Corona-Staat - Alexander Christ - E-Book

Corona-Staat E-Book

Alexander Christ

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Beschreibung

Rechtsanwalt Alexander Christ klagt an. Und liefert das vernichtende Urteil gleich mit: Alles, was Recht ist — wissen wir nicht mehr. Die Gesetze, die im Zuge der Corona-Maßnahmen erlassen wurden und unser aller Leben einschneidend veränderten, sind nicht nur schlecht gemacht, sondern auch Instrumente zur unverhältnismäßigen Einschränkung unser aller Freiheiten. Das Rechtsempfinden hat sich der Staatsräson gebeugt. Der Rechtsstaat sich aufgegeben. Die Justiz vollständig versagt. Doch wie konnte es so weit kommen? Indem, so argumentiert Christ, uns, den Bürgern, unser moralischer Kompass regelrecht abtrainiert wurde. Wir wissen nicht mehr, was Recht und was Unrecht ist. Haben vergessen, was Würde meint. Und vor allem: dass wir der Staat sind.
Christs ebenso brillante wie tiefgreifende philosophische Analyse ist Weckruf und Anleitung zugleich. Sie lehrt uns, dass der Totalitarismus niemals siegen kann, wenn wir, die Bürger, dies nicht zulassen. Und zeigt auf, wie Recht und Gerechtigkeit doch noch zu retten sind — durch unser aller Menschlichkeit, unser tägliches Handeln und Tun.

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Seitenzahl: 558

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Die Zukunft gehört den Mutigen.

»Denn nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.«

Kurt Tucholsky, Die Verteidigung des Vaterlandes

Für Mella

Der Verlag und der Autor gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch der Autor übernehmen, ausdrücklich und implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes oder etwaige Fehler.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-96789-033-4

© Rubikon-Betriebsgesellschaft mbH, München 2022

Lektorat: Susanne George, Korrektorat: Antje Meyen

Konzept und Gestaltung: Buchgut, Berlin

INHALT

VORWORT

RECHT UND GERECHTIGKEIT

RECHTSETZUNG

RECHTSANWENDUNG

RECHTSPRECHUNG

VERWALTUNGSRECHT

STRAF- UND ORDNUNGSWIDRIGKEITENRECHT

ARBEITSRECHT

ZIVILRECHT

VERFASSUNGSRECHT

RECHT UND VERGEBUNG

DANKSAGUNG

VORWORT

»Der Reiz der Erkenntnis wäre gering, wenn nicht auf dem Weg zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre«, schrieb Friedrich Nietzsche. In diesem Buch begebe ich mich auf den Weg zur Erkenntnis, und es ist in der Tat viel Scham, die es zu überwinden gilt. Als Rechtsanwalt auf dem festen Boden des demokratischen Rechtsstaates stehend, schäme ich mich für die deutsche Politik, für die Auswüchse der Exekutive und am meisten für meine eigene Profession, für die Rechtsfindung und Rechtsprechung. Aber es hilft nichts, wir müssen hier gemeinsam durch und den Weg zur Erkenntnis gehen, wie viel Scham auch immer damit verbunden sein mag.

Corona hat ans Tageslicht gebracht, wie fragil unser Rechtsstaat ist. Ein Virus genügt, um bei Politikern totalitäre Allmachtsfantasien freizusetzen. Blinder Gehorsam führt zu unreflektierter Umsetzung fragwürdiger Regeln. Und Angst vor Ansteckung reicht aus, um Richter vergessen zu lassen, dass ihre eigentliche Aufgabe im gewaltengeteilten Staat in einer beschränkenden Kontrolle der Staatsmacht besteht.

Die Leser dieses Buches werden ihre eigene Geschichte mit Corona haben, jedes Schicksal wird ein anderes sein. Sie mögen ihre erlebten Beispiele nach Belieben an die Stelle meiner exemplarisch genannten Rechtsverluste setzen. Manche wird Corona an den Rand der Existenz gebracht haben, andere an den Rand der Verzweiflung. Eine Angstpsychose dieses Ausmaßes dürfte es in der Geschichte wohl noch nicht gegeben haben. Zu ihrer Überwindung bedarf es vor allem Zeit und Geduld. Eine Geduld, die diejenigen, deren Angst vor Ansteckung gering oder gar nicht vorhanden war, nur schwer aufbringen können, weil ihre Wut und Verzweiflung über die »sancta simplicitas«, über die seltsame Vereinfachung und Fälschung, in der der Mensch lebt (wieder Nietzsche), so groß ist. Hier stehen sich zwei Lager scheinbar unversöhnbar gegenüber. Eben dies aber ist eine Aufgabe aller: für eine Versöhnung zu sorgen, schlussendlich.

Dazu bedarf es nicht zuletzt der Aufklärung. Dieser Aufarbeitung widmen sich bereits einige Mitstreiter, auch ich. An dieser Stelle sei jeder Leser aufgerufen, daran mitzuarbeiten. Lassen wir gemeinsam nicht zu, dass es banal endet und die Verursacher ungenannt davonkommen. Nicht Verurteilung ist das primäre Ziel, sondern Versöhnung, so schwer dies auch einigen fallen wird, die persönlich beträchtliche Schäden durch die Freiheitseinschränkungen erlitten haben.

Dieses Buch muss man nicht von vorne nach hinten durchlesen, jeder kann dort anfangen, wo ihn der eigene Schuh am meisten drückt. Im ersten Kapitel befasse ich mich mit der Frage nach Recht und Gerechtigkeit, also mit rechtsphilosophischen Erklärungs- und Lösungsversuchen, wie Recht von Unrecht unterschieden werden kann. In den folgenden drei Kapiteln nehme ich mir die Rechtssetzung, die Rechtsanwendung und die Rechtsprechung vor und erläutere, warum Widerstand zur Pflicht wird, wenn Recht sich ins Unrecht kehrt. Und im letzten Kapitel zeige ich, wie wir gemeinsam das Recht wieder in seine Geltung bringen und einen Weg zur Versöhnung finden können.

Lassen wir aus Liebe zur Freiheit und zum Frieden nicht zu, dass der verletzte Rechtstaat zum totalitären Staat degeneriert, weder in Deutschland noch anderswo auf der Welt.

Alexander Christ, im Mai 2022

»Alles liegt im Abstand zwischen der Willkür und der Regel.«

Simone Weil, Schwerkraft und Gnade

»Doch wird über Angelegenheiten von Recht und Unrecht nicht entschieden wie über Tischmanieren, als wenn nichts weiter auf dem Spiel stünde als akzeptiertes Verhalten.«

Hannah Arendt, Über das Böse

»Ungehorsam ist die wahre Grundlage der Freiheit. Die Gehorsamen sind Sklaven.«

Henry David Thoreau,Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

IM GESPRÄCH MIT SICH SELBST

Es beginnt mit Bildern, und es wird mit Bildern enden. Die stärkste Wirkung auf den Menschen und auf seine Vorstellungskraft haben Bilder. Das, was wir vor uns sehen oder vor uns zu sehen glauben, das nimmt uns in den Bann, das hält uns fest und das macht uns gleichsam zu Gefangenen der Botschaft, die durch das Bild zu uns transportiert wird.

Dabei interessiere ich mich hier nicht für die Wissenschaft, für die Physiologie dahinter. Ich interessiere mich für die Empfindung, die eine bildhafte Darstellung in dem einen wie in dem anderen von uns auslöst. Das Empfinden mag uns individuell sehr unterschiedlich erscheinen, doch Bilder sind leider auch als Propagandamittel häufig genug missbraucht worden, und damit scheint es möglich, mit einem Bild eine Geschichte zu transportieren, die viele sehr ähnlich aufnehmen.

Es ist Februar im Jahr 2022. Noch immer Pandemie. Eine schier unendliche Zeitspanne der Dunkelheit und der inneren Düsternis liegt hinter mir – und eine noch unendlichere wohl vor mir. Gerade waren erste Stimmen, selbst in Deutschland, zu hören, wonach nun so allmählich die Zeit für »Lockerungen« vielfältiger Freiheitseinschränkungen gekommen sein könnte. In anderen Staaten war man vor einigen Wochen schon weiter gewesen als hierzulande, doch genau betrachtet glich die Entwicklung auch dort einem steten Hin und Her, mal wurde gelockert, mal wurde wieder eingeschränkt. Seit dem 11. März 2020 ist das Leben nicht mehr das, was es zuvor war. Der 11. März war mein persönlicher Beginn eines Freiheitsentzuges von bisher ungekanntem Ausmaß. Für andere mag es ein früherer oder späterer Moment in jenem Frühjahr 2020 gewesen sein. An diesem Tag, ich erinnere mich noch gut, könnte es aber auch in meinem Tagebuch nachlesen, fuhr ich abends aus Frankfurt mit dem Zug nach Hause zurück. Mein Auftraggeber, für den ich zu dieser Zeit arbeitsrechtliche Angelegenheiten regelte, hatte alle Mitarbeiter aus Vorsicht gebeten, für einige Tage erst einmal von zu Hause aus zu arbeiten. Im Zug war die Angst der Reisenden mit Händen zu greifen. Jeder versuchte, so weit wie möglich von dem anderen abzurücken, man versuchte krampfhaft, sich nicht zu nahe zu kommen.

»Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am 11. März 2020 den Ausbruch des neuartigen Coronavirus (COVID-19) zu einer globalen Pandemie erklärt. Bei einer Pressekonferenz stellte der Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, fest, dass die Zahl der Fälle außerhalb Chinas in den letzten zwei Wochen um das 13-Fache und die Zahl der Länder mit Fällen um das Dreifache gestiegen ist. Weitere Steigerungen sind zu erwarten. Er sagte, die WHO sei ›zutiefst besorgt sowohl über das alarmierende Ausmaß der Ausbreitung und Schwere als auch über das alarmierende Ausmaß der Untätigkeit‹, und er forderte die Länder auf, jetzt Maßnahmen zu ergreifen, um das Virus einzudämmen.«1

Ich lese im Zug die BILD-Zeitung. Das tue ich sonst nicht, aber hier ist das Blatt umsonst, und so kann man schon mal schauen, was den gemeinen Deutschen derzeit so bewegt (oder bewegen soll). Dort steht geschrieben, dass Nordrhein-Westfalen nun seinen dritten »Corona-Toten« hat. Ein Mann (73) sei in Heinsberg, dem Ort, der noch zu trauriger Berühmtheit gelangen würde, »am Coronavirus gestorben«, er sei »Dialysepatient mit schweren Vorerkrankungen gewesen. Zuvor sind ein 78-Jähriger aus Gangelt und eine 89-Jährige aus Essen an dem Erreger SARS-CoV-2 gestorben. Beide hatten Vorerkrankungen.«2 In den Tagen vor dem 11. März hatte ich im Norden, in Schleswig-Holstein, ein Seminar bei einem Kunden geleitet. Auch von dort war ich mit dem Zug abgereist, und am Abend des 10. März notierte ich in mein Tagebuch:

»Im Zug hat man ja inzwischen schon etwas Angst, wenn Leute in unmittelbarer Nähe husten oder niesen … Der Corona-Wahnsinn greift weiter um sich, und irgendwie ist ›die Gefahr‹ allgegenwärtig. Bei allem, was man anfassen muss, fragt man sich unweigerlich: Geht das wohl gut? Inzwischen werden laufend Veranstaltungen abgesagt, die Fußballspiele finden ohne Publikum statt, und ich fürchte bereits, unser Englandurlaub an Ostern könnte in Gefahr geraten … Die allgemeine Hysterie ist unglaublich und mit Händen zu greifen. Praktisch kein Gespräch ohne eine Referenz auf das Virus. Es nervt. Von ›Normal‹ ist die Lage weit entfernt … Unglaublich auch: Italien, ganz Italien, ist Sperrgebiet! Keiner kommt rein und raus, so heißt es … Also, ich bin reichlich genervt von der Situation derzeit, es liegt eine ganz seltsam-düstere Stimmung über allem.«

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt geahnt, was noch kommen würde … Und merkwürdig auch, dass mir Fußballspiele ohne Publikum oder die Sorge, unser geplanter Urlaub könnte ins Wasser fallen, als das Höchstmaß an Ungewöhnlichem oder Störendem vorkamen.

Menschen sind so, ich auch, man hält sich fest an den kleinen, einen selbst betreffenden Dingen, und weigert sich wohl innerlich, gleich an das Schlimmste, an die größtmöglich anzunehmende Katastrophe zu denken, vielleicht aus Selbstschutz, vielleicht aus Ignoranz. Und so war auch ich ganz natürlich anfällig für die Bilder, die die Welt Mitte März aus Italien erreichten, dem Land, in dem das unbekannte, nicht einschätzbare Virus in Europa am heftigsten wütete. In Italien, so schien es den Berichten zufolge, sei kein Krankenhausbett mehr frei, in allen Zimmern und sogar auf den Gängen lägen Corona-Kranke und röchelten vor sich hin. Ärzte und Pflegekräfte im Dauerstress, das Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps und Tausende Menschen dem Tode geweiht.

Ich saß an meinem Schreibtisch und wühlte mich durch die eintreffenden Nachrichten, »1. Bundesliga-Geisterspiel: Stadionsprecher redete wie in einer Kirche«, »Corona-Alarm im Bundestag – Muss das Parlament jetzt dichtmachen?«, »München: Mann besprüht Chinesin mit Desinfektionsmittel«, »Corona lässt Porno-Käufe explodieren: In NRW und in Italien steigen die Erotik-Käufe«, »Coronavirus kann tagelang in Leichen überleben: Irische Bestatter sind gewarnt«, »Merkels dramatische Ansprache an die Nation – Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst!«, »Zum Corona-Krisen-Einsatz –Bundeswehr bereitet sich auf Ernstfall vor« und »Virtuelles Beten jetzt möglich – Klöster nehmen Bitten entgegen«, »Corona: Kann ich mich durch Secondhand-Klamotten anstecken?«, »Geht uns das Klopapier aus?«, »Innenminister Herrmann – Wer aufsperrt, wird eingesperrt«, »Corona-Krise: Bundesregierung holt Deutsche heim«, »Wer hat die Macht über Corona? – Werden wir jetzt von RKI-Virologen regiert?«, »Corona-Krise-Geheimbericht: Diese Städte wollten Hilfe von der Armee«, da sah ich ein Foto, das mich wirklich beunruhigte. Es zeigt eine Kolonne von Militärlastwagen, die …, ja, was tun? Was symbolisieren? Das Bild zeigt eben nun mal nur eine Kolonne von Militärlastwagen, die in einem Wohngebiet in einer Reihe stehen. Nicht mehr.

Die Neue Züricher Zeitung schreibt am 30. Mai 2020 unter dem Titel »Diese schrecklichen Bilder – wie ein junger Italiener unsere Sicht auf das Coronavirus verändert hat« davon, dass Fotos von nächtlichen Leichentransporten in Bergamo Mitte März für einen weltweiten Schock gesorgt hätten.

»Die Nacht ist bereits angebrochen, als sich vor dem Zentralfriedhof in Bergamo ein seltsamer Autokorso in Bewegung setzt. Dreizehn Militärlastwagen passieren die unbeleuchtete, von Zypressen gesäumte Via Ernesto Pirovano, dann biegen sie auf die Via Borgo Palazzo ein, wo ein Streifenwagen der Carabinieri den Verkehr aufhält. Durch den ungewöhnlichen Lärm neugierig geworden, steht Emanuele di Terlizzi auf dem Balkon seiner Wohnung im dritten Stock, richtet seine Handy-Kamera auf die Lastwagen und weiß noch nicht, dass er gerade das Bild seines Lebens knipsen wird.

Es ist der 18. März 2020 – der Tag, an dem der Name Coronavirus jenen bedrohlichen Beiklang erhält, der bis heute nachwirkt. Denn inzwischen weiß fast jeder, was die Lastwagen damals transportiert haben: Särge mit Corona-Toten, die in andere Städte abtransportiert werden mussten, weil das Krematorium in Bergamo überlastet war. Die Fotos und Videos des nächtlichen Beerdigungszuges gehen am Morgen des 19.  März um die ganze Welt, das Echo ist gewaltig. ›Schockierende Bilder aus Italien‹, titelt die deutsche Bild-Zeitung, ›dramatische Warnung aus Italien‹ die Morgenpost, dazu immer wieder di Terlizzis Bild der Via Borgo Palazzo, egal ob auf BBC, im Edmonton Journal oder bei Free Malaysia today.«3

Die Lastwagen- und Sargbilder gelten als Zäsur in der Geschichte der »Corona-Pandemie«. Erst danach scheint vielen klar, »wie gefährlich das Virus ist«. Laut Bericht der NZZ sagte ein Vertreter des Bundesamtes für Gesundheit: »Die Bilder aus Italien haben sicher stark dazu beigetragen, das Problem im Bewusstsein der Bevölkerung in Europa zu verankern.«

Auch bei mir lösten die Bilder und vor allem das Foto vom Lastwagenkonvoi zu diesem Zeitpunkt eine unbestimmbare Beklemmung aus.4 Danach setzte ich mich nach einer heftigen, aber glücklicherweise nur kurzen Auseinandersetzung mit meiner Frau Mella an den Schreibtisch und las in zahlreichen damals verfügbaren Quellen nach, was über das ominöse Virus aus dem chinesischen Wuhan zu erfahren war. An dieser Stelle nur so viel: Nach drei Tagen der Recherche war mir klar: Das, was da aus China über die Welt gekommen war, konnte nicht diese Gefährlichkeit entwickeln, die Medienberichte suggerierten. Dass da außerhalb Chinas überhaupt etwas sein sollte, wäre vermutlich zu dieser Zeit ohne die Medienberichte aus dem großen Land im Osten für niemanden in Europa unmittelbar ersichtlich gewesen. Selbst Ärzte hätten bei ihren klinischen Befunden ohne die Medieninformation womöglich keine absonderlichen Auffälligkeiten bemerkt. Dass die Erkrankungsintensität in etwa der Gefährlichkeit einer starken Grippewelle entsprach, meinetwegen auch doppelt oder dreifach so gefährlich sein mochte wie eine starke Grippe,5 nun, auch das war für den, der es sehen wollte, aus den ersten Berichten herauszulesen. Gleich zu Anfang las ich auch, dass es stark von den dabei zur Betrachtung herangezogenen Faktoren wie Vorerkrankungen, Alter der Betroffenen, Stärke des jeweiligen Immunsystems und so weiter abhängen würde, wie die Zahlen ausfallen. Dass es sich um ein künstlich, also von Menschenhand erschaffenes Virus handeln könnte, las ich ebenfalls bereits zu jener Zeit. Ebenso, welche Symptome das Virus hervorrufen könnte,6, nämlich grippeähnliche wie Husten, Müdigkeit, Gliederschmerzen und derlei mehr. Mit welcher Sterbewahrscheinlichkeit man vermutlich würde zu rechnen haben, las ich auch bereits, nämlich 0,05 bis 1 Prozent.7 Dass das Virus schon im November 2019 in Frankreich zirkulierte, erfuhr ich erst später.8

Bilder bestimmen unser Leben, wir sind jeden Tag zum Sehen verdammt, könnte man sagen, denn vielfach kann man gar nicht anders, als hinzuschauen, auch wenn einem ein Bild, das sich zeigt, nicht gefällt. Doch ebenso bestimmt ein »Bildverlust«, um einen Begriff von Peter Handke aufzugreifen, seit geraumer Zeit unser Leben. Darunter verstehe ich, dass die inneren Bilder, die uns Heimat und Orientierung geben, überlagert oder sogar ausradiert werden durch die ideologisch fabrizierten und technisch ausgestreuten. So heißt es in Peter Handkes Roman Der Bildverlust:

»Der Naturschatz ist aufgebraucht, und man zappelt als Anhängsel an den gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern, welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen und den falschen Eindruck sogar noch steigern wie Drogen, als Drogen.«9

Das, was sich uns zeigt, ist häufig bewusst manipuliert, bestenfalls ein Ausschnitt der Wirklichkeit, keinesfalls jedoch etwas, dem man uneingeschränkten Glauben schenken sollte. Nach einem systematischen Training unserer Praxis der Wirklichkeitsbetrachtung durch »die Gesellschaft« und in sogenannten sozialen Medien haben die Menschen in den letzten Jahren nach meinem Eindruck weitgehend verlernt, zwischen dem, was ein Bild zeigt, und der Botschaft, die es transportiert, transportieren soll, zu unterscheiden.

