte Limonade für die Schwestern holen. Es ist schon seltsam, dass ich das gesehen habe. Wäre ich nur ein paar Minuten früher oder später gegangen. Gott, es war so heiß. Ich hatte geschwitzt seit dem Moment, als ich aufgestanden war. Mein Kleid klebte mir am Körper. Vor der Küchentür wuchs ein Zimterlenstrauch. Er hatte sehr große weiße Blüten, die hängen so runter. Die ganze Luft duftete danach.
AS: [Pause] Ms Dale?
SD: Ich kam von der Küche. Unten am See, in der kleinen Bucht, war ein Ruderboot. Das Wasser da war tiefer, darum hielt Schwester Cecile den Schwimmunterricht dort ab. Man konnte die Bucht vom Strand aus nicht sehen. An diesem Tag war Schwester Cecile mit Tommy und Fred im Boot. Tommy war ganz zusammengekauert, als wäre ihm schlecht. Schwester Cecile sagte was – ich konnte es nicht hören, sie war zu weit weg, aber ihre Arme bewegten sich. Fred hat Tommy unter den Achseln gepackt und gestoßen. Tommy ist ins Wasser gefallen.
AS: Und was ist dann passiert?
SD: Ich habe einfach dagestanden. Tommy ist nicht mehr hochgekommen. Er konnte nicht schwimmen.
AS: Und Schwester Cecile – was hat sie gemacht?
SD: Nichts. Sie sind ans Ufer gerudert.
AS: Wie sahen sie aus?
SD: Wie meinen Sie das?
AS: Wirkten sie aufgeregt?
SD: Ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Sie waren zu weit weg.
AS: Woher wussten Sie dann, wer es war?
SD: Man konnte Schwester Cecile schon von Weitem an ihrer Haltung erkennen. Kerzengerade, als hätte sie einen Stock verschluckt. Und Fred hatte ich gerade vor der Küchentür gesehen, er ging den Weg runter, der zum Wasser führte. Ich hatte Angst vor ihm. Er trug seinen Eimer an einem dicken, knotigen Stock. Wenn ein Junge wie er einen Stock hat, benutzt er ihn auch. Aber ich hätte auch so gewusst, dass er das im Boot war. Fred ging nämlich überallhin, wo Schwester Cecile war. Er war ihr Liebling. Und Tommy, na ja, dass er es war, habe ich erst erfahren, als er vermisst wurde.
AS: Die beiden ruderten also an Land. Und was haben Sie getan?
SD: Sie wollen wissen, ob ich schreiend zum See runtergelaufen bin? Ob ich ins Wasser gesprungen bin, um ihn zu retten?
AS: Ms Dale, ich wollte nicht andeuten –
SD: Nein, schon gut. Das hätte ich tun sollen. Das würde ich heute tun. Ich hatte den Krug mit der Limonade fallen lassen, er war zerbrochen. Meine Beine waren voller Limonade. Ich hatte furchtbare Angst, deswegen Ärger zu bekommen. Deswegen! Damals hatte ich immer solche Angst. Also hab ich nichts getan. Nichts gesagt. Jedenfalls nicht sofort. Am nächsten Tag habe ich allen Mut zusammen genommen, aber niemand hat mir geglaubt. Und dann kam Schwester Cecile zu mir. Sagte, dass sie Tommy vermisst gemeldet hätten. Er sei weggelaufen. Und dann – [unverständlich]
AS: Möchten Sie ein Glas Wasser?
SD: Nein. Danke. Sie hat mich auf den Dachboden gebracht. Da stand ein Kleiderschrank. Ich musste reinklettern und sie hat die Tür von außen abgeschlossen. Es war dunkel – so dunkel. Und kalt. Obwohl Sommer war. Ich weiß nicht, wie lange sie mich da drin gelassen hat. Jedenfalls die Nacht über. Vielleicht auch länger. Keine Ahnung. Damals habe ich mich gefragt, ob sie mich für immer drin lässt. Und es dann als Unfall darstellt.
AS: War es wegen dem, was Sie gesehen hatten?
SD: Das hat sie nie so gesagt. Aber ich wusste es. Danach hatte ich jahrelang Albträume.
AS: Wegen des ertrunkenen Jungen?
SD: Nein. Wegen der Dunkelheit. Wegen des Eingeschlossenseins im Kleiderschrank. Das ist schrecklich von mir, oder?
AS: Es war nicht Ihre Schuld.
SD: Ich hätte was tun sollen.
AS: Sie –
SD: Nein. Das weiß ich jetzt. Das trage ich mit mir herum. Manchmal – na ja. Manchmal ist es schwer, damit zu leben. Und das müssen Sie versuchen zu verstehen. Die Jahre, die wir dort gewesen sind. Man kann Coram House verlassen, aber man kann es nicht ganz zurücklassen. Nicht alles. Das Schlimmste trägt man in sich. Es wird Teil von einem. Und manchmal habe ich Angst, dass man es weitergibt.
Ich verlasse Brooklyn, bevor die Stadt erwacht. Es ist ein bitterkalter, feuchter Tag. Kein Schnee, nur nasse Gehwege und Berge von Schneematsch, die die Gullys verstopfen. Gewöhnlich finde ich die Stadthäuser aus Backstein fröhlich und hell, doch heute scheint der graue Himmel alle Farbe in sich aufzusaugen. Ich schließe die Haustür und schleppe meinen Koffer die Stufen hinunter. Konfettihäufchen glitzern auf dem Gehweg. Bald werden auch sie mit dem Schneematsch in den Fluss gespült. Heute Morgen ist es ungewöhnlich still, als müsste die Stadt auch einen Tag später noch ihren Neujahrskater ausschlafen.
Silvester war extrem kalt und klar und die Geräusche der Feiernden drangen bis in meine leere Wohnung im zweiten Stock herauf. Eine Gruppe Mädchen ging unter meinem Fenster vorbei. Sie lachten und tranken mit Strohhalmen aus winzigen Champagnerflaschen. Ich fröstelte, als ich ihre nackten weiß schimmernden Beine sah. Silvester habe ich immer gehasst.
