Cotus - Noin T. Joynds - E-Book

Cotus E-Book

Noin T. Joynds

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Beschreibung

Das Licht am Ende des Tunnels sollte nach dem eigenen Ableben wenig erstaunen. Aber was kommt danach? Ein Agnostiker mit Sinn für Respektlosigkeiten und Humor findet sich nach seinem Hinscheiden im Jenseits wieder - Angesicht in Angesicht mit dem "Schöpfer", der keinesfalls "Gott" genannt werden will. Letzterer erklärt sich - vielleicht aus Langeweile? - zu einer Führung durch die verschiedenen Varianten des Jenseits bereit, bevor die Entscheidung über das endgültige Schicksal der Seele zu treffen ist.

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Seitenzahl: 539

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-673-3

ISBN e-book: 978-3-99130-674-0

Lektorat: Falk-M. Elbers

Umschlagabbildung: Noin T. Joynds

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Prolog

Wie kann sich Tod nur so lebendig anfühlen?

Verflogen die eisige Last des Greisentums, des elenden Dahinsiechens. Das von milchigen Schlieren durchzogene, schummrige Augenlicht. Ich atme tief und mühelos durch. So richtig, nicht nur hoffnungslos das lustlose Zwerchfell bemühend. Volle Denkleistung meldet sich unerwartet und eifrig zurück zum Dienst, mit der Klarheit und Vitalität einer längst vergessenen Epoche.

Die Rückseite der Hand vor meinen Augen ist endlos faszinierend. Verblasst die bräunlichen Altersflecken, verschwunden die grauen Härchen und kraterartigen Poren. Ich spreize die Finger – kräftige Sehnen anstelle grotesk hervorstehender Stränge. Filigrane Verästelung elastischer Venen ersetzt wulstige, bläulich schimmernde Aufputzleitungen.

Prüfend streichle und kneife ich die Haut mit erstarkten Fingern. Kollagengesättigtes, faltenfreies Gewebe ersetzt papierene Dünnheit. Das sich durch den Druck bereitwillig auftürmende Gebirge streckt sich beim Loslassen innert Sekunden, das Gewebe fügt sich widerstandslos dem Mandat jugendlicher Geschmeidigkeit.

Ich balle die Faust, drehe sie bewundernd. Die Finger falten sich geschmeidig, die Spitzen erreichen problemlos die Mitte der Handfläche. Vor kurzem ein Ding der Unmöglichkeit. Der Daumen legt sich als Siegel quer über die Knöchel. Vor kurzem ein Ding der Unmöglichkeit. Ich spreize und balle die Faust mehrmals. Reibungslos, bestens geschmiert, wie auf Kugeln lagernd. Vor kurzem ein Akt der Agonie.

Ich versichere mich erneut, dass es sich tatsächlich um meine verjüngte Hand handelt. Mein Blick folgt dem Fluss des Gliedes über Unterarm und Ellbogen bis zur Schulter. Yep. Eindeutig an mir befestigt. Damit meine Hand.

Ein die wundersame Verjüngung bestätigender Spiegel wäre jetzt höchst willkommen. Ich schmunzle: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Jüngste in diesem … Jenseits?“

Ich werfe einen weiteren prüfenden Blick auf den schummrigen Tunnel und das lockende Licht. Weiterhin kein Empfangskomitee in Sicht. Gut. Ich bin nicht in besonderer Eile.

Ich taste mich weiter neugierig ab, knete mein Gesicht. Es meldet satte, samtig gefettete, faltenfreie Bedingungen. Nase und Ohren scheinen nicht mehr ganz so prominent vorzustechen? Und die früher im Badezimmerspiegel leichte Abscheu auslösenden, ungehemmt sprießenden Nasen- und Ohrenhaare haben sich offensichtlich ohne Einsatz eines Trimmers zurückgezogen? Perfekt. Denn ich habe keinen dabei.

Was ist mit meinem Haar? Ich streife mit den Fingern durch den Schopf. Kein großer Unterschied zu bemerken, Haar ist Haar. Vielleicht etwas kräftiger? Ich versuche, eine Strähne ins Blickfeld zu ziehen, schiele nach oben, aber aufgrund des Kurzschnitts kann ich die aktuelle Färbung nicht erkennen.

Nun denn, Opfer müssen gebracht werden! Ich zupfe einen zufällig ausgelosten Vertreter der versammelten Mannschaft aus. Autsch! Merke: Schmerzempfinden funktioniert noch. Vier weitere, strategisch verteilte Proben glänzen ebenfalls in sattem Braun, keine Spur mehr von „würdevollem“ Weiß. Ich befühle die peinliche, kahle Stelle am Hinterkopf – sieh an! Beziehungsweise spüre: dicht besiedelt! Sogar die oft vernachlässigten hohen Geheimratsecken über der Stirn scheinen das intensive Einreiben mit Sonnencreme nicht länger nötig zu haben.

Während ich meinen „todsicher“ verjüngten Körper staunend weiter erkunde, straffe Muskulatur und spurlos verdampften Hängebauch bewundere, schleicht sich ein diffuses Gefühl der Unausgewogenheit ein. Das Missverhältnis zwischen der vitalen Physis eines Mittdreißigers und dem Geist eines eben noch todkranken, leicht verbitterten Greises wirkt desorientierend, befremdend. Unpassend, etwa wie ein neunzigjähriger Junggeselle in dieser einfältigen, hormon- und adrenalingesättigten Inszenierung der frühen 2000er, „Der Bachelor“.

Versuchen wir einige Schritte. Und tatsächlich, ich schlurfe weiterhin vorsichtig, wage es kaum, die Fußsohlen vom Erdboden zu lösen. Die Arme sind dabei vorsichtig leicht nach vorn und zur Seite gespreizt. Die Hände juckt es, die tröstenden Griffe eines Rollators zu umspannen. Die eingebrannten Bewegungsmuster eines Greises. Es wird wohl etwas Übung benötigen, das Bewegungsrepertoire dem verjüngten Körper anzupassen, seine Möglichkeiten voll zu nutzen.

Ich schmunzle. Wohl ein Fall überreifen Weines in neuen Schläuchen.

Ein (geschmeidiges) Zucken der Schultern. Nichts zu machen. Ich werde mich zweifellos daran gewöhnen. Es gibt weit Schlimmeres als einen verjüngten Körper.

Und Wichtigeres.

Nur zur Erinnerung: Du stehst im wie auch immer gearteten Jenseits. Ich löse meine Aufmerksamkeit von meinem Körper und richte sie auf die vage aus Mythen und Berichten über Nahtoderfahrungen vertraute Umgebung.

Vielleicht setzen die Verhältnisse im Jenseits einen agilen, ausdauernden, kampfbereiten jungen Körper voraus?

Geduldig und wortlos lockt das Licht.

1.

Helles Licht im Tunnel

Der Ruf durchdringt die greifbare Stille, bevor er in kaum beleuchteter Ferne verhallt.

„Hier drüben!“

Und mit leichter Ironie angereichert: „Dort, wo es heller ist, geht’s zum Licht!“

Die tiefe Stimme mit der angenehm sonoren Klangfarbe eines Radiosprechers lässt mich überrascht zur Seite blicken, während meine Hand noch die Beschaffenheit des dezent hintergrundbeleuchteten, halbrunden Tunnels ertastet. Angenehm warm und leicht nachgiebig, auf Druck aber Widerstand aufbauend. Die farblose Oberfläche erinnert an Samt.

Ich richte mich auf, werfe einen sichernden Blick über die Schulter. Hinter mir verjüngt sich der ebenmäßige Tunnel zu einem Punkt der totalen Schwärze. Nichts als Leere.

Ich hatte mich etwas in Gedanken verloren: Was mich leicht verunsicherte, war, wie gefasst ich mich nach meinem endlos erscheinenden, finalen Röcheln unter dem Joch der mit harten Medikamenten nur unzureichend unterdrückten Schmerzen fühlte. Und dies trotz des tristen Anblicks meiner hilflos mit den Händen ringenden, überwiegend verzweifelten und ob der fast greifbaren Anwesenheit des Todes entsetzten Angehörigen. Ein Anblick, der in mir unwillkommene Schuldgefühle ob meines unbedachten, egoistischen Ablebens erzeugte. Wo ich doch schon mit Sterben voll ausgelastet war!

Aber einmal angekommen im Jenseits? Ich fühle mich ruhig, still, gefasst – heil. Mein Geist ist schon fleißig damit beschäftigt, die beklemmenden Aspekte meines Endes durch Nebelschwaden des Vergessens barmherzig zu verschleiern. Verdrängen, einkapseln – ein nützlicher Prozess, Schutz des Geistes vor der gleichgültigen Umwelt. Wirksamer als alle Drogen.

Ein letztes Streicheln der samtweichen Oberfläche, bevor ich mich ganz dem Licht und der Stimme zuwende – einer Stimme, für die so mancher Podcaster über die Leichen seiner Follower gehen würde.

Die Stimme hallt gedehnt nach: „Die Anlage ist eigentlich narrensicher konzipiert: Sobald die ankommende Seele in einem dämmrigen Tunnel ein warmes Licht sieht, strebt sie magisch angezogen direkt darauf zu …“

Ich bin nun ganz im Hier und Jetzt angekommen, Ruhe und Gelassenheit umhüllen mich weiter, spenden Kraft. Ein alter Instinkt kitzelt mich. Ironische Wortspiele lagen mir, liegen mir noch immer.

„Sagte der elektrische Insektenvernichter zur heimtückisch mit UV-Licht angelockten Motte?“

Das heitere, volle Lachen des vom Licht umspülten Umrisses löst mich endgültig von der Wand und bewegt mich weiter ins Licht. „Touché!“

Schaffen wir zuerst mal eine Basis. „Ich gehe davon aus, dass ich nun im Jenseits bin?“

Ich bin stolz, dass ich dieses existenzielle Thema ohne klägliche Obertöne der Stimme anschneiden kann. Und grandios erleichtert, dass der Prozess des Leidens und Sterbens hinter mir zu liegen scheint. Nun, zumindest des Sterbens.

Ein letzter prüfender Rundblick im helleren Licht – keine Pforte zur Hölle in Sicht, keine gehörnten Schergen lauern in den Ecken.

Satan … Ich erinnere mich schleierhaft an die schaurig-faszinierenden Ausführungen über das Reich Luzifers, unaufgefordert und detailliert vermittelt im obligatorischen Religionsunterricht der Primarschule. Selbstredend aus selbstloser Sorge um meine arme, hilflose Seele. Hmm, könnte man auch als frühe Karriereberatung für den potenziellen Sünder auslegen.