Das bei der Betrachtung von Bildern gleichzeitige Erblinden im Bildverlust, das ist es, was mich schmerzt. Wahrnehmungen, die wir in den letzten Jahren aufgenommen haben, und der damit einhergehende Wahrnehmungsverlust, der so manchem nun eine klare Sicht auf die Dinge versperrt. Gerüche, die wir normalerweise riechen, und der nach einer Corona-Infektion möglicherweise eintretende Geruchsverlust. Freiheit, die wir verlangen, und der nun eintretende und weitgehend scheinbar hingenommene Freiheitsverlust. Für mich stellen sich all diese Phänomene wie ein großer Kulturverlust dar, mir erscheint das, was uns in den vergangenen 24 Monaten begegnet ist, wie ein ungeheuerlicher kultureller Bruch, ein zivilisatorisches Desaster.

Mein Thema in diesem Buch ist die Frage, wie erkennen wir, was recht ist und was nicht? Wie erkenne konkret ich selbst, ob das, was ich denke, richtig ist, oder ob ich nicht vielleicht doch falschliege? Und welche Handlungen leiten sich daraus ab? Im Kern geht es um die Frage nach Recht und Unrecht und wie beide voneinander zu unterscheiden sein könnten.

Ich bin Rechtsanwalt. Seit inzwischen über 25 Jahren. Vorher und parallel dazu war ich Journalist, eigentlich wollte ich das einmal zu meinem Hauptberuf machen. Doch die Befürchtung meiner Eltern, mit Journalismus könne man kein Geld verdienen, brachte mich damals dazu, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken. Studiert habe ich schließlich Rechtswissenschaften und parallel dazu Politikwissenschaft, Philosophie und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Ich habe beide Studiengänge abgeschlossen und in Rechtswissenschaften anschließend mit einer Arbeit zu Montesquieu promoviert. Damit hätte ich also auch Journalist werden können, mein Beruf aber wurde der des Juristen. Und so interessiere ich mich allein schon von Berufs wegen dafür, ob und wann etwas recht und Recht ist und wann eben nicht.

Die sogenannte Corona-Krise, in der wir uns nach wie vor befinden und die uns nach meiner Einschätzung noch sehr, sehr lange begleiten wird, hat glasklar ans Tageslicht gebracht, dass es in einer Bevölkerung wie der deutschen offenbar kein Einvernehmen mehr gibt, was Recht und was Unrecht sei. So hingeschrieben klingt das wie eine Banalität oder eine Kleinigkeit. Tatsächlich ist es aber ein Skandal, ein »skandalon« im Wortgebrauch Hannah Arendts, und eine zivilisatorische Katastrophe. Das Ausmaß dieser Katastrophe ist mit Worten kaum zu beschreiben. Alles klingt für mich zu klein, zu wenig dramatisch, als dass es den aktuellen Zustand unseres Gemeinwesens, unserer Politik, unserer Bevölkerung, unseres Rechtssystems, unseres Bildungssystems, des Bürgersinns und Gerechtigkeitsempfindens auch nur ansatzweise auszudrücken vermag. Um es auf den Punkt zu bringen: Dieses Land, seine Kultur und seine Zivilisation sind wohl auf dem Wege hin zu einer vollständigen Zerstörung.

Wir erleben seit Anfang 2020 einen Kulturbruch, den ich niemals für möglich gehalten hätte. Wenn ich allerdings tiefer in die Analyse einsteige, wird mir klar, dass er weit früher seine Anfänge genommen hat. In der gegenwärtigen »Corona-Situation« erleben wir die Liquidation des Rechts und des persönlichen Kompasses wie unter einem Brennglas. Als Angehöriger der Rechtspflege, der ich als Rechtsanwalt nun einmal in formaler Hinsicht bin, kann ich nicht umhin festzustellen, dass im Verlauf von zwei Jahren das Recht systematisch zerstört worden ist. Jedenfalls das, was wir Juristen bis 2019 als »das Recht« kannten. Nun bin ich kein Virologe, und das muss ich auch nicht sein, denn es geht nur vordergründig um Virologie. Tatsächlich geht es um die Frage, auf welche Weise ein Land wie Deutschland mit einer mehr oder weniger harmlosen Virusinfektion rechtlich und moralisch umgeht. Und gerade im rechtlichen Handeln in Krisenzeiten ist das, was wir Juristen als »das Recht« kannten, nicht wiederzuerkennen.

Ein innerer Kompass hätte warnen können vor dem, was das Rechtssystem nicht aufzuhalten vermochte: einen Dammbruch der Eingriffe in unsere unveräußerlichen Grund- und Freiheitsrechte. Grundrechte werden begründungslos auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Freiheitsrechte werden tagtäglich beschnitten. Menschenrechte werden mit Füßen getreten. In Deutschland. In Europa. Weltweit. Besonders aber hierzulande, in Deutschland. In dem Land, das am ehesten aus der Geschichte hätte gelernt haben müssen.

Wir leben in einer Welt der Bezugnahmen, in der der Idealfall dessen, »was recht und billig ist«, schon längst keinen Wert mehr hat, Bezugnahmen auf angebliche »Erkenntnisse der Wissenschaft«, Daten des Robert Koch-Instituts (RKI), Meldedaten aus den Intensivstationen der Krankenhäuser, die die DIVI, die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, stümperhaft zusammenträgt und geschönt veröffentlicht10, Bezugnahmen auf angebliche Regierungsexperten, die genau deshalb so genannt werden dürfen, weil sie das bestätigen, was die Regierung beschlossen hat. Wir leben aber nicht mehr in einer Welt des Diskurses, des wissenschaftlichen Streitgesprächs, der Auseinandersetzung um die vernünftigere Position, nicht mehr also in einer Welt der Debatte, kurz: der Suche nach dem besten Weg. Die »Corona-Situation« hat endgültig beendet, was uns zivilisatorisch wert und teuer war und was man als vernunftgesteuerten Erkenntnisprozess bezeichnen durfte. Fortan scheint nur noch gelten zu dürfen, was dem »Regierungsnarrativ«, der Staatsraison, entspricht. Was wir aktuell erleben, ist nicht mehr und nicht weniger als das Ende einer kulturellen Tradition.

Den Sommer, Herbst und Winter des Jahres 2020 verbrachte ich, wie viele von uns, in einer Art Lähmungszustand mit gelegentlichen Ausbrüchen. Ich fuhr nach Schweden und stellte fest, dass keiner eine sogenannte Mund-Nasen-Bedeckung trug, schon auf der Fähre, kaum hatten wir die Kieler Gewässer verlassen, hatte das seltsame Ding keiner mehr im Gesicht. Ich traf mich dort mit meinen deutschen Freunden, die Ärzte sind und mir davon berichteten, dass keineswegs Notstand oder Ausnahmezustand herrsche, einige wenige seien grippeähnlich erkrankt, das aber war’s dann auch. Ich unterhielt mich mit Schweden, ich nahm das Land wahr, ein gänzlich unaufgeregtes Land ohne Polizeipräsenz und frei von bedrückender Hauswartmentalität. Ich fuhr nach Ungarn und stellte fest, dass auch dort keiner befürchtete, im nächsten Augenblick tot umzufallen. Kein Händewaschen, kein Maskentragen, nichts. Dann fuhr ich nach Paris. Kaum angekommen, fiel mir auf, dass Menschen auf Fahrrädern mit medizinischen OP-Masken unterwegs waren, Autofahrer in geschlossenen Fahrzeugen allein sitzend solche Masken trugen, und ich erschrak und verstummte. Betroffen saß ich im Café, beobachtete den zunehmenden Wahnsinn und war vor allem: rat- und sprachlos.

Eben diese Sprachlosigkeit war es auch, die ich im Verlauf des Jahres 2020 immer öfter erlebte, während zugleich immer mehr neue Wortschöpfungen des Irrsinns sowie natürlich Anglizismen Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch hielten. Hier nur einige Beispiele: Absonderungsbescheid, AHA- oder Abstandsregeln, Booster, Bleiben Sie gesund!, Bundesnotbremse, Bürgertestzentrum, Coronazi, Coronaleugner, Distanzunterricht, Durchbruchsinfektion, Eindämmungsverordnung, Faceshield, Flatten the Curve, Goldstandard, G-Regel, Hochinzidenzgebiet, Hust- und Niesetikette, Hygienekommission, Impfluenzer, Impfverweigerer, Kontaktverfolgung, Kurzzeitshutdown, Lockdown, Lockdown light und Wellenbrecherlockdown, Lockerungsstrategie, Lollitest, Maskendisziplin, Maskenverstoß, Mindestabstandsregelung, niederschwellige Basisschutzmaßnahme, Null-COVID-Strategie, Pooltest, Quarantänebrecher, Spuckschutztrennscheibe, Starvirologe, Superspreader, Teilausgangssperre, Tracking-App, Videoandacht, Virenparty, Wechselunterricht oder Zwei-Haushalte-Regelung.11

Ich war sprachlos und fragte mich, wie es geschehen konnte, dass so viele ein Teil dieser Masse von Corona-Verängstigten wurden, während sich andere mehr oder weniger schnell nach Bekanntwerden der angeblichen Pandemielage nicht sehr ängstigten.