Vor ein paar Tagen war Lola mit einer Flasche Wein vorbeigekommen, um auf mein neues Buch anzustoßen. Sie kannte die groben Eckpunkte: das alte Waisenhaus, die Kirche, der übliche Horror und Missbrauch, die Untersuchung, die alles ans Tageslicht gebracht hatte, und der Vergleich, der es wieder im Dunkeln hatte verschwinden lassen.
Klingt nach Bestsellermaterial, hatte sie gesagt, auch als ich ihr das Kleingedruckte erläutert hatte: sechs Monate in Vermont und ein fremder Name auf dem Cover.
Ghostwriterin.
Nach allem, was mit meinem letzten Buch schiefgelaufen war, war mir der Begriff sympathisch. Es klang, als wäre ich gar nicht da. Außerdem hatte ich einen Stapel offener Arztrechnungen in der Schublade. Adam ist vor drei Jahren gestorben, aber es kommen immer noch welche. Das sagt einem niemand.
Gut, hatte Lola erklärt, ich helfe dir packen.
Und das hatte sie auch versucht, hatte Kleidungsstücke aus meinem Schrank genommen und in die Höhe gehalten. Ein dicker gestreifter Pullover. Ein langes rotes Kleid mit Blumenmuster. Seit Jahren hatte ich nichts davon getragen. Sie füllte mein Glas nach, wollte einen netten Abend draus machen, aber ich sagte, mir wäre nicht danach. Dann tigerte ich durch die Wohnung und trank die Flasche allein aus. Es erschien mir unmöglich, etwas aus den Regalen zu nehmen, so als hätten die Dinge dort im Laufe der Jahre Wurzeln geschlagen. Immerhin war Adams Kleiderschrank schon leer.
Ich hatte die Sachen, die mir viel bedeuten, auf einen Haufen gelegt. Unsere Hochzeitsfotos. Den Zapfen eines Mammutbaums, winzig wie eine Eichel, den ich von einer Reise nach Kalifornien mitgebracht hatte. Einen vollkommen runden Stein, den ich in einem peruanischen Tempel gefunden und nach Hause geschmuggelt hatte. Das ist ein antiker Tischtennisball, hatte ich zu Adam gesagt. Mit jedem Gegenstand verband ich eine Erinnerung, die ich in den verschlossenen Schrank in meinem Kopf stopfte, um mich später damit zu befassen – das hatte mir eine Therapeutin geraten, die ich nach Adams Tod ein paarmal aufgesucht hatte. Ich hatte nicht gefragt, was passierte, wenn man die Erinnerungen einfach für immer darin eingeschlossen ließ.
Der Haufen passte in einen einzigen Karton. Der kam bei Lola in den Keller. Alles andere stellte ich an den Straßenrand. Winzige Essigfläschchen. Kerzenständer aus Messing. Hässliche braune Bettwäsche. Gegenstände, die sich im Laufe der Jahre wie Strandgut angesammelt hatten.
Jetzt steht mein Wagen vor dem Gebäude – ein kleines Wunder, dass ich diesen Parkplatz gefunden habe. Ich kaufte das Auto, einen Tag nachdem ich den Buchvertrag unterzeichnet hatte, in einem Vorort von New Jersey. Ein gebrauchter Toyota, hunderttausend Kilometer auf dem Tacho und zwei Beulen im Dach, weil der Vorbesitzer mit einem Fahrrad obendrauf in eine Garage gefahren war. Es gefällt mir, dass der Wagen eine eigene Geschichte hat. Ich packe den Koffer ins Auto, neben die Kartons mit Arbeitsmaterial: Laptop und Nachschlagewerke, Notizblöcke, meine Lieblingstextmarker, Karteikarten, leere Aktenordner. Mir knurrt der Magen.
Es ist erst kurz nach sechs, aber das »Geöffnet«-Schild am Deli verspricht heißen Kaffee. Ich bestelle wie üblich einen Bagel mit Cream Cheese und Tomatenscheiben, obwohl ich weiß, dass die blass und mehlig sein werden. Während ich warte, nehme ich noch einmal die kahlen Äste der Bäume im Park gegenüber in mich auf, die abblätternde grüne Farbe der Treppe, die zur U-Bahn hinunterführt. Pantone 350. New Yorker Grün. Meine Kehle wird eng.
Das ist doch rührselig. Der Vertrag sieht sechs Monate für die Erstellung einer ersten Fassung des Buches vor. Danach kann ich zurückkommen. Im Frühstadium eines Projekts verlasse ich ohnehin nur selten die Wohnung. Außerdem ist dies kein richtiges Ende – das Ende kam schon vor drei Jahren. Es ist eher, als risse man einen Niednagel ab. Ja, es ist schmerzhaft, das Stückchen Haut zu lösen. Aber es ist auch eine Erleichterung.
Ich nehme meinen mit einer Windel aus Wachspapier versehenen Bagel und gehe zum Auto zurück. Mein Handy piept, als ich mich hinters Steuer setze – eine Nachricht von Lola, die mir viel Glück wünscht. Sie schreibt, dass Schnee angekündigt ist und dass ich bitte nicht im Straßengraben landen soll. Außerdem eine Mail von Alan Stedsan, meinem Co-Autor.
Sie beginnt mit den Worten Sehr geehrte Ms Kelley, ebenso förmlich wie seine bisherigen Mails. Vielleicht können Anwälte nicht anders. Er wünscht mir eine sichere Fahrt und fragt, ob ich morgen in sein Büro kommen möchte, damit wir anfangen können. Ich bestätige es rasch.
Wir haben nur einmal telefoniert, aber das hat gereicht, um mir ein Bild von ihm zu machen. Die meiste Zeit redete Stedsan. Er lieferte mir einen kurzen Überblick über die Vorwürfe gegen die katholische Kirche und wie er sich das Buch vorstellte – historisches True Crime. Er brauche jemanden, der beide Elemente gut beherrsche, hatte er gesagt. So etwas wie einen jungen Erik Larson. Sein Tonfall schien anzudeuten, dass dies das größtmögliche Kompliment war.
Es war eine Art Vorstellungsgespräch und dabei hatte ich das Gefühl, dass er in meinen Antworten nach etwas suchte, nach irgendeiner geheimnisvollen Eigenschaft. Bevor wir uns verabschiedeten, fragte er, ob ich irgendwelche Änderungen an dem drakonischen Vertrag vornehmen wolle, den er natürlich nicht so bezeichnete. Stedsan behielt sich absolute Kontrolle über das Endprodukt vor. Es gab eine knallharte Verschwiegenheitsklausel, die bei Verstoß eine sechsstellige Strafe vorsah. Dazu einen erbarmungslosen Zeitplan und ich musste ein halbes Jahr nach Vermont ziehen, damit er unsere Fortschritte überwachen konnte.
