12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €
Das Haus »Silberblick«, ein progressives Seniorenstift, braucht mehr Kultur! So sieht das zumindest der ehemalige Feuilletonchef und Heimbewohner Friedhelm Klemp und fasst die Inszenierung von »Hamlet« ins Auge. Unterstützt wird er von seiner vergeblich Angebeteten, Katia Horenfeld, dank derer sich eine bunte Truppe unterschiedlichster Charaktere zusammenrauft. Doch schon das erste Probentreffen wird von einer grausigen Tat begleitet: Ophelia, der Mops einer Darstellerin, wird tot aufgefunden. Das Ergebnis der Obduktion des Hundes, ausgeführt von einem pensionierten Zahnarzt mithilfe eines gräflichen Nageletuis, überrascht und entsetzt alle: Das Tier wurde erschossen. Also ein klarer Fall von Mord! Katia, der die Rolle von Hamlet zugedacht ist, soll auch die »Ermittlungen« durchführen. Dabei ergeben sich immer mehr Ungereimtheiten rund um die Tat. Während Katia noch überlegt, wie sie am besten vorgehen soll, taucht die nächste Leiche auf.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 393
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vorhang auf für Mord und Totschlag
Haus Silberblick, ein progressives Seniorenheim, braucht mehr Kultur! So sieht das zumindest Friedhelm Klemp und fasst die Inszenierung von Hamlet ins Auge. Unterstützt wird er von seiner vergeblich Angebeteten, Katia Horenfeld. Eine bunte Truppe rauft sich für das spannende Projekt zusammen. Doch schon während der ersten Probe ereignet sich eine grausige Tat: Ophelia, der Mops einer Darstellerin, wird tot aufgefunden. Die Obduktion des Hundes, ausgeführt von einem ehemaligen Zahnarzt mithilfe des Nageletuis einer zu den Schauspielern gehörenden Psychologin überrascht und entsetzt alle: Das Tier ist erschossen worden. Also ein klarer Fall von Mord! Katia, der die Rolle von Hamlet zugedacht ist, soll auch die ›Ermittlungen‹ übernehmen. Dabei stößt sie auf immer mehr Ungereimtheiten rund um die Tat. Während Katia noch überlegt, wie sie am besten weiter vorgehen soll, taucht die nächste Leiche auf, dieses Mal eine menschliche …
© Cherima Nasa
Ida Tannert, 1966 geboren, hat u.a. Literaturwissenschaften studiert und in Verlagen und im Buchhandel gearbeitet. Unter ihrem Klarnamen Tessa Korber erschien ihr Roman ›Alte Freundinnen‹ 2021 bei DuMont, 2023 folgte ›Das Leben im Großen und Ganzen‹. Sie lebt mit ihrem Mann in Nürnberg.
IDA TANNERT
CRIME IM HEIM
EIN FALL FÜRDIE GRAUEN STARS
Roman
E-Book 2025
© 2025 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von §44bUrhG behalten wir uns explizit vor.
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © illustratoren.de/Silke Bachmann
Satz: Fagott, Ffm
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1085-8
www.dumont-buchverlag.de
1
»Wetten, sie wird eine Federboa tragen.« Friedhelm Klemp behielt argwöhnisch die Tür im Auge. Noch war es still auf den Gängen von Haus Silberblick.
Katia Horenfeld, die bislang als Einzige neben ihm in dem leeren Stuhlkreis saß, musste ein Lächeln unterdrücken. Ihr Freund trug ein Jackett mit Seidenschal. Keine Macht der Welt hätte ihn je dazu gebracht, seinen Stock mit dem Elfenbeinknauf gegen eine orthopädische Gehhilfe einzutauschen. Und dann diese wunderbar verrückte Idee, hier im Heim ein Theaterstück aufzuführen. Den Wettbewerb um die kapriziöseste Persönlichkeit im Haus würde er sicherlich gewinnen.
»Lila oder absinthgrün?«, fragte sie. »Die Boa, meine ich.«
Er stieß seinen Stock auf den Boden. »Ich traue ihr eine Boa constrictor zu.«
»Sie sind ein Scheusal, Friedhelm«, sagte Katia milde.
Er lächelte geschmeichelt und deutete einen Handkuss an.