Im Sommer und Herbst des Jahres 2020 fanden, vor allem in Berlin, einige große Demonstrationen gegen die Maßnahmen der Regierung statt. Ich war nicht dabei. Ich saß in meinem Arbeitszimmer und grübelte. Als meine Frau mir am 21. August aus Berlin berichtete und von dort das Foto einer Dame mit Blümchen und Grundgesetz im Arm schickte, im Hintergrund die Wasserwerfer der zu allem entschlossenen Berliner Polizei,12 da wurde mir klar, wer einmal in dieser Weise mit der Staatsmacht konfrontiert war, der ist für die Demokratie verloren. Die juristischen und rechtspolitischen Folgen dieser Eskalationspolitik standen mir schlagartig vor Augen. Noch einmal: Für mich war es bereits zu diesem Zeitpunkt eindeutig das Ende einer kulturellen Tradition. Die Balance zwischen den Gewalten war völlig verloren gegangen. Ich erlebte sowohl die Ereignisse 2020 via Bildschirm als auch in der weiteren Folge die Ereignisse des Jahres 2021 im persönlichen Erleben als Entgrenzung, als Aufhebung der notwendigen Spannung zwischen den das Recht stiftenden Instanzen, als Zerstörung der Sozialsphären und der Destruktion von Recht und Gerechtigkeit.

Ab Januar 2021 nahm ich, und nehme bis heute, an zahllosen Demonstrationen, Aufzügen, Treffen, Gerichtsverhandlungen und ähnlichen Ereignissen teil und erlebe dabei als Teilnehmer wie auch als Anwalt fast ausnahmslos die aus Angst oder Obrigkeitshörigkeit gespeiste behördliche Willkür, polizeiliche Gewalt, nachweislose Freiheitseinschränkungen, massiv ungerechtfertigte Diskriminierungen, unerträgliche Grundrechtseingriffe gegen Einzelne, die teilweise nur als »Folter« im Sinne der Menschenrechtskonvention gewertet werden können, Amtsmissbrauch, Missachtung der Menschenwürde, Missachtung des Rechts auf Bildung, Verletzung des Demonstrationsrechts und der Versammlungsfreiheit nach dem Grundgesetz und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, mit einem Begriff: Verbrechen gegen die Menschheit.

Die Liste des im Namen von »Corona« begangenen Unrechts ist lang. Und so muss ich meiner Verantwortung als Anwalt gerecht werden und die Frage stellen, wie dieses Unrecht aufgearbeitet, aufgeklärt, juristisch verfolgt und in der Zukunft verhindert werden kann. Auf dem Weg zur Beantwortung dieser Frage muss ich versuchen, eine Antwort darauf zu finden, warum manche solche unrechten Handlungen begangen haben, während andere dies zur gleichen Zeit nicht taten. Warum also wurde jemand Teil derer, mutmaßlich der Mehrheit der Einwohner, die die staatlichen Unrechtsmaßnahmen geduldet oder sogar unterstützt haben? Und warum stellten sich andere gegen dieses von ihnen erkannte Unrecht?

In der letzten Maiwoche 2021, nach sehr kräfteraubenden Demonstrationen am Pfingstwochenende in Berlin, fuhr ich in die Schweiz auf eine ruhig gelegene Hütte in 1400 Metern Höhe. Ich musste den Kopf frei kriegen und über die Frage nachdenken, was es braucht, um Recht von Unrecht zu unterscheiden. Ich nahm mir einen Korb voller Bücher mit, darunter Hannah Arendts Über  das Böse, und in der einsamen Wieder-Lektüre und im Gespräch mit mir selbst entstanden Antworten.

Die Situation in Deutschland erschien mir, auch aus der Ferne der Schweizer Berge, als totalitär und freiheitsraubend. Bei Hannah Arendt hoffte ich Erklärungen zu finden. Sie beschäftigte sich dabei weniger mit der Frage, wie ein solches als totalitär und übergriffig wahrgenommenes System funktioniert, sondern vielmehr damit, warum ein Einzelner Teil dieses Systems werden kann.

Um die Funktionsweise von Herrschaftssystemen zu verstehen, die als totalitär wahrgenommen werden, lohnt zunächst ein Blick auf das Wesen der üblichen staatlichen Bürokratie »mit ihrer unvermeidlichen Tendenz, welche aus Menschen Funktionäre, schlichte Rädchen in den Verwaltungsmaschinen macht, sie also entmenschlicht«.13 In einer perfekten Bürokratie braucht es denn auch keine Gerichtsverfahren mehr, dort können untaugliche Rädchen schlicht gegen taugliche ausgetauscht werden. Die Beliebigkeit menschlicher Beziehungen und die Entmenschlichung von Vorgängen jeglicher Art ist insofern auch eines der Merkmale unserer heutigen Zeit.

Schaffen wir uns eine Übersicht darüber, um welchen Maßnahmenkatalog es geht und was dahintersteht. Maßnahmen seit Beginn der »Pandemie« sind das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen, Abstandsgebote, die Feststellung des eigenen Infektionsstatus mittels verschiedener Testarten, eine Impfung mit einem neuartigen Stoff, Reiseeinschränkungen, Aufenthaltseinschränkungen, Versammlungsbeschränkungen, Einschränkungen des Demonstrationsrechts und der Meinungsfreiheit, Zugangsbeschränkungen zu diversen Einrichtungen und zum Handel sowie zu Übernachtungsangeboten, Einschränkungen bei der Ausübung des Berufes. Alle diese Einschränkungen werden sowohl von Teilen der Exekutive wie auch von Bürgern kontrolliert und umgesetzt. Die Folgen von Verstößen gegen Regelungen, die in Deutschland dem Infektionsschutzgesetz und den Landesregelungen sowie Verordnungen auf Landes- und auf örtlicher Ebene zu entnehmen sind, reichen durch das Maß und die Art der Ahndung teilweise sehr deutlich über die Grenze der Verhältnismäßigkeit hinaus.

Nun ist unbestritten, dass Hannah Arendts Betrachtungen in ihrer Vorlesung »Über das Böse« die Ereignisse des Nationalsozialismus zum Hintergrund haben und die dort begangenen Taten in keinem Verhältnis zu den Ereignissen in Deutschland in den Jahren 2020 und folgende stehen. Die Gräueltaten in der fraglos dunkelsten Zeit in der deutschen Geschichte sind per se nicht dazu geeignet, als Vergleich oder Schablone zu dienen, und sind auch gar nicht erforderlich, um irgendein späteres Ereignis vermeintlich besser zu erklären. Verweise auf Handlungsmuster jedoch sind zulässig und geradezu angebracht, sollten doch gerade die Deutschen aus der eigenen Geschichte nachhaltig gelernt haben. Gerade der Hinweis auf ein Handlungsmuster aus jener dunklen Zeit sollte, so die Lehren aus dem Nationalsozialismus, verhindern helfen, dass so etwas jemals wieder in Deutschland geschehen kann. Es ist also eindeutig, dass eine Gleichsetzung der damaligen mit heutigen Ereignissen unangemessen ist – ebenso einleuchtend ist es aber, dass ein Vergleichen historischer Ereignisse mit aktuellen Geschehnissen eben durchaus einen besonderen Erkenntnisgewinn erbringen kann und damit nicht nur angebracht, sondern vor dem Hintergrund des spezifischen deutschen Geschichte sogar geboten ist. Nur wer vergleicht, kann aus der Geschichte lernen.

Angesichts der Ereignisse im Nationalsozialismus, so Hannah Arendt, konnte »niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, weiterhin behaupten, […] das Moralische versteht sich von selbst«, dazu waren mit der größten Selbstverständlichkeit zu viele unmoralische Taten begangen worden. Was genau ist denn »das Moralische«, und versteht es sich nach wie vor von selbst oder haben wir dieses sichere Verständnis von dem, was moralisch zu nennen wäre, heute ebenso nicht oder nicht mehr?

Hannah Arendt verweist darauf, es bestehe grundsätzlich ein Unterschied, ja eine scharfe Trennung zwischen der Legalität und der Moralität. Sofern diese beiden, das, was im Recht des Landes niedergeschrieben ist, und das, was das moralische Gesetz jeweils verlangt, in Konflikt geraten, dürfe kein Zweifel daran bestehen, »daß das moralische Gesetz im Konfliktfall das höhere und zuallererst zu befolgen wäre«14. Als Quelle moralischen Wissens nennt Arendt entweder die göttlichen Gebote oder die menschliche Vernunft. Jeder Mensch habe, so sei anzunehmen, eine Stimme in sich, die ihm sage, was Recht und was Unrecht ist, und dies unabhängig vom jeweiligen Recht des Landes, in dem er sich aufhalte, und ebenso unabhängig von den Stimmen seiner Mitmenschen. Mit dem von Immanuel Kant eingeführten »kategorischen Imperativ« sei dem Menschen zusätzlich eine Art »Kompass« gegeben, der es der gemeinen Menschenvernunft erleichtern sollte, zu unterscheiden, was gut und was böse sei. Dieses Wissen könne man in der vernünftigen Struktur des menschlichen Geistes oder im menschlichen Herzen verorten, je nach Auffassung. Zudem sei der Mensch nicht nur ein Vernunftwesen, er gehöre auch in die Welt der Sinne, die ihn der Versuchung aussetzen, seinen Neigungen anstatt seiner Vernunft und seinem Herzen zu folgen. Vernunft, Herz, Sinne, mit diesen dreien haben wir bereits ein System vor uns, das als Quelle moralischen Wissens angesehen werden könnte.