„Ist das nicht offensichtlich?“ Die Gestalt schält sich beim Herantreten etwas aus dem Licht, die Konturen werden klarer; männlich, ungefähr meine Größe, leicht krauses Haar, ein gepflegter Kinnbart … hmm, bereits reichlich grau? Dazu ein eleganter Anzug – ganz in Weiß, inklusive weißer Krawatte.

Ein unterschwelliges Alarmsignal! Perfekt gebundene Krawatten werden von Unbedarften oft mit Seriosität assoziiert. Ich aber bin aus Erfahrung äußerst vorsichtig bei herausgeputzten Schlipsträgern – denn wenn ich in der Vergangenheit über den Tisch gezogen wurde, dann überwiegend von Trägern dieses modischen Accessoires. Protzige Uhren, elegante Einstecktücher und glänzend polierte Schnürschuhe sind übrigens weitere Indikatoren.

Ich verenge den Blick. Keine ominösen Schatten von Hörnern im krausen Haar zu erkennen … Somit scheine ich nicht vom Herrn der Finsternis persönlich abgeholt zu werden?

Korrekt, ich beziehe mich auf Satan, den langjährigen Heimleiter der penibel nach Sünden aufgeteilten Höllenkreise christlicher Lehre. Exklusiver Anbieter des Rundum-Aktivpakets „ewige Qualen“, anschaulich beworben in den schaurigen Landschaften eines Hieronymus Bosch.

Die Stimme unterbricht meinen Gedankenflug. „Dein Tod, der Tunnel, das Licht … sollten doch genug Hinweise bieten?“ Ein vage besorgtes Runzeln der Stirn. „Ich gab mir bei der Konzeption zumindest größte Mühe, keinerlei Verwirrung aufkommen zu lassen …“

Das einhergehende, versteckte Lächeln nimmt der Bemerkung die Spitze. Ich spüre, dass auch meine Mundwinkel sich zu heben beginnen und ein zaghaftes Lächeln formen. Ein in den letzten Monaten eher ungewohntes Mienenspiel. Nicht ohne Grund. Aber es fühlt sich befreiend und sauber an. Ich versuche kleine Variationen, finde schließlich mein altbewährtes Lächeln wieder und behalte es, sorgfältig balancierend, auf den Lippen.

Ich hinterfrage: „Kann es sein, dass ich als Hauptdarsteller einer Nahtod-Erfahrung gleich wieder zurückgeschickt werde? Nicht, dass ich das wirklich möchte; die letzten Jahre waren doch eher unangenehm und auch reichlich beängstigend.“

Die Gestalt wird ernst, offensichtlich ist es Zeit fürs Geschäftliche. „Nein, ich rekrutiere nur selten Wandler zwischen den Welten; Späher, welche den Generationen der Lebenden etwas die Furcht nehmen, ihnen schemenhaft eine durchaus akzeptable Kontinuität andeuten. Diese Wandler müssen daneben spezifische Kriterien erfüllen, die auf dich nicht zutreffen. Primär müssen sie sich stark ins Leben zurücksehnen …“

Ich stehe inzwischen dicht vor der Gestalt. Moment, das ist doch? Begleitet von melodischem Klirren feinen Porzellans fällt mir die Kinnlade auf die Füße. „Morgan Freeman? Der Schauspieler? Warte mal, du bist doch noch gar nicht tot! Oder doch?“ Entschuldigend: „Sorry, ich bin nicht das typische Zielpublikum für Promi-News …“

Morgan beruhigt mit seinem typischen, freimütigen Grinsen: „Der Zustand Morgans ist nebensächlich … Dieser Umstand und dass ich über ihn in der dritten Person spreche, sollte dich zu einer offensichtlichen Schlussfolgerung führen, nämlich …?“

Braune Augen unter erwartungsvoll angehobenen Brauen fixieren mich milde interessiert.

Echt? Ein Frage- und Antwort-Spiel, hier und jetzt? Nun gut, ich bin ja schließlich Gast und von Natur aus entgegenkommend. „Ich vermute, du bist Gott, in Menschengestalt?“

Morgan legt den Kopf nachdenklich eine Spur schief. „Ich bevorzuge die Bezeichnung ‚Schöpfer‘. Der Terminus ‚Gott‘ ist zu sehr mit religiösen Prinzipien und Auslegungen verknüpft – und belastet. Ich würde mich nie vor solch einen Karren spannen lassen. Und es gibt inzwischen so verwirrend viele Karren.“ Ein leises Lachen. „Und nur einen Esel!“

Der Schöpfer? Ich stehe vor dem Schöpfer? Schöpfer der Welten, des Universums, unzähliger Galaxien, Sonnen und Planeten, der Gravitation – schlicht von allem? Raum und Zeit? Liebe und Hass? Lepra, Steuererklärung, glutenfreien Frühstücksflocken, Corona, Dolby Surround, der Abseitsregel?

Ich schaue mich erfolglos nach einer Sitzgelegenheit um. Die Lage ist glücklicherweise zu überwältigend, um umgehend in durchaus angebrachte Panik zu verfallen. Vorerst mal ein Wechsel der Thematik, um Zeit zu gewinnen. „Aber warum Morgan Freeman?“

Ich besinne mich angesichts des ungeheuren Potentials direkt vor meiner Nase vorsichtshalber auf etablierte Anstandsregeln. „Und darf ich Sie überhaupt duzen?“

Sein Lächeln gleitet ins Verschmitzte. „Aber natürlich, ein ‚Herr Schöpfer‘ klingt schrecklich elitär – ich mag es simpel, kurz und prägnant, deshalb gibt es hier generell kein ‚Sie‘. Nenne mich der Einfachheit halber schlicht ‚Morgan‘ … oder gerne auch COTUS.“

Klingt irgendwie römisch? … „COTUS?“

„In Anlehnung an POTUS, ‚President of the United States‘, steht COTUS für ‚Creator of the Universe(s) and Souls‘. Ich gebe zu, ich liebe den Drang der Amerikaner, alles abzukürzen, was mehr als drei Buchstaben aufweist. Und ich mag den Klang!“

Verträumt lässt er die Silben nochmals fein aneinander gereiht erklingen und verhallen, elegant mit einer Hand vor sich dirigierend: „… CO-TUS …“

Ich vermeide es tunlichst, die Augen zu rollen. Na toll, ein selbstverliebter Geek! Und wir vermeiden es wohl auch lieber zu erwähnen, dass der Titel bereits durch den „Congress of the United States“ eingenommen wird. Oder dass er in bequemer Rufweite von „COITUS“ segelt. Andererseits, wer hätte mehr Recht auf eindrückliche Titel?

„Universen und Seelen … es gibt also parallele Universen?“

„Später.“

Das heißt dann wohl ja? Okay, kann warten. Weit wichtiger: „Und Seelen. Seelen wie die meine …“

„Genau so wie die deine.“

Wagen wir es? „Ich hoffe, dies ist nicht beleidigend – hast du auch eine Seele?“

Morgan wägt ab. „Nun, die Bezeichnung ‚Seele‘ könnte man durchaus stark vereinfacht als Oberbegriff verwenden – die Konzepte sind aber nicht direkt vergleichbar.“

Dann hoffen wir mal stark, dass auch Varianten von Seelen im Grunde wohlwollend sind. Und wenn möglich wohlwollender als durchschnittliche Mitmenschen.

„Und warum Freeman?“

Morgan tippt mit einem Zeigefinger sanft auf meine Brust. „Das musst du dich schon selber fragen. Ich verwende einen menschlichen, dir vertrauten und vertrauenswürdigen Avatar, damit wir durch Sprache, Mimik und Gestik überhaupt kommunizieren können – wir brauchen sozusagen eine kompatible Schnittstelle. Sonst würdest du in kürzester Zeit völlig überwältigt anfangen, sinnlos zu brabbeln, dann schnell katatonisch werden. Und dabei leicht sabbern, was für mich nicht wirklich appetitlich anzusehen ist. Und Morgan? Ihn hast du selbst unbewusst ausgewählt.“

Verwirrt lasse ich den Blick schweifen; weder lockendes Licht noch dämmriger Tunnel eilen mit der passenden Einsicht herbei. „Aber warum sollte ich …“

Morgan hebt die rechte Hand, fängt durch kurzes Fingerwackeln meine Aufmerksamkeit wieder ein und beruhigt: „Das ist gar nicht ungewöhnlich; Morgan wird in 68,3 % der Fälle von Seelen aus deiner Epoche und der westlichen Hemisphäre respektive dem Einflussgebiet westlicher Kultur gewählt.“

Er schaut mich erwartungsvoll an. „Sagen dir die Filme ‚Bruce Almighty‘ und ‚Evan Almighty‘ etwas?“

Der Groschen fällt. Das begleitende scharfe Schnippen meiner Finger wird vom geduldigen Tunnel hinter mir schwach zurückgeworfen, das Echo verliert sich in der Schwärze. „Richtig, da hat Morgan doch so überzeugend Gott verkörpert!“

„Da hast du die Erklärung.“

Morgan Freeman also … Ich beglückwünsche mich kurz zu meiner perfekten Wahl. Hmm, wenn wir schon dran sind: „Nur so aus Neugier, welche anderen Personen werden sonst noch an den Tisch gebracht?“

Der Schöpfer zuckt mit den Achseln. „Da muss ich stark filtern, jede Generation hat einen begrenzten, durch individuelle Erfahrungen bestimmten Wissens- und Erfahrungskreis; Persönlichkeiten, welche aus versunkener Geschichte oder aus fernen Gesellschaften und Kulturen stammen, würden dir wenig bis nichts sagen …“

Nach kurzem Nachdenken zählt Morgan auf: „Die aktuelle ‚Hitliste‘ würde unter anderem umfassen: Whoopi Goldberg, Barack Obama, JFK, gerne auch mal Lionel Messi oder Roger Federer – es gibt aber auch anspruchsvollere Verkörperungen, zum Beispiel Donald Trump. Zum Glück sehr selten sind überraschende oder gar lächerliche Gestalten wie Kermit der Frosch, Mister Bean, Voldemort oder Yoda …“

Ich lache laut heraus. Ein erstes echtes Lachen, nach einem ersten echten Lächeln – ich mache offensichtlich große Fortschritte in der Traumabewältigung!