Ein Leben als Yogalehrerin hatte Katia schlank und beweglich bleiben lassen. Friedhelm behauptete gerne, sie schreite durch Haus Silberblick wie eine Königin. Ihr ungeschminktes Gesicht, das alle Alterszeichen würdevoll trug, lebte ganz von den sehr hellblauen Augen, die im Alter ein wenig milchig geworden waren, was ihnen ein zartes Strahlen verlieh. Sie blickten jedermann freundlich an. Was Katia dabei dachte, verrieten diese Augen freilich nicht.
Friedhelm Klemp hatte umgehend ihre Bekanntschaft gesucht, als sie in Haus Silberblick eingezogen war, und verkündet, sie besäße »die schlichte, aber tiefe Schönheit einer zen-buddhistischen Teeschale«.
Katia, die nicht zu Übertreibungen neigte, hatte dies mit einem herzhaften Lachen beantwortet und dem Hinweis, dass er aber eindeutig ein passionierter Kaffeetrinker sei. Was ihn seinerzeit seufzen ließ.
Er seufzte noch immer, auch jetzt wieder, als sie ihm ihre Hand, die er nervös ergriffen hatte, sanft entzog. »Sie sitzen im Glashaus, mein Lieber«, meinte sie.
»Wegen des Schals?« Er betrachtete die seidene Webkante, dann warf er ihn sich mit schwungvollem Trotz über die Schulter. »Glauben Sie, ich weiß nicht, dass man mich den ›Impresario‹ nennt?«
»Und bald werden Sie einer sein.« Sie nickte zu der Ledermappe hin, die er auf seinen Knien abgelegt hatte und die, wie sie wusste, die fertig bearbeiteten Rollen des Stücks enthielt. »Der Hamlet.«
Er nahm die Mappe und schlug sie auf, um sein Werk zu studieren. »Der Hamlet«, bestätigte er, »ein Monster von einem Stück. Mein Gott. Was habe ich nur getan?«
»Sie haben uns von der Notwendigkeit befreit, dem Mensch-ärgere-dich-Nicht-Turnier beizuwohnen?«, schlug Katia vor. »Dem Schlager-Nachmittag?«
»Übermächtige Konkurrenz, fürwahr«, meinte Friedhelm. Er schaute sich in dem leeren Raum um. »Hoffentlich interessiert sich überhaupt jemand für unser kleines Projekt.«
Sie saßen im ehemaligen Musikzimmer, dunkel getäfelt, mit schwingendem Parkettboden und einer kleinen Bühne, die fast völlig von einem stoffverhüllten Klavier eingenommen wurde. Mit den Jahren war es ein wenig verstaubt. In der kleinen Nebenkammer hatte sich allerlei Krempel angesammelt. In einem Regal lagerten verwaiste Instrumentenkoffer. Es war einschüchternd still.
Früher hatte eine tapfere Gemeinschaft sich hier kammermusikalisch versucht; einige Notenständer trauerten noch in den Ecken; manchmal kam die letzte Überlebende, Sieglinde, die Bassgeige, noch vorbei und raschelte ratlos durch die Noten. Danach sah man sie oft mit ihrem Instrument an der Bushaltestelle sitzen. Tatsächlich war es keine echte Haltestelle, nur eine Kulisse, die die Heimleitung gegenüber dem Eingang aufgebaut hatte, um reiselustige Demenzpatienten abzufangen.
Katia setzte sich manchmal an die Haltestelle zu Sieglinde, der Bassgeigenfrau. Die erzählte dann sehr hübsch, vielleicht von ihrem bevorstehenden Engagement an der königlichen Oper in Oslo. Und Katia erzählte von ihren eigenen Reisen, die nun lange hinter ihr lagen.
Wie auf ihr Stichwort betrat Sieglinde in diesem Moment den Raum. Sie wirkte fahriger als sonst, beinahe aufgewühlt. Ihre langen silbernen Haare waren aus dem Zopf gerutscht, den sie zu tragen pflegte, und standen in alle Richtungen ab. Raschen Schrittes ging sie zu dem Regal an der Rückseite des Raumes. Das große Behältnis der Bassgeige lag ganz zuunterst; Sieglinde zerrte vergeblich daran.
»Kann ich helfen?« Katia stand auf. »Steht wieder einmal ein Engagement an? Wo soll es denn hingehen, meine Liebe?«
Aufgeschreckt fuhr die alte Musikerin herum. »Ich muss doch …«, begann sie, schien dann aber vergessen zu haben, was sie musste. »Meine Enkelin. Sie ist in Gefahr. Sie braucht Geld, viel Geld, und ich …« Wieder brach sie ab und schaute sich ratlos um, als sähe sie das Musikzimmer zum ersten Mal.