Angesichts der von mir als unrecht erlebten Taten im Verlauf der Corona-Zeit stelle ich mir die Frage, wie es sein kann, dass Menschen wegen zum größten Teil geradezu lächerlich banaler Vorfälle derart unmenschlich handelten. Hannah Arendt weist darauf hin, niemand wolle unmenschlich oder böse sein, und jene, die trotzdem böse handelten, fielen in ein »absurdum morale«, in eine moralische Absurdität, die den »Widerspruch des einzelnen mit sich selbst« nur noch verdeutliche. In einer ruhigen Minute müssten diese sich selbst verachten.

Ich sehe das tatsächlich ganz genauso: Die Polizisten, die auf Demonstranten oder Passanten eingeschlagen haben, die lediglich ihr Demonstrationsrecht wahrgenommen haben, die vielleicht dabei tatsächlich keine Mund-Nasen-Bedeckung getragen oder den Abstand nicht eingehalten haben oder die ihre Personalien nicht haben aufnehmen lassen wollen oder sich schlicht nicht von Polizisten haben mitschleifen lassen wollen, diese Polizisten haben vielleicht den Bezugsrahmen verloren und übersehen, wie unverhältnismäßig ihr unmenschliches Handeln angesichts der banalen Handlung der Demonstranten war. Dasselbe gilt für die Schulleiter, die Kinder gezwungen haben, Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen oder sich Tests zu unterziehen. Die Schulleiter, die Kinder nicht in das Schulgebäude gelassen haben, weil die Eltern die Entscheidung getroffen hatten, ihr Kind nicht testen zu lassen, aus welchem Grund auch immer. Die Richter, die Verfahrensbeteiligte nicht in den Gerichtssaal gelassen haben, wenn keine Maske getragen wurde. Die Richter, die Beschuldigte in Ordnungswidrigkeitenverfahren zu einem Bußgeld verurteilt haben, das einen der oben genannten Verstöße zum Gegenstand hatte. Die Arbeitgeber, die einen Arbeitnehmer, der sich nicht testen lassen wollte, nicht an den Arbeitsplatz gelassen haben. Die Zugschaffner, die einen Fahrgast nicht haben befördern wollen, weil eine Maske nicht oder nicht richtig getragen wurde.

All diese Vorfälle sind an Banalität kaum zu überbieten. Inhaltlich geht es dort um nichts. Um einen vorgeblichen Gesundheitsschutz für andere, der höchst umstritten ist. Aber selbst wenn alle Befürchtungen der Ängstlichsten wahr wären, selbst wenn alle Regelungen im Recht normiert wären, selbst wenn an der Rechtmäßigkeit der normierten Regelungen so gar kein Zweifel bestünde, wären dann die Handlungen gegen Zuwiderhandelnde nicht trotzdem unrecht, weil Freiheitsrechte unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Selbst dann müsste dem Einzelnen, der diese Untaten begangen hat, in einer ruhigen Minute mit sich selbst glasklar sein, dass es nicht recht sei, was er tut, und er müsste sich selbst für sein Tun verachten.

Wie kann man erkennen, was das zu tuende Gute und zu unterlassende Böse ist? Wie kann ein moralisches Verhalten hervorgebracht werden? Die Schlüsselaussage bei Hannah Arendt scheint mir zu sein, moralisches Verhalten hänge erstens vor allem vom Umgang des Menschen mit sich selbst ab, und zweitens habe moralisches Verhalten nichts mit Gehorsam gegenüber irgendeinem von außen gegebenen Recht zu tun.15 Der entstehende Widerspruch mit sich selbst kann eben im Gespräch mit sich selbst aufgelöst werden, aber nicht als anschließende Rechtfertigung, sondern vielmehr im Sinne eines Korrektivs. Mit anderen Worten, es hätte jeder, der einen anderen unrecht behandelt hat, erkennen können, ja müssen, dass es ein unrechtes Handeln gewesen ist, selbst wenn dieses Handeln seine Grundlage im gerade geltenden Recht hatte. Hierin liegt der Unterschied zwischen Legalität und Moralität. Moralisches Verhalten hat nichts mit Gehorsam zu tun. Die Pflichten gegenüber sich selbst stehen über dem geschriebenen Recht, insbesondere dann, wenn dieses erkennbar den moralischen Grundsätzen widerspricht. Moralisches Handeln hat mit innerer Stimmigkeit zu tun.

Die menschliche Schlechtigkeit hat, so meine Erkenntnis aus den stillen Tagen in den Schweizer Bergen, wohl eher mit der fehlenden Reflexion als mit einem Willen, Böses zu tun, gemein. Keiner tut das Böse um des Bösen willen, meint Hannah Arendt, und ich schließe mich ihr an. Wenn auch widerwillig, denn die Realität sieht oft so aus, als wäre das anders. Aber auch ich lasse mich durch meine Emotionen täuschen. Nun, eines steht jedoch fest, im Gespräch mit mir selbst vermag ich meine eigenen Handlungen zu spiegeln und so im Ergebnis zu erkennen, ob eine Handlung recht oder ein Zustand gerecht ist. Es gilt also, »das moralische Gesetz in mir«16 zu erkennen. Wer verwerfliche Taten, »skandala«17, begeht, der tut dies häufig gepaart mit oder gespeist aus Verzweiflung, Neid oder einer anderen negativen Emotion dieser Art. Oft müssen wir einen Mangel an Urteilskraft feststellen, der sich auf allen Gebieten zeigt. »Wir nennen ihn Dummheit bei verstandesmäßigen (kognitiven) Angelegenheiten, Geschmacklosigkeit in ästhetischen Fragen und moralische Stumpfheit oder Geisteskrankheit, wenn es sich um Verhalten handelt.«18 Jedoch immer handelt es sich bei Taten des Bösen um solche, die niemals hätten geschehen dürfen.

Nach Kant ist das, was er den »Gemeinsinn« nennt, jener Sinn, der uns in eine Gemeinschaft mit anderen einpasst, so erklärt es Hannah Arendt, und der uns zu Mitgliedern einer solchen Gemeinschaft macht und uns in die Lage versetzt, Dinge zu kommunizieren. Dabei hilft uns die Einbildungskraft, die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, das nicht anwesend ist, und die Repräsentation, also das, was entsteht, wenn ich mehrere Standpunkte anderer in mein Denken mit einbeziehe, mir diese vergegenwärtige und also bei meinem Urteil berücksichtige. Nach Immanuel Kant sind hierbei drei unwandelbare Gebote zu beachten: »1) Selbst denken. 2) Sich (in der Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes Anderen zu denken. 3) Jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.«19

Bei unserem Urteilen beziehen wir uns üblicherweise auf Erfahrungen, Beispiele, Vorbilder in guter wie in schlechter Hinsicht. Wir urteilen und unterscheiden Recht und Unrecht, indem wir in unserem Kopf zeitlich und räumlich abwesende Personen oder Fälle gegenwärtig haben, die zu Beispielen geworden sind. Dabei sind die Wahl der Beispiele und die Wahl des Umgangs von entscheidender Bedeutung. Und so kommt Hannah Arendt am Ende ihrer vier Vorlesungen über das Böse zu der Erkenntnis,

»daß unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft, von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, abhängen werden. Und noch einmal: Diese Gesellschaft wird durch Denken in Beispielen ausgewählt, in Beispielen von toten oder lebenden wirklichen oder fiktiven Personen und in Beispielen von vergangenen oder gegenwärtigen Ereignissen. In dem unwahrscheinlichen Fall, daß jemand daherkommen könnte und uns erzählen, er würde gerne mit Ritter Blaubart zusammensein, ihn sich also zum Beispiel wählen, ist das einzige, was wir tun können, dafür zu sorgen, daß er niemals in unsere Nähe gelangt. Doch ist, so fürchte ich, die Wahrscheinlichkeit weitaus größer, daß jemand kommt und uns sagt, es sei ihm egal, jede Gesellschaft wäre ihm gut genug. Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. Und damit verbunden und nur ein bißchen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen ›skandala‹, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht werden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.«20

Auf diese Weise wird verständlich, warum Menschen in Abhängigkeit von sozialer Anerkennung und persönlicher Vorteilssuche den inneren Dialog aussetzen und sich einer Masse von Mitläufern und Mittätern anschließen.

In den Schweizer Bergen war ich mit mir allein, ich glaubte anhand der Lektüre Hannah Arendts zu erkennen, worin das Problem der unterschiedlichen Bewertung ein und desselben Sachverhaltes liegt, das uns gegenwärtig so zu schaffen macht. Während ein Teil der Menschen sich in die Gesellschaft einer skrupellosen Politmafia mit verdeckten Zielen begeben hat und entweder aus Mangel an Urteilskraft, aus Bequemlichkeit oder aus Verwirrung des eigenen Werte- und Moralkompasses oder aber aus Verweigerung des Selbstgesprächs die rechte Richtung, den Weg zu dem, was recht ist, was an sich von jedermann als das rechte Handeln erkannt werden müsste, verloren zu haben scheint, hat ein anderer Teil dieses Zwiegespräch mit sich selbst glücklicherweise noch nicht verlernt und praktiziert es nach wie vor. Diese beiden Lager stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber und es stellt sich die Frage, ob eine Versöhnung zwischen den Lagern überhaupt noch möglich sein wird.

