Cornwall für Anfänger - Karin Lindberg - E-Book
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Cornwall für Anfänger E-Book

Karin Lindberg

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Beschreibung

Sonne, Wind, türkisblaues Meer – nichts anderes wünscht sich Anne, als sie nach Cornwall flüchtet, nachdem sie gerade ihren Job verloren hat.

Doch schon steht sie vor dem nächsten Problem: Der kleine Gefallen, den sie ihrer Tante schuldig war, ist alles andere als klein. Der hübsche Souvenirladen, den Anne auf Vordermann bringen soll, entpuppt sich als ein Sammelsurium skurriler Kuriositäten, die kein Tourist kauft. Anne krempelt die Ärmel hoch und packt es an, aber das Schicksal ist noch nicht fertig damit, sie in Schwierigkeiten zu ertränken – und das wortwörtlich …

Vincents Plan, in Cornwall Erholung und neue Inspiration zu finden, endet schnell, als er eine Unbekannte aus dem Meer fischen und vor dem Ertrinken retten muss. Blöd nur, dass sie gar nicht gerettet werden will! Die hemdsärmelige Deutsche wächst ihm schnell ans Herz, und plötzlich hält ihn nicht mehr nur die Aussicht auf Ruhe und Ausgeglichenheit in seinem Haus über den Klippen an Cornwalls Küste.

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Seitenzahl: 401

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Cornwall für Anfänger

KÜSTENSEHNSUCHT 1

KARIN LINDBERG

Inhalt

Klappentext

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Rezept für kornische Hühnchen-Pasties

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Lektorat: Dorothea Kenneweg

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer

2. Korrektorat Ruth Pöss

Covergestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: ©️ homydesign, bogalo, pauljune, Devil_WPT, DinaL, Olga_Bonitas, RedKoala, didecs – depositphotos.com

Copyright © Karin Lindberg 2020

K. Baldvinsson

Am Petersberg 6a

21407 Deutsch Evern

www.karinlindberg.info

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Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Weitere Informationen unter www.karinlindberg.info.

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Erstellt mit Vellum

Klappentext

Eine romantische Komödie über die Kraft der Liebe

Sonne, Wind, türkisblaues Meer – nichts anderes wünscht sich Anne, als sie nach Cornwall flüchtet, nachdem sie gerade ihren Job verloren hat. Doch schon steht sie vor dem nächsten Problem: Der kleine Gefallen, den sie ihrer Tante schuldig war, ist alles andere als klein. Der hübsche Souvenirladen, den Anne auf Vordermann bringen soll, entpuppt sich als ein Sammelsurium skurriler Kuriositäten, die kein Tourist kauft. Anne krempelt die Ärmel hoch und packt es an, aber das Schicksal ist noch nicht fertig damit, sie in Schwierigkeiten zu ertränken – und das wortwörtlich …

Vincents Plan, in Cornwall Erholung und neue Inspiration zu finden, endet schnell, als er eine Unbekannte aus dem Meer fischen und vor dem Ertrinken retten muss. Blöd nur, dass sie gar nicht gerettet werden will! Die hemdsärmelige Deutsche wächst ihm schnell ans Herz, und plötzlich hält ihn nicht mehr nur die Aussicht auf Ruhe und Ausgeglichenheit in seinem Haus über den Klippen an Cornwalls Küste.

KapitelEins

Sanftes Rauschen drang an Annes Ohr, es roch nach Meersalz und Frühlingsblüten. Nichts in diesem Raum kam ihr vertraut vor, und doch fühlte sich die Umgebung irgendwie heimelig an. Als sie sich erinnerte, wo und weshalb sie hier war, riss sie die Augen auf und keuchte. Für einen Moment verharrte sie regungslos und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Nach und nach wich die vorausgegangene Panikattacke der Resignation.

Mit einem Stöhnen schloss sie die Lider und ließ sich zurück in die puffigen Kissen sinken. Anne atmete tief ein und füllte ihre Lungen mit der frischen Morgenluft. Ihre Muskeln entkrampften sich ein wenig. Das Tosen der Brandung drang jetzt verstärkt durch das geöffnete Fenster an ihre Ohren. Sie hatte es die ganze Nacht über wahrgenommen, aber keine Ahnung, wie weit das Meer tatsächlich vom Haus ihrer Tante entfernt war. Obwohl sie als Kind schon einige Male in Cornwall gewesen war, hatte sie keine genauen Erinnerungen mehr abrufen können. Für ein kleines Mädchen wirkte sowieso alles größer und weiter. Anne dachte mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen an vergangene Tage ihrer Jugend. Sie wünschte, ihre Probleme ließen sich so leicht beseitigen wie die eines Kindes, das traurig war, weil sein Lolli auf den Boden gekullert war. Anne seufzte. Leider war ihrem Problem nicht so einfach beizukommen, und sie wollte jetzt auch nicht daran denken, sondern ihre Sorgen vergessen, genau deswegen war sie hier. Nicht nur deswegen, denn ihre Tante brauchte zudem ihre Hilfe.

Als Anne gestern, nachdem sie zuvor Lisbeth im Krankenhaus besucht hatte, aus dem Taxi gestiegen war, war es bereits dunkel gewesen. Tiefschwarze Nacht, um genau zu sein. Sie hatte kaum die eigene Hand vor den Augen sehen können. Von Wegbeleuchtung hielten die Leute in St. Agnes anscheinend nicht viel. Sie grinste. Hier war vieles anders als zu Hause in Hamburg. Zum Glück.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sich am Fußende ihres Bettes der Kater ihrer Tante zusammengerollt hatte und sie aus zwei grünen Augen anstarrte. Gestern war Lord Nelson vor ihr geflüchtet, also hatte Anne ihm einfach frisches Wasser und etwas Trockenfutter in den Napf gefüllt, ehe sie völlig erschöpft ins Gästezimmer gestolpert und sofort ins Bett gefallen war. Das Zimmer war wundervoll kitschig eingerichtet, an den Wänden klebten Blumentapeten, das Bett hatte ein eisernes, verschnörkeltes Gestell, und ihr Bettzeug war mit einem Blütenmuster bedruckt und duftete nach Lavendel. Auf den Simsen vor den Sprossenfenstern standen kleine Blumentöpfchen mit Kakteen, die Vorhänge bauschten sich im Windhauch.

