Craving the sun - Helèn Collignon - E-Book

Craving the sun E-Book

Helèn Collignon

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Beschreibung

Wem kannst du noch trauen, wenn dir deine große Liebe das Herz gebrochen hat? Nach ihrer überstürzten Kündigung steht Evelyn vor einem Scherbenhaufen. Sie muss nicht nur ihre seelischen Narben heilen, sondern auch ihr Leben neu sortieren. Als sie auf den Musikstudenten Aiden Rayleigh trifft, fühlt sich jede Begegnung mit ihm wie ein Déjà-vu an. Doch ihre Bemühungen, alles hinter sich zu lassen, scheinen vergebens, denn die Dämonen ihrer Vergangenheit sind Evelyn immer einen Schritt voraus.

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Seitenzahl: 457

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über die Autorin

Helèn Collignon wurde im Oktober 1992 in den Niederlanden geboren. Sie liebt das Schreiben seit dem Teenageralter. Mit ihrem Freund und ihren zwei Katzen lebt sie in der Nähe von Aachen. Neben dem Laufen und Serien-Binge-Watchen liebt sie es, stundenlang am Laptop zu schreiben, dabei ohrenbetäubend lauten Rock zu hören oder auf der Couch zu lesen. Ihre Inspiration zieht sie aus ihren sehr lebhaften Träumen.

WREADERS E-BOOK

Band 243

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch rschienen

Copyright © 2024 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Druck: BoD – Books on Demand, Norderstedt

Umschlaggestaltung: Marlo Bremer

Lektorat: Gina Nadile, Vanessa Janke

Satz: Ryvie Fux

www.wreaders.de

Für Sascha, der mir gezeigt hat, wie sich Träumen anfühlt.

Kapitel 1

August

Obwohl ich dachte, nie wieder etwas Derartiges fühlen zu müssen, seitdem ich Alex verlassen habe, nistet sich die Hilflosigkeit ein, als wäre sie nur für eine Weile verreist. Um plötzlich mit ihren Koffern erneut vor meiner Haustür zu stehen, wie ich vor Charlies.

Ich habe nichts mehr.

Keinen Job, kein eigenes Zuhause, keine Perspektive.

Frustriert lasse ich meinen Kopf gegen die Lehne der Schlafcouch fallen und stöhne. Mit fast zweiundzwanzig Jahren wohne ich wieder in meinem alten Kinderzimmer bei meiner Schwester Charlie und ihrem Mann Eric.

Es ist nicht mein altes Leben, das ich vermisse, sondern meine verdammte Arbeit und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun zu haben.

Der Fernseher läuft und eine Nachricht poppt auf, die fragt, ob ich noch weiter schaue.

Nein, eigentlich nicht. Seit einer Woche habe ich das Haus nicht verlassen und in dieser Zeit Netflix, gelinde gesagt, durchgeschaut.

Was soll ich bloß mit meinem Leben anstellen? Ich verlagere das Gewicht und bestätige mit der Fernbedienung die nächste Episode irgendeiner Serie, deren Handlung ich nicht verfolge.

Die letzten Tage bereue ich es zutiefst, dass ich nicht studieren gegangen bin, obwohl Charlie es mir immer zur Option gestellt hat. Jahrelang war ich fest entschlossen, unser spärlich zurückgelegtes Geld nicht für ein Studium zu nutzen, von dem ich nicht mal weiß, ob ich es durchziehe. Seit dem Tod unserer Eltern haben sich meine Schwester und Eric um mich gekümmert. Aber mit Erics Einnahmen aus dem Café und Charlies Lohn als Pflegeleitung kann man keine Luftsprünge machen. Im Gegenteil. Es reicht gerade so. Und jetzt liege ich den beiden zusätzlich auf der Tasche.

Nach der Trennung von Alex war es für mich in Ordnung, hier zu wohnen, weil ich selbst für mein Essen und einen Anteil der Miete aufkam. Doch ohne meinen Job bin ich eine Belastung.

Ein leises Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Charlie streckt ihren Kopf vorsichtig rein und ihre besorgten Züge entspannen sich, weil ich ausnahmsweise mal nicht weine.

»Möchtest du gleich etwas mitessen?« Ihre braunen Augen scannen mich von oben bis unten. Ich war heute noch nicht duschen und draußen dämmert es bereits. Ihr mitleidiger Blick bleibt an meinen ungekämmten, verknoteten Haaren hängen.

Ich zucke mit den Schultern, nicke dann aber stumm.

»Okay, bis gleich.« Sie zwingt sich ein schmallippiges Lächeln auf und schließt die Tür hinter sich.

Durch das Vibrieren meines Handys zucke ich zusammen, obwohl es keine unangenehme Nachricht sein kann, da ich Liams Nummer seit dem Rückflug aus New York blockiert habe. Nach meinen letzten Worten an ihn. Ich Feigling. Wie er meine Kündigung wohl aufgenommen hat?

Ruby schickt mir ein Foto aus San Francisco. Sie rekelt sich im Bikini auf einem Liegestuhl und badet in der Sonne. Ihre Haut glänzt goldbraun. Neben ihr entdecke ich ein fremdes Bein, vermutlich das ihrer Mutter, die sie in den Semesterferien besucht.

Eine weitere Nachricht poppt auf.

Ruby: Wie geht’s dir?

Ich: Geht so. Wie ist es bei dir? Sonne pur?

Ruby: Das Wetter ist herrlich. Meiner Mom und mir geht es super. Wir unternehmen viele schöne Sachen zusammen. Sie hat gesagt, dass du gern vorbeikommen darfst.

Ich: Das ist lieb. Nächstes Mal. Grüß deine Mutter von mir.

Ruby: Mach ich. Wenn etwas ist, melde dich.

Mit einem schlechten Gewissen schließe ich die App wieder. Obwohl ich Ruby nur knapp antworte, schickt sie mir beinahe täglich Updates von ihren Ferien. Sie ließ mich nur schweren Herzens allein und das auch nur, weil es mir zu dem Zeitpunkt etwas besser ging. Wie schlimm es mir mit Alex ergangen ist, weiß nur sie.

Nicht ganz. Die einzige Person ist sie nicht. Liam weiß es. Wusste es. Ist es gemein vor mir, in der Vergangenheitsform an ihn zu denken? Denn für mich ist er definitiv gestorben.

Der Aufenthalt in New York hat meine Welt zum Einsturz gebracht. Wenn ich bedenke, dass das alles erst drei Wochen her ist, will ich mir vor lauter Verzweiflung am liebsten die Haare herausreißen. Hinter meiner Stirn pocht es penetrant und ich werfe eine Tablette ein, bevor der Schmerz zu einer ausgewachsenen Migräne mutiert.

Einem inneren Drang von Neugier nachgebend nehme ich das Handy wieder und klicke auf den Chat mit Liam, der sich seit der Blockierung nicht mehr aktualisiert hat. Ob er mir geschrieben hat? Mein Daumen schwebt über dem Zeichen, um den Kontakt wieder freizugeben, aber ich kann nicht. Zu groß ist die Angst vor seiner Reaktion. Er war wahrscheinlich fuchsteufelswild, als er von meiner Kündigung erfahren hat. Wie könnte er auch nicht? Spätestens als er meine Chipkarte in seinem Türschlitz entdeckt hat, wird ihm klar gewesen sein, dass ich aus New York verschwunden bin, was sich für ihn wie ein schlimmer Verrat angefühlt haben muss.

Meine Hände zittern, als die Bilder aus dieser Nacht auf mich einprasseln. Seine Lippen an meinem Hals. Seine Finger, die über mein Schlüsselbein streichen. Sein heißer Atem auf meiner schweißnassen Haut. Das unerträgliche Engegefühl in der Brust und mein Herz, das protestierend laut gehämmert hat.

»Bitte versuch es. Für mich. Bitte, Evelyn.«

Mein Griff um das Gehäuse verkrampft sich und ich spüre, wie die Kanten des Telefons Druckstellen in meiner Handfläche hinterlassen. Hoffentlich leidet Liam genauso wie ich. Am liebsten würde ich ihn anschreien. So lange, bis meine Stimme bricht und die unbändige Wut in mir sich Raum verschafft hat. Leere und überwältigende Gefühle wechseln sich im Sekundentakt ab, und ich will das nicht länger ertragen.

»Evelyn?!« Erics Stimme dringt quer über den Flur bis zu mir. Durch zusammengebissene Zähne atme ich aus und lasse mein Smartphone wieder sinken. Ich bin nicht bereit herauszufinden, ob oder was er mir zu sagen hat.