»Aber liebe Sieglinde«, sagte Katia und legte ihr den Arm um die Schulter, um sie zu den Stühlen zu führen. »Sie haben doch gar keine Enkelin. Sie haben nicht einmal Kinder. Erinnern Sie sich?« Katia bemühte sich, viel Wärme in ihre Stimme zu legen. »Ihr ganzes Leben gehörte der Musik.«
Sieglindes Augen folgten Katias Hand, die durch die Luft fuhr, als entfaltete sie dort einen wunderbaren Bilderbogen. Ihr Blick wurde weicher. Sie lächelte. »Ja«, sagte sie. Ihre Atmung wurde ruhiger, ihre Augen klarer, ihre Stimme bekam wieder Festigkeit und einen ganz anderen Klang. »Sie sollten einmal ins Konzerthaus kommen und mich spielen hören. Wir geben Fauré, Après un Rêve. Ich lasse Ihnen gern Karten an die Kasse legen.« Huldvoll nickte sie Friedhelm und Katia zu. Dann schwebte sie, ihren Koffer fest im Griff, mit geübtem Bühnenschritt hinaus.
»Was für eine Ophelia sie wäre!«, rief Friedhelm bewundernd. »So wunderbar fragil, verwirrt, verloren … wenn sie nur den Text behalten könnte.«
»Das war selbst für ihre Verhältnisse seltsam«, meinte Katia, die der Auftritt der Bassgeige berührt hatte. »Ob etwas geschehen ist?« Sie zuckte zusammen, als sie sich umdrehte und Friedhelm aufgerichtet hinter sich stehen sah, die kalte Pfeife wie einen Dolch in der Hand haltend. »Muss ich mir jetzt auch um Sie Sorgen machen?«, fragte sie.
»Entschuldigung.« Er steckte die Pfeife wieder ein. »Ich hatte nur kurz überlegt, wie es wäre, die Bassgeige als Geist von Hamlets Vater einzusetzen. Man könnte den Text ja zusammenstreichen: ›Es war Mord.‹ ›Dein Onkel wars.‹ Und: ›Deine Mutter ist eine treulose Hure, aber tu ihr nichts.‹ Das wären die wesentlichen Botschaften, denke ich. Ob Sieglinde das wohl behalten könnte?«
»Ach, Friedhelm.« Katia schüttelte den Kopf. »Es werden andere Schauspielaspiranten kommen.«
»Und wenn nicht?«, fragte er kläglich. Mit einem Mal sah er alt und müde aus.
Sie griff nach seiner Hand. »Mein Lieber, die Nachricht, dass wir eine Theatergruppe gründen wollen, hat in der Gemeinschaft der Lebenden wie eine Bombe eingeschlagen. Sie werden kommen.«
Im selben Moment wurden an der Tür, die sie einladend hatten offen stehen lassen, um die Interessenten willkommen zu heißen, Schritte hörbar.
2
»Das wird Herr Grünsteudl sein«, sagte Katia, und ihre milchblauen Augen leuchteten auf. »Ich habe gestern noch mit ihm gesprochen, und er wollte es sich auf keinen Fall entgehen lassen.«
»Der Viehzüchter?«, fragte Friedhelm, dem Katias Freundschaft mit dem Mann schon lange ein Dorn im Auge war. »Er hat sein Leben lang auf Weiden herumgestanden.«
»Und in seiner Freizeit spanische Lyrik gelesen«, ergänzte Katia. »Im Original, mein Lieber, ich kenne sein Bücherregal. Ein stiller, bescheidener Mann«, setzte sie hinzu, »an dem sehr viel mehr dran ist, als man meint.«
»Sehr viel mehr Kuhdung«, murmelte Friedhelm.
Katia hatte sich bereits mit erwartungsvollem Blick der Tür zugewandt. Hans Grünsteudl war Teetrinker, wie sie. Und ihre gelegentlichen Plauder- und Lektürestunden am Nachmittag bedeuteten Katia viel. Sie freute sich schon darauf, ihn in diesem Kreis zu sehen. Er hatte ein wenig Gesellschaft nötig. Sicher würde er aufblühen. Das zu erleben, würde genauso ein Vergnügen sein, wie es auf der anderen Seite Spaß machte, Friedhelms wild wuchernde Exzentrizitäten zurückzuschneiden.