Bei einem solchen Gespräch mit sich selbst steht man gleichsam neben sich, man beobachtet sich wie ein Außenstehender, und dabei prüft man das, was man beobachtet, kritisch. So wird für einen selbst erkennbar, ob das eigene Handeln noch recht ist oder schon außerhalb der eigenen Grenzen liegt. Indem ich mich um mich selbst kümmere, bleibe ich mir nahe und verwechsle nicht fremde Ziele mit den eigenen. Indem ich bei mir selbst bleibe, respektiere ich dennoch die Grenzen der anderen. Dieses Gesetz kann auch zum Gesetz für andere werden – auch und nicht nur in dieser Hinsicht eine auffällige Übereinstimmung mit Kant.

Das Gespräch mit mir selbst, das Vermögen, mich außerhalb von mir selbst stehend beobachtend zu beurteilen, die rechte Gesellschaft, dazu der innere Kompass einer unverrückbaren Werteordnung, die mir selbst entspricht, die Beschränkung auf das eigene Ziel – dies sind die Grundlagen für eine wahre Befähigung, Recht von Unrecht zu unterscheiden.

DAS RECHTE VOM UNRECHTEN UNTERSCHEIDEN

Ich stehe vor dem Bäckerladen. Wie immer am Samstag bildet sich morgens eine lange Schlange, im Laden befinden sich schon mindestens zehn Leute. Dichtes Gedränge also im und vor dem Geschäft. Der Laden liegt direkt an einer Straße, Kunden des Bäckers können auf einem der gekennzeichneten Plätze davor parken. Ein Auto fährt vor. Der Fahrer stoppt auf einem der freien Plätze und steigt aus. Er hat den Motor seines Wagens nicht ausgemacht. Dichte Rauchwolken quellen aus dem Auspuff und lösen sich in quirligen Püffchen ganz langsam nach oben hin auf. Ein genussvolles Tuckern und Klackern dringt aus dem geräumigen Motorraum und stört die Stille der geduldig Wartenden nicht. Als er sich ans Ende der Schlange stellt, dauert es nicht lange, bis sich die Ersten vor ihm umdrehen. Dunkle Blicke werden ausgetauscht. Vorsichtshalber versichern sich einige der Brötchenkäufer mittels Blickkontakt des gegenseitigen Einvernehmens. »Wollen Sie den Motor nicht ausmachen?«, spricht ihn ein Herr mittleren Alters an. Zwei andere, eine Frau um die dreißig und ein Familienvater mit zwei Kindern, nicken ihm zustimmend zu. Der Herr mittleren Alters bin ich.

Was ist hier passiert? Die Szene spielte sich so vor einigen Jahren ab. Weit vor Corona. Irgendwann wird es eine Zeitrechnung »v. C.« und »n. C.«, also vor und nach Corona, geben. Aber dazu später. Ähnliche Szenen wie die oben beschriebene werden wir vermutlich alle kennen. Eine Gruppe steht beisammen, jemand kommt hinzu, verhält sich nach Ansicht der Gruppe falsch, und die Gruppe reagiert so, wie man es als Gruppe eben macht: Man versichert sich gegenseitig der Übereinstimmung, einer tritt hervor und klagt den, der hinzugekommen ist, der falschen Handlung an und erntet dafür die Zustimmung der Gruppe. Ein sich selbst verstärkendes Ritual.

Doch nehmen wir uns dieses Beispiel einmal genauer vor. Hat hier der Autofahrer, der den Motor seines Wagens laufen lässt, »falsch« gehandelt? Was ist falsch an seinem Handeln? Unterliegt man der Annahme, dass ein laufender Motor wegen der Abgase die Umwelt verpestet, und nimmt man ferner an, das dürfe nicht sein, die Umwelt gehöre nicht verpestet, sie gehöre vielmehr sauber gehalten, dann, ja dann könnte der Schluss richtig sein, der Autofahrer habe den Motor seines Wagens auszumachen. Das gebiete die Solidarität mit den Lebenden und vor allem mit den noch nicht Geborenen.

Ich war über meine eigene Handlung, genauer, über meinen Mut, aus der Schlange der Wartenden herauszutreten und den Mann vor Publikum anzusprechen, erschrocken. Wenige Tage später berichtete ich einem Freund von der Szene. Zu meinem nicht geringen Erstaunen war dieser auf dem Gebiet der Automobiltechnik bewandert und belehrte mich sogleich fachkundig, dass ein Motor, der abgestellt und sodann nach wenigen Minuten wieder gestartet werde, ungleich mehr Abgase produziere und verbreite als ein beständig vor sich hinlaufender Motor. Ich kam ins Grübeln. Hatte ich recht gehandelt?

Was genau war es, das mich veranlasste, in das Handeln eines anderen einzugreifen? War es die eigene Überzeugung von einem gewissen Standpunkt? Die Kenntnis aller damit verbundenen relevanten Tatsachen, der vollständige Überblick über einen Sachverhalt, der mir eine übergeordnete Position verschaffte und so ermöglichte, ein viel besseres Urteil über eine situativ zu treffende Entscheidung abgeben zu können, als ich es demjenigen zutraute, der selbst vor der Entscheidung über sein eigenes Handeln stand?

Oder war es ein diffuses Überlegenheitsgefühl im Schutze der Gruppe, deren Einverständnis und Übereinstimmung ich mich zuvor durch gezielten (oder unbewussten) Blickkontakt versichert hatte? Bot mir gerade das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit, ja vielleicht sogar bereits das Gefühl der Zugehörigkeit zur Majorität, zur Mehrheitsmeinung, genau den benötigten Mutzuwachs, um aus der Masse der Wartenden heraustreten und den abseitigen Mann ansprechen, tadeln, zurechtweisen zu können?

Ich merkte, ich musste mir darüber bewusst werden, was genau geschehen war und was womöglich im Hintergrund abgelaufen war, damit ich bei einer ähnlichen Gelegenheit nicht wieder in dieselbe »Falle« tappen würde. Der Vorfall selbst betraf zum Glück keinen Lebensvorgang der elementaren Art, es ging weder um Leben noch um Tod, allenfalls im indirekten Sinne, wenn man annehmen wollte, dass das wenn auch geringe Autoabgas seinen Teil zum Sterben des Planeten beitragen konnte. Für den Moment würde der Planet das Handeln des Autofahrers jedoch vermutlich überleben. Aber was, wenn jeder so handeln würde?

Wo gesellschaftliche Mehrheitsmeinungen herrschen, kommt die individuelle Freiheit oft zu kurz. In der Wirkmacht dessen, was sich uns täglich als »die Gesellschaft« offenbart, spiegeln wir unsere eigenen Ansichten unablässig. Die Gesellschaft ist der Meinung, dass … In der Gesellschaft hat sich die Auffassung herausgebildet, wonach … Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse sollte … Der Schutz der Umwelt ist ein gesamtgesellschaftliches Ziel. Und so weiter. Die Gesellschaft und das, was wir dafür halten mögen, ist jedoch ein unmögliches Konstrukt. Sie ist ein dämonisches Trugbild – zu fürchten, aber nicht existent. Wer bildet heraus, was »die Gesellschaft« von uns verlangt? Wo steht geschrieben, was gesellschaftlich relevant und dagegen irrelevant ist? Oder handelt es sich nicht vielmehr um ungeschriebene Regeln »der Gesellschaft«? Kann ich sie als Einzelner beeinflussen? Wer nimmt überhaupt Einfluss auf oder schafft gesellschaftliche Normen?

Ich war mir plötzlich unsicher, ob der Schutz unserer Umwelt und unserer Atemluft tatsächlich davon abhängen könnte, ob ein einzelner Autofahrer seinen Wagen mehrere Minuten lang unnötig laufen lässt. Vor allem war ich mir unklar darüber, ob es mir erlaubt sein könne, einen solchen Autofahrer auf sein gesellschaftlich geächtetes Fehlverhalten aufmerksam zu machen. War ich hierfür denn überhaupt genug informiert? Oder hätte ich nicht vielmehr ihm selbst die Entscheidung darüber überlassen müssen, ob und wann er den Motor seines Wagens abstellt? Wie wäre es mir selbst dabei gegangen, von einem anderen auf etwas aufmerksam gemacht zu werden, was ich doch ganz offenkundig für vollkommen richtig und »normal« halte – denn sonst hätte ich es ja nicht gemacht? (Außer ich hätte in einem Moment der Gedankenlosigkeit eine »falsche« Entscheidung getroffen, dann hätte ich mich für den berichtigenden Hinweis sicher schnell bedankt.) Wäre es mir angenehm gewesen, so vorgeführt und berichtigt zu werden? Geht es überhaupt darum, ob eine Situation für jemanden angenehm ist, oder geht es nicht vielmehr um das, was die Gesellschaft von einem jeden tagtäglich einfordert: Solidarität?

In einem Gemeinwesen steht das kodifizierte Recht in Ergänzung und in produktiver Spannung zu außerjuristischen Instanzen normativer Ansprüche. Wenn in der Rechtsgemeinschaft eine außerrechtliche Norm durch entsprechenden Rückhalt, der sich durch eine Mehrheit oder wenigstens durch starke partikulare Kräfte äußert, nach und nach an Einfluss gewinnt, dann mag am Ende sogar eine Durchsetzung der außerjuristischen Norm gegen das garantierte Recht möglich sein und in eine formal im Rechtsrahmen verlaufende Gesetzesänderung oder gar in eine Revolution münden. Hierbei geht es jedoch zunächst noch nicht um ein Richtig oder Falsch, sondern lediglich um einen mehr oder minder stillen Wandel, den man persönlich gut oder schlecht, vorteilhaft oder nachteilig finden mag. Dieser Wandel ist zunächst jedoch ein Ausdruck der Realität, wie die Wirkungsmodalitäten von Normen eben Realitäten sind und sich nicht auf begrifflichem Wege aus der Welt schaffen lassen.