Lustlos schlurfe ich zum Abendessen ins Wohnzimmer und setze mich auf die Couch. Charlie hat sich Mühe gegeben und Wraps für uns zubereitet, eines meiner Lieblingsgerichte. Aber wie schon die letzten Wochen schmeckt alles fade, was ich zu mir nehme.

»Hast du vielleicht Lust, morgen mit mir ins Kino zu gehen?« Meine Schwester wirft mir einen hoffnungsvollen Blick zu, den ich aus dem Augenwinkel wahrnehme, während ich auf den Fernseher starre und angestrengt kaue, um Zeit zu schinden.

Bei der Frage muss ich unweigerlich an den Abend mit Liam denken, an dem wir uns den neuen Film mit Tom Cruise angeschaut haben. Wie wir auf Marcus Kennet und seine Frau getroffen sind und wie sie uns angesehen haben, weil diese date-artige Situation für jeden offensichtlich war, außer für mich. Ich wollte es nicht sehen und habe wissentlich jedes Anzeichen ignoriert. Jede Berührung von Liam habe ich mit einem Schulterzucken abgetan, mir immer wieder eingeredet, dass er mich nur beschützen will, wie ein Vater seine Tochter.

Gott, wie sehr wünsche ich mir, dass er genauso empfunden hätte und nicht anders. Dass er nicht meinen Körper gewollt hätte, sondern mich als Menschen, trotz meiner Vertrauensprobleme. Aber es reichte nicht. Ich reiche nicht.

Tränen steigen mir in die Augen und bevor sie vor Eric und Charlie herausbrechen, wische ich mir schnell über das Gesicht und stehe auf, um meinen Teller in die Küche zu bringen.

»Ich kann nicht, tut mir leid«, murmele ich im Vorbeilaufen zu Charlie. Ich spüre, wie sich ihr Blick förmlich in meinen Rücken brennt, aber irgendetwas hält sie davon ab, mir nachzulaufen. Eiligen Schrittes gehe ich in mein Zimmer, verkrieche mich ins Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf.

Nur das Kissen, das ich mir aufs Gesicht drücke, erstickt die Schluchzer, die meinen Körper jede Nacht beben lassen.

September

Wut und Leere. Das sind die vorherrschenden Gefühle in mir.

Mein zweiundzwanzigster Geburtstag zieht wie ein Tornado an mir vorbei.

Wir waren zu dritt im Seattle Aquarium, aber meine Freude darüber war nur von kurzer Dauer.

Meine Laune schwankt täglich mehrmals von endloser Traurigkeit bis hin zu etwas, das sich nach Hass anfühlt.

Nur Charlie zuliebe funktioniere ich und helfe im Haushalt und bei den Einkäufen.

Ruby ist aus ihren Semesterferien zurück, aber weder ihre lustige Fotokollektion von ihrer Mom noch die Erzählungen aus San Francisco haben mir nicht mehr als ein halbherziges Lächeln entlockt.

Nichts hilft mir. Und das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass es sich nicht so anfühlt, als könnte sich mein Zustand jemals bessern.

Oktober

Als ich die Lider aufschlage, weiß ich sofort, wo ich mich befinde. Dort, wo ich niemals wieder sein wollte. Und doch besucht mein Verstand diesen Ort beinahe jede Nacht.

Ich erkenne ihn an dem Geruch, an der vertrauten Umgebung, aber am allermeisten an dem Gefühl in mir. An der nackten Panik, die sich mit scharfen Krallen in meinen Körper gräbt und das Monster aus meinen Erinnerungen wieder zum Leben erweckt.

Mein Kopf ist in ein weiches, flauschiges Kissen gebettet, das mir die Illusion eines Zuhauses vorgaukelt, dabei bin ich in der Hölle.

Ruckartig richte ich mich in dem Bett, in dem ich liege, auf. Nur langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich schaue mich um, bevor ich in das Gesicht blicke, das ich am liebsten für immer aus meinem Gedächtnis verbannen würde. Alex’ Präsenz neben mir auf der Matratze ist so mächtig, dass meine Fingerspitzen kribbeln. Kalte, blaugraue Augen starren hasserfüllt in meine.

Sein Körper ist bis in den letzten Muskel angespannt und sein Griff ist um mein Handy gekrallt, das er mir vor die Nase hält, damit ich die Worte lesen kann, die ich ohnehin schon auswendig kenne. Liams Nachricht an mich. Die Nachricht, die Alex alles missverstehen lassen hat, was jemals zwischen meinem Chef und mir war.

Obwohl ich weiß, dass ich ihm nicht entkommen kann – egal, wie sehr ich mich anstrenge oder welche Taktik ich dieses Mal anwende –, springe ich vom Bett und gebe dem Fluchtinstinkt nach. Er rauscht wie Gift durch meine Adern. Ich renne durch Alex’ und mein ehemaliges Schlafzimmer und schicke ein Stoßgebet gen Himmel, dass ich dieses Mal die rettende Tür erreiche, bevor mich mein Ex-Freund aufhält. Meine Finger berühren die Klinke und ich schluchze vor Erleichterung auf, als ich mich dagegen stemme, um in den rettenden Flur zu gelangen.

Dann werde ich an den Haaren zurückgerissen. Mein Körper fällt nach hinten und ich stürze auf mein Steißbein.

Doch es ist nicht der scharfe Schmerz, der durch meinen Rücken schießt, der mich lähmt, sondern die Verzweiflung, weil ich versagt habe. Schon wieder.

Ein gequälter Laut dringt aus meiner Kehle und ich taste zitternd nach Alex’ Hand, um seinen Griff abzuschwächen. Seine Nägel kratzen über meine Haut, als er mich gnadenlos hinter sich her schleift, geradewegs in den Flur, in den ich flüchten wollte.

»Alex, bitte«, winsele ich gepresst. Er lässt mich ohne Vorwarnung los und ich lande auf dem Boden.

»Du hast was mit ihm!« Seine große, schwere Gestalt beugt sich über mich und schreit mir in die Ohren. »Ich wusste es. Schon seit dem Sommerfest, als dich dieser alte ekelhafte Sack angefasst hat. Du gehörst mir! Nur ich darf dich berühren. Sonst keiner.«

Bei seinen Worten beschleunigt sich meine Atmung. Gleich ist es so weit. Gleich wird er mich schlagen. Wieder. Und wieder. Immer wieder. Und ich kann rein gar nichts dagegen tun.

Trotzdem versuche ich es. Die Angst in mir treibt mich dazu an. »Alex, bitte. Da war nie etwas zwischen ihm und mir. Du musst mir glauben.«

Ich stütze meinen Oberkörper auf die Unterarme, spüre die kalten Fliesen unter meinen Fingerkuppen. Das altbekannte Kribbeln einer heranrollenden Panikattacke rauscht durch meine Gliedmaßen.

Meine Schulter brennt vom Aufprall auf dem Boden und gleich kommt der Schmerz in meinem Gesicht dazu, weil er mich schlagen wird, wie damals schon. Das Blut meiner aufgeplatzten Lippen kann ich bereits jetzt schmecken.

Bitte, ich muss aufwachen. Ich will das nicht schon wieder durchleben.

Alex schaut mich mit diesem herablassenden Blick an, mit dem er mich jedes Mal in meinen Träumen straft. Die Abscheu darin ist unverkennbar.

»Du hast es nicht anders verdient, Evelyn.« Die Kälte in seiner Stimme nimmt mir die Luft zum Atmen. Als er einen entschlossenen Schritt auf mich zu macht, kneife ich die Augen fest zusammen und spanne jeden Muskel in mir an.

Der Schlag, der mich trifft, ist hart und unerbittlich. Weil ich mir auf die Lippe beiße, fließt Blut und ich wanke zur Seite. Ich sollte mich verteidigen. Die Arme schützend vor meinen Kopf heben oder mich zusammenkauern, aber das hat in den Nächten zuvor nie etwas gebracht. Wenn es nicht Alex’ Hand war, die mich verletzt hat, dann war es im Fall einer Gegenwehr von mir sein Fuß. Egal, was ich ausprobiere, es endet immer gleich.

Es tut weh. Mein ganzer Körper tut weh.

Meine Augen halte ich geschlossen und ich bemühe mich um eine flache Atmung, um mich zu beruhigen. Trotzdem zucke ich zusammen, als sich warme Haut an meine heiße Wange legt und sanft darüberstreicht.