Jetzt war es hell draußen, sie musste also ziemlich lange geschlafen haben. Kein Wunder, die Nächte davor hatte sie kein Auge zugetan. Wie auch, da wegen eines einzigen verdammten Fehlers ihre ganze berufliche Existenz zerstört war.

Nicht jetzt, sagte sie sich und schob die Gedanken an das Desaster ihres Lebens beiseite. Vielleicht würde sich ja alles aufklären und am Ende gut werden.

Anne stieß einen hysterischen Lacher aus und schüttelte den Kopf. Nicht einmal eine senile Nonne würde glauben, dass da noch etwas zu retten war. Die Fakten lagen klar auf dem Tisch. Ihre Karriere war ruiniert. Sie war arbeitslos. Sie konnte einpacken.

Niemand, absolut niemand würde sie je wieder einstellen und ihr noch eine Chance in ihrem Beruf als Rechtsanwaltsfachangestellte geben. Jedenfalls keine Kanzlei, die etwas auf sich hielt.

Sie schluckte und ging ins Badezimmer, dort nahm sie einen weißen Frotteebademantel vom Haken, der für Gäste reserviert war, und zog ihn über. Sie brauchte dringend frische Luft – und einen starken Kaffee. Lord Nelson lag noch im Bett, er hatte es offenbar nicht eilig, rauszukommen. Anne hatte wenig bis gar keine Erfahrung mit Haustieren, aber sie würde bestimmt mit dem Kater klarkommen. Außerdem hatte Lisbeth noch zwei Wellensittiche, die sie zu versorgen hatte. Kein Problem, hatte Anne gestern zu ihr gesagt, als sie sie im Krankenhaus in Truro besucht hatte. Tante Lisbeth war gerade frisch an der Hüfte operiert worden, die sie sich bei einer absolut bescheuerten Fensterputzaktion gebrochen hatte, weil sie von einer Leiter gestürzt war. Da hatte man es mal wieder, im Haushalt ereigneten sich mehr Unfälle als auf den Straßen. Deswegen beschäftigte Anne auch ihre Magda, die einmal in der Woche kam und sich darum kümmerte, dass sie nicht im Schmutz versank.

Ja, jetzt wohl nicht mehr. Sie verdrehte die Augen. Magdas Hilfe würde sie sich in Zukunft vermutlich ebenso wenig leisten können wie die hübsche Zweizimmeraltbauwohnung in Eppendorf.

Anne tapste die schmale und steile Holztreppe im beschaulichen Cottage nach unten. So winzig das Haus war, so vollgestopft wirkte es auf sie. Daran konnte sie sich noch erinnern, das war früher schon so gewesen. Anne griff nach einer kleinen Tonfigur, einer Eule, die sich auf dem Fensterbrett zwischen Topfpflanzen auf selbstgehäkelten Deckchen befand. Auf einem verzierten Wandbrett, auf dem neben einigen Vasen auch noch kleine Schmuckkästchen und Bücher ins Rutschen zu geraten drohten, stand eine Uhr – aber der Sekundenzeiger bewegte sich nicht, vermutlich war die Batterie leer. Die Einrichtung entsprach nicht direkt ihrem Geschmack, sie mochte es eher großzügig und ohne zu viel Schnickschnack, aber zu der lebensfrohen Lisbeth, die um einiges älter war als sie, und dem gemütlichen Cottage passte es. Und es war schließlich Lisbeths Zuhause und sie selbst nur zu Gast.

Im Erdgeschoss lag dicker Teppichboden mit einem Muster, das ihr Augenschmerzen bereitete, vor allem vor dem ersten Kaffee. Sie betrat die braunen Steinfliesen in der Küche. Es war kühl, das Cottage hatte keine Zentralheizung, und Anne hatte sich in der letzten Nacht nicht die Mühe gemacht, Ofen oder Kamin anzuschüren. Die Küche war genauso vollgestopft wie der Rest des Hauses. Auf dem Küchentisch thronte ein riesengroßer Käfig mit dem Wellensittichpärchen, einer war grün, der andere himmelblau. Tassen, Teller, Pötte und Pfannen hingen an Haken oder standen auf offenen Regalen, so wie unzählige Gewürze und Öle. Auf dem Fensterbrett tummelten sich einige Töpfchen mit Kräutern, deren Blätter bereits welkten. Sie brauchten dringend Wasser, gleichzeitig hoffte Anne, dass ihre Mutter sich um ihre Pflanzen auf dem winzigen Balkon kümmerte, sie hatte einen Zweitschlüssel für Notfälle.

Anne warf einen Blick aus dem Fenster und freute sich, hier zu sein. Sie hatte sich schon immer nach einem Garten gesehnt, aber in Hamburg war das nahezu unerschwinglich und unmöglich zu finden. Der hiesige Rasen war jedenfalls kürzlich gemäht worden, der Flieder an der Hauswand blühte in einem kräftigen Violett. Früh für die Jahreszeit, dachte Anne, und dann erinnerte sie sich, dass das Klima in Cornwall wegen des Golfstroms sehr mild war. Auf der Terrasse hinter dem Haus befanden sich ein paar Gartenstühle und ein Holztisch, auf dem sich einige Windlichter und kleine Blumentöpfe drängten. Die Apfelbäume standen in voller Blüte, was wunderhübsch aussah und sogar ganz leicht duftete. Das Meer konnte man vom Garten aus nicht sehen, aber genau das war es, was Anne jetzt wollte. Nur nicht ohne einen Kaffee.

Sie öffnete alle Schubladen und Schranktüren in der Küche, aber außer Instantkaffee konnte sie nichts Koffeinhaltiges entdecken. Dafür gab es eine ganze Menge verschiedener Teesorten. »Super«, murmelte sie wenig begeistert und stellte den Wasserkocher an. »Dann eben Instantbrühe.«

Ohne Koffein ging morgens bei ihr gar nichts.

Einige Minuten später hielt sie einen Becher mit dampfendem Kaffee in der Hand, öffnete die Haustür und trat hinaus in den Morgen. Die Luft war klar und frisch, ihre Brust weitete sich, während sie tief einatmete. Ihr wurde fast schon schwindelig bei all dem Sauerstoff. Das hier war kein Vergleich zum stickigen Bürodunst zu Hause, wo sie üblicherweise die meiste Zeit verbrachte. Sie überquerte die Straße und stieg über eine niedrig gespannte Kette. Dahinter standen auf einem kleinen Platz zwei Klappstühle an einer Stelle, von wo aus man eine herrliche Sicht auf die beschauliche Bucht von St. Agnes hatte. Die Einwohner hatten sie Trevaunance Cove getauft, vermutlich war das ein altes kornisches Wort, dessen Bedeutung sie nicht kannte.