„Yoda aus Star Wars?“

Morgan stimmt grinsend ein: „Verrückt, nicht? Aber gewundene Satzkonstruktionen machen am Ende doch mächtig Spaß, wie: ‚Tief die Stärke deiner Seele ist…‘ oder: ‚Finster das durchschrittene Tal war…‘“

Eine der genannten Personen bereitet mir vages Unbehagen. „Aber als Trump auftreten, das passt doch nicht wirklich zu dir, dem echten ‚Top Dog‘?“

Morgan streicht unbewusst über seinen blütenweißen Anzug, scheint in dessen Reinheit Halt zu suchen. „Es ist wirklich herausfordernd, Donald glaubhaft rüberzubringen: durchgehend leicht einfältig, aber überlegen grinsen, wirre Sätze ausstoßen, reihenweise wilde Behauptungen aufstellen, kompromisslosen Siegeswillen ausstrahlen. Dazu in den wenigen Redepausen einen leicht irren, subtil bedrohlichen und immer zu bitterer Rache bereiten Blick einfließen lassen – schwierig, schwierig durchzuziehen!“

Ein erhobener Finger. „Das muss auch 1 : 1 authentisch rüberkommen; seinen typischen Jüngern würde jede Abweichung sofort auffallen; die haben eine feine Nase für Äußerlichkeiten, lechzen nach Stärke und Macht signalisierenden Gesten. Positiv dagegen ist, dass man sich nicht groß um eigentliche Inhalte, Logik oder gesunden Menschenverstand kümmern muss.“

Morgan blinzelt mir zu. „Zusammenfassend spiegelt sich der Geist perfekt in der grotesken Frisur.“

Mein Lachen hallt ungebremst wider und zieht sich schließlich auf die Ausgangsstellung „Lächeln“ zurück.

„Okay, ziehen wir Bilanz: Ich starb hart, nun bin ich tot. All die unaussprechlichen, entwürdigenden Qualen sind nur noch eine graue, dumpfe Erinnerung, ihrer scharfen Substanz beraubt. Ich bin wieder jung, fühle mich erfreulich unversehrt und guten Mutes.“

Ich umreiße mit einer Geste unsere Umgebung. „Ich durchschritt den berühmt-berüchtigten Tunnel. Ich strebte dem hellen, warmen Licht entgegen. Ich wurde nicht wie eine vom Licht trunkene Fliege durch Strom verdampft. Ich stehe vor meinem Schöpfer, der sich für mich sogar in die passende Schale geworfen hat und erfrischenden Humor beweist.“

Ich lasse die Hand sinken. „Und ich bin jetzt nur noch eine Seele.“

Morgan schüttelt leicht den Kopf. „Das ‚nur‘ kannst du getrost weglassen: Die Seele ist deine Essenz. Denn am Ende zählt nur die Seele – der Rest war und ist die sich über dein Leben hinweg ansammelnde raue, beschwerlich graue Schlacke. Wie einer dieser monströs klobigen Taucheranzüge mit kleinen Guckfenstern im bronzenen Helm, der unter Wasser getragen werden muss, aber an Land sogleich aufatmend abgeworfen wird.“

Ich atme meinerseits tief durch und stelle die entscheidende Frage, wie gerade erfahren aus der Mitte meiner Essenz: „Und was nun?“

Der Schöpfer legt mir eine beruhigend warme, feste Hand auf die Schulter. Ein freundlicher Druck leitet mich tiefer ins Licht und begleitet seine Worte.

„Das liegt ganz bei dir …“

2.

Smalltalk im Ohrensessel

Morgan führt mich ins Herz des Lichts. Überwältigendes Weiß in Weiß – unter mir, über mir, um mich herum. In mir? Wir werfen keine Schatten. Ich schließe instinktiv den Mund und verenge die Augenlider zu Schlitzen, um das Weiß nicht weiter als nötig in mich eindringen zu lassen.

Mit Seitenblick auf Morgan: „Ich mag ja den reinen, skandinavischen Wohnstil, aber ist das nicht etwas gar viel Weiß?“

„Oh, hier gäbe es viel zu sehen! Wahre Wunder! Magie! Leider kannst du aber nur erfassen, was dein Geist zu interpretieren vermag – und das ist zumindest in diesem Stadium praktisch … nun, nichts. Im Grunde wäre abgrundtiefes Schwarz angebracht. Diese Farbwahl wirkt aus Erfahrung aber eher beängstigend.“

Ich stimme umgehend zu. „Ah! Dann bleiben wir mal lieber bei Weiß.“

Ich werde lose, aber bestimmt am Oberarm geführt, da ich mich in dieser konturlosen Umgebung ohne Fixpunkte unsicher bewege. Neben der beruhigenden Hand habe ich zwar glatten, festen Boden unter den Füßen, nehme aber fürs Erste meinen eben verdrängten greisengerechten, schlurfenden Gang wieder ein, um nicht unbeholfen über etwaige unsichtbare Hindernisse zu stolpern.

Vor uns schält sich eine flächige Türe mit mattem Chromgriff aus der Eintönigkeit. Er geht schon fast als willkommener Farbtupfer durch. Nur subtil dunklere Linien verraten den Verlauf des Türrahmens. Morgan wendet sich mir zu. „Öffne die Tür … ich bin gespannt, welche Umgebung du für unser Gespräch ausgesucht hast.“

Ich hebe die Brauen. „Wieder unbewusst, nehme ich an?“

„Korrekt.“

Wie gut kenne ich mich? Finden wir’s heraus! Ich krame in meiner geistigen Film- und Buchbibliothek nach dem passenden Setup. Das markante Gesicht Jeff Bridges’ taucht auf.

„Ich tippe mal auf ‚The Big Lebowski‘. Die Szene mit dem auf den ersten Blick oberflächlichen Gespräch mit dem angegrauten, weisen Cowboy an der Bowling-Bar. Mit dem im Subtext philosophischen Tiefgang verbergenden Dialog …“

Morgan stellt ein wahrlich meisterliches Pokergesicht zur Schau. „Wir wissen es in Kürze.“ Dann ein gespieltes, kurzes Schaudern. „Ich hoffe nur, es ist nicht wieder Dumbledores schrulliges Büro in Hogwarts. Zu viel Ablenkung durch magischen Klimbim – wir brauchen Fokus.“

Ich atme einmal tief durch, halte unbewusst den Atem – und berühre nach kurzem Nachsinnen den Griff. Zuerst mal flüchtig: Wir haben ja alle in Feuerwehrsendungen gelernt, erst mal auf eventuelle Hitze zu testen – die Hölle kann schließlich nicht weit sein!

Ich ernte ein amüsiertes Schnauben des Schöpfers. Er erntet im Austausch einen schmalen Seitenblick von mir, was ihn erst recht zum Schmunzeln bringt.

Wohlan. Ich betätige den Griff, ziehe die Tür vorsichtig auf und nehme eine erste Kostprobe des Raums: das pure Gegenteil von sterilem Weiß und dadurch Kontur und Halt gebend. Ein großzügiges Zimmer mit vornehm hoher Decke, leicht muffig riechend, ähnlich den älteren englischen Hotels, in denen ich früher berufsbedingt übernachten durfte. Etwas dämmrig, mit sanften Noten von dezentem Moder. Umrandet von altmodischen, dunklen, vor Feuchtigkeit aufgequollenen und teilweise traurig herabhängenden Tapeten.

In der Mitte laden zwei reichlich abgenutzte, lederne braune Ohrensessel zum (hoffentlich) gemütlichen Gespräch. Sie sind behaglich arrangiert vor einem breit ausladenden, antiquiert anmutenden Kamin, in dem sich kein behäbig am Spieß rotierendes Schwein wegen Klaustrophobie beschweren könnte. Zwischen den Sesseln ein dreibeiniges, schmales Tischlein, darauf ein volles Glas Wasser.

Ich erkenne die Szene! Aus der Matrix! Als Morpheus einem Novizen wie mir (dem noch faltenfreieren Neo, zu diesem Zeitpunkt noch ohne Kung-Fu-Kenntnisse) erklärt, dass er in Wirklichkeit ein ahnungsloser Sklave sei, ein Sklave des Geistes. Hmm, die Szene passt auch nicht schlecht – ja, sogar ausgezeichnet, wenn ich mir den Dialog in Erinnerung rufe!

Morgan scheint ebenfalls zufrieden zu sein, er nickt anerkennend und bittet mich mittels höflicher Geste einzutreten und Platz zu nehmen. Natürlich im Sessel rechts vom Kamin – wir wollen ja in der Rolle bleiben. Das weiche Polster kommt inzwischen sehr gelegen. Das Rückkissen stützt angenehm, ich lasse dankbar etwas Anspannung in die Lehne abgleiten.

Mein Blick wandert beiläufig durch den Raum, ich muss erst mal meine Mitte finden. Schließlich kreuze ich wie zufällig des Schöpfers steten Blick. Wir mustern uns schweigend. Eine Minute, zwei. Mir fällt auf, dass er nicht blinzeln muss. Endlos erscheinende Minuten – doch seine entspannte Miene vermittelt, dass er auf meine Bereitschaft wartet.

Dann spüre ich, dass der Beginn des wohl wichtigsten Gesprächs meines Lebens, meines Seelen-Daseins, greifbar in der Luft hängt.

Morgan eröffnet routiniert, er stapelt fleißig schmale Finger, bis sie ein elegantes, gleichschenkliges Dach vor seiner Brust bilden. „Du hast naturgemäß viele Fragen. Wir werden uns aber pragmatisch auf dich tangierende Themen beschränken. Denn für die meisten der grundlegenden Konzepte ist dein Wissen und geistiges Potential leider nicht ausreichend. Dir fehlt die mentale Kapazität und vor allem der Kontext. Du würdest hören, aber nicht verstehen.“

Mach mal halblang, ich bin ja kein Idiot! Demütig entgegne ich: „Könnte ich vielleicht eine Kostprobe erhalten?“

Morgan schüttelt bedauernd, aber mit Nachdruck den Kopf. „Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass ich zahlreiche Gespräche mit anerkannten Genies und auch Philosophen führte, unter anderem mit Einstein, Newton, Da Vinci, Galilei, Konfuzius, Sokrates, Archimedes und einigen mehr. Sie alle waren gleichermaßen skeptisch, sahen am Ende aber den staubtrockenen Fakten ins Auge.“

Uhh. Dann möchte ich mich doch lieber nicht schon bei den ersten, einfachen Erörterungen blamieren. Um doch etwas Würde zu retten, verziehe ich keine Miene. „Unter Vorbehalt akzeptiere ich die Einschränkung des Themenkreises.“

Morgan lächelt wissend und tröstet: „Einige durchaus umwerfende Gegebenheiten werden wir allgemein verständlich anschneiden, da sie dich betreffen.“

Ich werde wohl am besten öfter bedeutungsvoll nicken? Man möchte ja nicht beschränkt dastehen. Hoffnung mag zwar zuletzt sterben, aber Stolz ist zuverlässig immer unter den letzten noch aufrechten Revolverhelden.