Es waren langsame Schritte, die da näher kamen. Schleppende. Es dauerte. Endlich kam ein Mitbewohner ins Bild: eine klapperdürre, weit nach vorne geneigte Gestalt, in teure Funktionskleidung gehüllt, an der zahllose Reißverschlusszipper baumelten. Sie schlurfte zur Mitte der Türöffnung. Und dann vorbei.
Katia und Friedhelm folgten ihr mit den Augen, bis sie verschwunden war.
»Gott sei Dank, der Möller geht weiter.« Katia stieß die angehaltene Luft aus.
»Wir hätten ihn als Polonius hinter den Vorhang stellen können«, meinte Friedhelm und ahmte mit seinem Stock den temperamentvollen Degenstoß nach, mit dem der alte Rat durch den Vorhangstoff hindurch ermordet wurde. »Er gäbe eine höchst überzeugende Leiche ab.«
»Gäbe er nicht, er würde sogar tot einen seiner ornithologischen Vorträge halten«, sagte Katia. Sie kicherten. Dann schämten sie sich ein wenig. Auf dem Gang herrschte wieder Grabesstille.
»Wo Hans Grünsteudl nur bleibt?«, wunderte Katia sich.
»Beim Frühstück habe ich ihn nicht gesehen«, sagte Friedhelm und inspizierte seine Fingernägel.
»Er wird doch nicht …?«, fragte Katia, plötzlich erschrocken.
»Ausgeschlossen«, meinte Friedhelm und verkniff sich das »leider«. Das aus seiner Sicht höchst wünschenswerte Ableben von Herrn Grünsteudl wäre vom Frühdienst unfehlbar bemerkt worden. »Es hätte eine Durchsage gegeben, sich in den Trauerfond einzutragen. Au.« Die letzte Bemerkung hatte ihm einen schmerzhaften Klaps von Katia eingetragen. Doch sie konnte die Richtigkeit der Bemerkung nicht leugnen.
Haus Silberblick vertrat die moderne Politik, den Tod nicht zu verdrängen, sondern aktiv zu gestalten. Das Verscheiden eines Bewohners wurde allen mitgeteilt, und es wurde von dem Toten in einer kleinen Feier Abschied genommen. Ein Gesprächskreis zur Trauerbewältigung war höchst beliebt wegen des attraktiven jungen Psychologen, der ihn abhielt. Seit Dennis Stürbichler hier arbeitete, war Trauern groß in Mode gekommen. Das Leben fand eben immer einen Weg.
»Seltsam«, sagte Katia. »Er hat es mir fest versprochen. Wo kann er nur stecken?«
Sie stand auf, trat auf den Flur und blickte nach rechts. Grünsteudls Tür war die letzte auf der rechten Seite, kurz bevor der Gang abbog. Ihr war, als stünde sie einen Spalt breit offen. Schon wollte Katia hingehen, da hörte sie Schritte und laut sich unterhaltende Stimmen.
»Sie kommen!«, rief Katia über ihre Schulter. »Ein ganzer Haufen, wie es aussieht. Ist das nicht großartig!« Schon sah sie die Ersten um die Ecke biegen und hob den Arm, um ihnen zuzuwinken.
Die Tür von Hans Grünsteudls Zimmer schloss sich rasch und lautlos. Katia hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn sie wurde umarmt und lautstark begrüßt.
»Gut«, meinte Friedhelm, erhob sich und zog sein Jackett glatt. »Thalias Kinder. Mögen sie eintreten.«
3
Elisabeth von Tzetwertyński hinkte herein, auf einen ganz ähnlichen Stock gestützt wie Friedhelm. Sie war eine imposante Erscheinung; ein Ölgemälde in ihrem Zimmer zeigte sie, mit starker Hand ihre geliebten Jagdhunde führend. Auf ihrer rüschenbesetzten Büste ruhte an einer Goldkette eine Brille, die selten zum Einsatz kam, um die Wirkung ihres Feldherrenblicks nicht zu verstellen. Im Moment, schätzte Katia, konnte die Gräfin keinen ihrer Mitstreiter zweifelsfrei erkennen. Doch ihre Aufmerksamkeit gehörte ohnehin eher der Vergangenheit, vor allem ihrer glücklichen Ehe mit einem polnischen Adligen, die seit dessen Tod vor einem Vierteljahrhundert noch an Qualität gewonnen hatte.