Anne ließ sich auf einen der Stühle nieder. Dass sie nur mit einem Bademantel bekleidet war, war ihr egal. Vor ihr leuchteten rote und gelbe Blüten, wie diese Exemplare genau hießen, wusste sie nicht, aber sie sahen zauberhaft aus. Es wehte ein kräftiger Westwind, der die Wellen mit weißen Krönchen ans Ufer spülte und ihr die Haare ums Gesicht flattern ließ. Das Wasser war tiefblau, am Strand schimmerte es in einem hellen, reinen Türkis und verschmolz mit den Felsen, die steil emporragten. Anne schluckte, ihre Augen brannten, und ihre Kehle wurde eng.

Es war so zauberhaft, so friedlich hier. Die Schönheit der Natur raubte ihr den Atem. Hatte sie gestern auf der Reise noch gezweifelt, ob Davonlaufen das Richtige in ihrer Situation war, so war sie nun sicher, dass das hier genau der passende Ort war, um zu überlegen, wie es weitergehen sollte. In diesem kleinen Dorf in Cornwall fühlte sie sich, als wäre sie in eine vollkommen andere Welt abgetaucht. Der Alltagstrott verlief hier gemächlicher, und alles schien sanftmütiger zu sein. Außerdem hatte Anne überhaupt nicht mehr in Erinnerung gehabt, wie anders das Klima hier war, im Vergleich zum typischen trüben englischen Wetter, über das alle schimpften, wenn sie von England redeten. Hier gab es tropische Pflanzen, weiße Strände und türkisblaues Meer wie sonst nirgends im Königreich. Und schon gar nicht in Hamburg, wo sie sonst lebte.

Für gewöhnlich bestimmten das Großstadttreiben, Aktenberge, Computerbildschirme, Meetings, Hektik und ein voller Terminplan ihren Alltag – hier kam es ihr so vor, als hätte jemand an der Uhr gedreht. Der Gedanke an zu Hause und an ihre Sorgen, die sie hinter sich zurücklassen wollte, zerstörte das zarte Freiheitsgefühl, das in ihr aufgestiegen war. Auf einmal brach alles über sie herein. Der Schock, nachdem ihr nächtliches Abenteuer mit Michael entdeckt worden war, der Ärger, die Scham und die Gewissheit, dass sie mit dieser Fehlentscheidung ihr Leben versaut hatte. Sie hätte ihm niemals vertrauen dürfen, aber sie war dumm und naiv gewesen. Und verliebt. Sie hatte die rosarote Brille aufgehabt und nicht gesehen, dass der Mistkerl sie nur benutzt hatte, um an vertrauliche Unterlagen ihres Arbeitgebers zu kommen.

Anne fing an zu weinen. Sie vergrub ihr Gesicht zwischen den Händen und ließ alles heraus, was sich in den letzten Tagen angestaut hatte. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass ihr das wirklich passiert war. Sie war überkorrekt, prüfte alles mehrfach, ließ sich kein X für ein U vormachen – aber in diesem Fall hatte sie dem falschen Mann vertraut und sich zu einer Dummheit hinreißen lassen. Die war ihr schließlich zum Verhängnis geworden.

Sie schluchzte leise und wischte sich mit der Hand über die Augen. Einen tiefen Atemzug später nahm sie ihre Tasse und legte ihre Finger darum. Der Becher fühlte sich nur noch lauwarm an, aber kalter Kaffee war momentan ihr geringstes Problem. Sie wünschte, es wäre anders.

Die Sonne tauchte den Morgen in ein wohltuendes, fröhliches Licht. Ihre Strahlen beleuchteten das Meer vor Cornwalls Küste in einem goldenen Orangeton. Der Anblick war fast schon kitschig, aber irgendwie tröstlich, auch wenn sich an ihrer Lage dadurch nichts veränderte. Auf eine seltsame Weise spendete diese Umgebung ihr Zuversicht, dass vielleicht doch noch alles gut werden und sie irgendwo einen neuen Job finden würde. An Wunder glaubte sie nicht, und dennoch … Hatte nicht jeder eine zweite Chance verdient? Wie hätte sie auch ahnen sollen, was passieren würde? Ihr Ex war ein Betrüger, der nie echte Gefühle für sie gehabt hatte, er hatte sie nur ausgenutzt, um an Informationen eines prekären Falles zu kommen, dessen Details er an die Presse verkauft hatte.

Anne konnte nach wie vor nicht fassen, dass sie sich so hatte täuschen lassen. Dass seine Gefühle sich als Illusion herausgestellt hatten. Wie hatte sie sich nur hinreißen lassen können, seiner Bitte nachzugeben? Aber Anne hatte einmal in ihrem Leben nicht als Langweilerin dastehen wollen, die keinen Spaß mitmachte. Er hatte ihr eingeredet, dass der Nervenkitzel es wert sei, dass es ein Abenteuer wäre, dass er es aufregend finden würde, sie in ihrem Büro zu verführen, wenn alle im Feierabend waren. Sie bereute heute zutiefst, dass sie ihre Prinzipien über Bord geworfen, dass sie das Bauchgrummeln ignoriert hatte, um ihm zu gefallen. Den Preis dafür musste sie jetzt zahlen.

Mit einem Seufzen kehrte Anne, nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, zum Cottage ihrer Tante zurück. Harmony Cottage, stand auf einem Holzschild, das neben der Haustür an den rosafarben gestrichenen Außenwänden befestigt war. Auf dem schwarzen Schindeldach ragten mehrere Schornsteine in den Morgenhimmel, zwei Spatzen saßen darauf und piepsten aufgeregt.

»Hey. Hallo!«, rief eine helle Stimme nicht weit entfernt, Anne fühlte sich angesprochen. Sie blickte nach links und entdeckte eine blonde, schlanke Frau. Sie trug einen dunklen Pullover zu einer weißen Stoffhose. Sie winkte freundlich und lächelte.

»Hallo«, erwiderte Anne und schob sich eine Strähne hinters Ohr. Vermutlich sah sie furchtbar aus. Bademantel, fettige Haare, gerötete Augen …

»Bist du …?«, fragte die andere.

»Ich bin Lisbeths Nichte. Anne«, half sie aus und rang sich ein Lächeln ab.