Ich sagte, alles sei in Ordnung so.
Eine Stunde später rief meine Agentin mit dem Angebot an. Vermutlich war die Eigenschaft, nach der er gesucht hatte, Fügsamkeit gewesen. Also doch nicht so geheimnisvoll.
Ich rufe die Wegbeschreibung zu der Wohnung auf, die ich blind gemietet habe. Burlington, Vermont. Sechs Stunden Fahrt, immer fast geradeaus. Der Motor gibt ein metallisches Knirschen von sich, als ich ihn starte, doch bald fädle ich mich auf der Atlantic Avenue ein. Fünf Straßen weiter wird mir klar, dass ich keinen letzten Blick auf meine Wohnung geworfen habe. Ein weißer Lieferwagen hupt und schneidet mich. Mein Bedauern weicht der Entschlossenheit, den Highway lebend zu erreichen.
Eine Stunde nördlich von New York wird der Verkehr allmählich weniger. Ich greife nach Bagel und Kaffee, beides inzwischen kalt. Hinter den kahlen Winterbäumen blitzen unten im Tal Miniaturstädte und verschneite Felder auf, die mit braunen Pferden oder Kühen getupft sind. Als ich Albany erreiche, erscheinen mir die Bürohochhäuser und Schornsteine geradezu gigantisch.
Danach werden die Städte kleiner und seltener. Schließlich halte ich in einem Ort, der nur aus einem Postamt mit Einkaufsladen inmitten verschneiter Tannen besteht. Ich wechsle beim Tanken alle zehn Sekunden die Hand, damit ich nicht festfriere.
Drinnen schlängele ich mich zwischen Regalen mit allen nur erdenklichen Chipssorten hindurch – Dillgurke, Ketchup, Shrimp –, bis ich den Kaffee neben einer Schachtel Donuts mit Zuckerguss entdecke. Ich habe mal von einem Mann gelesen, der Rasierklingen in Tankstellen-Donuts versteckte. Ich fülle meinen Becher, nehme einen Donut und bezahle. Draußen umschlingt mich die Kälte, als hätte sie mich vermisst. Der Donut schmeckt nach Äpfeln und Zimt. Er ist köstlich. Rasierklingen sind auch keine drin.
Adam hatte mal gesagt, ich würde überall Gefahren sehen. Er gab meinen Büchern die Schuld daran. Seiner Theorie nach würde sich die Welt weniger bedrohlich für mich anfühlen, wenn ich über Kätzchen statt über ermordete Menschen schriebe.
Niemand will Bücher über Kätzchen lesen, hatte ich entgegnet.
Jeder will Bücher über Kätzchen lesen, hatte er gesagt.
Aber ich glaube, ich habe einfach falsch argumentiert. Mag sein, dass ich überall Gefahren sehe, aber nur, weil die Welt eben gefährlich ist. An manchen Donuts schneidet man sich tatsächlich die Zunge ab. Meine Bücher sind nicht erfunden, hätte ich sagen sollen. Es geht darin um Fakten. Er war es, der die Dinge nicht so sah, wie sie waren. Er war es, der bis zuletzt glaubte, das Leben würde besser.
Ich frage mich, was Adam von meinem neuen Projekt halten würde. Noch mehr Dunkelheit und Tod. Vielleicht hätte er sich gefreut, New York für einige Monate zu verlassen. Oder er hätte es gehasst. Eine Zeit lang konnte ich seine Stimme heraufbeschwören – mir vorstellen, was und wie er es sagen würde. Aber es funktioniert nicht mehr. In meinem Kopf klingt seine Stimme jetzt genau wie meine. Das tut nicht mehr ganz so weh wie am Anfang. Es ist eher, als drückte man auf einen alten blauen Fleck.
Ich steige ins Auto und fahre weiter.
In den nächsten Stunden passiert nichts. Kein Verkehr, kein Schneesturm, nur die Straße, die sich über die Hügel hinweg vor mir entrollt, dann und wann ein kleiner Ort oder eine einsame Scheune am Straßenrand. Ich halte vergeblich Ausschau nach dem Camel’s Hump, einem Berg mit unverkennbarer Form, der bei all meinen Recherchen aufgetaucht ist. Allmählich begreife ich, warum manche Leute gern Auto fahren.
Vom nächsten Hügel sehe ich in der Ferne den Highway aufblitzen. Eine mintgrüne Brücke führt mich über einen Fluss und zurück in die Gegenwart. Ein Einkaufszentrum voller riesiger Billigläden – der Sirenengesang von Fülle und Fast Fashion. Auf den Fotos sah Burlington ganz reizvoll aus. Antike Backsteinhäuser, dahinter die Weite des Lake Champlain, aber das könnte irreführend gewesen sein. Vielleicht erwarten mich sechs Monate inmitten schäbiger Einkaufszentren und mit Egg McMuffins. Obwohl ich Lola versichert hatte, dass Burlington eine richtige Stadt sei – die größte Stadt in Vermont! –, wird mir klar, dass ich insgeheim zwar nicht direkt Wildnis, aber doch etwas Malerisches, an Thoreau Erinnerndes erwartet habe.
Ich erreiche eine Anhöhe, auf der sich ein College-Campus befindet. Historische Gebäude, mittendrin ein gigantischer Glasbau. Im Rückspiegel taucht plötzlich die unverkennbare Form des Camel’s Hump auf, wie in den Horizont geschnitzt. Es fühlt sich an wie ein Omen, den Berg so unerwartet und zudem im Spiegel zu entdecken, doch was für ein Omen das sein soll, ist mir unklar.
Ich verpasse die nächste Abzweigung und verirre mich in einem Gewirr aus Einbahnstraßen, bis ich schließlich die Archibald Street erreiche. Die meisten Häuser sehen aus, als könnten sie einen Anstrich vertragen, aber es ist eine belebte Gegend. Es gibt eine Bäckerei mit beschlagenen Fenstern, einen Eckladen, der Samosas verspricht, ein Wandgemälde von Muhammad Ali, so groß, dass ich mich in seinem Nasenloch zusammenrollen könnte. Ein winziger Friedhof aus der Kolonialzeit, mitten in einer Reihe alter Häuser im viktorianischen Stil, von denen die meisten, nach den vielen Briefkästen zu urteilen, in Wohnungen aufgeteilt sind.