»O Evelyn.« Der Klang dieser Stimme ist so schön, so fürsorglich, dass sie mir Qualen bereitet, die jenseits vom Physischen liegen.

Obwohl ich mit aller Willenskraft dagegen ankämpfe, öffnen sich meine Lider und ich erkenne Liam, der vor mir kniet.

Alex ist verschwunden.

Sofort durchströmt mich Erleichterung und ich seufze auf.

Liams eisblaue Augen blicken tief in meine. Um seinen Mund liegt ein bedauernder Zug, sein Gesicht sieht von Sorge zerfressen aus.

Wach auf. Wach auf. Wach auf.

Nichts passiert. Ich bin gefangen in meinem Traum, dazu verdammt, mich immer wieder mit Alex und Liam auseinanderzusetzen.

Die Hölle mit Alex zu durchleben, zerstört jedes Mal von Neuem einen Teil von mir. Und doch ist es Liams trauriger Blick, der mir den Rest gibt, denn für Alex empfinde ich nichts als Hass und Verachtung. Gefühle, die leichter beiseitezuschieben sind als meine undefinierbaren Empfindungen für Liam. Er war meine Bezugsperson, mein Ruhepol, mein Anker, mein ein und alles. Ich habe ihm alles anvertraut, er wusste, dass Alex mich geschlagen und mit mir geschlafen hat, obwohl ich es nicht wollte. Er wusste alles von mir.

»Ich liebe dich«, flüstert Liam und drückt seine Lippen auf meine. Mein Körper erstarrt zu Stein und ich bin unfähig, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Er seufzt und drückt mich sanft zu Boden. Sein Mund wandert zu meinem Hals, streift an meinem Schlüsselbein vorbei und facht die Panik, die ich trotz meiner Bewegungsunfähigkeit spüre, noch mehr an.

Ich will ihn fragen, warum er mich küsst, anstatt mich zu beschützen, aber die Worte lassen sich nicht formen. Stumm liege ich da, Tränen laufen über meine Wange und ich warte darauf, dass ich endlich erlöst werde und aufwache.

Vielleicht ist es meine Strafe dafür, dass ich versucht habe, mich Liam in New York zu öffnen. Ja, ich habe ihn geküsst, aber schnell festgestellt, dass da kein einziges romantisches Gefühl in mir war, an das ich mich hätte klammern können.

»Hör auf«, flüstere ich. Es ist eine leise Bitte, ohne Nachdruck. Und wie schon in jener Nacht im Hotelbett macht Liam mit dem weiter, was ihn scheinbar mit Glück erfüllt. Blind für die Angst und den Unwillen in mir.

»Hör auf.«

Er zieht mir das T-Shirt hoch und streicht mit seinen Händen über meinen Bauch, während ich versuche, diesem Übelkeit erregenden Ziehen in meiner Magengegend einen Namen zu geben.

Liam schiebt den Stoff weiter rauf und seine Lippen öffnen sich leicht, als er meine nackten Rippen sieht. Der Ausdruck in seinen Augen ist wie ein wilder Sturm. Und in diesem Moment fällt mir ein, nach welchem Wort ich suche.

Enttäuschung. Bodenlose, abgrundtiefe Enttäuschung. Hass ist leicht zu erdulden. Er ist wie ein Feuer, das in einem wütet und dabei jegliche Zuneigung, die jemals für diese Person existiert hat, vernichtet. Aber Enttäuschung ist an Liebe gebunden und wandelt sie in etwas Schmerzvolles um, anstatt sie zu verschlingen. Gefühle werden nicht ausgelöscht, sondern umgekehrt.

»Hör auf«, verlange ich mit fester Stimme und stemme mich gegen Liam, der halb von mir runterrutscht. Als wäre das Finden dieses Wortes der Schlüssel für die unsichtbaren Ketten um meine Gliedmaßen, schaffe ich es, mich zu bewegen. Für einen kurzen Moment bin ich verwirrt und Liam greift mit seiner Hand in mein Haar. Nicht brutal, aber doch so energisch, dass ich mich seinem Griff nicht entziehen kann.

»Bitte, Evelyn, versuch es für mich.« Die Ähnlichkeit der Situation zu New York ist wie eine Ohrfeige. Er versiegelt meine Lippen mit seinen, hält mich an sich gedrückt, obwohl ich ihn von mir stoßen will, und hört nicht auf.

Er hört einfach nicht auf.

Um nicht länger in sein Gesicht sehen zu müssen, presse ich die Lider fest zusammen …

… und wache auf. Ein Schrei erstirbt in meiner Kehle. Bleibt stecken und schnürt mir die Luft ab. Erleichtert blinzele ich die weiße Decke an, Tränen kullern aus meinen Augenwinkeln und laufen mir die Schläfe herunter.

Gott sei Dank bin ich wieder in meinem Zimmer.

Die Panik in mir flacht nur langsam ab, denn irgendetwas an diesem Traum war beängstigender als sonst. Normalerweise wache ich auf, sobald sich Liam über mich beugt und seine Hände unter mein Shirt schiebt.

Aber dieses Mal war es anders. Als ich die Enttäuschung für ihn endlich greifen konnte, war der unsichtbare Bann, der auf mir lastete, gebrochen.

Ich will mich im Bett aufrichten, aber etwas stimmt nicht. Meine Brust fühlt sich taub an, genauso wie meine Gliedmaßen.

Mit einem flauen Gefühl im Magen befehle ich meinem rechten Arm, sich zu heben, aber er gehorcht mir nicht. Er ist nicht eingeschlafen, denn ich spüre kein unangenehmes Kribbeln. Auch der Rest meines Körpers bleibt gelähmt. Als würde ein schweres Gewicht auf meiner Brust liegen und mich in das Polster der Schlafcouch drücken. Das Atmen fällt mir schwer, dadurch kehrt die Panik binnen eines Wimpernschlags zurück. Ersticke ich? Nein, das kann nicht sein. Eigentlich bin ich doch schon längst wach, verdammt noch mal. Warum kann ich mich nicht rühren?

Im Augenwinkel bemerke ich einen dunklen Schatten, der in einer Ecke steht, und begreife entsetzt, dass ich nicht allein im Raum bin. Sofort will ich mich abwenden, weg von diesem Ding, aber es geht nicht. Alex und Liam können mich unmöglich bis hierher heimgesucht haben, oder? Meine Angst schnürt mir die Luft zum Atmen ab.

Der Schatten kommt auf mich zu und ich kann ihm nur reglos mit meinem Blick folgen.

Beweg dich! Evelyn! Jetzt.

Ich mobilisiere all meine Kräfte und schaffe es endlich, meinen Arm zu heben. Er durchbricht die Schockstarre meines Körpers und mit einem Ruck drehe ich mich zur Seite und stürze zu Boden. Der Schrei, der zuvor in meiner Kehle stecken geblieben war, löst sich und ist so laut, dass er mir in den Ohren klingelt.

Im Flur höre ich ein Poltern, das sich nach Schritten anhört, dann wird die Tür aufgerissen und Eric und Charlie stürmen in mein Zimmer.

»Gott, Evelyn! Alles okay?« Ihre Stimme klingt schrill. Meine Schwester kommt schlitternd vor mir zum Stehen und kniet sich vor mich. Ihre Hände umschließen meine Unterarme, weil ich mir instinktiv die Ohren zuhalte.

Erics Finger berühren mich am Rücken. Mein Schlafshirt klebt klamm an meiner schweißnassen Haut.

»Shhht. Es war nur ein Traum.« Er reibt mir beruhigend zwischen den Schulterblättern auf und ab. Am liebsten würde ich davonrennen, aber ich ertrage den Trost und konzentriere mich darauf, meine Atmung zu normalisieren.

Ein leiser Schluchzer lässt meinen Körper erzittern und erst jetzt wird mir klar, dass ich weine. Meine Sinneseindrücke und die Kontrolle über meine Gliedmaßen kommen Stück für Stück zurück.

Liam hat nicht aufgehört, obwohl ich ihn darum gebeten habe. Wie konnte er mir das antun?

Charlie schiebt Eric beiseite und zieht mich in ihre Arme. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass sie mich ungefragt anfasst. Jetzt scheint es ihr egal zu sein oder es ist ihr vielmehr wichtiger, mich unversehrt an ihrer Brust zu spüren. Sie streicht mir über den Scheitel und murmelt beruhigend klingende Laute in mein Ohr, die ich nicht wahrnehme. Ich bin trotz der Berührung unendlich erleichtert, dass ich endlich wach bin.