»Oohhhh.« Die Pupillen weiteten sich. »Verstehe. Gut, dass ich vorhin nicht rein bin, um Lord Nelson zu füttern. Sonst hättest du dich ganz schön erschreckt, was?« Sie trat näher zum Zaun und streckte ihre perfekt manikürten Finger herüber. »Ich bin übrigens Grace.«

»Freut mich.« Anne schüttelte ihre Hand.

»Ich bin drüben im Sea & Salt angestellt«, fuhr die andere fort. »Muss gleich zur Arbeit.«

»Sea & Salt?«, wiederholte Anne mit einem Stirnrunzeln.

»Das ist ein Kosmetikstudio und Day Spa.«

Das erklärte natürlich Grace’ perfekte Erscheinung, klassisches Tagesmakeup, lackierte Nägel, blonde Haare, die glänzten und saßen, als käme sie gerade vom Friseur. Wenn jemand vom Fach war, gehörte das wohl dazu. Das waren alles Dinge, die Anne nie wirklich gut hinbekommen hatte. Sie trug ihr Haar meist zu einem Zopf oder einfachen Dutt gedreht, wenn sie zur Arbeit ging. Außer Puder, Mascara und vielleicht noch etwas Kajal schminkte sie sich nicht – und ihre Nägel … Der Lack platzte grundsätzlich schon wieder ab, kurz nachdem sie ihn aufgetragen hatte, also ließ sie es seit Jahren einfach ganz bleiben. In ihrer Welt hatte sie nie durch Aussehen gepunktet, sondern durch Kompetenz und Zuverlässigkeit – tja, es sah so aus, als müsste sie langsam mal umdenken, denn in ihrem alten Job würde sie nicht mehr weitermachen können.

»Oh.« Anne wurde rot. Ihr war klar, dass sie es nötig hatte, sich ein wenig um ihr derangiertes Äußeres zu kümmern, der freundlichen Nachbarin offenbar auch, obwohl sie nicht pikiert wirkte, eher ein wenig besorgt. Peinlich berührt verzog Anne ihre Lippen. Zu Hause wäre sie nie auf die Idee gekommen, mit fettigem Haar und im Bademantel vor die Tür zu gehen – nicht mal bis zur Mülltonne. Aber das war davor gewesen. Bevor ihr Leben den Bach runtergegangen war.

Anne räusperte sich, und dann sah sie, wie Grace sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug. »Ich habe was Falsches gesagt«, plapperte diese drauflos. »Das ist ja mal wieder typisch für mich, dabei wollte ich nur nett sein. Tut mir leid. Ich wollte damit nicht ausdrücken, dass du es nötig hättest, Anne. Ich meine nur, du bist vermutlich im Urlaub, und manchmal möchte man sich da ja was Gutes tun, ausspannen, sich verwöhnen lassen … Du weißt schon, einfach mal etwas für sich machen, es sich gutgehen lassen … Wir haben wirklich auch ganz tolle Massagen bei uns im Programm.«

Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. Anne schätzte Grace auf Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig. Sie war schlank und groß, um die Augen hatte sie ganz feine Linien, die darauf schließen ließen, dass sie stets gut gelaunt war und gern lachte. Anne mochte sie, sie war sympathisch, und ihr Verhalten wirkte ehrlich und natürlich und nicht wertend oder gar von oben herab. Anne merkte, wie ihre Schultern ein wenig herabsanken und sie sich entspannte.

»Ist schon okay. Mir ist klar, dass ich ein bisschen ramponiert aussehe«, meinte sie mit einem schwachen Lächeln. »Hatte ein paar harte Tage, bevor ich hergekommen bin.« Das war die Untertreibung des Jahrzehnts, aber sie wollte nicht vor Grace, die sie kaum kannte, das Desaster ihres Lebens ausbreiten.

»Dann bist du also zum Ausspannen hier?«

»So ungefähr«, antwortete sie ausweichend. »Vor allem möchte ich meiner Tante ein bisschen unter die Arme greifen. Die Haustiere, der Laden – nach der Operation muss sie vermutlich auch noch für einige Wochen zur Reha …«

»Stimmt, Lisbeth kann sicher Hilfe gebrauchen. Mensch, die Arme! Wie geht es ihr denn?«

»Den Umständen entsprechend, du kennst sie ja. Die wirft so leicht nichts um. Aber erst mal fällt sie aus, und da ich, äh, gerade ein bisschen mehr Freizeit habe, habe ich angeboten zu helfen.«

»Ach, und du möchtest dich auch um den Laden kümmern?« Grace neigte ihren Kopf, als fände sie das irgendwie ungewöhnlich.

»Ja, wieso? Jetzt beginnt doch bald die Saison, und es wäre ziemlich schlecht, wenn ein Souvenirshop dauerhaft geschlossen wäre. Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es hier nicht mehrere im Ort?«

»Äh, ja, das stimmt«, meinte Grace.

Anne kniff ihre Augen zusammen und verstand nicht ganz, warum Grace auf einmal so komisch guckte, deswegen sagte sie nur: »Aber ja. Ich bin auch zur Erholung hier.«

Sie wollte weder Mitleid noch Fragen, deswegen behielt sie für sich, dass sie fristlos entlassen worden war, während jemand anderes im Unternehmen nun versuchte, den Schaden zu begrenzen, wie auch immer das gehen sollte, das Geld war weg. Anne atmete tief durch und schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte.

»Du musst unbedingt die Cornish Pasties probieren. Bei Maude schmecken sie am besten«, wechselte Grace das Thema, wofür Anne sehr dankbar war.

»Pasties?« Sie glaubte, sich verhört zu haben. Pasties oder Pastries?

»Ja, das sind Teigpasteten mit verschiedenen Füllungen. Die bekommt man in Cornwall überall, aber Maude macht die besten.«

»Maude, hm, sagt mir nichts. Müsste ich sie kennen?«

»Ja, ihr gehört die kleine Backstube da oben an der Ecke. Die kannst du gar nicht verfehlen.« Grace zeigte den Hügel hinauf, die Straße war eng und steil. So genau hatte Anne das in der letzten Nacht nicht wahrgenommen, als sie mit dem Taxi angekommen war. Das Dörfchen war einfach malerisch. Vermutlich kannte hier jeder jeden, aber das war ihr egal, sie hatte nicht vor, Teil des Dorfklatsches zu werden. Sie kannte ja auch niemanden.