Ach ja, bevor wir’s vergessen: Es war nicht die Hoffnung, die zuletzt starb, sondern ich.

Ich eröffne: „Empfängst du jede neue Seele persönlich? Und so ausführlich?“

Morgan hebt unter leichtem Schaudern abwehrend die Hände. „Nein, nein, bewahre … Zeit hat hier zwar keine Bedeutung und ich kann praktisch unbeschränkt multitasken – aber ich kümmere mich nur um die Ausnahmen.“

[Schluck] Ausnahmen kann man so oder so auslegen! Sicherheit liegt in der Menge. Außerhalb der Normen und Normalität sticht man hervor, wird dadurch sichtbar. Und verletzlich, ob nun als Idiot oder als Genie. Oder, passend zur Situation, als Gläubiger oder Ungläubiger?

Mit leicht trockener Kehle: „Ich bin also eine Ausnahme?“

„Ja. Denn die große Mehrheit der Seelen trifft mit starrem Glauben und festen Erwartungen ein. Sie kennen keine Zweifel, meinen die unverrückbare Wahrheit zu besitzen. Sie reiten unbeirrt vorausblickend auf dem Streitross ihres nicht verhandelbaren Wissens. Ihr Schicksal ist damit vorbestimmt und braucht kein weiteres Coaching.“

Aha! Ich folgere daraus, dass mein tief verwurzelter Zweifel an den Lehrsätzen etablierter Religionen mich in diesen Raum geführt hat – was für eine Gelegenheit! Ich habe Aussicht auf echte Einsichten, anstelle von fadem Glaubensbrei!

„Du coacht mich also, weil ich seit meiner Kindheit immer gezweifelt habe und mich als Agnostiker bezeichne?“

Morgan schlägt ein Bein über das andere und präzisiert: „Weil du Agnostiker bist.“

Damit wäre dieses kleine Detail schon mal geklärt. Ich hoffe nur, dass diese klare Diagnose nicht zu meinem Nachteil ausgelegt wird. Sollten meine tiefen Zweifel sich am Ende als fatal entpuppen? Ich schlucke nochmals trocken, betrachte sehnsüchtig das Glas Wasser auf dem Beistelltisch, traue ihm aber nicht wirklich. „Und was passiert mit Agnostikern? Oder gar Atheisten, die Gott grundsätzlich ablehnen?“

Ein kurzes, abwägendes Wippen einer Handfläche. „Kommt drauf an: Seelen, die das Nichts erwarten, werden nicht enttäuscht. Wer aber wie du noch unentschieden ist, hat Optionen …“

Ich habe also eine Wahl? Ich hoffe nur, dass einige der Optionen appetitlich aus dem wie auch immer gearteten Eintopf herausstechen werden … „Stimmt, ich wollte mich schon immer mit offenem Geist vom Programm im Jenseits überraschen lassen.“

Ich rekapituliere meine Überlegungen: „Falls umgehend das Nichts folgen sollte, würde ich es nicht mehr erfahren, ich wäre dann ja schon weg. Falls es aber doch irgendwie weitergehen sollte, gab es mir einfach zu viele Pfade mit Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus, um nur die wichtigsten Religionen zu nennen. Ganz zu schweigen von den unzähligen Splitterlehren innerhalb einer Religion. Ich misstraue generell dem Konzept ‚Religion‘. Es behauptet unerschütterlich, die einzige, ultimative Wahrheit zu besitzen. Und verdammt die ‚Ungläubigen‘ zur ewigen Verdammnis, während gleichzeitig Liebe und Vergebung gepredigt wird.“

Die Erinnerung an eine Einsicht hüpft aufgeregt in meinem Blickfeld auf und ab, verlangt das Wort. Ja, bitte? Doch, passt: „Aus Zweifel entsteht Neugier, Wissen und Fortschritt. Blinder Glaube dagegen gebiert nichts als Ignoranz, Stagnation und Zerfall.“

Ich zucke die Achseln. „Und angenommen, die eventuelle Existenz nach dem Tod übersteigt die Vorstellungskraft der Menschheit? Warum dann viel Zeit und Gedanken in vage Möglichkeiten investieren? Da setze ich mich lieber in die abfahrtbereite Achterbahn und genieße die unbekannten Taucher, Steilkurven und Loopings – der Mensch will schließlich unterhalten werden!“

Morgan bestätigt nickend: „Wie ich schon sagte, ein waschechter Agnostiker! Und dem Thema Unterhaltung werden wir uns später widmen.“

„Unterhaltung?“

Ein kurzes, bestimmtes Kopfschütteln: „Später …“

Ich gucke noch etwas länger leicht verdutzt, aber Morgan scheint den Trick zu kennen. Okay, nächster Punkt: „Bevor die Optionen auf den Tisch kommen: Kann ich einige Fragen stellen?“

Morgan sinkt sichtlich entspannt etwas tiefer in den Sessel. „Sicher, schieß los … ohne tickende Zeit haben wir auch keine dringenden Termine und ich kann eine beschränkte Anzahl Fragen beantworten.“

3.

Schöpfer über Schöpfung

Ich decke erstmal die Basis ab. „Bestimmst du wirklich jedes Detail im Universum? Registrierst du tatsächlich den Fall eines beliebigen Spatzen? Löst du den Sturz aus? Aufgrund einer Laune oder da dem Spatzen die schicksalhafte Stunde schlägt?“

Morgan löst die überschlagenen Beine, richtet sich auf, er gleicht nun einem Dozenten in seinem natürlichen Habitat, dem Unterrichtsraum. „Ach ja, die allgegenwärtige Parabel vom unglücklichen Spatz. Ein in der christlichen Lehre verankertes Bild, welches aber nur sehr beschränkt zutrifft: Ich könnte zwar im Prinzip jedes Lebewesen, Flora oder Fauna, problemlos in seinem Lebenszyklus beobachten – nur wäre das todlangweilig.“

Wie um unschöne Bilder abzuwehren, schließt er schaudernd kurz die Augen. „Hat man das Dasein eines Nacktmulls oder Blobfisches verfolgt, reicht das für die sprichwörtliche Ewigkeit.“

Mein fragender Ausdruck veranlasst den Schöpfer, sogleich mit der rechten Hand zu schnippen. Dreidimensionale Bilder der genannten Spezies tauchen vor mir auf, drehen sich wie auf dem Präsentierteller, während Morgan eindringlich den Kamin musternd den Blick abwendet. Der Blobfisch scheint mir vertraulich zuzublinzeln. Okay. Überflüssige Information. „Danke, das reicht vollständig.“ Die Bilder verblassen aufreizend langsam. Ich hoffe inständig, meine Retinae nehmen mir meine Neugier nicht langfristig übel.

Morgan hebt nun beide Hände an, einen imaginären Gegenstand umfassend. „Und ich greife nie ein. Erinnere dich: Ich bezeichne mich bewusst als Schöpfer, nicht als Gott.“

Seine Hände formen nun eine Schale. „Ich erschaffe – aber ich unterhalte das Geschaffene nicht.“ Morgan schaut mich bedeutungsvoll an und lässt dann die Arme wieder auf die Sessellehnen sinken, seine Hände ragen entspannt über die Enden der Lehnen. Er lässt sich etwas zurücksinken, als wenn nun alles klar wäre. Oder zumindest klar sein sollte.

Auf die Gefahr hin, die von ihm angedeutete etwas längere Leitung unter Beweis zu stellen: „Wie darf ich das verstehen, wie äußert sich das in der Realität?“

Morgan schaut mich nachdenklich an, er scheint sich sichtlich Mühe zu geben, seine Ausführungen dem Niveau meines bescheidenen Intellekts anzugleichen.

„Hmm … wie wäre es mit diesem Gleichnis: Stell dir einen äußerst begabten Wissenschaftler vor, der in Petrischalen Mikroorganismen oder Zellen kultiviert. Er bringt in zahllosen Versuchen verschiedene Komponenten unter wechselnden Bedingungen zusammen; er plant und hofft, dass sich etwas Spannendes und Verwertbares entwickelt. Er interessiert sich aber nicht für das Schicksal einzelner Zellen. Ein klinischer Beobachter.“

Er schließt gleichmütig, klinische Kälte anschaulich unter Beweis stellend: „Und Petrischalen erfolgloser Versuche werden sterilisiert.“

Ein zum Sentiment passendes leichtes Schaudern streicht meine Wirbelsäule hinab.

Ich denke, ich konnte dem Gleichnis folgen, und versuche zusammenzufassen: „Dieses Universum ist also ein erfolgreicher Versuch – einer unter vielen gescheiterten?“

„Korrekt.“

„Wie viele Petrischalen hast du schon sterilisiert?“

„Ich weiß nicht, Millionen? Ich zähle nicht mit.“

Wow. Wirkungstreffer. Ich brauche einige lange Sekunden, bevor ich fortfahren kann. „Und warum ist gerade dieses Universum ein Erfolg?“

„Du erinnerst dich, dass der Faktor Unterhaltung von größter Bedeutung ist? Ja? Nun, nur in dieser einen Petrischale entstand der moderne Mensch. Und Homo sapiens hat sich als unendlich und einzigartig unterhaltsam entpuppt.“

Ich bin leicht pikiert, offensichtlich einer Masse naiver Clowns anzugehören; der Zunft der unwissentlichen Träger roter Pappnasen und gleichzeitig zu weiten und zu kurzen Hosen, gewürzt mit grotesken, bananenförmigen Schuhen. „Wir sind also nur die Narren am Hofe des Schöpfers?“

Morgan beruhigt mit einer besänftigenden Geste: „Natürlich gibt es viel Drolliges und allgegenwärtigen Slapstick – immer gut für einen herzhaften Lacher, das gebe ich freimütig zu …“

Er schwelgt kurz in zärtlicher Erinnerung. „… aber nein, ich meine vor allem die unzähligen erstaunlichen Errungenschaften, die aus der von mir initial angerührten primitiven Brühe entstanden! Aus kognitiver Leere schuf der Mensch Wunder über Wunder.“