»Alles wird gut«, höre ich aus ihrem Wispern heraus.

Ich glaube ihr kein Wort.

Kapitel 2

So kann das nicht weitergehen.«

Charlie verschränkt ihre Arme und durchbohrt mich mit einem strengen Blick. Wir sitzen am Küchentresen und frühstücken. Meine Haare sind von der morgendlichen Dusche noch nass. Ich musste den Albtraum mit aller Gewalt von mir waschen. Es fühlte sich an, als würden Liams Fingerabdrücke an mir haften wie ein Tattoo.

Vor mir liegt ein trockener Toast, von dem ich kaum einen Bissen herunterwürge. Mein Hals kratzt bei jedem Schluck, als hätte ich stundenlang geschrien.

»Evelyn!«

»Was?!« Meine Frage kommt einem Fauchen gleich, denn meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Wenn Charlie mir ausgerechnet jetzt mit einem Vortrag kommt, vergesse ich mich.

»Rede doch mit uns.« Meine Schwester wirft ihren Pferdeschwanz zurück und an dieser genervten Bewegung erkenne ich, dass sie kurz vorm Explodieren ist.

»Ich rede doch mit euch.« Mit voller Absicht lege ich einen gleichgültigen Tonfall an den Tag. Was will Charlie denn hören? Ganz bestimmt nicht, was ich geträumt habe. Damit könnte sie ohnehin nicht umgehen. Ich schaffe es ja selbst kaum und verdränge alles, anstatt mich damit zu befassen. Es geht einfach nicht.

Charlies Faust saust auf den Holztresen hinunter und durch den lauten Aufprall falle ich fast vom Stuhl. Als ich zu ihr schiele, zittert ihr ganzer Arm.

»Ich will jetzt endlich wissen, was Alex mit dir gemacht hat. Oder was in New York mit Liam passiert …«

Unbändige Wut platzt aus mir heraus und befördert meinen Teller gegen die Wand, an der er in tausend Scherben zerbricht, die klirrend zu Boden fallen.

Wie kann sie es wagen, mich darauf anzusprechen?! Als wären die letzten Monate spurlos an ihr vorbeigezogen. Sie ist meine Schwester, sie muss doch sehen, wie ich mich fühle, verdammt!

»Erwähne ihre Namen nie wieder!« Meine Stimme springt eine Oktave in die Höhe und mit einem Satz stürme ich aus der Küche, renne in mein Zimmer und schnappe mir die erstbesten Schuhe, die ich finden kann, um diese Wohnung zu verlassen. Ich muss sofort hier raus, ansonsten weiß ich nicht, ob mir Dinge herausrutschen, die ich später bitter bereue.

Weder Charlie noch Eric halten mich auf, als ich die Tür hinter mir zuknalle und die Straße in unserer Wohnsiedlung entlanglaufe, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Mein Kopf raucht, Bilder von Alex und Liam drängen sich an die Oberfläche und ich setze alles daran, sie wieder in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses zu schieben. Ich will nicht an sie denken, es reicht, dass sie mich in meinen Träumen quälen.

Als ich die ersten zweihundert Meter mit stampfenden Schritten hinter mir gelassen habe, beruhigen sich meine Nerven ein wenig. Der erschrockene Gesichtsausdruck von Eric ist mir nicht entgangen, Charlie sah nur wütend aus. Und schon wieder steigen mir Tränen in die Augen, weil ich unglaublich unfair zu den beiden bin. Mir ist bewusst, dass sie sich nur Sorgen um mich machen, weil ich das Haus seit Wochen kaum verlasse. Nur gezwungenermaßen, wenn sie mich mit zum Einkaufen nehmen oder Charlie versucht, mit mir shoppen zu gehen. Jedes Mal schlendere ich nur lustlos hinterher, ohne aktiv am Geschehen teilzunehmen. Es gibt nichts, was mich interessiert, abgesehen von dem Gedanken an mein Bett und der Tatsache, dass ich müde bin. Und müde bin ich, weil ich nicht schlafen kann, ohne von Albträumen verfolgt zu werden. Es ist zum Haareraufen. Weil ich dazu keine Kraft habe, kann ich aus dem Teufelskreis, in dem ich mich befinde, nicht entkommen.

Während ich an einer Ampel stehen bleibe und an mir herunterschaue, bemerke ich, dass ich mir meine Sportschuhe geschnappt habe. Früher bin ich oft laufen gegangen, weil ein gewisser Ex-Freund wollte, dass ich mich sportlich betätige. Seitdem ich geflüchtet bin, war ich nicht mehr draußen, um überschüssige Energie abzubauen. Dabei bin ich immer gern joggen gegangen. Aber es nach der Trennung zu tun, hat sich bisher wie ein Verrat an mir selbst angefühlt. Ich sollte nichts lieben, was mich auch nur im Entferntesten mit ihm verbindet.

Jetzt, allein an der frischen Luft, fehlt mir der Sport. Ich vermisse es, an nichts zu denken und mich auszupowern, damit ich danach hoffentlich erschöpft, aber zufrieden abends einschlafe.

Voller Tatendrang binde ich mir einen hohen Zopf und laufe los, als die Ampel auf Grün springt. Die ersten Schritte sind etwas holprig und ungleichmäßig, aber dann verfalle ich in ein gemütliches Tempo. In unserer Wohnsiedlung ziehe ich einen großen Kreis und bleibe in der Nähe unseres Zuhauses, falls Charlie nach mir sucht. Ich will nicht, dass sie sich um mich sorgt.

Meine arme Schwester. Was habe ich ihr die letzten Wochen angetan? Ohne eine Erklärung stand ich nach meiner Flucht aus New York vor ihrer Tür. Bisher habe ich kein Wort darüber verloren, warum ich meinen Job gekündigt habe und was vorgefallen ist. Sie weiß weder, dass etwas zwischen Liam und mir lief, noch, dass meine letzten Monate mit Alex von häuslicher Gewalt geprägt waren.

Sofern Liam ihr damals nichts darüber gesagt hat, als sie mich im Büro nach meinem Zusammenbruch abholte und eine kurze Unterhaltung mit meinem Chef führte. Er und Ruby sind die einzigen Personen, vor denen ich es jemals laut ausgesprochen habe, dass Alex mich geschlagen hat. Vor Ruby, weil sie mein lädiertes Gesicht gesehen hat, und vor Liam, weil ich jämmerlich in seinen Armen geweint habe, nachdem er mich angefasst hat, was ich nicht ertragen konnte. Ich halte dank Alex fast gar keine Berührungen mehr aus. Als würde mein Körper in ständiger Alarmbereitschaft leben, dass gleich etwas passieren wird, was ich nicht will.

Nach einer kleinen Runde laufe ich an unserer Wohnung vorbei, beschließe aber, eine weitere einzulegen. Meine Gedanken sind das erste Mal seit Langem nicht mehr so depressiv, dass ich mich vor Schmerz krümme. Als hätte die stickige Luft in meinem Zimmer mein Gehirn vernebelt. Ich erwische mich dabei, wie sich meine Lippen zu einem kleinen Lächeln verziehen, weil sich die kühle Brise gepaart mit der körperlichen Anstrengung wie eine Wohltat anfühlt.

Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass ich etwas Entscheidendes in meinem Leben ändere. Ich muss es selbst in die Hand nehmen, es umkrempeln, damit ich mich endlich wieder wie ich selbst fühle und nicht wie der Zombie, der ich die letzten Wochen war.

Reumütig klopfe ich an die Haustür und warte darauf, dass mir geöffnet wird. Ob die beiden sehr wütend sind? Mir steigt eine leichte Schamesröte in die Wangen, als ich an meinen Wutausbruch denke. Wie ein kleines verzogenes Kind habe ich den Teller an die Wand gepfeffert.

Eric zieht die Tür auf und tritt einen Schritt beiseite, um mich hereinzulassen.

»Hey«, sagt er sanftmütig. Ich schlurfe stumm an ihm vorbei. Mein neu erlangter Mut hat mich schon wieder verlassen. Ich habe die letzten Wochen so wenig gesprochen, dass ich es schon fast verlernt habe.

Vorsichtig blicke ich in Erics Gesicht, suche nach Zorn oder Enttäuschung, aber nichts dergleichen spiegelt sich in seiner Mimik wider. Mir wird bewusst, dass ich panische Angst habe, auf Ablehnung zu stoßen. Die beiden müssen mich mittlerweile hassen, so wie ich mich benommen habe.