Es war zig Jahre her, dass sie in Cornwall zu Besuch gewesen war, und daher konnte sich vermutlich auch niemand an sie erinnern. Sie hatte es bedauerlicherweise nicht einmal zur Beerdigung ihres Onkels vor fünf Jahren geschafft, weil sie zu der Zeit in Australien im Urlaub gewesen war und ihre Reise nicht so schnell hatte umorganisieren können. Dass Anne viel zu lange nicht in Cornwall gewesen war und das Gefühl hatte, Lisbeth unbedingt zur Seite stehen zu müssen, war nur einer der Gründe gewesen, warum sie sofort Ja gesagt hatte, als sie hörte, dass Lisbeth sich die Hüfte gebrochen hatte und Hilfe brauchte. Nachdem sie dann noch mit Lisbeths Sohn Preston, ihrem Cousin, telefoniert und er ihr erzählte, wie eingespannt er in seinem Job war und sich nicht jeden Tag um Laden und Haustiere kümmern konnte, hatte auch das letzte Fünkchen gezündet, und sie war in den nächstbesten Flieger gestiegen.

Als Kind hatte Anne die Abgeschiedenheit, die wundervolle Natur und vor allem die Ruhe nicht so richtig zu schätzen gewusst. Jetzt schon. Mehr denn je wahrscheinlich. Es war der perfekte Ort, um sich von allem zurückzuziehen und die Wunden zu lecken.

»Okay, dann hole ich mir nachher welche. Wobei …« Anne legte sich eine Hand auf ihren Bauch. »Eigentlich würde es mir guttun, wenn ich mal auf Kohlenhydrate verzichten würde.« Obwohl Anne sonst eher eine disziplinierte Person war, konnte sie sich bei Backwaren selten bis nie zurückhalten, was man ihr ihrer Meinung nach leider auch ansah.

Grace runzelte die Stirn und schnalzte mit der Zunge. »Bitte, im Urlaub wirst du doch keine Diät halten? Dafür sind Maudes Pasties auch einfach zu lecker.«

Sie grinste.

»Da hast du auch wieder recht. Ich werde definitiv mal vorbeischauen und mir eine holen.«

Anne merkte, dass Grace sie eindringlich musterte. Vermutlich fragte sie sich, warum die Nichte jetzt so plötzlich auftauchte und sogar im Laden aushelfen wollte, wo sie doch seit Ewigkeiten nicht hier gewesen war. Anne wollte ihr armseliges Dasein nicht vor Grace ausbreiten. Sie hatte in den letzten Jahren nichts anderes getan als gearbeitet. Zehn-Stunden-Tage waren in ihrem Job als Rechtsanwaltsfachangestellte in einer renommierten Kanzlei normal, es hatte sie nie gestört, aber jetzt musste sich etwas ändern, sie wusste nur noch nicht was und wie.

»Meine Mutter hat schreckliche Flugangst, bei unserem letzten Aufenthalt sind wir mit der Fähre gereist, aber auch das war eine Tortur für sie. Seitdem kam Lisbeth immer zu uns nach Deutschland, besonders nachdem mein Onkel gestorben ist. Eigentlich schade, dass ich so lange mit einem Besuch in St. Agnes gewartet habe«, erklärte Anne, was der Wahrheit entsprach, aber eben nicht alles war. »Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier ist. Aber jetzt bin ich ja da.« Sie schenkte Grace ein ehrliches Lächeln.

»Ach so, na, ich verstehe. Ich würde ja gerne mehr verreisen, aber mit meinem mickrigen Gehalt ist das einfach nicht drin.«

»Dafür lebst du an einem Ort, an dem andere Urlaub machen.«

»Stimmt, wenn du das so sagst … Und wenn du was brauchst – und sei es auch nur ein offenes Ohr oder Mehl und Eier –, komm einfach vorbei. Deine Tante und ich sind befreundet und seit Ewigkeiten Nachbarn, das macht dich dann quasi auch zu meiner Freundin.« Sie zwinkerte, dann schaute sie auf ihre Uhr. »Ui! Schon so spät. Jetzt muss ich aber wirklich los! Bis bald, Anne. Schön, dich kennengelernt zu haben.«

Anne wollte gerade noch etwas erwidern, da war Grace auch schon über die Straße gehuscht und verschwunden. Sie schaute ihr kurz hinterher, dann ging sie ins Harmony Cottage und sprang unter die Dusche. Und danach würde sie sich auf die Suche nach einem ordentlichen Kaffee machen und die Tiere versorgen …

KapitelZwei

Vincent saß in der Küche seiner Eltern, trank eine Tasse Kaffee und stocherte lustlos in seinem Rührei. Er hatte nur kurz vorbeischauen wollen, weil seine Mutter Hilfe mit dem Auto gebraucht hatte. Als sie ihm anbot, noch mit ihnen zu frühstücken, hatte er nicht Nein sagen können. Jetzt bereute er, dass er nicht standhaft geblieben war, denn die Diskussionen endeten immer gleich.

»Wie lange soll das eigentlich noch so weitergehen?«, fragte sein Vater jetzt, und Vincent gab sich größte Mühe, bei diesen Worten nicht zusammenzuzucken, denn sie trafen – wie jedes Mal, wenn sein Vater sie aussprach – ins Mark. Er hatte keine Antwort darauf. Wie sollte er auch?

Larry Redcliffe war die ältere Ausgabe seiner selbst, rein äußerlich zumindest. Ansonsten hatten die beiden wenig bis gar nichts gemeinsam. Wenn es nach seinem Vater gegangen wäre, würde Vincent ebenso wie er im Anzug und mit Schlips am Frühstückstisch sitzen und sich für einen langen Bürotag in der Kanzlei stärken. Aber er war eben nicht wie sein Vater.

Man konnte Vincent nicht vorwerfen, dass er nichts aus seinem Leben gemacht hätte, was seinen Vater jedoch nie davon abhielt, ihm zu sagen, dass er dennoch nicht glücklich über die Karriere seines Sohnes in der Medienbranche war.

»Darling, nun lass den Jungen doch mal in Ruhe sein Frühstück essen«, mischte sich Ava Redcliffe ein und legte ihrem Mann eine Hand auf den Unterarm.

Ihr Gatte stieß ein Grunzen aus und trank den Rest seines Earl-Grey-Tees aus, die Tasse stellte er mit einem Scheppern ab.