»Mein Gatte war ein Shakespeare-Enthusiast.« Mit dieser unumstößlichen Feststellung das ganze Unternehmen legitimierend, nahm die Gräfin Platz.
Ihr folgte ein dicker Herr mit aufgekrempelten Hemdsärmeln. »Das lasse ich mir doch nicht entgehen, das will ich sehen«, meinte er jovial, ehe er sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Als Lehrer gehört man gewissermaßen von Haus aus zur darstellenden Zunft. Äh …« Kilian Sorge hatte seit der Rente neben den obligaten Werken zur Heimatgeschichte auch eine fatale Anzahl von Bänden mit humoristischer Lyrik verfasst. Ein steter Schwall von Versen entquoll ihm, aus dem er bei keinem Bunten Abend zu schöpfen vergaß. Mit dem Reim auf »Zunft« allerdings schien er Mühe zu haben.
»Wenn er ›Brunft‹ sagt, bringe ich ihn um«, murmelte Friedhelm, während er so tat, als erstellte er eine Anwesenheitsliste.
Katia stieß ihn mit dem Fuß an und nickte ihrerseits einer Walküre mit flammend orangefarbenem Lockenkopf zu, die sich mit ihren Gehstützen in den Kreis schleppte. Dr.Anneliese Obrecht war Psychologin gewesen, damals in der DDR. In Bewohnerkreisen herrschte Gleichstand zwischen den Ansichten, es handle sich bei ihr um eine Dissidentin – »wegen dem Henna« – oder vielmehr um eine Folterknechtin der Stasi – »wegen der psychologischen Kriegsführung, da waren die führend«.
Die Psychologin selbst äußerte sich nicht zu diesen elaborierten Mutmaßungen. Sie äußerte sich überhaupt sehr selten. Stumm ruhte sie in ihren weiten, starkfarbigen Gewändern. Auf der Bühne würde sie so oder so eine Überraschung werden. Der Lehrer wurde wie stets noch ein Stück röter in ihrer Gegenwart. Vielleicht fürchtete er, sie könne ihm seinen ungelösten Vaterkonflikt direkt an der Nasenspitze ansehen.
Mit einem lauten »Tschuldigung auch« kam eine weitere Person in den Raum und steuerte einen der Stühle an, nahm Platz, streckte die Beine von sich und grinste unter einem gelblichen Raucherbart in die Runde. Katia erkannte das keckernde Lachen wieder, das sie schon auf dem Flur gehört hatte.
»Bemerkenswert«, murmelte sie, die noch nie derart schadhafte Zähne außerhalb eines Entwicklungslandes gesehen hatte.
»Das ist eine erbliche Erkrankung«, sagte eine kultivierte Stimme neben ihr. Dr.Werner Hänfling war ein schlanker, zierlicher Mann, der es vorzog, die Reste seines Haarbestandes abrasiert zu halten. »Man sollte es als Zahnarzt ja nicht zugeben, aber nicht in allen Fällen hilft regelmäßige Zahnpflege weiter.« Der Doktor hatte ein Leben lang brav Gebisse saniert, eine höhere Berufung im Dienst der Volksgesundheit allerdings nie verspürt. Seine nur an Wochenenden gelebte Passion war sein Motorrad gewesen. Geblieben war ihm eine seltsam mit seiner zarten Gestalt kontrastierende Vorliebe für schwarze Lederhosen und laute Metal-Musik.
»Wer ist das?«, fragte Katia ihn leise.
»Das wissen Sie nicht?«, fragte der Zahnarzt zurück. »Hat es sich noch nicht bis zu Ihnen herumgesprochen, dass wir einen waschechten Terroristen unter uns haben?«
»Ach«, machte Katia. Der Neue also. Sie hatte schon so etwas gehört. Uwe Spohn, angeblich ein ehemaliger Studentenrebell, Anarchist, APO-Aktivist, die Unterschiede waren nicht ganz klar geworden.
»Er soll Andreas Baader persönlich gekannt haben«, fügte Hänfling hinzu.
»Ach«, wiederholte Katia und riss die hellblauen Augen auf.
Als hätte er gespürt, dass sie über ihn redeten, meldete sich der Neue zu Wort: »Wird das hier eigentlich so ein progressives Ding? Haben wir früher laufend gemacht. Alle nackt. Und mit Farbe, die wir ins Publikum geschmissen haben. Die wollten uns damals verklagen.« Er lachte wieder.