»Eric …«, setze ich an, doch lasse den Satz in der Luft hängen. Wie soll ich bloß anfangen?

»Was ist, Lynnie? Du kannst uns alles sagen, das weißt du doch, oder?« Eric will mir seine Hand auf die Schulter legen, doch ich weiche vor der Berührung zurück, woraufhin er den Arm wieder sinken lässt. Manchmal scheint er zu vergessen, dass ich es nicht ertrage. Oder er hofft, es wird sich bald ändern. Seine Mundwinkel wandern nach unten.

Kurz erwäge ich, direkt unter die Dusche zu springen, ohne noch etwas zu sagen, da kommt Charlie in den Flur geschossen.

»Wo warst du?«

Auf ihren Wangen sind Spuren von Tränen zu erkennen. Sie hat geweint, wegen mir. Ihre Augen sind leicht gerötet und sie hat rote Flecken auf ihrer hellen Haut.

»Draußen. Joggen.«

Sie reißt erstaunt die Brauen in die Höhe, verschränkt aber ihre Arme vor der Brust und sieht mich aufmerksam an. Ich kenne meine Schwester und weiß, wann sie genervt ist. Verübeln kann ich es ihr nicht, aber unter den Bedingungen ist ein vernünftiges Gespräch mit ihr nahezu unmöglich. Und nach dieser Nacht bin ich nicht in der Lage, ihr die Stirn zu bieten und besonnen zu bleiben.

Meine Schultern sacken herab. »Ich gehe duschen.«

Charlie stellt sich mir in den Weg. »Nein, wir reden erst miteinander.« Ihr Tonfall lässt keine Widerrede zu. »Jetzt.« Hilfesuchend wende ich mich an Eric, den Ruhepol dieser Familie, der mir aufmunternd zunickt, als wolle er mich ermutigen.

»Von mir aus.« Angespannt bis in die letzte Faser stapfe ich an Charlie vorbei in die Küche und setze mich an den Tresen, meinen Blick erwartungsvoll auf meine Schwester gerichtet. Sie will reden, nicht ich.

Auf dem Boden ist keine Spur mehr von den Scherben zu sehen. Lediglich ein Handfeger liegt auf der Arbeitsplatte, den einer von den beiden anscheinend für den zerbrochenen Teller benutzt hat.

»Wie soll es jetzt weitergehen?«, fragt Charlie und setzt sich mir gegenüber. Eric lehnt sich schräg hinter ihr gegen die Spülmaschine und hält sich heraus.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Du hast deinen Job gekündigt. Okay. Ich bin mir sicher, du hattest deine Gründe dafür und die akzeptieren wir auch, ohne sie zu kennen. Aber du hast seitdem kaum noch das Haus verlassen und das auch nur, wenn du musstest. Und dann jagst du uns heute Morgen auch noch eine Heidenangst ein, weil du plötzlich schreist, als würde dich jemand abstechen. Du kannst uns noch nicht mal sagen, warum du so geschrien hast, geschweige denn, warum du seit Wochen vor dich dahinvegetierst. Du bist zweiundzwanzig, also eigentlich ein erwachsender Mensch. Entweder du sagst uns jetzt, was passiert ist, oder ich … ich …« Sie ringt sichtlich nach Worten.

»Oder was? Willst du mich rausschmeißen?!«

»Natürlich nicht.« Sie seufzt, verschränkt ihre Finger miteinander, löst sie dann aber wieder. Die Geste wirkt rastlos und bringt mein schlechtes Gewissen zum Vorschein. Ich kann sie verstehen. In ihrer Lage würde ich mich auch zur Rede stellen. Aber so gern ich ihnen alles erzählen will, ich kann nicht. Das würde mich von innen heraus aufreißen. Meine Wunden beginnen erst, sich zu schließen. Wenn ich zu früh die Kruste abknibbele, wird sie wieder bluten.

»Bitte akzeptiere einfach, dass ich noch nicht bereit bin, okay?«

Ihr Blick zuckt erst zu Eric und dann wieder zu mir. »So einfach ist das aber nicht. Ich kann dir nicht länger dabei zusehen, wie du dich selbst zerstörst.«

»Das mache ich doch gar nicht!«

»Wenn du nicht mit uns reden möchtest, dann vielleicht mit jemand Professionellem?«

Empört schnappe ich nach Luft. Meint sie allen Ernstes das, was ich denke? Sie will mich zu einem Psychologen schicken? Auf gar keinen Fall!

»Nein«, sage ich entschieden.

»Aber, Evelyn, du musst doch sehen, dass wir uns im Kreis drehen.« Hilfe suchend sieht sie zu Eric, der mich mit einem Funken Hoffnung in den Augen betrachtet.

Es reicht mir. Das Gespräch hat genau die Richtung angenommen, die ich nicht einschlagen wollte. Bis vor ein paar Minuten war ich bereit, zumindest mit ihm über meine Kündigung zu sprechen. Aber so …

»Du kannst mich mal!« Ich springe vom Stuhl und eile aus der Küche. Meine Schwester ist im Begriff, mir zu folgen, aber Eric hält sie an der Schulter zurück und schüttelt den Kopf.

Als ich im Badezimmer ankomme, knalle ich extraheftig die Tür hinter mir zu, aber auch das lässt meinen Zorn nicht verrauchen. Enttäuscht sacke ich daran herunter. Wow, Charlie hat es innerhalb von einer Minute geschafft, mich von null auf hundertachtzig zu bringen. Das bringt wirklich nur sie fertig.

Um wieder runterzukommen, atme ich ein paar Mal tief ein und aus.

»Aber sie braucht Hilfe, Eric. Sie verhält sich nicht normal.« Ihre Stimme ist zwar etwas weiter weg, aber ich höre Charlie dennoch deutlich.

»Musstest du ihr denn direkt eine Therapie vorschlagen? War doch klar, dass sie dann wieder dichtmacht, wenn sie noch nicht mal mit dir kommunizieren möchte.« Eric klingt vorwurfsvoll.

»Ich weiß nicht mehr weiter. Mit uns redet sie ja nicht.«

»Als sie eben nach Hause kam, hatte ich das Gefühl, sie wollte etwas sagen.«

»Aber warum tut sie es nicht?« Charlie schnieft, der verzweifelte Laut geht mir durch Mark und Bein und lässt meine Wut verpuffen. Sie weint schon wieder wegen mir. Gott, ich hasse mich.

Kann sie denn nicht verstehen, dass ich unter keinen Umständen eine Therapie machen will? Mit Sicherheit würde ich über mein gesamtes Leben ausgequetscht werden und wäre gezwungen, über Dinge zu reden, die ich noch nicht mal wage, laut auszusprechen. Über meine toten Eltern, über Alex, die Hölle der letzten Monate und über Liam. Was ich für ihn empfinde. Empfunden habe. Dass er wie der ersehnte Vater für mich war, der mir innerhalb von Sekunden, nachdem ich ihn bekam, wieder entrissen wurde. Kann sich auch nur irgendein Mensch vorstellen, wie sich das anfühlt?

Tränen verschleiern meine Sicht und laufen mir die Wangen herunter. Schon wieder. Ich kann kaum über Liam nachdenken, wie soll ich es schaffen, jemals über ihn zu sprechen, ohne daran zu zerbrechen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktioniert.

»Ich weiß es nicht.« Als ich erneut Wortfetzen aufschnappe, konzentriere ich mich wieder auf das Gespräch zwischen Charlie und Eric. »Ehrlich, ich bin genauso ratlos wie du. Aber als du eben nur ihre Namen erwähnt hast, ist sie vollkommen ausgerastet. Das war immerhin irgendeine Reaktion. Besser als diese Apathie der letzten Wochen. Gib ihr noch etwas Zeit.« Er hört sich nicht weniger hoffnungslos an als Charlie, was mir ein schmerzhaftes Ziehen in der Magengegend bereitet.

Ich folge ihrem Austausch nicht weiter und klaube mich stattdessen aus meinen verschwitzten Klamotten. Als Charlies Stimme in die Höhe schießt, werde ich noch mal hellhörig.

»Was ist mit dem Café? Wir können nicht ständig auf Evelyn aufpassen. Aber allein lassen kann ich sie auch nicht. Ich habe Angst, dass …« Den Rest des Satzes verstehe ich nicht, weil sie nuschelt.