Nun zeigt Morgan erstmals Begeisterung. „Innovationen wie die archimedische Schraube, das Segel, der Webstuhl, die Dampfmaschine, der Verbrennungsmotor. Der Mensch lernte, den Vögeln gleich durch die Lüfte zu gleiten, über Kontinente und Ozeane zu huschen – und dabei gemütlich Champagner zu schlürfen, statt sich angemessen zu fürchten. Er meuchelt mörderische Bakterien mit Antibiotika, er spaltet das Atom und kommt inzwischen der Kernfusion nahe. Und aktuell fragt sich Künstliche Intelligenz besorgt, wie sie mit der archaischen natürlichen Dummheit schonend umgehen soll …“

Der Schöpfer fasst begeistert zusammen: „Die Menschen sind schlicht ein unvergleichliches Füllhorn an Überraschungen und Innovation!“

Ein erhobener Finger unterstreicht den Punkt – der Zeigefinger, möchte ich beruhigend erwähnen. „Solange ich weiterhin gut unterhalten werde, bleibt diese Petrischale schön im warmen Ofen und wird weiter sorgsam bebrütet und fürsorglich behütet!“

Hmm, warum bin ich nicht völlig beruhigt? Ich hake nach. „Und du hast nie eingegriffen, nie heimlich, und ohne hinzusehen, mit dem kleinen Finger das Rad sachte angeschoben?“

Morgan hebt die Hände abwehrend. „Nein danke, ich möchte den Zauber nicht brechen. Ich beschränke mich strikt aufs Schöpfen und Beobachten.“ Und verschmitzt, mit der rechten Hand auf dem Herzen: „Pfadfinderehrenwort!“

Hmm, das waren jetzt vor allem technische Errungenschaften. „Und wie gefällt dir unsere Kunst und Kultur?“

Morgan breitet die Arme aus, jetzt schwingt wahres Entzücken mit. „Ich konnte nicht ahnen, was ich Milliarden von Jahren verpasste! Ich beschäftigte mich ausschließlich mit der Erschaffung, Aufzucht und Beobachtung neuer Universen – und natürlich mit der Sterilisierung von Ausschuss.“

Kommt nur mir das etwas gar klinisch und erschreckend herzlos vor? Aber ich möchte den Gesprächsfluss nicht unterbrechen und konzentriere mich wieder auf die Ausführungen.

„Dann entwickelte sich – im kosmischen Zeitrahmen gesehen erst in den letzten wenigen Sekunden – aus dem gemeinen Menschenaffen der glorreiche Homo sapiens. Gefolgt von der kognitiven Revolution, welche Homo sapiens zum denkenden und fühlenden Wesen formte. Es bildeten sich Gruppen, dann Horden und Stämme, Sprache entstand – und ab diesem Moment startete die Unterhaltung.“

Ich bin etwas skeptisch. „Höhlenmenschen waren bereits unterhaltsam?“

Morgan nickt. „Absolut! Und ich konnte nicht ermessen, wie sich das Ganze aus ersten, zarten Lichtblicken ins schier Unermessliche steigern würde! Von einfacher Höhlenmalerei zu Kunstwerken von Van Gogh, Monet, Picasso! Aus zaghaftem, unharmonischem Gegröle vor dem Feuer zu Werken von Mozart, Bach, Vivaldi, den Beatles, Abba, den ‚Red Hot Chili Peppers‘! Aus frühen, simplen Witzen zu erfolgreichen Serien wie ‚Mr. Ed‘, ‚Die Simpsons‘, ‚Friends‘, ‚Two and a Half Men‘ …“

Das Thema Heiterkeit scheint dem Schöpfer am Herzen zu liegen? „… oder heitere Filme wie ‚Love Actually‘ … ‚The Life of Brian‘ … ‚Hangover‘, ‚Deadpool‘! Fantasievolle Filme und Bücher wie ‚Star Wars‘, ‚Harry Potter‘ und ‚Herr der Ringe‘. Oder spirituelle, wie die ‚Meditationen des Marcus Aurelius‘ oder ‚Life of Pi‘!“

Der Schöpfer schüttelt ungläubig den Kopf. „Aus dem Nichts entstand eine unglaubliche, immer schneller und dichter sprudelnde Masse an Unterhaltung … und ich erwähnte nur einige Beispiele deines Erfahrungshorizonts. Ich könnte natürlich auch den chinesischen Poeten Qu Yuan mit seinen Elegien aus Chu, zusammengestellt im 2. Jahrhundert nach Christus, erwähnen. Seine langen, emotionsgeladenen Gedichte würden dich aber kaum berühren. Wie bereits ausgeführt, fehlt dir der kulturelle Kontext, neben einem Gefühl für die Epoche.“

Hmm, da hat er wohl recht – im Allgemeinen, und mit chinesischen Gedichten erst recht. Und er scheint recht guten Musikgeschmack zu beweisen, da er „Modern Talking“ nicht erwähnte.

Ich stimme im Geiste zu: Was wäre das Leben ohne Kunst und Kultur, ohne Humor? Nur auf die bittere Würze der vulgären, alltäglichen Tragödie wäre Verlass. Ein Dasein reduziert auf Sonnenaufgang bewundern, Nahrung suchen, Essen und Ausscheiden, Fortpflanzen, Kinder aufziehen, Sonnenuntergang bewundern, sterben – dann ab ins Licht.

Ich gehe im Geist meine Lieblingsbücher, Songs und Filme durch und bewerte mein frisch vergangenes Leben in neuem Licht. Und ich stelle fest: Es war nicht alles schlecht, bei weitem nicht.

Der Schöpfer ist indes immer noch mit staunendem Kopfschütteln beschäftigt. „Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal Serien auf Netflix verschlingen, während Schöpfungsakten den Fuß zu heißem Funk wippen oder ungeduldig auf die Fortsetzung von Buchreihen warten würde.“

Reflektierend modelliert Morgan seine Stirn in leicht besorgt wirkende Falten. „Ich befürchte, ich bin inzwischen ein Unterhaltungs-Junkie und abhängig von meinen ignoranten Dealern, den modernen Menschen.“

Morgan schließt die umfassende Rundschau ab: „Daneben noch das reale Leben: Klimawandel und seine Auswirkungen. Bittere, brutale Kriege, welche das Beste und das Schlechteste aus den Menschen herausmeißeln. Politische Diskussionen, welche eher das Schlechte im Menschen zum Vorschein bringen, vor allem, wenn man wie ich zwischen den Zeilen ganze Romane lesen kann. Dann natürlich Sportanlässe wie die Fußball-Bundesliga, Tennis-Grand-Slams, rasende Boliden in der Formel Eins oder äußerst waghalsige, rasende Abfahrten auf langen, schmalen Brettern – wie sagt der englische Volksmund?“

Er schließt mit einem heiteren Lachen: „Never a dull moment.“

In mir breitet sich vages Unbehagen aus. Morgan machte bis zu diesem Zeitpunkt einen ausgesprochen netten und einfühlsamen Eindruck … Eine Frage brennt mir auf der Zunge, aber ich zögere, sie auszusprechen.

Die Antwort würde zwar tiefere Einsichten bezüglich der Haltung des Schöpfers liefern – ein wichtiger Faktor bei der anstehenden Wahl meiner wie auch immer gearteten Zukunft – andererseits möchte ich meine Position nicht verschlimmern, indem ich ihn offen kritisiere.

Noch wurde nämlich die Destination Hölle nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Eine unbedachte Kränkung meinerseits, und ruckzuck drehe ich mich kreischend am Spieß, während ein niedlicher Teufel mit gelben Ziegenaugen perfide grinsend und mit rostiger Speerspitze prüft, ob ich schon durch bin …

Versuchen wir es mit subtiler Kritik. „Also, in mir lösen Kriegsbilder oder Szenen verunfallter Skifahrer eher Entsetzen aus als den Anstoß, in einer Werbepause rasch noch Popcorn aufzuwärmen.“

Morgan mustert mich ausdruckslos. Die Stille dehnt sich. Ich könnte eine Nadel fallen hören, falls ich denn eine besäße – aber wer trägt schon immer Nadeln auf sich? Okay, abgesehen von Sanitätern und Drogendealern?

Zurück zum Thema! Zu viel gesagt? Wägt er mich in diesen Sekunden ab? Entscheidet er gerade über eine angemessene Strafe für meinen Tadel?

Endlich fährt der Schöpfer mit ernster Miene fort. „Mein Auftreten in Menschengestalt hat einen unvermeidlichen Nachteil … Der Gesprächspartner erwartet ‚normales‘ Verhalten: menschliche Motivation, Gedankengänge und vor allem Empathie. Dazu gehören auch natürliche Reaktionen wie Trauer, Freude, Ekel, Überraschung etc.“

Morgan lehnt sich vertraulich leicht nach vorne. „Ich bin aber kein Mensch, all diese Eigenschaften und Reaktionen sind nicht in mir angelegt. Das heißt aber nicht, dass ich dich hinterlistig täusche, wenn ich zum Beispiel mit dir lache. Die perfekte Simulation eines Menschen ist notwendig, damit wir uns überhaupt verständigen können.“

Wie um den Punkt zu unterstreichen, lächelt Morgan leicht. „Und nichts, was du sagst oder denkst, wird zu deinem Nachteil ausgelegt. Ich beobachte nur.“

Nur um sicherzugehen: „Und falls die Menschheit jemals anfängt dich zu langweilen, landet unsere Petrischale dann auch im Sterilisator?“

Morgan nickt bedauernd – oder zumindest mit der perfekten Simulation von Bedauern. „Korrekt, aber ein Sendeschluss des Unterhaltungsprogramms ist derzeit wahrlich nicht abzusehen – ich bin sehr zuversichtlich, noch lange bestens unterhalten zu werden.“

Auf der einen Seite beruhigend, andererseits wirkt das Wissen, mit dem Avatar einer allmächtigen Entität zu sprechen, die uns jederzeit den Stecker ziehen kann, beklemmend – die vertrauliche Stimmung scheint etwas verflogen.

Auf der anderen Seite kann ich wohl frei sprechen? Morgan verspricht, nicht sensibel zu reagieren, unberührt über den Dingen zu schweben?