Die anderen schwiegen. Ob überwältigt von der Vorstellung eines unbekleideten Anarchisten oder vom Gedanken an die eigene nackte, fortgeschrittene Leiblichkeit, war schwer zu entscheiden. Katia betrachtete ihre Mitstreiter: errötet, erstarrt, sich räuspernd. Es versprach interessant zu werden.
Aber wo steckte Grünsteudl?
4
»Gut«, sagte Friedhelm laut und stand auf. »Dann können wir jetzt beginnen.« Er breitete die Arme aus. »Sein oder Nichtsein! Das ist hier die Frage.« Er ließ die Worte nachhallen, dann erlaubte er sich ein Lächeln. »Wer wüsste das besser als wir?«
»Tschuldigung«, kam da eine Stimme von der Tür. Horst Möller ruckelte seinen Rollator über die Schwelle und ließ sich samt Funktionskleidung auf einen Stuhl fallen. »Ich musste nur noch mal zur Toilette.« Er nickte der Gräfin zu. »Ich habs nämlich mit dem Darm.«
»Der Hamlet«, setzte Friedhelm neu an, »ist kein Stück wie jedes andere. Niemand nähert sich diesem Werk ungestraft.« Er blickte seinen Mitstreitern einem nach dem anderen tief in die Augen. »Hamlet verhandelt die großen Fragen des Lebens, denen man sich früher oder später stellen muss: reden oder schweigen? Handeln oder erdulden? Welche Entscheidung in meinem Leben war richtig, welche falsch? Und wie lebe ich mit den Konsequenzen?«
Keiner regte sich. Wie es schien, lauschte jeder tief in sich dem Echo von Friedhelms Sätzen nach.
Zufrieden ließ Friedhelm diesen Zeit zu wirken. »Richtig angepackt, wird das Stück unser aller Leben verändern«, sagte er schließlich.
Veränderung! Das Wort fiel an einem Ort, an dem die einzige Veränderung aus Variationen im Wochenspeiseplan bestand. Für einen Moment herrschte ein beinahe feierliches, von Angst und Vorfreude erfülltes Schweigen.
Ja, dachte Katia, das war es, was Friedhelm, ihren lieben Friedhelm, von einem beliebigen Poseur unterschied: Es gelang ihm, andere wirklich zu begeistern. Sie konnte es in sich selbst spüren, den Aufbruch in etwas tatsächlich Neues, etwas Großes, Unvorhersehbares. Ihr Herz flatterte ein wenig. Aber das war wohl der Preis dafür, sich am Leben zu fühlen.
Sie schloss für einen Moment die Augen, um all dem nachzuspüren. All die Menschen um sie herum, die sich nun verbanden. Katia spürte die Energien. Und darunter Muster, die langsam entstanden, sich enthüllten, sich verknüpften. Zu ihrer eigenen Überraschung bemächtigte sich ihrer eine seltsame Vorahnung. Man veränderte nichts, ohne einen Preis dafür zu zahlen.
»Was tun Sie denn hier?« Die bedrohlich zwitschernde Frauenstimme ließ alle herumfahren. Agnes Vogeltanz stand in der Tür, die neue Leiterin von Haus Silberblick. Es ging das Gerücht, dass sie früher Kindergärtnerin gewesen war. Der Lärm in den Tagesstätten hatte ihr einen Tinnitus beschert, weshalb sie in die stilleren Gefilde der Altenbetreuung gewechselt war. Ihre persönliche Passion galt dem Herstellen von jahreszeitgemäßem Raumschmuck, vermutlich, wie Friedhelm zu sagen pflegte, eine »déformation professionnelle«. Ständig hatte man das Gefühl, dass sie es gerade noch schaffte, ihren Sätzen nicht ein »liebe Kinderchen« anzuhängen.
Selbstverständlich hätte das Vorhaben, eine Theatergruppe zu gründen, bei Agnes Vogeltanz angemeldet werden müssen.
Im Moment wechselten auf ihrem Gesicht aufgesetzte Freundlichkeit mit echter Strenge. Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt. Friedhelm neigte sich zu Katia und flüsterte: »Gleich schickt sie uns zum Spielen nach draußen.«
Katia brachte ihn mit einem Ellenbogenstups zum Schweigen und stand auf. »Wir spielen«, sagte sie, »den Hamlet«.