»Ich bekomme das schon hin.«

Was bekommt er hin? Ich presse meine Ohrmuschel an die Tür. Stimmt etwas nicht bei Beans n’ Cream?

Schritte hallen im Flur, dann höre ich nichts mehr. Vermutlich sind die beiden ins Wohnzimmer gegangen. Mist.

Mir wird eiskalt. Wenn etwas im Café nicht stimmt, haben wir ein Problem. Die Einnahmen sind unsere Existenzgrundlage. Charlie wurde zwar erst kürzlich zur Pflegeleitung befördert, aber von ihrem Gehalt können wir unmöglich zu dritt leben.

Ein Grund mehr, mich zusammenzureißen. Ich muss endlich wieder auf die Beine kommen. Am besten suche ich mir einen Job, damit ich wenigstens für meine Kosten aufkomme und etwas zur Haushaltskasse beisteuere. Nur was soll ich machen? Zu Keatons zurückzukehren ist keine Option. Nach der Sache mit Liam will ich diesen Laden nie wieder betreten. Allein bei dem Gedanken an seinen Namen spüre ich wieder die bodenlose Enttäuschung durch mich rauschen.

Hastig schlüpfe ich unter die Dusche und danach in mein Zimmer, um mir frische Klamotten anzuziehen.

Mit meinem Handy in der Hand setze ich mich im Schneidersitz aufs Bett und starre es eine Minute lang reglos an. Ich muss zumindest wissen, ob Liam versucht hat, mich zu kontaktieren. Lange war ich nicht bereit dafür, doch jetzt fühlt es sich nach dem richtigen Zeitpunkt an, um etwas zu ändern.

Ohne länger zu zögern klicke ich seinen Kontakt an und hebe die Blockierung auf. Dann gehe ich in unseren Chat und warte.

Nach und nach poppen unzählige Nachrichten auf, die ich mit weit aufgerissenen Augen lese.

02.08.2022

02:24 Uhr

Evelyn: Es tut mir leid.

04:10 Uhr

Liam: Was tut dir leid?

04:30 Uhr

Liam: Wo zur Hölle bist du? Bitte lass uns noch mal reden.

06:18 Uhr

Liam: Du hast ausgecheckt?! Wo bist du?

13:49 Uhr

Liam: Bitte, Evelyn! Es tut mir wahnsinnig leid, aber bitte ruf mich zurück.

19:55 Uhr

Liam: Du hast gekündigt?! Margret hat mich angerufen. Sie hat deinen Schlüssel gefunden und dein Büro ist ausgeräumt. Warum hast du das getan? Ruf mich an. Sonst stehe ich vor deiner Tür, sobald ich wieder in Seattle bin.

Als ich New York fluchtartig verlassen habe, bin ich schnurstracks ins Büro gefahren, nachdem ich in Seattle gelandet bin. In aller Herrgottsfrühe, noch in der Dunkelheit habe ich meine restlichen Sachen aus meinen Schränken geräumt, meine Kündigung ausgedruckt und sie Margret zwischen die Buchstaben ihrer Tastatur geklemmt. Ohne jegliche Begründung, ohne entschuldigende Worte.

03.08.2022

Liam: Ich will doch nur mit dir reden. Du bist so eine talentierte junge Frau. Mach nicht den Fehler, alles wegzuwerfen.

04.08.2022

Liam: Weißt du eigentlich, welche Probleme du mir damit bereitest? Alexander hat vor Zorn getobt, weil er etwas ahnt. Er wird mir die Hölle heißmachen.

Scheiße. Meine Hände beben und ich erkenne kaum, was Liam geschrieben hat, aber ich zwinge mich, weiterzulesen.

10.08.2022

Liam: Evelyn, bitte. Ich flehe dich an. Es vergeht keine Sekunde, in der ich nicht bereue, was ich getan habe. Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie sich das für dich angefühlt hat. Ich verspreche dir, dass ich mich im Griff habe. Ich würde dir sogar schwören, dich nie wieder anzufassen, nur bitte schließ mich nicht aus deinem Leben aus. Ich liebe dich.

26.08.2022

Liam: Auch wenn es mir das Herz bricht, ich werde dich nicht weiter kontaktieren. Du liest es ja doch nicht …

Das ist seine letzte Nachricht.

Ich weine stumm. Der Schmerz, den ich bei jedem seiner Worte fühle, ist unerträglich, aber jetzt weiß ich mit Gewissheit, dass ich nie wieder zurückkehren kann. Es wäre keinem von uns beiden fair gegenüber.

Mich beunruhigt, dass Alexander Keaton etwas zu ahnen scheint. Dass zwischen Liam und mir mehr war als nur ein Chef-Angestellten-Verhältnis. Das hätte mir längst klar sein müssen, denn bevor wir in New York waren, hatte er etwas in der Art angedeutet. Ich hoffe, Liam wurde nicht gefeuert. Sie wären dämlich, wenn sie ihn rauswerfen.

Es wundert mich, dass Liam noch nie vor unserer Tür stand. Hat ihn in letzter Sekunde doch der Mut verlassen? Oder war es mein Abblocken jeglichen Kontakts, das ihn davon abgehalten hat? Vermutlich werde ich es nie herausfinden.

Unseren Chat archiviere ich, damit ich ihn nicht ständig beim Öffnen der App sehe, und schmeiße mein Handy ins Kissen. Im Flur höre ich die Haustür, Charlie bricht zu ihrer Mittagsschicht auf, also bietet sich mir jetzt die Möglichkeit, mit Eric zu sprechen. Ich muss wissen, was bei Beans n’ Cream nicht stimmt. Barfuß tapse ich in die Küche und entdecke Eric am Tresen. Er sitzt auf einem der Barhocker und steckt mit der Nase so tief in einem Magazin über Gebäck, dass er mich nicht bemerkt.

Möglichst leise räuspere ich mich, um ihn nicht zu erschrecken.

Sein Kopf schießt nach oben, schwarze Strähnen fallen ihm wirr in die Stirn. »Hey, alles okay?«

»Können wir reden?«

Er legt die Zeitschrift beiseite und lächelt. »Natürlich. Möchtest du auch einen Kaffee?« Er deutet auf seine dampfende Tasse und ich setze mich ihm mit einem Nicken gegenüber. Während er mir an unserem Vollautomaten einen schwarzen Kaffee zubereitet, knete ich meine Hände. Mein Magen rumort, weil ich Angst davor habe, dass etwas mit dem Café nicht stimmt. Bei solchen Themen male ich mir immer gleich das Worst-Case-Szenario aus.

»Du siehst besorgt aus«, sagt Eric, als er mir die Tasse zuschiebt und sich wieder setzt.

»Ich habe euch eben gehört.« Dankbar schließe ich meine kalten Finger um die warme Keramik.

Eric beobachtet mich aus seinen blaugrünen Augen, erwidert aber nichts auf mein Geständnis. Ich unterdrücke ein Schmunzeln, als ich sein altbekanntes Pokerface erkenne. Das hat er früher schon immer aufgesetzt, wenn ich mit einem Problem zu ihm gekommen bin. Stets hat er darauf gewartet, dass ich von selbst darüber spreche. Er weiß, dass man mir alles aus der Nase ziehen muss und ist, was das angeht, ein geduldiger Mann.

»Gibt es ein Problem im Café?« Mich innerlich wappnend wage ich es kaum, Eric dabei in die Augen zu sehen.

Er lehnt sich im Barhocker zurück. »Darüber machst du dir Sorgen?«

»Ja.« Ich nicke. »Große Sorgen.«

»Es ist nichts Schlimmes. Mach dir keine Gedanken.«

»Du musst mich nicht vor schlechten Nachrichten schützen.« Ich ziehe meine Brauen verärgert zusammen, weil ich eben genau diesen Verdacht habe. Und ich bin es leid, ständig verhätschelt zu werden.

»Susanna hat gekündigt. Das ist alles.« Eric zuckt beiläufig mit den Schultern. »Wirklich keine große Sache. Ich muss mir nur jemand Neues suchen.«

»Oh«, entfährt es mir. »Warum hat sie gekündigt?«

Susanna war die einzige Unterstützung, die Eric im Café hatte. Sie hat hauptsächlich die Gäste bedient, aber hin und wieder auch gebacken, weil das ihr Hobby war.