Ich kann also unbekümmert nachhaken: „Warum solltest du dann Zeit mit mir verbringen? Wie diene ich als durchschnittliche Einzelseele deiner Unterhaltung?“

Ich breite mein dürftiges Unterhaltungsprogramm aus: „Ich kenne ein paar lahme Witze … Oder ich könnte Stepptanz probieren …?“

Der Schöpfer lebt sichtlich auf, wir scheinen uns dem springenden Punkt zu nähern. Er winkt ab. „Es geht um etwas anderes: Die große Mehrheit der ankommenden Seelen wird ihrer festen Überzeugung entsprechend automatisch ihrem bestimmten Schicksal zugeführt. Dabei ist alles möglich – von sofortiger, weitgehend schmerzloser Auflösung, oder sagen wir netter formuliert ‚weitgehend leidensfreiem Übertritt ins Nichts‘, bis zur Wiedergeburt.“

Morgan unterbricht mich, bevor ich einhaken kann. „Dazu später mehr.“

Ich habe gelernt, dass ‚später‘ wirklich später bedeutet und signalisiere wortlos, doch bitte fortzufahren.

„Danke. Nun, selbst unter bekennenden Atheisten gibt es immer noch eine kleine Prozentzahl (4,8 %), die am ‚Nichts‘ zweifelt. Unter den Agnostikern andererseits gibt es eine erstaunliche Anzahl Seelen, die insgeheim dann doch ein bestimmtes Szenario als etwas wahrscheinlicher einstufen. Die zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit einer Wiedergeburt höher einschätzen als das Konzept ‚Himmel und Hölle‘. Du aber gehörst zu der exklusiven Gruppe von Agnostikern (1,3 %), die wirklich ohne jegliche Erwartung eintrifft und sich lieber überraschen lässt.“

Die peniblen Prozentzahlen machen mich etwas stutzig – ich frage, halb im Spaß: „Beschäftigst du etwa ein Großraumbüro voller Buchhalter, die genau Buch führen über Ein- und Ausgänge, zugewiesene und gewählte Schicksale?“

Morgan winkt ab: „Nicht nötig. Die Fakten und Zahlen existieren und sind für mich jederzeit verfügbar. Und da die Menschheit zu meinem Entzücken die Statistik und später Excel erfunden hat, kann ich jederzeit und in Echtzeit präzise Auskunft erteilen – weitere Beispiele herausragender Erfindungen!“

Er grinst anzüglich: „Ich kann auch gerne eine Präsentation mit aussagekräftigen Grafiken aufrufen?“

[Brrr] Kenne ich noch von meiner beruflichen Tätigkeit – ich antworte unter nur langsam abebbendem leichtem Schaudern postwendend: „Nein, danke – nicht nötig.“

Morgan scheint leicht enttäuscht. Halt, er simuliert nur leichte Enttäuschung! Und es gibt aktuell Wichtigeres. „Ich kann und muss jetzt also wählen?“

„Korrekt.“

„Was sind denn die Optionen?“

„Zuerst eine Frage. Kann es nur ein einziges Paradies geben?“

Eine Prüfung? Oder eine einleitende Frage? Ich lasse die bisherigen Aussagen Revue passieren. „Nun, da hier alle Eventualitäten abgedeckt zu sein scheinen, müsste folgerichtig zumindest ein Paradies pro Religion existieren.“

Der Schöpfer legt nachdenklich den Kopf schief. „Gute Folgerung. Aber wie präsentiert sich das Paradies innerhalb einer Religion? Könnte zum Beispiel ein im Irak ansässiger, christlicher Ziegenhirt die gleichen Vorstellungen vom Paradies haben wie ein amerikanischer Presbyterianer? Und würde sich das Paradies eines katholischen Bankers und Golfers nicht grundlegend von dem eines katholischen Dachdeckers und Jägers unterscheiden?“

Ich beleuchte die Argumentation von allen Seiten und muss schließlich zustimmen. „Ich denke, ich habe verstanden. Es kann kein allgemeingültiges Paradies geben. Es gibt zu viele Ausprägungen des Paradieses; geprägt durch Glauben, geographisches und soziales Umfeld, Kultur, Alter, Okkupation, Hobbys, Träume.“

Morgan lächelt zufrieden, schließt die Augen und legt entspannt den Kopf an die Lehne. Und beginnt nach kurzer Zeit, sich vor meinen ungläubigen Augen zu verwandeln. Ich ziehe mich vorsichtshalber tiefer in den Sessel zurück und hebe die Füße auf den Polsterrand, um hinter den Beinen – zugegebenermaßen nur ungenügend erscheinenden – Schutz zu finden.

Der weiße Anzug wird fließend durch einen schwarzen, schweren ledernen Mantel mit hohem Kragen abgelöst. Hmm, sieht mir verdächtig nach Krokodil-Imitat aus … Der Kopf wird runder, das krause Haar zieht sich auf einen matt polierten Glatzkopf zurück. Die Haut strafft sich jugendlich, wirkt aber leicht pockennarbig. Die (ich weiß, simuliert) gütigen Augen werden durch runde, dunkle Gläser verdeckt, in denen sich verzerrt das Zimmer spiegelt, mit mir im Sessel. Ein sogenannter Zwicker. Ich habe mich allerdings schon immer gefragt, wie eine Sonnenbrille ganz ohne Bügel im Kung-Fu-Kampf die Stellung auf der Nase halten soll. Schwere schwarze Stiefel geben der Figur den letzten Schliff.

Die Verwandlung ist abgeschlossen. Ich stelle trocken fest: „Morpheus.“

Eine neue, leicht höhere Stimme antwortet, jede Silbe einzeln und exakt betonend. „Korrekt. Und bevor du fragst – ja, auch unbewusst von dir gewählt.“

Na, wenn ich schon die Wahl habe … „Hmm, warum kann ich nicht unbewusst auch mal eine schöne Frau – zum Beispiel Demi Moore – auswählen?“

Ein strenger Blick. „Konzentriere dich.“

Ich bemerke, dass Morpheus die unvermeidliche Pillendose in der Hand hält, er mustert sie feierlich, während er sie langsam öffnet.

Die Entscheidung naht.

4.

Rote Pille, blaue Pille

Ich mustere die aufgerichtete Rückseite des Deckels etwas enttäuscht: „Es gibt also nur zwei Optionen, Rot oder Blau?“

Morpheus kippt die Dose etwas und lässt mich den Inhalt sehen. Hmm, ein kunterbuntes Gemisch farbiger Pillen. „Hier weichen wir etwas vom Matrix-Drehbuch ab. Die Anzahl der Farben wird nur durch deine Vorstellungskraft begrenzt.“

Erfahrung lehrt uns, dass zu viele Optionen auch nicht zielführend sind. Das stellen wir gerne im Supermarkt vor dem schier endlosen Regal mit Frühstücksflocken fest – wer braucht all die Variationen? Wäre man nicht besser bedient mit einer stark eingeschränkten Auswahl?

Mal sehen: Ich fange mit den Fingern der linken Hand an, abzuhaken.

Daumen: „Das Nichts – die Auflösung der Seele und dadurch ewige Ruhe.“

Hmm, ewige Ruhe? Nicht ohne ihren ganz eigenen, lockenden Reiz.

Zeigefinger: „Himmel und Hölle – oder genauer: Himmel oder Hölle.“

Der Mittelfinger reckt sich tapfer (nur zum Zwecke des Abzählens, versteht sich …): „Wiedergeburt.“

Jetzt wird’s langsam eng … Ringfinger: „Totenreich der ägyptischen oder auch griechischen Auslegung.“

Moment! Apropos Ringfinger: Wo ist eigentlich mein Ehering? Ich schließe die Augen, erinnere mich bildlich an ihn: seine durch die Jahre perfektionierte Glätte, sein kaum spürbares Gewicht – ich öffne die Augen und finde ihn wieder an seinem angestammten Platz, sich tröstend um das fleischliche Rund schmiegend.

Die Kraft des Geistes hat Einfluss im Jenseits! Diese kleine Episode merken wir uns zur späteren Erkundung, sie eröffnet neue Möglichkeiten. Wo waren wir?

Kleiner Finger. „Hmm … In LinkedIn, Facebook, Instagram, TikTok etc. einfach ungelöscht weiterexistieren?“

Okay, mir sind sichtlich ernsthafte Optionen ausgegangen.

Das Auftauchen meines Eherings bringt mich zu einer Zwischenfrage. „Moment: Wenn ich nur noch aus meiner Seele bestehe, wieso fühle und benutze ich dann meinen gesunden Körper? Der sich jugendlich anfühlt, wie mit 36? Warum bin ich anständig gekleidet …“

Bequeme dunkle Jeans und ein hellgraues Hemd, stelle ich erleichtert fest, inklusive meiner geliebten, sportlich-eleganten Treter. „… und nicht im gewohnten tristen, papierenen Krankenhauskittel?“

Ich erweitere den Gedanken. „Wie kann ich denken, wenn ich kein Gehirn mehr mit mir rumschleppe? Wie kann ich hören, sehen, riechen und spüren, so ganz ohne Sinnesorgane?“

Die Antwort fällt nicht gänzlich unerwartet aus: „Später … nach deiner Wahl. Es wird Zeit. Nimm die Umstände erst mal als gegeben an. Und falls du Option eins wählst – sagen wir die rote Pille –, dann kommt es im Nichts auch nicht mehr auf diese Information an.“

Der CEO der Universen folgt offensichtlich einem festen Skript. Er fasst geschäftstüchtig zusammen, weist mit dem Zeigefinger auf die entsprechende Pille: „Wir haben also die rote Pille für das Nichts, die blaue Pille für Himmel oder Hölle – die finale Destination ergibt sich beim Eintritt. Sagen wir hoffnungsvolles Grün für die Wiedergeburt. Schwarz für das Totenreich. Und die letzte Option ist leider keine – auf Facebook etc. lebt man nur, wenn man laufend Banalitäten postet. Du aber wärst notgedrungen stumm und dementsprechend doppelt tot: analog zum Nichts, also der roten Pille – womit sich der Kreis schließt.“

Morpheus beugt sich vor und fordert mit geschäftig lockendem Zeigefinger, doch etwas näher zu rücken. Ich komme vorsichtig einige Zentimeter näher. Langer Löffel und so. „Ich schulde dir noch die Antwort bezüglich deines Unterhaltungswerts: Nun, ich schloss für mich eine Wette ab, welche der Optionen du wählst – und ich möchte erwähnen, dass ich in 87,8 % der Fälle richtig liege.“

Er zwinkert mir vertraulich zu und lehnt sich mit ausdrucksloser, aber irgendwie selbstzufriedener Miene zurück. Ich schaue ihn entgeistert an. Ich bin also nur ein kleiner Pausenfüller, der Eismann in der Kinopause, nur gut für kurzen, beiläufigen und vergänglichen Genuss?