Mein Ziel ist das letzte Haus in der Straße, es ist in einem grellen Violett gestrichen und sieht aus wie ein Acid-Trip. Ich prüfe noch einmal die Adresse, aber mein Handy versichert mir, dass ich angekommen bin. Während ich noch durch meine Mails scrolle und nach der Nummer des Vermieters suche, klopft jemand auf die Motorhaube.
Draußen steht ein weißhaariger Mann und bedeutet mir, das Fenster herunterzulassen. »Sie müssen Alex sein«, sagt er. »Ich bin Joe. Mir gehört das Haus. Wie war die Fahrt?«
Ich steige aus, während er zu einer Erklärung über Schneepflüge und Parken ansetzt. Der Gehweg ist voller Eisplatten, doch Joe scheint ungeachtet seines Alters und der nicht zugeschnürten Stiefel sicherer auf den Beinen als ich.
»Nun«, sagt er und streckt die Arme aus, als wollte er die violette Monstrosität umarmen, »das ist es.«
Ich schlinge die Arme um den Körper und bereue, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, die Jacke anzuziehen. Ich hoffe, dass er den Wink bemerkt, doch er scheint auf eine Antwort zu warten.
»Es ist sehr fröhlich«, sage ich schließlich.
»Na ja, sechs Monate im Jahr haben wir es grau, da dachte ich, die Gegend kann ein bisschen Farbe vertragen.«
Der Satz klingt, als hätte er ihn schon öfter gesagt.
»Also. Bereit für die Tour?«
Er schließt die Haustür auf und ich folge ihm hinein und eine steile Treppe hinauf.
Joes Tour umfasst den Heißwasserboiler, die Nottreppe und wie man die Sicherung wieder reinmacht, wenn der Herd sie raushaut. Altes Haus scheint die Erklärung für alles zu sein. Schließlich stehen wir in der Küche, unsere Stiefel wässern das vergilbte Linoleum.
Er nickt zur Tür, die ins Wohnzimmer führt. »Ich hatte noch einen alten Tisch in der Garage. Mein Sohn hat ihn sauber gemacht und da reingestellt. Ich dachte, der ist besser als ein Schreibtisch – mehr Platz und so –, wenn Sie hier ein Buch schreiben wollen.«
»Danke«, sage ich, »das ist toll.«
Er wartet ab, ob noch mehr kommt, aber ich lächle nur höflich. Die Leute sind immer neugierig, wenn sie von meinem Beruf hören. Als wäre es kein richtiger Job, als schuldete man ihnen eine genauere Erklärung. Aber den Impuls, das Schweigen auszufüllen, habe ich schon vor langer Zeit überwunden. Außerdem hat Alan Stedsan mich angewiesen, unser Projekt diskret zu behandeln. Sagen Sie den Leuten nur, wenn es unbedingt sein muss, woran Sie arbeiten.
»Also dann.« Joe klappert mit einem Schlüsselbund und hält ihn mir hin. Die Eule, die daran hängt, schaut mich mit Glupschaugen an.
»Meist komme ich mittwochs vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Aber Sie haben ja meine Nummer. Melden Sie sich, falls Sie irgendwas brauchen. Und viel Glück mit dem Geschichtsprojekt.«
Mit diesen Worten schließt er die Tür hinter sich. Schwere Schritte stapfen die Treppe hinunter, dann schlägt die Haustür zu.
Ich wandere durch die Zimmer, um eine Bestandsaufnahme zu machen oder vielleicht um sie in Besitz zu nehmen. Die Küche ist sauber und kahl und riecht nach Bleichmittel und Schimmel. Es gibt einen Elektroherd, einen kleinen Kühlschrank und ein Fenster, das auf den asphaltierten Hof hinter dem Haus hinausgeht. Das Wohnzimmer ist mit grauem Teppichboden ausgelegt. Das Sofa mit den hölzernen Armlehnen erinnert mich ans Studentenwohnheim. Daneben stehen ein Couchtisch mit Laminatplatte und ein kleiner Fernseher. Der versprochene Tisch mit der verschrammten Platte und den gedrechselten Beinen, der den größten Teil des Wohnzimmers einnimmt, scheint geradewegs aus einem alten Bauernhaus zu stammen. In Brooklyn würde man Tausende Dollar für so ein antikes Stück zahlen. Ich fahre mit dem Finger über eine Reihe winzige Vertiefungen in der Oberfläche. Gabelzinken.
Die Matratze im Schlafzimmer ist noch in Plastik eingeschweißt. Sie war das Einzige, was ich unbedingt neu kaufen wollte, aus Angst vor Bettwanzen. Die Nachttischlampe mit dem viel zu großen Schirm wirft einen schwachen gelblichen Schein. Das einzige Fenster geht auf die Straße hinaus, ich sehe einen Eckladen und den Friedhof. Die Matratze knistert, als ich mich setze und mich auf Spuren von Panik angesichts dieser neuen Realität prüfe.
Ich hake im Geist eine Checkliste möglicher Auslöser ab. Die Wohnung verlassen, in der ich sieben Jahre gelebt habe, Haken dran. Den größten Teil meines Besitzes hinter mir lassen, Haken. In eine fremde Stadt ziehen, in der ich niemanden kenne. Als Ghostwriterin ein Buch mit einem Wildfremden schreiben. Haken, Haken, Haken.
Aber es kommt keine Panik. Ich bin einfach nur müde.
Ich beschließe, die Kartons aus dem Auto zu holen und Pizza und eine Flasche Wein zu bestellen. Draußen schweben vereinzelte weiße Flocken vom Himmel. Es werden mehr. Der versprochene Sturm zieht endlich auf.
***
Als ich aufwache, ist der Himmel tintenschwarz und die Stille so tief, dass ich mich mitten in der Nacht wähne. Doch laut Handy ist es sechs Uhr morgens. Ich wickle mich aus der Decke und tappe über die eisigen Dielenbretter ans Fenster. Die Welt ist unter einer dicken Schneeschicht begraben. Irgendwo in der Ferne arbeitet ein Schneepflug, aber die Straße unter mir ist unberührt, der Friedhof mit zartblauen Schatten bemalt.