»Der Liebe wegen.« Trotz der misslichen Lage, die Susannas Kündigung hervorgerufen hat, schmunzelt Eric über diese Tatsache. Er ist ein unverbesserlicher Romantiker. »Sie hat sich verliebt und zieht deswegen nach Portland.«

Mir schießt ein Gedanke durch den Kopf und bevor ich es mir anders überlege, spreche ich ihn aus. »Ich könnte doch einspringen.«

Eric hebt die Tasse an den Mund und hält mitten in der Bewegung inne. Langsam lässt er sie wieder sinken und fixiert mich mit seinem Blick.

»Das würdest du tun?«

»Wenn es dir hilft?« Ich lasse den Satz absichtlich wie eine Frage klingen, aber als Eric nickt, fahre ich fort. »Und wenn du denkst, dass ich das kann. Ich weiß nicht genau, was alles an Aufgaben anfällt.« Nicht, dass er falsche Erwartungen an mich hegt.

»Du wärst schon eine riesige Unterstützung, wenn du mit mir zusammen den Service schmeißen könntest.« Eric mustert mich fragend.

»Ich denke, das bekomme ich hin.« Bei dem Gedanken an Gäste würde ich am liebsten das Gesicht verziehen, weil es für mich nichts Unangenehmeres gibt, als Kundenkontakt zu haben. Aber wenn es etwas bringt, kann ich mich mit Sicherheit daran gewöhnen.

Mein Job in der Finanzabteilung war ideal für mich, aber es gibt kein Zurück mehr. Zumindest nicht in dieses Unternehmen und da Eric meine Hilfe dringend braucht, muss ich da durch. So spart er sich das Gehalt für eine externe Fachkraft und ich steuere etwas zu unserer Haushaltskasse bei.

»Bist du dir sicher?«, fragt Eric behutsam. »Möchtest du darüber nicht erst mal mit deiner Schwester sprechen? Du hast doch so gern in der Buchhaltung gearbeitet. Vielleicht wäre ein Studium doch eine Option für dich. Du weißt, dass wir das Geld eurer Eltern dafür zurückgelegt haben. Für den Fall, dass du es dir anders überlegst.«

»Über die Uni habe ich in den letzten Wochen tatsächlich häufiger nachgedacht, aber meine Anwesenheit im Café wird dringender benötigt.«

»Beans n’ Cream kann dir egal sein. Mach lieber das, woran du Spaß hast.« Eric wirkt euphorisch, aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, ob ich diesen Schritt wirklich wagen soll. Ist es dafür nicht zu spät?

»Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Kann ich nicht einfach erst mal im Café aushelfen und dann sehen wir weiter?« Ich nippe an meinem Kaffee und flehe Eric mit meinem Blick an. Wenn ich mich jetzt wegen des Studiums unter Druck setze, kneife ich so oder so.

Aber Eric wäre nicht Eric, wenn er nicht sofort zurückrudern würde. »Die Arbeit kann mitunter anstrengend sein.« Fast habe ich das Gefühl, ihm wäre es doch nicht recht, wenn ich ihm unter die Arme greife, aber vermutlich macht er sich nur Sorgen.

»Ich habe meinen Job nicht gekündigt, weil er mir über den Kopf gewachsen ist«, lasse ich ihn wissen. Er soll nicht denken, ich wäre nicht belastbar. Gut, ich habe in den letzten Wochen keinen positiven Eindruck erweckt, aber diesen kleinen Brocken an Information kann ich ihm hinwerfen.

»Weswegen dann?« Eric versucht sein Glück, doch ich presse die Lippen aufeinander.

»Ich kann nicht.«

»Was kannst du nicht?«

»Darüber reden.« Ich weiche seinem Blick aus und kralle verborgen von der Tischplatte meine Finger in den Stoff meiner Hose, um die Tränen zurückzuhalten, die schon wieder im Anmarsch sind. Ich muss dringend aufhören, die ganze Zeit zu heulen.

Eric seufzt. »Ist schon gut«, sagt er leise. »Vielleicht irgendwann?« Es klingt wie eine Frage.

»Ich werde es versuchen.« Das werde ich wirklich. Auch wenn es lange dauert.

»Also wenn du möchtest, nehme ich dich gleich mit ins Café. Ich muss in ungefähr einer Stunde los.«

»Echt?« Erleichtert, dass er nicht weiter darauf beharrt, mit mir über Alex oder Liam zu reden, atme ich aus.

»Sehr gern. Das wird bestimmt lustig.« Eric zwinkert mir verschwörerisch zu und ich erwidere sein strahlendes Lächeln mit Leichtigkeit.

Vielleicht ist heute der Tag, an dem ich den schlimmsten Abschnitt nach meiner Kündigung hinter mir habe und endlich hoffnungsvoll in die Zukunft schauen kann.

Kapitel 3

Mein Magen macht einen nervösen Hüpfer, als Eric das Café aufschließt. Es kommt mir vor, als würde ich den Laden mit anderen Augen betrachten.

Eric läuft nach hinten in die Backstube, ich folge ihm bis zur Kaffeebar und lehne mich gegen das dunkle Holz. Das Herzstück ist die Auslage, die Eric stets mit kreativen Köstlichkeiten füllt, und der große silberne Siebträgerautomat. Ich habe keine Ahnung, wie dieses Ding funktioniert.

Ich lasse meinen Blick durch den großen, offenen Bereich gleiten. Die dunklen Stühle stehen noch auf den Tischen, also stelle ich sie herunter, um irgendetwas zu tun.

Sooft es Charlie und mir möglich war, haben wir hier Zeit verbracht, Kaffee getrunken und leckeres Gebäck genossen. Natürlich bin ich voreingenommen, aber ich habe bisher keine besseren Tortenstücke, Cupcakes oder Scones gegessen. Mit Beans n’ Cream verbinde ich nur positive Erinnerungen, sodass die Entscheidung, Eric im Service zu unterstützen, vielleicht genau die richtige für mich war.

Die Sonne bricht durch die schwere Wolkendecke und scheint durch die große Fensterfront herein. Ich seufze und spüre das erste Mal seit Wochen so etwas wie Hoffnung in mir aufkeimen.

»Evelyn, magst du mal zu mir kommen, dann zeige ich dir gleich ein paar Sachen.« Eric streckt den Kopf aus dem Hinterzimmer und winkt mich zu sich heran.

Den Stuhl, den ich noch in der Hand halte, stelle ich auf den Boden und gehe am Tresen vorbei.

»Also die Backstube hast du ja schon mal gesehen.« Stimmt, als Kind bin ich hier öfter zwischen Eric, geöffneten Mehlsäcken und staubiger Luft herumgelaufen. »Hier backe ich Cupcakes, Brownies, Scones und Kuchen, gelegentlich im Auftrag auch mal etwas für bestimmte Anlässe. Je nachdem, wie es sich zeitlich einrichten lässt.« Wir kommen an den Edelstahl-Arbeitsplatten vorbei und gehen auf eine Tür zu, die in einen weiteren Raum führt, der deutlich kälter ist. »In den Regalen lagere ich Lebensmittel, in dem Gefrier- und Kühlschrank die Sachen, die verderblich sind. Darin kann man auch Torten frosten.«

Wir verlassen den Kühlraum wieder und bleiben vor einem Schreibtisch stehen, der in einer abgetrennten Ecke hinter einem Regal voller Aktenordner versteckt liegt.

»Mein Lieferant beliefert mich einmal die Woche mit den gängigsten Dingen wie Mehl in sämtlichen Ausführungen, Zucker, Eier, Backpulver, Natron und Hefe. Alles andere besorge ich zwei- oder dreimal wöchentlich frisch vom Pike Place Market.« Eric grinst. »Kannst du dich noch daran erinnern, dass Charlie und ich dich mal mit dorthin genommen haben? Ende vom Lied war, dass du heulend neben Charlie hergelaufen bist, weil du unbedingt nach Hause wolltest.«

Deswegen das Grinsen. Aber jetzt, wo Eric es erwähnt, erinnere ich mich an grobe Bilder. Ich war bei dem hektischen Trubel, der auf dem Markt herrschte, total überfordert und hatte Angst. Darum wollte ich nach Hause.

Eric deutet mit einem Kopfnicken an, dass ich ihm folgen soll. »Ist es okay, wenn ich dir eben noch das Kassensystem zeige?«

»Klar.« Es ist beruhigend, ihm dabei zuzuhören, wie er geschäftsmäßig alle Informationen herunterbetet. Mit aller Kraft bemühe ich mich, ihm aufmerksam zu folgen, aber die zwei Monate Nichtstun zollen ihren Tribut. Mir fällt es schwer, das Wichtigste zu behalten. Immer wieder nicke ich stumm und hoffe darauf, dass mir mit der Zeit die Aufgaben leicht von der Hand gehen werden.