»Schon gut, Mum.« Vincent schob sein Besteck zur Seite. »Und Dad, ich kann es dir nicht sagen. Und es ist ja auch nicht so, dass ich nicht schon häufiger hier gewesen wäre.«

Und dennoch wussten alle am Tisch, dass es dieses Mal anders war. Dass sich alles verändert hatte. Aber was dachte sein Vater? Dass er sich jetzt doch noch an der Uni einschrieb und in seine Fußstapfen trat? Eher fror die Hölle zu. Erstens fühlte er sich zu alt, um noch einmal komplett von vorne anzufangen, und zweitens interessierten ihn Jura und Gesetzestexte nicht die Bohne.

»Junge, ich meine es doch nur gut.«

Vincent wollte die Augen verdrehen, hielt sich jedoch zurück und holte nur tief Luft. »Ja«, war alles, was er sagte. »Ich muss dann auch mal wieder los.«

»Wie kommst du denn voran?«, erkundigte sich seine Mum und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Ihre Fürsorge war herzlich, aber sie erdrückte ihn. Mein Gott, er war fünfunddreißig Jahre alt und nicht zwölf!

»Es geht«, log er. Vor einigen Tagen war er aus London nach Cornwall gekommen, in der Hoffnung, dass er seiner Ideenflaute hier ein Ende bereiten konnte. Bis jetzt war das leider nicht der Fall gewesen.

Vermutlich war seinen Eltern ebenso klar, dass ihm kein einziger Gag aus der Feder fließen wollte, obwohl er früher nur so vor Ideen sprühte und mehr Einfälle hatte, als er gebrauchen konnte. Seitdem war viel passiert. Zu viel.

Seit dem einen Tag, der sein Leben von Grund auf verändert hatte, war sein Humor erloschen.

Vincent schluckte und schob den Stuhl zurück. »Danke für das Frühstück. Ich muss los.«

»Aber du hast doch noch gar nicht aufgegessen!«, protestierte seine Mutter.

Larry runzelte die Stirn, das bekam Vincent mit, ehe er die Küche verließ.

»Ich komme später noch mal vorbei, Mum. Dann schauen wir nach dem Wagen«, rief er ihr noch über seine Schulter hinweg zu.

›Nach dem Wagen schauen‹ bedeutete, dass sie mal wieder irgendwas am Navi verstellt hatte und nicht wusste, wie sie das rückgängig machen sollte. Sie und Technik, das waren zwei verschiedene Paar Schuhe. Aber ihm machte es nichts aus, ihr immer mal wieder zu helfen. Im Gegenteil, das ließ ihn sich wenigstens nicht vollkommen nutzlos fühlen.

»Mach dir keine Umstände«, schob sie hinterher, aber da hatte er sich schon seine Jacke vom Haken geschnappt und war aus dem Haus geflüchtet.

Nachdem er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, rieb er sich mit der Hand über das Gesicht. Gott, ob es jemals aufhörte, dass jeder ihn ständig mit quälenden Fragen nervte?

Er stapfte davon, lief hinauf ins Moor und immer weiter, bis er atemlos inmitten von Heidekraut, Ginster, Farn und Brombeersträuchern innehielt. St. Agnes hatte er weit hinter sich gelassen, er war allein. Eigentlich sollte er sich hier oben frei fühlen und endlich durchatmen können. Aber dem war nicht so. Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht, doch der kalte Wind nahm ihnen die Kraft. Er hatte gehofft, endlich alles hinter sich lassen zu können, das Gegenteil war der Fall. Was früher einmal befreiend gewesen war, tat jetzt nur noch weh. Manchmal schmerzte jeder einzelne verdammte Atemzug. Heute war so ein Tag. Vincent wandte sich um. In der Ferne konnte er das unruhige Meer sehen. Dunkelblau und grenzenlos, der Horizont war so weit und unendlich. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz darauf, das zu tun, was für andere selbstverständlich war. Einatmen. Ausatmen. Weiterleben.

Matt ließ er sich auf den Boden sinken und verharrte eine Weile regungslos. Das Zwitschern der Vögel nahm er jetzt erst wahr. Das leise Rauschen des Windes in den Blättern, Büschen und Gräsern. Es roch nach Frühling, würzig und frisch. Das Leben erneuerte sich.

Nur in seinem Innersten herrschte eisiger Winter. Nichts würde je wieder gut werden, denn sein bester Freund Will war nicht mehr da.

Irgendwann, Vincent hatte keine Ahnung, wie lange er hier verharrt hatte, stand er wieder auf und streckte sich. Er fühlte sich etwas besser, aber noch immer nicht gut. Vielleicht würde er sich niemals mehr gut fühlen können. Verdient hatte er es jedenfalls nicht.

Vincent klopfte sich Gras und den Staub von seiner Jeans und machte sich auf den Rückweg. Er hatte nicht vergessen, dass seine Mutter auf ihn wartete. Der Wind blies noch immer kräftig, die Brandung krachte tosend gegen die Felsen. Ein paar Seevögel kreisten über ihm. Er ging die gleiche Strecke zurück, die er auch gekommen war, nahm dann aber einen kurzen Umweg über die alte Steintreppe und kam damit am Thewlis Shelter vorbei. Es war nach dem ersten Bürgermeister von St. Agnes benannt, der über fünfzig Jahre in dem winzigen Haus gelebt hatte. Heute wurde es nur noch als Aussichtspunkt genutzt oder als Unterschlupf, wenn einen mal ein Regenguss überraschte. Die Fenster waren herausgenommen und die Inneneinrichtung auch. Übrig geblieben waren nur die hinteren Wände, die nun mit Muschelsand verputzt waren. Vincent verweilte einen Augenblick und sah auf die Bucht hinab. Die Flut hatte eingesetzt. Obwohl er es schon tausende von Malen beobachtet hatte, faszinierte ihn das Spiel der Gezeiten immer wieder aufs Neue.

Und dann entdeckte er eine Frau, die auf den Felsen herumkraxelte. Er runzelte die Stirn, wollte sich abwenden, aber irgendetwas hielt seinen Blick gefangen. Ihr roter Schal flatterte im Wind, ebenso wie ihre blonde Mähne. Vincent schüttelte den Kopf. »Idiotin.« Wie blöd musste man sein, zu dieser Zeit dort herumzuklettern. Für Touristen war es noch zu früh in der Saison, aber kein Einheimischer wäre so lebensmüde. Er schnitt eine Grimasse und setzte dann seinen Weg fort. Aus dem Augenwinkel bemerkte er immer wieder den roten Schal. Obwohl es ihn nichts anging, beobachtete er die Frau, während er die letzten Stufen nach unten nahm.