Meine Augen fühlen sich an, als wären sie voller Sand, doch ich lege mich nicht mehr hin. Der frühe Morgen war mir immer am liebsten. Aber ich brauche Kaffee.
Es ist verwirrend, in der Küche die Supermarkttüte aus Brooklyn stehen zu sehen – als hätte sie sich verirrt und wäre im falschen Leben gelandet. Ich schiebe eine Scheibe Brot in den Toaster. Keine Butter, keine Milch. Aber fürs Erste reicht es.
Während der Kaffee durchläuft, schalte ich den Laptop ein. Ich hatte ihn gestern Abend auf den Tisch gelegt, zusammen mit der dünnen Mappe, die alles enthält, was ich bislang von Stedsan bekommen habe. Viel ist es nicht. Mein Vertrag. Der Pitch für das Buch. Der Entwurf eines Zeitplans – ein Monat für Abriss und Gliederung, was für ein rechercheintensives Buch sehr knapp bemessen ist. Stedsan hat mir kistenweise Aussageprotokolle, Aufnahmen von Befragungen und historische Fotos versprochen und gesagt, möglicherweise gebe es weiteres Material bei der Kirche und örtlichen Heimatgeschichtsvereinen.
Ich schicke meiner Agentin eine kurze Nachricht, dass ich angekommen bin. Sie ist wütend auf mich, seit ich den Vertrag unterschrieben habe, spricht es aber nicht aus. Sie war davon ausgegangen, dass wir noch über Honorar und Urheberrechte verhandeln würden, aber ich hatte Nein gesagt. Ich wollte nichts davon wissen. Sie hatte sich in ihrem Büro vor mich hingehockt und mir streng in die Augen gesehen, wie einem ungehorsamen Kind.
Ich weiß, die Geschichte ist interessant, hatte sie gesagt, und ja, du hast eine Durststrecke hinter dir, und klar, die Probleme mit deinem letzten Buch … aber du warst zweimal auf der Bestsellerliste und jetzt soll nicht mal dein Name genannt werden?
Nichts davon hatte mich umstimmen können.
Die Geschichte war interessant. Ein Waisenhaus, in dem es spukte. Furchtbare Geschichten über Nonnen und Priester. Der außergerichtliche Vergleich, mit dem die ganze Sache begraben wurde. Aber das war nicht der eigentliche Grund, weshalb ich mich auf den Vertrag einließ. Meine Agentin glaubt, ich hätte in den vergangenen eineinhalb Jahren nichts geschrieben, weil ich trauerte. Ich habe ihr nie erzählt, dass ich nicht schreiben konnte. Dass ich es versucht und nicht geschafft habe. Dass ich mich um den Funken bemühte, den ich bei meinem ersten Buch gespürt hatte, und ihn nicht wiederfinden konnte. Dass ich allmählich fürchte, er ist für immer erloschen. Aber ich dachte, wenn ich als jemand anders schreiben könnte … Wenn alle Betroffenen in der Geschichte tot waren, konnte ich ihr Leben nicht mehr versauen. Vielleicht wäre dann alles anders.
Ich packe aus, brauche nur zehn Minuten dafür. Dann trinke ich Kaffee. Ich bin erst um zehn mit Stedsan verabredet, aber um acht Uhr drohen mich die Wände zu erdrücken. Zu Hause würde ich joggen gehen – meine Ungeduld am Fluss oder auf den Wegen, die sich durch den Prospect Park ziehen, ausschwitzen. Im Vorfeld habe ich einige Laufstrecken für hier ausgearbeitet, aber nicht mit dreißig Zentimetern Neuschnee gerechnet. Ich denke an das Schild mit den Samosas, das ich gestern im Fenster des Minimarkts gesehen hatte. Also ziehe ich meine nagelneuen Schneestiefel an und gehe nach draußen.
Der Boden im Minimarkt ist schon glitschig von braunem Schneematsch. Ich fülle eine Papiertüte mit Samosas und nehme mir einen heißen Chai, der so stark gewürzt ist, dass mir schon vom Geruch warm wird. Ich esse im Gehen, komme an einem nepalesischen Restaurant und einer Schule mit einem eindrucksvollen Baumhaus vorbei, vor der es schon von Kindern wimmelt, ihre Schneeanzüge bunte Flecken im Weiß.
Die Straße endet an einem Park, der nicht viel hermacht – ein leerer steinerner Brunnen und eine kahle, ummauerte Schneefläche, durch die braunes Gras dringt. Wenn man den Steilhang hinter der Mauer runterrollt, landet man geradewegs im Hafen. Mit ein paar gebrochenen Knochen.
Ich hatte mir Burlington auf einer Karte angesehen. Das Stadtzentrum liegt an einer Bucht, die nur ein pfützengroßer Ausläufer des Lake Champlain zu sein schien. Doch als ich sie jetzt vor mir sehe, wirkt sie enorm: eine schätzungsweise vier Kilometer breite solide Eisfläche, darauf vereinzelte Anglerhütten. Sie wird von zwei bewaldeten Halbinseln eingefasst. Dahinter ist offenes Wasser.
Ich beiße in eine Samosa, Fett läuft mir übers Kinn. Auf der Mauer zu sitzen, mit über dem Steilhang baumelnden Füßen, macht mich schwindlig. Also kehre ich der Aussicht den Rücken und esse weiter. Am Rand des Parks stehen drei Polizisten neben einem Schulbus. Die Reporterin in mir fragt sich, was da gerade passiert. Dann reicht ein Mann mit Schürze einen Becher und ein in Folie gewickeltes Päckchen aus dem Busfenster.
Ein Polizeibeamter steckt einige Dollarscheine in ein Glas. Jetzt bemerke ich auch den Geruch von Fett, der in der Luft hängt. Auf der Seite des Busses ist in großen blauen Lettern BEANSIE’SBUS zu lesen. Die Beamten überqueren die Straße und betreten ein niedriges Backsteingebäude. Über der Tür steht BURLINGTONPOLICEDEPARTMENT.
Mein Handy summt. Eine Nachricht von Stedsan. Ich werde mich verspäten. 10:15 Uhr okay?