»Alles okay?« Eric sieht mich besorgt an. Anscheinend habe ich nicht auf eine Frage geantwortet, die er mir gestellt hat.

»Ja. Entschuldigung. Ich versuche, mir nur alles zu merken.« Ich lächele ihn zerknirscht an. So viel zum Thema Aufmerksamkeit.

Eric startet die Kasse mithilfe eines Chips und bedient das Touchpad. »Susannas Chip habe ich noch irgendwo herumliegen. Ich gebe ihn dir, sobald er mir in die Finger fällt.« Er zieht einige Schubladen auf, findet aber den gesuchten Gegenstand nicht. »Egal. Damit kannst du auf jeden Fall die Benutzung starten. Hier oben hast du verschiedene Icons, die dir alle Tische anzeigen und auch die komplette Speise- sowie Getränkekarte eingespeichert haben. Einmal pro Woche stelle ich noch das Gebäck der Woche ein. Aktuell sind es Kürbis-Walnuss-Cupcakes.«

»Hört sich lecker an.« Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an Kürbis im Muffinteig denke.

»Willst du einen probieren? Ich habe die Muffin-Rohlinge gestern Abend schon gebacken und die Creme vorbereitet. Wir können gleich die Auslage füllen, den Laden öffnen und du kannst versuchen, die Creme auf die Muffins zu spritzen.«

»Oje«, entfährt es mir, bevor ich mich davon abhalten kann. Ich werde mich wohl oder übel daran gewöhnen müssen, Eric hin und wieder auch beim Backen zur Hand zu gehen. »Erwarte bitte keine Kunstwerke.«

Eric lacht. »Keine Sorge. Wenn sie hässlich werden, essen wir sie eben selbst.« Kurz flackert in mir der Gedanke auf, absichtlich grauenhaft aussehende Cupcakes zu kreieren, aber dann können wir Beans n’ Cream sofort dichtmachen. Schade.

Wir gehen noch einige Einstellungen im System durch, anschließend stellen wir die restlichen Stühle von den Tischen, decken sie ein und befüllen die Auslage mit dem vorrätigen Gebäck. Eric dreht das Geschlossen-Schild an der Eingangstür auf Geöffnet und keine zwei Minuten später betritt eine ältere Dame das Café.

»Hallo, Mrs. Walt.« Eric geht ihr entgegen, um ihr ihren Mantel abzunehmen, aus dem sie sich mühsam schält. In ihrer rechten Hand hält sie einen Gehstock.

»Hallo, Eric.« Sie lächelt ihn dankbar an, als er ihre Jacke an dem dafür vorgesehenen Garderobenständer aufhängt.

Ich gehe davon aus, dass sie eine Stammkundin ist, wenn sie meinen Schwager beim Vornamen nennt. Eric führt sie zu einem Tisch und zieht ihr sogar den Stuhl hervor, damit sie sich besser setzen kann. Die alte Dame zupft an ihren kurzen weißen Locken und stellt ihre Handtasche neben sich ab.

»Möchten Sie einen Kamillentee?«

»Ja, gern.« Auf ihrer Nase trägt sie eine Brille, die sie zurechtrückt. Durch die dicken Gläser mustert sie mich mit einem interessierten Ausdruck in den Augen.

Eric kommt zu mir herüber. »Wärst du so lieb und würdest warmes Wasser aufsetzen? Dann zeige ich dir gleich, wo wir den Tee haben.«

»Natürlich.« Beiläufig suche ich hinter dem Tresen nach einem Kocher, kann aber nirgends einen entdecken.

Als Eric meinen Blick sieht, grinst er. Schon wieder. Anscheinend gebe ich ihm heute allen Grund zur Belustigung. Na immerhin einer von uns hat überaus gute Laune. »Der Siebträgerautomat kann auch brühen.«

»Oh.« Meine Wangen werden warm. Darauf hätte ich selbst kommen können.

Eric lässt heißes Wasser in die Tasse laufen und zieht aus einer Schublade ein eiförmiges Metallgestell sowie eine Papiertüte mit dem Aufkleber Kamille hervor.

»Das ist ein Tee-Ei, oder?«, frage ich.

»Genau. Ich befülle es immer mit einem Löffel der entsprechenden Sorte und bringe ihn dann direkt zum Tisch, damit jeder Gast selbst entscheiden kann, wie lange die Ziehzeit sein soll.« Eric schiebt mir die Tasse rüber. »Möchtest du die Bestellung Mrs. Walt bringen?«

»Und wenn sie auch etwas essen möchte?« Leichte Panik steigt in mir auf. Wenn Mrs. Walt etwas zur Karte wissen möchte, kann ich ihr nicht weiterhelfen, was peinlich werden könnte.

»Sie weiß schon, welche Auswahl wir haben, weil sie mindestens zweimal die Woche hier ist.«

Beim Herübergehen zittern meine Finger, sodass das Geschirr klappert. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man nicht auf den Gegenstand in seinen Händen schauen soll, wenn man nichts verschütten möchte. Also fixiere ich Mrs. Walts Tisch und stelle erleichtert den Tee vor ihr ab. Zu meiner Verwunderung liest sie etwas auf einem Tablet.

Als sie zu mir aufschaut, mustert sie mich mit gerunzelter Stirn und tiefe Falten graben sich in ihre Haut.

»Ich bin Evelyn, die neue Aushilfe.«

»Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.« Mrs. Walt blinzelt mich an, scheint aber nicht darauf zu kommen, an wen ich sie erinnere.

»Sie ist meine Schwägerin.« Eric taucht neben uns auf und mir entgeht nicht, dass er einen Sicherheitsabstand einhält, was mir einen kleinen Stich versetzt. Es ist toll, dass er Rücksicht nimmt, aber eigentlich sollte es nicht so sein. Wenn ich meine Probleme in den Griff bekommen würde, müssten sie mich nicht wie ein rohes Ei behandeln.

Dennoch schwingt Stolz in seiner Stimme mit, als er sagt: »Sie ist die Schwester meiner Frau Charlotte.«

»Sie ist Ihrer Frau wie aus dem Gesicht geschnitten.« Mrs. Walt sieht lächelnd zwischen uns hin und her.

»Danke schön.«

»Das wird meine Frau freuen zu hören.« Eric neigt den Kopf. »Was kann Evelyn Ihnen zusätzlich servieren? Wenn Sie noch zehn Minuten Geduld haben, könnten wir Ihnen die frisch zubereiteten Kürbis-Walnuss-Cupcakes anbieten. Ansonsten haben wir heute noch Pfirsichkuchen und Blaubeerscones da.«

»Dann warte ich.« Mrs. Walt zieht ihr Tablet wieder zu sich heran, entsperrt es und fährt mit dem Lesen fort. Da die Buchstaben extragroß eingestellt sind, sehe ich, dass sie einen Artikel über eine bevorstehende Demonstration in Seattle aufgerufen hat.

Wir verlassen den Tisch und gehen gemeinsam in die Backstube, solange keine weiteren Gäste das Café betreten. Eric holt die vorbereitete Creme und die Muffin-Rohlinge aus dem Kühlschrank, um sie auf die Arbeitsplatte zu stellen. Einen durchsichtigen Beutel legt er ebenfalls neben mir ab und nimmt von einem Regalbrett einen kleinen silbernen Gegenstand. »Das ist eine Sterntülle. Ich schraube sie auf den Beutel und zeige dir, wie es richtig funktioniert, okay?«

Ich nicke und präge mir jede seiner Handbewegungen ein. Eric nimmt den Spritzbeutel in die linke Hand, drückt die Creme heraus und drapiert sie in einer fließenden Bewegung auf den Muffin.

»Hol mir bitte hinten aus dem Regal das Glas mit den Walnüssen. Die sind das Topping.«

Als ich zurückkomme, drückt er eine Walnusshälfte oben drauf. »Sieht doch gar nicht so schwierig aus, oder?« Er lächelt mir aufmunternd zu und hält mir den Beutel hin.

»Ha-ha.« Ich schnaube, als ich ihn entgegennehme.

»Ich bin vorn. Wenn du fertig bist, kannst du die Cupcakes in die Auslage legen und Mrs. Walt einen bringen.« Im nächsten Moment rauscht Eric auch schon davon, weil wir die Türglocke läuten hören.