Agnes Vogeltanz runzelte die Stirn. Ihr Blick musterte die Runde, schätzte die Möglichkeiten, erforschte die Winkel und Schatten des Raumes, erwog vermutlich die Risiken von Traumata, Herzinfarkten und Oberschenkelhalsbrüchen. Selbstverständlich hatte sie für alle nur das Beste im Sinn.
»Wie darf ich das verstehen?«, fragte sie, wie um Zeit zu gewinnen.
Jetzt war es Friedhelm, der sich erhob. »Wir folgen der Muse, wohin sie uns führt!«, rief er und hob die Arme, um prompt zu deklamieren: »Sei du ein Geist des Heils, sei Troll, verdammter, sei deine Absicht böse, sei sie gütig. Du kommst in so befragbarer Gestalt, dass ich jetzt sprech zu dir …«
»Danke, Friedhelm.« Ehe er fortfahren konnte, schob Katia sich vor ihn und erklärte der Heimleiterin, dass es sich im Moment lediglich um ein Vorgespräch handele, quasi um einen Lesekreis.
Die Heimleiterin überlegte. Ein Sitzkreis war eine Anordnung, die ihr Vertrauen einflößte. Dennoch blieb ihre Stirn gerunzelt. »Wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?«, überlegte sie laut.
»Es war offen«, sagte Katia. »Ist es eigentlich immer, seit die Bassg… seit Sieglinde den Schlüssel verloren hat.«
»Das ist versicherungsrechtlich bedenklich«, sagte die Heimleiterin. »Die Bühne hat kein Geländer, und damit besteht ein Sturzrisiko.«
»Jede Bühne birgt ein Risiko, jede Rolle hat ihre Fallhöhe«, verkündete Friedhelm volltönend.
Katia versetzte ihm einen sachten Stoß mit dem Ellenbogen. »Auf die Bühne gehen wir noch lange nicht«, versprach sie. Man würde sich ebenerdig bewegen, lesen und proben. Ob und wie das Geschehen auf die kleine Bühne des Heimes zu bringen sei, darüber könne man sich ja später den Kopf zerbrechen. Aber im Falle, man wäre so weit, käme man ganz gewiss auf Frau Vogeltanz zu, die ja in puncto Kulissenbastelei gewiss Erfahrungen hätte.
Das war die Stelle, an der Friedhelm sie mit dem Knauf seines Stockes am Rücken antippte; es war anerkennend gemeint. Die Frau liebte Bastelstunden, und sie war eine wandelnde Kulisse. Katia, die wusste, was er damit sagen wollte, verzog keine Miene.
Noch einmal ließ die Heimleiterin ihren Blick durch den gefahrvollen offenen Raum schweifen. Sie hatte in der Tat weitreichende Bühnenerfahrung. Ihre letzte Inszenierung der Vogelhochzeit im Kinderhort hatte zwei aufgeschlagene Knie, ein Nasenbluten, eine Gehirnerschütterung und eine zerbrochene Brille zur Folge gehabt, als der Specht, unter dem Gewicht des übergroßen Pappmaché-Kopfes taumelnd, von der Rampe fiel und das gesamte Ensemble mit sich riss. Das Geschrei war ohrenbetäubend gewesen und ihr Tinnitus lauter als eine Boeing beim Start. Frau Vogeltanz griff sich unwillkürlich ans Ohr. Damals hatte sie sich heimlich gewünscht, sie hätten sich alle den Hals gebrochen.
Rasch schaltete sie ihr Lächeln wieder ein. »Ich werde mir jedenfalls den Schlüssel besorgen und zwischen den Proben hier absperren. Damit nichts geschieht.« Und an Dr.Hänfling gewandt fügte sie hinzu: »Bogdan kommt gleich noch mal wegen Ihrem, Sie wissen schon, Magenmittel.« Dann machte sie eine Pause, um eventuell Verzagten eine letzte Chance zu geben, ehe sie resignierte. »Na dann, viel Vergnügen.«
Der Anarchist feixte: »Wir werden das hier schon überleben, hähä. Oder?« Er stupste die Gräfin an. »Wie viele sterben denn in dem Stück?«
Der Lehrer raunte ihm über die eisern schweigende Dame hinweg zu: »So gut wie alle, in diesem Falle.«
In der plötzlich entstandenen Stille nach Frau Vogeltanz’ Abgang klang es wie ein Todesurteil.