Es ist fast halb zehn. Kein Problem! Bis gleich!, antworte ich.
Sowie ich Senden gedrückt habe, bereue ich die Ausrufezeichen. Dann bereue ich, dass ich sie bereue. Es ist doch jämmerlich, wenn eine Frau von sechsunddreißig wegen ein paar Satzzeichen von Selbstzweifeln geplagt wird. Vor fünf Jahren wäre mir das wohl nicht so gegangen. Aber jene Zeit ist ein zu fremdes Land, an das ich mich nicht genau erinnere. Das Fett in meiner Samosa ist in der Kälte hart geworden. Ich zerknülle die Tüte mit dem Rest und werfe sie weg.
***
Die Uhr am Armaturenbrett zeigt 10:05 Uhr an, als ich vor einem kleinen Backsteingebäude mit jener antikweißen Patina parke, die in Renovierungsshows so begehrt ist. Davor hängt an einem Pfosten ein Holzschild: ALANSTEDSAN, RECHTSANWALT in Gold auf Schwarz. Die Straße ist von stattlichen Häusern mit Türmchen und verspielten Holzverzierungen gesäumt. In der ganzen Gegend herrscht eine Atmosphäre von altem Geld und besten Verbindungen.
Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel. Was ich sehe, ist nicht ermutigend – dunkle Ringe unter den Augen, blasse Lippen, die sich kaum von meiner Haut abheben. Ich wühle im Handschuhfach, finde einen halb gefrorenen Lippenstift und betupfe damit Lippen und Wangen. Das muss reichen.
An der roten Haustür gibt es keine Klingel, nur einen Messingklopfer in Form einer Faust. Ich klopfe. Nach wenigen Sekunden geht die Tür auf. Alan Stedsan ist fast siebzig, doch er hat etwas Altersloses. Ich bin nicht klein, muss aber hochschauen, um ihm ins Gesicht mit den strahlend blauen Augen und den wie gemeißelten Wangenknochen zu sehen. Er könnte von Wikingerkönigen abstammen. Der teure Anzug trägt seinen Teil dazu bei.
»Alex«, sagt er und streckt mir die Hand entgegen. »Alan Stedsan. Schön, Sie endlich kennenzulernen. Kommen Sie doch herein.«
Ich trete in die Diele, einen dunklen Kokon mit grün gestreifter Tapete und Schieferboden.
»Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen? Sie können die Stiefel dort hinstellen.«
Er deutet auf eine kupferne Schuhablage neben der Tür. Er läuft auf Socken, aber selbst das sieht an ihm elegant aus. Ich reiche ihm die Jacke und ziehe die Stiefel aus, wobei ich auf einem Bein stehend den Saum meiner Jeans mit Schneematsch tränke.
Stedsan führt mich ins Wohnzimmer und verschwindet, um »eine Erfrischung« zu holen. Das Zimmer ist mit modernen hellen Holzmöbeln eingerichtet. In der Ecke hängt ein eiförmiger Kamin an einem langen Rohr von der Decke, er sieht aus wie ein Raumschiff. Der Stil ist IKEA für reiche Leute – ganz anders, als ich erwartet hatte.
Eine Wand ist komplett verglast. Dahinter liegt ein verschneiter Garten, in dem das einzige Lebenszeichen ein knorriger kleiner Baum mit einer Steinbank daneben ist.
»Im September trägt er Hunderte Äpfel.«
Ich drehe mich um. Stedsan ist lautlos wie eine Katze hereingekommen, ein Tablett mit einer French Press in den Händen. Er bietet mir einen Teller mit zartem Blätterteiggebäck an, doch ich lehne ab. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich und sein teures Sofa mit Krümeln übersät.
»Sie haben ein wunderbares Arbeitszimmer.« Ich mache eine Geste, die den ganzen Raum umfasst.
»Ich bin weitgehend im Ruhestand, es ist daher eher Wohn- als Arbeitszimmer. Und wie ist es mit Ihnen – haben Sie sich schon eingelebt?«
Ich denke an die billigen Hotelmöbel und das wellige Linoleum in meiner Wohnung. Komisch, dass manche Dinge einen erst dann stören, wenn man sie in Kontrast zu etwas anderem betrachtet.
»Danke, alles gut.«
Wir plaudern eine Weile über die Stadt, Restaurants, die ich ausprobieren muss, ob ich Ski laufe. Ich schüttle den Kopf. Als ich Adam noch nicht lange kannte, hatte ich es mal versucht. Damals wollte ich ihn mit meinem Mut beeindrucken. Er hatte so elegant ausgesehen, wenn er beim Carving nur leicht mit den Stöcken auf den Schnee tippte. Ich hingegen hatte mich wie ein frisch geschlüpfter Oktopus gefühlt, der nicht wusste, wo er seine zahlreichen Gliedmaßen lassen sollte. Diese Erfahrung möchte ich ungern wiederholen.
»Also, unser Fall«, sage ich, um uns von privaten Dingen auf sicheren Boden zurückzulotsen.
»Ja, der Fall.«
Ich habe schon ein bisschen recherchiert. Der Fall war außergerichtlich beigelegt worden, nach heutigen Maßstäben waren die Vergleichssummen lächerlich gering gewesen. 1993 waren die Leute noch schockiert bei der Vorstellung, dass ein Priester einem Kind so etwas antun konnte. Man wollte noch nicht glauben, was undenkbar schien. 2002 veröffentlichte dann das Spotlight-Team des Boston Globe den Artikel, der die Kirchengeschichte weit aufriss und Licht hineinließ. Wäre der Fall Coram House zehn Jahre später verhandelt worden, hätte das Ergebnis wahrscheinlich deutlich anders ausgesehen.
Stedsan lehnt sich zurück und faltet die langen Beine auf eine Weise, die mich an eine Gottesanbeterin erinnert. »Ehrlich gesagt, die ganze Sache war ein absolutes Chaos. Ich hatte den Fall von einem älteren Partner übernommen, der ihn wiederum pro bono von einem Kollegen übernommen hatte. Die Kläger konnten sich über nichts einigen, es war ein einziges Hin und Her. Als der Verlag sich mit der Idee für dieses Buch bei mir meldete, war ich tatsächlich überrascht. Aber je länger ich über mein Vermächtnis nachdachte –« Er hält inne und zuckt mit den Schultern. »Die Geschichte ist es wert, erzählt zu werden, und ich scheine der Richtige dafür zu sein.«
Eine interessante Wortwahl von einem Mann, der eine Ghostwriterin engagiert hat. Vielleicht will er mich ermahnen, meine Befugnisse nicht zu überschreiten. Oder ich deute zu viel hinein.