Rhetorische Frage: Darf man seinen Schöpfer verabscheuen, leicht gewürzt mit einer Prise schwarzen Hasses? Nun, ich bin so frei – und es scheint ihm sowieso nichts auszumachen.

Das erinnert mich! „Übrigens möchte ich mich an dieser Stelle für die zahlreichen wüsten Verwünschungen deiner Person von meinem Totenbett aus entschuldigen – es war der bitteren Situation geschuldet. Und die unablässigen, unflätigen Flüche waren – von meiner moralischen Erleichterung mal abgesehen – offensichtlich sowieso wirkungslos.“

Morpheus nickt in perfekter Gleichmut. Offensichtlich hat er alles schon unzählige Male gesehen und gehört. Er kommt geschäftsmäßig gleich zur Sache und stellt die ultimative Frage: „Nun, welche Pille darf es sein? Rot, Blau, Grün oder Schwarz?“

Er präsentiert die Pillenschachtel, welche inzwischen nur noch die vier genannten Pillen beherbergt. Mit der anderen Hand weist er fürsorglich auf das volle Wasserglas – wie zuvorkommend und rücksichtsvoll von ihm!

Entscheidungen, Entscheidungen … Da hätte ich ja gleich weiterleben können! Versuchen wir, noch etwas Zeit herauszuschlagen. „Kann ich etwas mehr Hintergrundinformation zu den Optionen erhalten? Können wir die Vor- und Nachteile erörtern?“

Unerschütterlich wie ein einsamer Betonpfeiler reicht mir eine Hand weiterhin die Pillendose dar, die andere deutet wie ein Wegweiser Richtung Wasserglas. „Leider nein, du musst dich jetzt entscheiden.“ Ein subtiles, leicht bedrohliches Lächeln ist zu erkennen, etwas Perlmutt schimmert durch. „Sonst bringst du unweigerlich meine Wettparameter durcheinander, und das wäre unhöflich …“

Hmm, Höflichkeit ist bekanntlich eine Tugend. Genauso wie Mut. Ich verspüre beträchtliche Ablehnung, nur kurz für schale Unterhaltung zu sorgen, bevor ich wie ein unbedeutender Komparse die Bühne nach links verlassen darf. Ich lehne mich erst mal zurück. Die Erfahrung lehrte mich: Unter künstlichem Zeitdruck trifft man voreilige, meist suboptimale und teure Entscheidungen.

Ich mustere den unerbittlichen Morpheus, ergründe seine Abgründe. Wahrlich, kein Mensch. Nun, ich hatte schon immer das Talent, einige Schritte von einem Problem zurückzutreten und alternative Szenarien zu evaluieren.

Wie wär’s hiermit? Die stumme Weisung seiner Hände ignorierend: „Falls wir die Situation von allen Seiten betrachten: Vergessen wir da nicht noch eine weitere Option?“

5.

Gelbe Pille

Morpheus scheint äußerlich gelassen, ich meine aber subtilen Verdruss zu erkennen. Wie wird er meine gelbe Pille aufnehmen?

Moment, warte – eine gelbe Pille ist bei näherer Betrachtung doch eher unpassend. Gelb erinnert etwas an schalen Urin, an fundamentale Feigheit. Nein, wir nehmen stattdessen eine satte, lebensbejahende Farbe!

„Ich wähle die orange Pille.“

Morpheus muss den Inhalt der Dose nicht prüfen, um trocken festzustellen: „Es befindet sich keine orange Pille in der Dose. Versuchst du etwa, Zeit zu schinden? Wozu?“

Ich erhebe mich und schreite zum Kamin, klopfe versuchsweise leicht gegen Stein … satte Solidität. Ich bin von meiner Vorstellungskraft angemessen beeindruckt. Eine bedächtige Wendung zum Schöpfer. „Die ungenannte Option ist, keine der angebotenen Pillen zu schlucken. Ich ordne diese Option der orangen Pille zu.“

Der Schöpfer schaut etwas perplex in die Pillendose, ich vermute, dass sich darin inzwischen auf leisen Sohlen etwas Oranges materialisiert. Die Kraft des Geistes. Seine coole Gelassenheit zeigt erste, zarte Risse. „Das kommt jetzt etwas überraschend …“

Er neigt die Pillendose, so dass ich den Inhalt sehen kann – und da ist sie, die zusätzliche, grandiose orange Pille. Punkt für das Gästeteam!

Ich schreite gemessen zur Dose, beuge mich prüfend über sie, greife die orange Pille. Ich halte sie kurz bewundernd hoch, bevor ich sie in den Mund poppe und mit einem Schluck aus dem Wasserglas runterspüle. Etablieren wir am besten gleich mal Tatsachen.

Morpheus schüttelt etwas verloren den Kopf – fasst sich dann aber rasch. Seine Mundwinkel heben sich. „Aber das ist ja viel unterhaltsamer, als ich erhoffen konnte! Wir bewegen uns von einer nebensächlichen Wette auf völlig neues Gebiet!“ Er scheint jetzt angemessen aufgeregt. „Was ist dein Plan?“

Ein Plan, ein Plan, ich brauche einen Plan! „Ich walle derzeit noch die Ecken sauber aus und verziere ihn dann hübsch mit Marzipan. Mit anderen Worten – Ich brauche noch etwas mehr Information.“

Morpheus breitet die Arme aus. „Was willst du wissen?“

„Ich habe einmal gelesen, dass seit Anbeginn der Menschheit bereits etwa 108 Milliarden Menschen gelebt haben – natürlich ist dies eine grobe Schätzung, also plus/minus einige Milliarden.“

Morpheus hat die Zahlen griffbereit. „Natürlich kann darüber gestritten werden, ab welcher Generation man zu zählen beginnt. Und die Forscher mussten mit Faktoren wie durchschnittlicher Lebenserwartung jonglieren sowie den Einfluss von Seuchen und Kriegen schätzen. Aber die genannte Zahl kommt der effektiven ziemlich nahe, sie liegt im Plus-minus-Bereich von 5,4 %.“

Aha. Auf was ich hinaus will: „Aber wo wurden all diese Seelen verstaut? Laufen Himmel und vor allem Hölle nicht schon lange über? Steht man sich dort nicht gegenseitig auf den Flügeln beziehungsweise auf den mit Nägeln durchbohrten Gliedmaßen rum? Wird der Überschuss etwa mit simuliertem Bedauern im Nichts entsorgt? Oder sorgen die Wiedergeburten für Entlastung?“

Morpheus gleicht einer zufrieden schnurrenden Katze mit frischem Mäuse-Atem. Als ob er sich am liebsten auf die eigene Schulter klopfen wollte – er kann es sichtlich kaum erwarten, mich zu erleuchten.

„Nein, meine Lösung ist viel eleganter … Du warst fast 40 Jahre als IT-Spezialist tätig, richtig?“

In Erinnerung an meine lange, abwechslungsreiche Karriere hebe ich mein Kinn leicht an und erliege fast dem Drang, wohlwollend meine eigene Schulter zu tätscheln. „Nun, ich war spezialisiert auf relationale Datenbanken.“

„Details. Aber du kennst dich sicher bestens mit dem Konzept von Virtuellen Maschinen – kurz VMs – aus?“

[Du weißt nicht, was VMs sind? Tss, tss. Nun, Google kann’s dir wie gewohnt verraten, aber hier schon mal eine kurze Definition für den ungeduldigen Leser: VMs sind virtuelle Computer, welche dieselben Funktionen wie physische Rechner bieten. Genau wie diese führen sie ein Betriebssystem (wie Linux, oder Windows) und Anwendungen aus. Der Vorteil besteht darin, dass auf einem physischen Rechner mehrere VMs parallel betrieben werden können und sich dabei die vorhandenen Ressourcen teilen. Auf nur einem physischen Rechner kann man damit parallel verschiedene Betriebssysteme und Anwendungen beherbergen. Höhere Flexibilität bei besserer Nutzung der Hardware. Das Konzept wird vor allem flächendeckend in der Cloud genutzt. Gerne!]

Ich antworte: „Natürlich … Sag jetzt aber nicht, dass du VMs auf Amazon oder der Azure Cloud betreibst!“

Ein helles Lachen, eine imaginäre, heitere Träne im Augenwinkel wird weggewischt. „Der war gut! Nein, das ist wahrlich nicht nötig. Meine Universen haben ein virtuell unendliches Potential an ‚Rechenpower‘. Und wir sprechen auch nur vom Konzept – aber wir können den Begriff ‚VM‘ als Ersatz verwenden.“

„Okay, ich bin gespannt.“

Morpheus winkt mich vertraulich näher und senkt geheimnisvoll die Stimme. „Jede nachgefragte Variante des Jenseits läuft in einer eigenen VM, einer perfekten Simulation. Ich betreibe mehrere Tausend solcher VMs, um jedem Glauben und allen Überzeugungen ein Gefäß für das erwartete Dasein im Jenseits zu bieten.“

Ich brauche einige Sekunden, um die Eleganz dieser wahrlich umfassenden Lösung zu begreifen. „Dann gibt es also zum Beispiel eine Simulation des Himmels und der Hölle, in der alle Rechtschaffenen und Sünder christlicher Lehre landen?“

Der Schöpfer braucht nicht extra zu bejahen, sein kurzes Blinzeln sagt alles. „Richtig. Nur dass, um bei deinem Beispiel zu bleiben, je eine Simulation für Himmel und Hölle existieren. Die zwei Umgebungen sind doch zu verschieden.“

„Aber … das ist ja … genial!“

In gut gespielter Bescheidenheit: „Nicht mehr, als man vom Schöpfer erwarten konnte …“

Ich ringe indes noch darum, die Vorteile des Konzepts in Worte zu fassen: „Das bedeutet also, dass alle Religionen und Überzeugungen im Recht sind, dass im Jenseits sozusagen Demokratie und Glaubensfreiheit herrschen!“

Eine weitere Folgerung lässt mich etwas lachen: „Das heißt aber auch, dass all die blutigen Religionskriege und das verbitterte theologische Ringen um Deutungshoheit völlig unnötig waren. Und sind …“

Morpheus korrigiert mit sanft erhobenem Zeigefinger: „Nun, nicht gänzlich: Sie dienten und dienen in nicht unerheblichem Maße letztlich meiner Unterhaltung.“

Richtig, lassen wir nie die ach so wichtige Unterhaltung des Schöpfers aus den Augen!