Über die Frage des richtigen oder falschen, gerechten oder ungerechten Rechts entscheidet ein anderes Spannungsverhältnis. Das kodifizierte, garantierte Recht steht eben auch in einem Spannungsverhältnis zu dem, was wir als moralisch Gutes oder Sittliches bezeichnen. Wenn das garantierte Recht und die Gerechtigkeit in einen Widerstreit geraten, dann ist persönlicher Einsatz gefragt und dann ist eine Lösung nur durch die Nutzung des inneren Kompass als Ort der Selbstvergewisserung durch ein Gewissensgespräch und eine Gewissensprüfung zu erreichen.

Eine wichtige Unterscheidung scheint mir somit die zwischen dem funktionalen kodifizierten Recht und einem ethischen Recht zu sein. Man kann aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln näher auf die Natur des Rechts sehen. Vermittels einer pragmatischen Perspektive kann das Recht als nur für den Konfliktfall geschaffenes Regelwerk betrachtet werden, weil in einem solchen Rechtsraum ein großes Zutrauen in die Freiheit und Verantwortung der Menschen und der sie kulturell tragenden Orientierungen vorherrscht. Diese Perspektive ist die eindeutig von mir bevorzugte, um dies vorwegzunehmen. Das Recht hat im Zweifel gegenüber der Freiheit des Einzelnen zurückzutreten. Bei der anderen, der systematischen Perspektive wird angenommen, das Recht sollte einerseits nicht im Widerspruch zu den kulturellen Grundorientierungen stehen, darf dabei aber auch kein bloßes Abbild der kulturellen Orientierungen sein, da wir dann eine Moralisierung des Rechts erhielten, die zu vermeiden ist.

Zur Klarstellung sei angefügt: Ungewünscht ist sowohl eine Moralisierung des Rechts wie auch umgekehrt eine Verrechtlichung der Moral, vielmehr sollte eine fortwährende produktive Spannung zwischen beiden bestehen. Als negatives Beispiel aus der jüngsten Zeit ließe sich die Klimarechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anführen, die diese notwendige und wünschenswerte Spannung zwischen Recht und Moral aufgibt und auf eine Form des juristischen Totalitarismus zurückgreift, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen beziehungsweise juristisch zu rechtfertigen.

Um Licht in dieses Verstrickungsdunkel zu bringen, werden im Folgenden die außerjuristischen Instanzen im Hinblick auf das Gute vorgestellt. Dabei sollen zum einen ihre orientierende Kraft wie auch ihr Versagen oder ihre Schwäche gegenüber dem Machtimpuls des Corona- Regimes sichtbar werden. Und grundsätzlicher noch soll dadurch unterstrichen werden, warum diese außerjuristischen Instanzen allein nicht ausreichend sind und wir einerseits zwar des kodifizierten Rechts bedürfen, andererseits aber dabei die Verantwortung, unseren inneren Kompass zu nutzen, um die Gerechtigkeit fortwährend zu verteidigen, nie aufgeben dürfen.

ROLLENKONFORMITÄT VERSUS INNERER KOMPASS

Wofür brauchen wir innere Maßstäbe? Ist denn nicht durch die Gesellschaft alles bereits entschieden und geregelt? Genau deshalb nennt der Soziologe Ralf Dahrendorf in seinem 1959 erschienenen Buch Homo Sociologicus die Gesellschaft eine »ärgerliche Tatsache«, weil sie den Individuen und ihrem Streben stets zuvorkommt, diese bevormundet und den Einzelnen durch diese Bevormundung dazu bringt, sich durchweg so zu verhalten, wie es die Gesellschaft von ihm erwartet: rollenkonform.21

Menschen setzen sich Tag für Tag über Regeln und Konventionen hinweg. Ein jeder folgt in erster Linie dem eigenen inneren Kompass und handelt so, wie er selbst es für recht und richtig hält, so meine erste Überlegung. Regeln stören da meist nur, wenn man dem eigenen Regelwerk folgen möchte. Aber stimmt das denn tatsächlich auch? Oder hat sich in dem Augenblick, wo man dem eigenen Weg zu folgen glaubt, nicht bereits etwas anderes, Stärkeres, ein graues Gebilde namens »gesellschaftliche Konventionen«, trübend vor die Linse geschoben, sodass man jetzt nur noch tun kann, was die grobe Linie der Gesellschaft ist und was bereits verdeckt, was man selbst für richtig hält? Wird das, was der eigene Kompass anzeigt, in jedem Fall auch sichtbar oder lässt sich die Nordnadel durch eine überdeckende Schablone verschleiern?

Die Frage ist: An welchem Punkt wird das Dem-eigenen-Kompass-Folgen für andere zur Belastung? Wann greife ich in den Freiheitsraum des anderen ein? Und was nun genau lässt mich in das Handeln eines anderen eingreifen? Was lässt einen zuweilen denken, man selbst könne dies und das besser, richtiger beurteilen, als der andere dies kann? Was löst den Schritt aus, sich in Handlungen anderer einzuschalten und dabei das Ziel zu verfolgen, deren Handeln dem eigenen Navigationssystem unterzuordnen, anstatt zu dulden, dass andere abweichende Verhaltensentscheidungen treffen? Entscheidungen, die uns manchmal nicht gefallen mögen, aber die uns in den meisten Fällen doch nicht direkt tangieren. Wie viel Raum besteht um mich herum für ein freies Handeln anderer? Wie viel Raum gestehe ich ihnen zu, welchen Raum fordere ich für mich selbst ein? Am Ende geht es auch hier um die Frage: Was ist recht, was ist gerecht?

Der eigene innere Kompass benötigt regelmäßig Zeit, um sich auszurichten, ähnlich dem wirklichen Kompass, dessen Nadel sich in leichten Schwingbewegungen allmählich auf Nord stellt. Dieses Einschwingen nachvollziehend, schwanken wir zuweilen auch hin und her und müssen uns erst einnorden auf das, was uns als die gewissenhafteste Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten erscheint. Unser innerer Kompass richtet sich also auch durch das Gewissen aus. Das Gewissen irrt nie, heißt es. Gleichzeitig werden die schlimmsten Taten »mit einem reinen Gewissen« begangen. Mit dem Wort »Gewissen« sind sehr verschiedene Vorstellungen verbunden. Woher kommt das Gewissen? Offenbart es die Seele, das Innerste des Menschen? Ist es bloß das Produkt unserer Sozialisationsgeschichte oder das aufgeblähte Über-Ich der Psychoanalyse?

Mit Kant bezeichnen wir das Gewissen als praktische Vernunft, der die Aufgabe einer sich selbst richtenden moralischen Urteilskraft zukommt. Das Gewissen unterscheidet Handlungen danach, ob der Mensch etwas aus Neigung oder um des Guten willen tut. Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde bezeichnet das Gewissen als »innerstes Zentrum der Persönlichkeit und ihrer Freiheit«22.

Allgemein wird das Gewissen als besondere Instanz im menschlichen Bewusstsein angesehen, die beeinflusst, wie man urteilen soll, was man ausführen und was man unterlassen soll. Das Gewissen zeigt an, ob eine Handlung mit dem übereinstimmt, was der Mensch als für sich richtig und stimmig ansieht. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Schon bei Sokrates warnt eine innere Stimme vor falschen Handlungen. »Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an geschehen, eine Stimme nämlich, welche jedes Mal, wenn sie sich hören lässt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat sie mir nie.«23 Bei dieser »inneren Stimme« handelt es sich um etwas Göttliches, um etwas Daimonisches.

Was ist Sokrates und einem Selbstmordattentäter gemeinsam?24 Beide sind bereit, für etwas zu sterben. Beide halten das, für das sie zu sterben bereit sind, für sinnvoll. Sokrates geht aus Achtung vor den Gesetzen Athens in den Tod,25 der Selbstmordattentäter tötet sich und unschuldige andere Menschen um eines Zieles willen, das er für gut hält. Sokrates handelt aus gutem Gewissen, der Selbstmordattentäter aus irrendem Gewissen. Dem irrenden Gewissen ist jedes Mittel recht zur Erlangung seines Zieles. Das irrende Gewissen wird so zur »Einfallstelle des Bösen«26. Demgegenüber verfügt Sokrates über eine innere Stimme, die ihm sagt, was für ihn selbst gut und was zugleich für das Gemeinwesen gut sei. Es handelt sich um eine »Einsicht in das Für-ihn-Gute«27. Sokrates erkannte damit den Richterspruch an, obwohl die Urteilsfindung und die Rechtsprechung miserabel waren.

Für Hannah Arendt wiederum ist das Gewissen zunächst ein Ausdruck der Konvention, die sich zuweilen auch in Gehorsamshaltungen zeigen kann. Das für sie nahe liegende historische Beispiel ist der Gehorsam gegen das Gewissen als funktionierende Garantie, mit dem laufenden politischen Mehrheitsprozess übereinzustimmen. »Das Gewissen also konnte sehr gut von den Nazis oder von jedem anderen gebraucht werden: Es entspricht immer und richtet sich immer nach der Realität […].«28 Zuvor hatten die Nationalsozialisten die Realität entsprechend verändert, indem sie eine Umwertung der Werte vorgenommen und neues Recht installiert hatten. »Unter der Verkehrung, die das neue Recht Hitlers herbeiführte, wurde das Böse den Deutschen zur Handlungsregel. […] Ein gegen das legale Unrecht rebellierendes Gewissen ist entweder den Werten und Zeitgenossen der Vergangenheit oder der Zukunft verhaftet.«29

Genau hier liegt der Hase im Pfeffer: Das eigentliche Unrecht war zu Recht erklärt worden, dementsprechend musste, wer dem nun legalen Un-Recht folgen zu müssen glaubte, seinem neu ausgerichteten Gewissen folgen. Und durfte nun dies für seine legitime innere Stimme halten – ohne Gewissensbisse bekommen zu müssen.