»Der Zeitplan ist recht aggressiv für ein derartiges Buch«, sage ich.
Er zuckt mit den Schultern und lacht. »Ich werde nicht jünger.«
Ich lächle. Vermutlich hat er recht. Büchermachen ist ein langsames Geschäft. Dennoch spüre ich etwas hinter den Worten. Einen Mann, der gern den ganzen Raum beherrscht. Sein Blick hält einen fest wie grellblaues Scheinwerferlicht. Vor Gericht ist das bestimmt sehr wirkungsvoll.
»Sie sind nicht ganz so, wie ich erwartet hatte«, sagt Stedsan.
Niemand ist, wie jemand anders es erwartet, würde ich am liebsten sagen.
»Was haben Sie denn erwartet?«, frage ich stattdessen und hoffe, dass er das Beben in meiner Stimme nicht hört. Meine Unsicherheit läuft auf Hochtouren.
»Vielleicht sollten wir den Elefant im Raum ansprechen.«
Diesen Ausdruck habe ich immer gehasst.
Stedsan stellt seine Kaffeetasse ab. Es soll wohl eine Geste der Entschlossenheit sein, aber die Tasse klirrt leicht auf der Untertasse.
»Ihr letztes Buch war problematisch«, sagt er in diplomatischem Ton. »Ihre Agentin erwähnte persönliche Schwierigkeiten. Einen Zusammenbruch würde man es wohl nennen, obwohl sie diesen Ausdruck nicht verwendet hat.«
Der Kloß in meinem Hals wächst, doch meine Miene bleibt neutral. »Ein Zusammenbruch. Das klingt sehr viktorianisch.«
Er betrachtet mich, wartet auf das, was ich ihm schulde.
Mein Zorn verpufft, als hätte jemand die Luft aus mir herausgelassen. Was spielt es schon für eine Rolle? »Mein Mann ist gestorben. Eine Zeit lang war mir die Arbeit ziemlich egal. Das hat man meinem letzten Buch angemerkt.«
Ich hasse es, ihm das zu sagen. Es stimmt und auch wieder nicht. Ich hatte jemanden geliebt und er war gestorben. Danach waren alle Dinge, die mir etwas bedeutet hatten – Arbeit, Essen, Freunde –, nur noch Papprequisiten gewesen. Aber das Buch hatte mir immer noch etwas bedeutet. Vielleicht war es das Einzige gewesen, das mir etwas bedeutete. Und doch hatte ich alles furchtbar falsch gemacht.
»Wenn ich ehrlich bin, war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt wieder ein Buch schreiben würde.«
Es tut gut, es laut auszusprechen.
»Meine Frau ist vor einigen Jahren gestorben«, sagt Stedsan.
»Das tut mir leid.«
Er nickt, hört aber nicht richtig hin. Es ist eine bloße Floskel.
»Warum haben Sie sich dann für mich entschieden?«
Er trommelt mit den Fingern auf dem Tisch. »Die Insel war ein gutes Buch. Und Sie waren billiger.«
Das Lachen bricht einfach aus mir heraus. Ich hatte mit sentimentalem Gerede von einer zweiten Chance oder so gerechnet. »Ja. Das kann gut sein.«
»Und jetzt sind Sie hier. Wollen wir anfangen?«
Stedsan führt mich durch einen Flur in ein Büro. Es wird von einem riesigen Schreibtisch beherrscht. Dahinter führt eine Tür auf die Straße. Mir wäre unwohl dabei, mit einer Tür im Rücken zu arbeiten, doch ich habe das Gefühl, Stedsan ist nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Er deutet auf eine Ecke, in der sich Kartons um ein brokatbezogenes Zweiersofa stapeln.
»Völliges Chaos«, sagt Stedsan munter. »Aussagen, Zeitungsausschnitte, juristische Dokumente. Vermutlich fehlen Seiten. Ein Karton unsortierter Fotos. Der Fall zog sich jahrelang hin und ging durch die Hände von weiß Gott wie vielen Rechtsanwaltsgehilfen, die alle ihr eigenes Ablagesystem hatten.«
Stedsan legt die Hand auf einen Karton, der wackelig ganz oben auf dem Stapel thront. Darauf steht in Großbuchstaben CORAMHOUSE.
»Sie werden feststellen, dass mein Material besser organisiert ist«, fährt er fort. »Einige Videos wurden zerstört, vermutlich durch Mäuse, aber die erhaltenen Bänder sind alle hier, dazu die Mitschriften aller übrigen. Sie wollen sicher auch bei der Polizei Unterlagen anfragen.«
»Der Polizei?«
Er zuckt mit den Schultern. »Nicht, dass es sonderlich viel bringen wird. Auch die Kirche könnte Dokumente haben.«
»Und die würden sie herausgeben?«
Im Zimmer riecht es nach altem Papier. Es juckt mir in den Fingern, den ersten Karton zu öffnen.
Stedsan lächelt, es sieht irgendwie verschlagen aus. »Oh ja, sie sind gern behilflich. Da wir gerade dabei sind …« Er klappt einen ledergebundenen Kalender auf. »Was machen Sie nächste Woche Mittwoch um neun Uhr morgens?«
Am liebsten würde ich lachen. Ich wurde vertraglich verpflichtet, in einen Ort zu ziehen, in dem ich außer Stedsan keine Menschenseele kenne. »Nichts. Was haben Sie denn vor?«
»Father Aubry möchte uns zum Tee einladen.«
»Das ist sehr … entgegenkommend.«
»Nicht wahr? Sie entscheiden, aber ich würde mich kooperativ geben. Father Aubry ist kein schlechter Kerl.«
Für einen Priester, denke ich.