Eine Frage drängt sich auf: „Nehmen wir den christlichen Glauben – wer macht dabei die Triage, welches Gericht entscheidet, ob jemand im Himmel oder in der Hölle landet?“

„Das ist ja der Clou – die ankommende Seele hat bereits unbewusst entschieden, ob sie den Himmel verdient oder sowieso zur Hölle verdammt ist. Wie eine fein kalibrierte innere Waage, die nach links oder rechts ausschlägt. Es braucht entsprechend keine externe Gerichtsbarkeit, das System funktioniert vollautomatisch.“

Morpheus kramt nun das unvermeidliche Kleingedruckte hervor. „Natürlich ist auch dieses System nicht vollkommen, es gibt eine unbedeutende Anzahl Ausreißer nach links und rechts – oder in diesem Fall passender: nach oben und nach unten. Zum Beispiel despotische, machthungrige Narzissten, welche im Grunde klar ewige Höllenqualen verdient hätten, sich aber eine angenehme Zeit im Himmel machen, da sie sich in grenzenloser Eitelkeit und Ignoranz ihr Leben und ihre Seele schönreden. Auf der anderen Seite die im Grunde guten Seelen, welche das Verhältnis ihrer Sünden zu den guten Taten viel zu pessimistisch einschätzen und so unnötig im leicht überheizten Untergeschoss landen.“

Interessant! Beispiele wären hier hilfreich … Hmm, wer käme als selbstverliebter Despot und veritables Ungeheuer in Frage? Unter den Toten, selbstverständlich. „An welchen der zwei Strände wurde, sagen wir mal, Adolf Hitler angespült?“

Morpheus winkt ab. „Schlechtes Beispiel. Hitler instrumentalisierte den christlichen Glauben nur. Er versuchte in den zwanziger Jahren Christus als strammen Germanen einzuspannen, im Zuge der ‚völkischen Arisierung‘. Nach der Machtübernahme ließ er die Maske fallen und propagierte seine Quasi-Religion, die ‚Vorsehung‘, deren Verkünder und Werkzeug er selbst war. Er schusterte sich sozusagen seine eigene Theologie zusammen.“

Ein leichtes Kopfschütteln. „Er passt damit in keines der bekannten Schemen. Ich musste ihn auch unter Gesichtspunkten der Sicherheit isolieren, sein Wesen ist nach wie vor angetrieben durch unerschöpfliche Ambitionen.“

Des Schöpfers Hände formen sich zu einem kleinen Käfig. „Ihm wurde seine eigene, kleine VM zugewiesen, zusammen mit einer Handvoll seiner eisernen Jünger, welche aber ebenfalls simuliert sind. Er sitzt seitdem einsam, umgeben von blassen Speichelleckern und Jasagern im düsteren Führerbunker und brütet verbissen über Karten Berlins und Europas – so leicht gibt der Führer nicht auf. Er schiebt darauf inexistente Divisionen hierhin und dorthin, während die Russen immer näher kommen, aber nie eintreffen. Er murmelt fortwährend vor sich hin, lamentiert über das treulose Volk, das ihn kläglich im Stich lässt. Über stümperhafte Generäle, die sein überlegenes Genie auf dem Feld der Ehre nicht umsetzen können oder wollen. Er reibt sich dabei öfters versonnen die linke Schläfe – nachts schreckt er im Schlaf auf, träumt, sich eine Kugel in den Kopf gejagt zu haben. Und er vermisst bitterlich seinen Schäferhund, Blondi. Und auch Eva. Beide nahmen übrigens die Gelegenheit wahr, in ein anderes Jenseits zu entkommen.“

Klingt ja erbärmlich! Trotzdem, die Hölle wäre weit angebrachter gewesen! Da wäre er auch nicht so einsam, sondern hätte sich wenigstens im illustren Club weiterer ‚Persönlichkeiten‘ seiner Stufe wiedergefunden.

Eine Schlussfolgerung drängt sich auf: „Kann ich daraus schließen, dass es keine Götter gibt, wie den christlichen Gott? Und keine Antagonisten, wie Satan?“

Der Schöpfer wackelt belehrend mit dem Zeigefinger. „Aber natürlich gibt es sie – wenn auch nur virtuell!“

Virtuell? Eine Simulation ist doch nicht echt! Meine Zweifel sind leicht zu lesen; Morpheus vertieft das Thema: „Du erinnerst dich sicherlich an zahlreiche lebhafte Träume, welche umfangreiche, lebensecht greifbare und fühlbare Welten erschufen?“

„Nun … ja, sicher.“

„Welten, welche unmöglich von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind?“

„Ja?“

Morpheus bohrt nach: „Selbst wenn im Traum physikalisch unmögliche Phänomene auftraten – beispielsweise die Fähigkeit deines Körpers, zu fliegen? Oder unter Wasser atmen zu können?“

„Stimmt, das registriert man zwar mit mildem Erstaunen, akzeptiert es aber als völlig normal.“

Der Schöpfer kommt zum Punkt. „Du hast diese Welten im Geist erschaffen, dadurch haben sie Existenz erlangt, haben Substanz errungen. Und wenn sich Millionen von Jüngern auf einen Fakt, einen Glaubenssatz einigen, wenn sie unerschütterlich darauf bauen … dann können sie problemlos einen Gott und einen Antagonisten erschaffen – und über lange Zeit ‚am Leben‘ erhalten. Ob eine Existenz virtuell oder ‚echt‘ ist, spielt dabei keine Rolle.“

Ich habe zwar noch berechtigte Zweifel, entgegne aber höflich: „Ich muss mich an den Gedanken noch etwas gewöhnen, kann ihn aber aus logischer Sicht schon mal nachvollziehen.“

„Sehr schön.“

„Und verstehe mich nicht falsch: Ich war so ab dem vierzigsten Lebensjahr auch nicht mehr gegen den Glauben, schließlich hilft er Millionen von Menschen, besser durch den Tag zu kommen – das sollte nicht negativ bewertet werden.“

„Sehr einsichtig.“

„Natürlich hatte und habe ich weiterhin Probleme mit dem ganzen Brimborium, den arkanen Zeremonien, den skurrilen Gewändern, welche unbedarfte Gläubige durch fast greifbaren Zauber bei der Stange halten sollen; und natürlich mit den unaussprechlichen Gräueltaten, die im Namen des Glaubens verübt wurden, wie die Inquisition, Hexenverbrennung, Kreuzzüge, Kindesmissbrauch … nicht zu vergessen Pogrome und Jihad.“

„Offensichtlich.“

Ich hatte in langen Jahrzehnten der Ehe ein sicheres Gespür für die Stimmung des Gesprächspartners entwickelt. Kurze, eintönige Antworten sind ein subtiles, aber sicheres Zeichen für den Wunsch nach einem Themenwechsel. Genauer, nach baldigem Themenwechsel …

Nun gut, fahren wir fort mit der Erörterung meines ganz persönlichen Jenseits. Mir kommt eine Idee. „Statt mir die VMs zu beschreiben, könnte ich diese denn nicht auch kurz besuchen? Nur, um einen eigenen Eindruck zu erhalten? Dies würde mir helfen, eine der Pillen zu wählen – und du hast ja noch eine Wette offen?“

Der Schöpfer legt die Stirne in Falten. „Dies ist im Konzept nicht vorgesehen. Wie soll das denn funktionieren?“

In aller Bescheidenheit lasse ich meine Expertise einfließen. „Nun, auf irdischen VMs kann man eine Session, eine Sitzung eröffnen, sozusagen aus der Ferne einsteigen und sich zumindest etwas umsehen.“

Morpheus scheint interessiert. Er steht geschmeidig auf, durchschreitet nachdenklich den Raum und gesellt sich schlussendlich zu mir an den Kamin, lehnt sich an die gegenüberliegende Seite.

„Als Schöpfer kann ich im Grunde alles ermöglichen. Wie kann ich aber sicher sein, dass du – wie ich – nie eingreifst, sondern nur beobachtest? Du könntest leicht die perfekte Ordnung stören. Empfindlich stören.“

Meine Hand auf der Brust mimt Verletztheit. „Mein ehrliches Gesicht ist nicht Pfand genug?“

Der Schöpfer beäugt misstrauisch ein ehrliches Gesicht. Er scheint nicht gänzlich überzeugt. „Ich nehme dies als Scherz.“

Ich eile durch Alternativen und lächle gewinnend. „Wie wäre es hiermit: Du kommst mit und schaust mir auf die Finger?“

6.

Das Nichts

Der Schöpfer wendet sich nachdenklich ab. Er setzt sich wieder, beäugt mich intensiv. Wie ein Pferdehändler, dem ein geschickt getarntes, hüftlahmes Kamel mit kariösem Gebiss untergejubelt wurde. Er klopft dabei unablässig mit dem Daumen der rechten Hand leicht auf die Sessellehne.

Er scheint zu einem Entschluss zu kommen.

„Nun, du bist zumindest unterhaltsam.“

„Ähh … danke …?“

„Setz dich doch bitte wieder …“

Er wartet höflich, bis ich Platz genommen habe, und fährt fort. „Eventuell etwas gar zu unterhaltsam … Ich muss als Schöpfer äußerst vorsichtig agieren. Das System ist fein kalibriert und tickt reibungslos vor sich hin – und das soll so bleiben.“

„Das kann ich nachvollziehen.“

Er seufzt tief und klopft abschließend auf die Sessellehnen. „Verflixt, ich kann nicht widerstehen. Ich muss wissen, wie es weitergeht. Aber! Wir machen zuerst mal einen Testlauf in einer weitgehend neutralen Simulation – ich denke da an die rote Pille, das Nichts. In der Leere kann eine Seele konstruktionsbedingt nichts verbiegen.“

Bevor ich den Mund öffnen kann, um eine etwas attraktivere Umgebung vorzuschlagen – vorzugsweise unter Palmen, mit eisgekühlten und mit neckischen, kleinen Schirmchen verzierten Drinks …

Schwarz überfällt mich. Brutal wie ein Schlag mit dem Axtstiel, gleich hinter dem Ohr. Tiefste Schwärze. Absolute, kreischende Stille. Kein Boden unter mir. Kein Unten, kein Oben, kein Drumherum. Falle ich etwa? Ich falle! Oder nicht? Ich öffne den Mund zum Schrei, aber kein Laut dringt heraus. Der Laut scheint leise in mir zu beben, hoch komprimiert, gefangen in der geschrumpften Murmel meiner Seele. Panik hämmert unkontrollierbar, wobei die damit einhergehenden körperlichen Reaktionen, wie galoppierender Puls und keuchender Atem, ausbleiben. Was die Panik noch vergrößert.