Andere folgten damals dem Un-Recht nicht. Ihnen erlegte die innere Stimme, ihr unbestechliches Gewissen, Handlungsgrenzen auf. Später, im Denktagebuch, notiert Hannah Arendt mit Blick auf Sokrates: »Gewissen: Fundamental sind weder göttliche noch menschliche Gebote, sondern das sokratische ›mit sich selbst Übereinstimmen‹. Daraus entspringt in der Logik der Satz vom Widerspruch und in der Ethik der Begriff des Charakters. Vorausgesetzt ist Denken als die Tätigkeit des einsamen Zwei-in-Einem. Dies ist der sogenannte ›Rationalismus‹ des Sokrates.«30 Oder an anderer Stelle: »Dies ist der Inhalt der Sokratischen Lehre. Sich selbst nicht unrecht tun!, wie man Anderen nicht unrecht tut!«31 Und umgekehrt.

Der Begriff des Gewissens hat nach 1945 im Recht einen bedeutsamen Stellenwert erlangt. So findet er sich wieder in Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG), wo es heißt: »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.« Den Begriff der Gewissensentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht an einem seiner besseren Tage in einem wichtigen Urteil in genau diesem Sinne des Artikel 4 Absatz 3 GG definiert als »jede ernste sittliche, das heißt an den Kategorien von ›Gut‹ und ›Böse‹ orientierten Entscheidung, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte«32.

Wenn ich aufgrund gezielter Desinformation falsche Schlüsse ziehe, dann hat das Gewissen keine Chance. Das Hygieneregime hat das Gewissen ebenso wie das Mitleid missbraucht. Keinesfalls möchte man gegen den Rat der Gewissensinstanz für den Tod der Oma verantwortlich sein, wie dies unseren Jüngsten schon sehr früh eingetrichtert wurde. Diese sehr verwerfliche Propaganda machte den natürlichen Prozess von Krankheit und Tod zu einem Fall einer Gewissensentscheidung des Einzelnen. »Kinder und Corona: Meine böse Hand bringt die Oma um« lautete eine Schlagzeile in einer bayerischen Lokalzeitung, die das Problem ziemlich auf den Punkt bringt.33

Das Gewissen hat auch eine andere Seite, eine negative. Bei Friedrich Nietzsche wendet sich das gute Gewissen, das einen vor üblen Taten bewahrt, zum »schlechten Gewissen«: »indem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaassen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Busse, der Gedanke ihrer Unbezahlbarkeit (der »ewigen Strafe«) concipirt ist«34.

Üblicherweise fühlt man sich gut, wenn man nach seinem guten Gewissen handelt. Umgekehrt fühlt man sich schlecht, wenn man ein schlechtes Gewissen hat, man trägt eine Schuld, die man nicht abtragen kann. »Die schlimmsten Fehler werden gemacht in der Absicht, einen begangenen Fehler wieder gutzumachen«, soll Jean Paul gesagt haben. Noch schöner bringt es Blaise Pascal auf den Punkt: »Niemals begeht man das Böse so gründlich und so freudig, als wenn man es aus Gewissen tut.«35

Ich hatte bereits zuvor davon gesprochen, dass überhaupt nichts daran auszusetzen ist, wenn man dem eigenen Kompass als moralischer Richtschnur folgt und dabei sich selbst von außen im Selbstgespräch beobachtet und notfalls korrigiert, als ich auf Hannah Arendt verwies und den Ort der Selbstvergewisserung beschrieben habe. Die von ihr geforderte Gewissensprüfung nehme ich regelmäßig vor, um ein Gewissensgespräch in Gang zu halten. In diesem Dialog pendelt sich die Kompassnadel noch ein, um sich schließlich am Guten zu orientieren. In diesem Buch lasse ich Sie teilhaben an den Pendelbewegungen meines inneren Kompasses, indem ich an einzelnen Stellen das mit mir selbst geführte Gewissensgespräch verschriftliche. Gleichzeitig lade ich Sie ein, Ihrerseits in ein Gespräch mit Ihrem Gewissen einzusteigen, welches angestoßen wird von den Praxisbeispielen und einer Topografie der kulturellen Landmarken, die wir für unsere moralische Orientierung brauchen: das Mitleid, das Gewissen, die Moral, Brauch und Sitte, die Normen der Gesellschaft, die Natur, die Vernunft, die göttlichen Gebote und die Macht.

Am Meer sitze ich allein auf einem Stein und schaue den Wellen beim Branden zu. Ich sitze auf einem Stein und möchte vor allem eines: in Ruhe gelassen werden.

Dies ist das Leitbild, um das es mir seit meinem 16. Lebensjahr geht. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich damals mit einer Ausgabe von William Shakespeares Dramen in meinem Zimmer auf dem Fensterbrett saß und auf die Straße schaute. Zugegeben, kein Meerblick, aber es gab niemanden, der mich störte.

Seither ist viel passiert. Zahllose Menschen haben mit reichlich Energie versucht, mich aus meiner Ruhe zu bringen. Oft, sehr oft, ging es ihnen darum, mir vorzuschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe. Viele unsinnige Regeln sind mir dargeboten worden. Einige wenige erschienen mir dagegen sinnvoll. Sie habe ich befolgt, es stellte sich so etwas wie echte Überzeugung ein. Umgangsformen, also beispielsweise im Bus jemandem seinen Sitzplatz anbieten, der deutlich älter ist als man selbst oder schwanger. Oder Tischmanieren als Geste der Höflichkeit und Würdigung des Mahles und der Mühen der Gastgeber. Die allermeisten Regeln der Gesellschaft aber blieben mir ein Rätsel, da sie mich buchstäblich ratlos zurückließen.

Mein Stein ist mir heilig. Ich will in Ruhe gelassen und nicht mit Regeln überhäuft werden.

In seinem »Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht« aus dem Jahr 1969 mit dem vielsagenden Untertitel »Eine kleine Dramaturgie der Politik« erzählt Friedrich Dürrenmatt eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht neu.

»Der Prophet Mohammed sitzt in einer einsamen Gegend auf einem Hügel. Am Fuße des Hügels befindet sich eine Quelle. Ein Reiter kommt. Während der Reiter sein Pferd tränkt, fällt ihm ein Geldbeutel aus dem Sattel. Der Reiter entfernt sich, ohne den Verlust des Geldbeutels zu bemerken. Ein zweiter Reiter kommt, findet den Geldbeutel und reitet damit davon. Ein dritter Reiter kommt und tränkt sein Pferd an der Quelle. Der erste Reiter hat inzwischen den Verlust des Geldbeutels bemerkt und kehrt zurück. Er glaubt, der dritte Reiter habe ihm das Geld gestohlen, es kommt zum Streit. Der erste Reiter tötet den dritten Reiter, stutzt, wie er keinen Geldbeutel findet, und macht sich aus dem Staube. Der Prophet auf dem Hügel ist verzweifelt. ›Allah‹, ruft er aus, ›die Welt ist ungerecht. Ein Dieb kommt ungestraft davon, und ein Unschuldiger wird erschlagen! ‹ Allah, sonst schweigend, antwortet: ›Du Narr! Was verstehst du von meiner Gerechtigkeit! Der erste Reiter hatte das Geld, das er verlor, dem Vater des zweiten Reiters gestohlen. Der zweite Reiter nahm zu sich, was ihm schon gehörte. Der dritte Reiter hatte die Frau des ersten Reiters vergewaltigt. Der erste Reiter, indem er den dritten Reiter erschlug, rächte seine Frau.‹ Dann schweigt Allah wieder. Der Prophet, nachdem er die Stimme Allahs vernommen hat, lobt dessen Gerechtigkeit.«36

Dürrenmatt triumphiert geradezu, indem er ausruft, dies sei eine ideale, positive Geschichte. Eine amoralische Geschichte stellt sich als eine moralische heraus. Und ja, so ist es wohl hier auf den ersten Blick. Was ungerecht erschien, ungerecht in höchstem Maße, das entpuppt sich mit mehr Wissen als gerecht, als moralisch richtig. Was der Prophet zunächst beobachtet, ist ein ungerechter Vorfall. Aber er greift nicht in das Geschehen ein, sondern belässt es bei der Beobachtung. Er kommt von seinem Beobachtungshügel gleichsam nicht herab. Stellen wir uns den Propheten (so wie Dürrenmatt es im Vortrag im Weiteren tut) als Wissenschaftler vor, der das Verhalten der Menschen grundsätzlich nur von außen beobachtet anstatt einzugreifen (!), um das Resultat seiner Beobachtung nicht zu verfälschen (!), so wird einem solchen Wissenschaftler das Verhalten aller drei Reiter für sich genommen plausibel erscheinen. Wer einen Geldbeutel findet, lässt diesen gemeinhin nicht liegen, sondern nimmt ihn als herrenlos erkannt sogleich an sich. Weit und breit war ja schließlich kein anderer da, der Ansprüche auf den Geldbeutel geltend gemacht hätte. (Oder hätte der zweite Reiter den Geldbeutel liegen lassen sollen, damit dieser von dem rechtmäßigen Eigentümer später, nach Entdeckung seines Verlustes, hätte wieder aufgefunden werden können?) Und ebenso »natürlich« mag es dem Beobachter erscheinen, dass der erste Reiter den dritten, den er für einen Dieb hält, stellen und für den Diebstahl bestrafen möchte. (Oder hätte er ihn fragen und ihm bei Verneinen des Diebstahls vertrauen und glauben sollen? Wem kann man heutzutage schon vertrauen?) Mord oder die Tötung eines anderen allerdings erscheinen aus heutiger Sicht kulturell nicht als das rechte Mittel, möchte ich hier sicherheitshalber anfügen.