In einem Moment hatte er sie noch im Blick, im nächsten sah er nur noch den flatternden roten Stoff, der durch die Luft segelte. Die Frau war verschwunden.

Das hatte ja so kommen müssen. Er stieß einen Seufzer aus und ging schneller. Hoffentlich hatte sie sich nicht verletzt. Vincent rechnete jeden Augenblick damit, dass sie sich aufrichtete und wieder in seinem Blickfeld auftauchte. Sie musste gestolpert sein.

Das hoffte er jedenfalls. Wenn sie bei dem Wetter und der nahenden Flut ins Wasser gestürzt war, konnte sie sich ernsthaft verletzt haben.

Oder schlimmer.

Die Felsen waren scharfkantig und die Brandung unerbittlich. Innerlich zählte er bis zehn, als sie dann noch immer nicht zu sehen war, fluchte er wie ein Kutscher und rannte los.

Schon nach wenigen Schritten ließ sein Körper ihn spüren, dass er schon einmal besser in Form gewesen war. Aber schlappmachen konnte er sich in dieser Situation nicht leisten. Außer ihnen war niemand am Strand. Er hatte keine Zeit zu telefonieren, um Hilfe zu holen. Erst musste er sehen, wo sie abgeblieben war. Wenn sie sich beim Sturz am Kopf verletzt hatte und womöglich bewusstlos geworden war, würde sie innerhalb kürzester Zeit ertrinken.

»Scheiße«, murmelte er noch einmal, während er noch schneller rannte. Das hier war der Spielplatz seiner Kindheit. Er kannte jeden Stein, jeden Felsen und jede noch so kleine Höhle in der Gegend. Das kam ihm nun zugute, denn im Gegensatz zu dieser äußerst leichtsinnigen Frau wusste er genau, wo er hintreten musste. In wenigen Sekunden war er an der Stelle angelangt, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Ihr Schal lag auf einem der Steine, das gleichmäßige Zischen der auf die Felsen treffenden Wellen übertönte alles andere. Wo war sie?

Vincent schaute suchend ins Wasser und konnte zunächst nichts entdecken. Doch beim zweiten Hinsehen entdeckte er einen blonden Haarschopf einige Meter weiter in der Bucht aufblitzen, der jetzt auftauchte. Sie ruderte hektisch mit den Armen und schnappte nach Luft. Erleichtert fing er wieder an zu atmen, doch schon in der nächsten Sekunde wurde ihm klar, dass diese Frau keine gute Schwimmerin war, oder sie hatte sich doch verletzt – was kein Wunder wäre.

Ohne zu zögern, schlüpfte er aus den Schuhen und stürzte sich in die Fluten. Das Wasser war eiskalt, er spürte den Adrenalinstoß in seinem Körper und wie sich alle Muskeln kurz anspannten. Mit kräftigen Zügen kraulte er zu ihr.

»Alles gut, ich helfe Ihnen«, schrie er über den Lärm der Wellen hinweg. Endlich bekam er sie zu fassen. Mit geübten Bewegungen machte er sich daran, sie hinter sich herzuziehen, wie er es tausendmal zuvor geübt hatte. Bislang hatte er sein Wissen über Rettungsschwimmen nie anwenden müssen. Heute war er froh darüber, dass man als Kind in dieser Gegend nicht zum Fußball, sondern zu den Lifeguards ging. Wo steckten die eigentlich, wenn man sie mal brauchte? Diese und verschiedene andere Gedankenfetzen schossen ihm durch den Kopf, während er versuchte, die leichtsinnige Frau zu retten. Sie schlug noch immer in wilder Panik um sich und arbeitete eher gegen ihn als mit ihm.

»Bleiben Sie ruhig, ich bin da. Nicht kämpfen«, wies er sie an und wurde dabei immer wieder selbst untergetaucht. »Verdammt noch mal, Sie bringen uns noch beide um«, brüllte er, als er wieder zu Atem gekommen war. Doch ihre Kräfte schwanden schnell, was vermutlich ihr Glück war, denn so konnte er endlich das tun, wozu er in die Fluten getaucht war. Er zog sie vor der tosenden Brandung und den spitzen Felsen in ruhigeres Wasser und dann an den Strand. Er war selbst völlig entkräftet, als er sie im hüfthohen Uferbereich auf die Beine stellte, dann in seine Arme hob und an den Strand trug. Vincent keuchte, als er sie schließlich im Sand absetzte, und ließ sich auf die Knie fallen, um wieder zu Atem zu kommen.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte er nach Luft japsend.

Sie blickte auf, und ihre Lider flatterten. Ihre Lippen waren blau, sie zitterte – ob vor Kälte oder durch den Schock, wusste er nicht. Allerdings, und das musste er zugeben, hatten ihre grünblauen Augen eine so außergewöhnliche Farbe, dass er sich für eine Sekunde zu lang darin verlor. Obwohl sie vor Schreck geweitet waren, strahlten sie dennoch eine so intensive Lebensenergie aus, dass ihm trotz des kalten Windes und der nassen Klamotten, die ihm am Leib klebten, innerlich ganz heiß wurde.

Sein Herz hämmerte noch immer hart gegen seine Rippen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er in den letzten Monaten zu viel Zeit in geschlossenen Räumen mit zu viel Alkohol und zu wenig Sinnvollem verbracht hatte.

Und dann nickte sie. »Ja.« Ihre Stimme glich einem heiseren Krächzen, aber der Klang war dennoch irgendwie angenehm. Er fragte sich, wie sie sich anhörte, wenn sie nicht gerade kurz vor dem Ertrinken gerettet worden war.

»Das war ganz schön dumm von Ihnen«, tadelte er schließlich.

Ihre hübsche Stirn legte sich in Falten. »Wie bitte?«

»Warum sind Sie denn da oben herumgekraxelt?« Vincent richtete sich auf, der eisige Wind fuhr ihm in die Glieder. Er brauchte dringend eine heiße Dusche – sie auch.

»Soll ich mich jetzt vielleicht dafür entschuldigen, dass mir ein Unfall passiert ist?« Sie bibberte am ganzen Körper. Doch ihre Augen schleuderten Blitze.