»Dieses Meeting –«
»Tee. Ich glaube, Father Aubry betrachtet es als gesellschaftliche Begegnung.«
Ich zucke mit den Schultern, wie wir es nennen, ist mir egal. »Wird das in Coram House sein?«
Stedsan schüttelt den Kopf. »Nein, das Gebäude wurde der Baufirma übergeben. Aber das Pfarrhaus steht auf demselben Grundstück, gleich hinter der Kirche St. Joseph. Sie können es gar nicht verfehlen.«
»Meinen Sie, der Bauunternehmer lässt uns hinein?«
Gespannte Erwartung hämmert in meiner Brust. Ich muss es mit eigenen Augen sehen.
Stedsan macht eine lässige Handbewegung, als wäre es schon erledigt. »Ich rufe ihn an. Ich kenne Bill schon lange und er hilft gern, solange er Publikum dabei hat.«
Das merke ich mir für später. »Also Mittwoch um neun.«
Stedsan macht sich auf die Suche nach einem Videorekorder, damit ich mir die Aussagen ansehen kann. Ich fahre mit den Fingern über den Sofabezug. Die Fäden schimmern golden im Lampenlicht. Wieder frage ich mich, weshalb Stedsan dieses Buch schreibt. Ich war von finanziellen Gründen ausgegangen, aber nachdem ich sein Haus gesehen habe, kommt mir das eher unwahrscheinlich vor. Natürlich sind viele reiche Leute darauf aus, noch reicher zu werden, aber er trägt seinen Reichtum so selbstverständlich mit sich herum, als würde er ihn kaum bemerken. Er hat von seinem Vermächtnis gesprochen. Vielleicht ist es das. Ich verdränge ein leises Unbehagen. Es ist zu spät, um es mir anders zu überlegen, und ich werde mich nicht von irgendwelchen schicken Möbeln in eine Angstspirale treiben lassen.
Stedsan kommt mit leeren Händen zurück. »Tut mir leid, ich war mir sicher, dass ich noch einen im Keller habe.«
»Kein Problem. Ich besorge mir einen.«
Ich fahre das Auto seitlich neben das Haus. Stedsan schaut skeptisch auf den kleinen Kofferraum. »Ich könnte die Kartons auch liefern lassen.«
Aber ich höre schon im Kopf, wie ich das Klebeband abreiße, spüre die alten, brüchigen Seiten unter den Fingern. »Die passen schon rein«, sage ich und lege los.
Nach zwanzig Minuten Pappkarton-Tetris sind sie tatsächlich alle drin. So gerade. Ich hatte mich geweigert, mir von Stedsan helfen zu lassen, doch jetzt tut mir der Rücken weh und ich bin unter der Jacke schweißnass.
»Kommen Sie beim Ausladen zurecht?«, erkundigt sich Stedsan.
Ich denke an die steile, schmale Treppe, die zu meiner Wohnung führt. Den vereisten Bürgersteig. »Geht schon.«
»Sie werden sicher einige Zeit brauchen, um alles durchzugehen. Rufen Sie mich an, falls Sie Fragen haben. Ansonsten sehen wir uns nächste Woche.«
Ich nicke überrascht. In Anbetracht des Vertrags habe ich damit gerechnet, dass er mir ständig über die Schulter schauen wird.
Als ich ins Auto steige, ruft Stedsan noch etwas. Er steht in der Tür und umklammert mit beiden Händen den Rahmen, als wollte ihn eine unbekannte Kraft hineinsaugen.
»Eins sollten Sie vor unserem Treffen wissen. Es heißt nicht mehr Coram House, sondern Sunrise House.«
»Sunrise House«, wiederhole ich. Die Worte schmecken bitter.
Wieder erscheint das leicht verschlagene Lächeln auf seinem Gesicht. »Lassen Sie Bill lieber nicht diese Miene sehen. Ich vermute, er hat den Namen selbst ausgesucht. Augenblick.«
Stedsan geht ins Büro und kommt eine Sekunde später mit einer Hochglanzbroschüre zurück. Sunrise House – direkt am See!, verkündet sie über einem Agenturfoto, das attraktive Mittdreißiger zeigt, die an einer Feuergrube Wein trinken, während im Hintergrund Wasser schimmert. Warum wählen Bauunternehmer immer Namen, die nach Luxusgefängnis klingen?
»Gut«, sage ich und entspanne meine Gesichtsmuskeln. »Werde ich mir merken.«
»Dann bis nächsten Mittwoch«, sagt Stedsan und schließt die Tür.
Als ich den Motor anlasse, ertönt wieder das knirschende Geräusch. Die Kartons stapeln sich bis unters Dach, in jeder Kurve geraten sie leicht ins Rutschen. Mit jedem Meter, den ich fahre, entspanne ich mich mehr – als hätte ich eine Prüfung bestanden, von der ich erst erfahren hatte, als ich schon mittendrin war. Und da ist noch ein anderes Gefühl, ein Hunger, den ich von meinem ersten Buch kenne und beim zweiten nie empfunden habe. Ich habe Angst, ihm einen Namen zu geben, damit es mir nicht entgleitet.
Die Insel war purer Zufall. Ich hatte nicht vor, ein Buch zu schreiben. Eigentlich arbeitete ich als investigative Journalistin, wenn man das so nennen kann, wenn jemand für die Morgennachrichten Dreiminutenclips über die wahren Inhaltsstoffe von Zahnpasta produziert. In jenem Sommer hatten Adam und ich ein winziges Cottage an der Küste von Maine für eine Woche gemietet. Es war so feucht, dass die Bettwäsche mit Schimmel gesprenkelt war. Der Seewind drang durch die porösen Wände, selbst wenn die Fenster geschlossen waren. Ich fand es herrlich.
Die Geschichte war eine örtliche Legende, verstaubt vom Alter und von zahllosen Wiederholungen. Am Abend des 18. März 1886 wurden Inga Berg und ihre Schwester Mathilde brutal mit einer Axt ermordet – und zwar auf der Channel Isle, einem felsigen Eiland knapp zehn Kilometer vor der Küste von Maine. Eine dritte Schwester, Agnes, überlebte. Am nächsten Tag wurde Elias Cobb, ein Tagelöhner, der früher einmal als Kostgänger in dem Cottage gewohnt hatte, auf dem Festland entdeckt, seine Kleidung voller Blut. Ein Jahr später wurde er zum Tod durch Erhängen verurteilt. Etwas an der Geschichte kam mir von Anfang an seltsam vor. Nichts Konkretes, es war nur ein Gefühl.