»Ein Danke würde genügen.« Er konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen. Da hatte er es wohl mit einem Exemplar von Frau zu tun, das Fehler nicht gern zugab. Andererseits – sie hatte gerade eine traumatische Erfahrung hinter sich, vielleicht sollte er nicht so streng mit ihr sein. Überhaupt ging ihn das alles, jetzt, da sie gerettet war, nichts mehr an, und er sollte verschwinden.

»Soll ich Sie zu Ihrem Hotel bringen?«, fragte er zu seiner eigenen Überraschung, als er sich seiner guten Kinderstube besann. Nach dem Schreck hatte sie ihre Lektion sicherlich gelernt und würde bei dem Wetter nicht mehr auf den Klippen turnen.

Sie rappelte sich auf, ihre Klamotten klebten wie eine zweite Haut an ihrem Körper, der überaus ansehnliche Kurven an den richtigen Stellen hatte. Vincent schluckte. Gegen seinen Willen reagierte er auf sie. Und das, obwohl er doch vor allem nach Cornwall gekommen war, um sinnlosen Frauengeschichten aus dem Weg zu gehen, die ihn in London an jeder Ecke lockten und von der Arbeit abhielten. Er brauchte Ruhe und das Meer, um sein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen – keine Weibergeschichten, die ihn anderweitig ablenkten.

»Hey«, rief jemand und riss Vincent aus seinen absurden Gedanken, immerhin hatte sie ihn nicht angemacht, sondern er hatte sie aus der Flut gerettet. Vincent blickte zu Jasper, einem der örtlichen Rettungsschwimmer, dessen Job er eben erledigt hatte …

»Gibt’s hier ein Problem?«, wollte er wissen.

Vincent war dicht dran, die Augen zu verdrehen und einen Kommentar abzugeben, dass er sich nicht wie ein amerikanischer Cop aufführen sollte. Aber dann sah er aus dem Augenwinkel, dass die Frau wie ein begossener Pudel davonstapfte und ein »Nein« brummte.

Fassungslos starrte Vincent ihr hinterher. Was hatte sie vor? Und dann begriff er. Sie marschierte geradewegs zurück zu den Klippen, von denen sie eben gestürzt war. Er rannte hinterher.

»Was glaubst du, machst du da?« Ihm war erst klar, dass er zum vertraulichen ›Du‹ übergegangen war, als es schon heraus war. Andererseits hatte er ihr gerade das Leben gerettet, da war höfliche Zurückhaltung eigentlich überflüssig.

Sie blickte ihn von der Seite an. Beinahe hätte er über ihren empörten Gesichtsausdruck laut gelacht. Sie sah bezaubernd aus, wenn sie ihn so anfunkelte – nass, mit Sand in den Haaren und mittlerweile wieder herrlich roten Lippen. Wow, hätte er beinahe von sich gegeben. Sie war umwerfend.

Und nicht erfreut, dass er ihr folgte. Seltsam, dachte er. War ihr wirklich nicht klar, dass sie in Lebensgefahr geschwebt hatte?

»Ich hole meinen Schal. Der ist aus Kaschmir. War teuer«, klärte sie ihn knapp auf.

Teuer? Es ging ihr um einen verdammten Schal? Gott. Die hatte ja Nerven.

Vincent lachte humorlos. Die Frau verstand tatsächlich gar nichts. »Du bist wohl vollkommen irre? Ist dir nicht klar, dass du eben beinahe ertrunken wärst?«

»So ein Unsinn.« Sie marschierte weiter.

Sowas Stures hatte er sein Lebtag noch nicht gesehen. Vincent machte große Augen. Er war sprachlos, was nicht oft vorkam, aber er hielt mit ihr mit.

Jasper rannte nun auch hinter ihnen her. Ein Außenstehender, der diese Szene zufällig beobachtete, musste sie alle drei für bescheuert halten.

»Hey, jetzt bleibt doch mal stehen. Alle beide«, forderte Jasper sie auf.

»Du musst diese Verrückte aufhalten.« Vincent ging langsamer und schüttelte noch einmal den Kopf, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte. Er war fassungslos über die Respektlosigkeit, die diese Person der hiesigen Naturgewalt entgegenbrachte.

»Miss, warten Sie doch mal!« Jasper hastete ihr derweil nach und hielt sie an der Schulter fest. Sehr zu Vincents Überraschung blieb sie tatsächlich stehen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen verfolgte er die Szene.

»Ich geh schon«, hörte er sich dann zu seiner Überraschung sagen. Er musste wohl selbst einen Schaden haben, aber dann fiel ihm ein, dass er seine Schuhe auf den Felsen ausgezogen hatte, ehe er ins Wasser gesprungen war. Und die hätte er gern wieder. »Muss sowieso noch mal hoch. Jasper, pass bitte auf, dass sie keine Dummheiten macht.«

Sie sog scharf den Atem ein. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihr Gesichtsausdruck nun war: mehr als ungehalten. Aber das war ihm egal, noch mal wollte er sie nicht aus der Brandung retten – oder Jasper dabei zusehen, wie er baden gehen musste. Diese Frau schien offenbar gar nichts zu begreifen.

»Kommen Sie mit, ich gebe Ihnen eine Decke. Sie sind ja ganz durchgefroren«, hörte er den Rettungsschwimmer indes zu ihr sagen.

Vincent sparte sich die Frage, wo der echte Lebensretter gewesen war, als man ihn gebraucht hatte. Vermutlich beim Pinkeln oder beim Mittagessen, überlegte er und ging weiter. Andererseits badete hier zu der Jahreszeit an einem Wochentag kaum jemand – normalerweise. Im Sommer teilten sich drei Kräfte den Posten, jetzt war das nicht nötig. ›Eigentlich‹, das Stichwort. Eigentlich hatte er selbst auch kein Bad in der keltischen See vor St. Agnes nehmen wollen. Schon gar nicht in seinen Klamotten. Egal, nun war er durchweicht, und der raue Wind tat sein Übriges.

Mit flinken Bewegungen glitt er von einem Stein zum nächsten und fand schließlich Schal und Schuhe, in die er jedoch nicht schlüpfte, da er triefende Socken an den Füßen hatte. Wenn schon der Rest pitschnass war, so wollte er sich nicht auch noch seine Turnschuhe ruinieren. Ihn überraschte der Gedanke, in den letzten Monaten war ihm alles egal gewesen.

---ENDE DER LESEPROBE---