5
»Zur Sache also«, sagte Friedhelm. Er klappte seine Mappe auf. »Die Verteilung der Rollen: Der Hamlet ist ein langes und personenreiches Stück, das wir mit unseren Mitteln hier nicht unbearbeitet aufführen können. Aber ich schmeichle mir, eine Lösung gefunden zu haben.« Er ließ seinen Blick demonstrativ schweifen. »Werte Frau Doktor Obrecht, würden Sie die Königin Gudrun auf sich nehmen?«
Die Gräfin räusperte sich vernehmlich. Katia gab Friedhelm einen sachten Tritt.
»Was denn?«, zischte er.
Katia winkte mit den Augen in Richtung Gräfin. Deren Arme waren verschränkt, ihr Kinn erhoben, die Brille bebte auf dem Busen. Ihr verstorbener Gatte war ein waschechter polnischer Graf gewesen, jedenfalls hatte er das immer behauptet und im Geschäftslogo seiner Privatdetektei ein sehr schönes Wappen geführt. Wenn jemand etwas von Adel verstand, dann ja wohl sie.
»Ach so«, sagte Friedhelm, der endlich begriff. Über sein Gesicht glitt ein Lächeln, das wuchs und wuchs und sich öffnete wie ausgebreitete Arme.
»Liebe Gräfin«, schmetterte er, gekonnt ihren konsonantenreichen Nachnamen vermeidend. »An Sie habe ich eine besondere Bitte.«
Die Miene der Dame hellte sich nicht auf, doch die Brille stellte das Beben ein.
»In Ihnen stecken die Tatkraft und Entschlossenheit eines ganzen Mannes. Und mit der Waffe können Sie ebenfalls umgehen, als geborene Waidfrau.«
Die Gräfin nickte geschmeichelt. »In der Tat habe ich meinen Mann des Öfteren auf der Jagd begleitet«, sagte sie. Dass sie die weit bessere Schützin gewesen war, ließ sie unerwähnt.
»Deshalb wage ich die Bitte, dass Sie, werte Gräfin, sich an die Rolle des Laertes machen, eines wahren Edelmannes und tapferen Kriegers, Ophelias Bruder. Wer, wenn nicht Sie, hätte ein wahres, tiefes Verständnis von diesen Tugenden? Außerdem gibt es am Ende eine grandiose Fechtszene.«
Mit königlicher Geste gewährte die Gräfin ihre Zustimmung.
Erleichtert atmete Katia auf.
Friedhelm fuhr fort und verteilte die weiteren Rollen: Der Anarchist bekam Rosencrantz & Guildenstern in Personalunion anvertraut, wegen eines, wie Friedhelm meinte, »gewissen komödiantischen Potenzials«. Der Lehrer wurde zum König ernannt und errötete mit einem Seitenblick auf die Psychologin noch tiefer.
Katia fragte sich, ob ihr Freund ahnte, welche Fülle verborgener Gefühle er da gerade für seine Inszenierung fruchtbar gemacht hatte.
Der Zahnarzt durfte sich in der Rolle des Horatio wiederfinden, Hamlets treuem Gefährten. Katia wollte etwas einwenden, weil sie sich diese Rolle für ihren Freund Grünsteudl erhofft hatte. Doch Friedhelms Blick war bereits weitergezogen. »Herr Möller, wie wäre es mit dem vertrottelten Rat Polonius?«
»Na endlich«, sagte der und zog sich ächzend hoch. »Ich bin nämlich eigentlich nur hier, um ein paar Infos zu geben. Zum Vogel des Jahres.« Er zog aus einer seiner vielen Taschen Prospekte, die er umgehend austeilte. »Dem Braunkehlchen.«
Sofort machte sich lähmende Stille im Kreis breit. Es war, als hätte jemand den Stecker herausgezogen.
Einzig der Vogelkundler schien nichts von seiner Wirkung zu bemerken. »Das Braunkehlchen«, fuhr er fort, »ist ein Wiesenbrüter und in seinem Bestand stark gefährdet.«
»Wiesenbrüter«, zischte Friedhelm Klemp und sprang auf. »Wir versuchen hier einer Theaterlegende neues Leben einzuhauchen, und Sie kommen mir mit Wiesenbrütern? Wir beschäftigen uns hier mit einem Kunstwerk.«
Katia spürte, wie er alle Kraft und Bedeutung in dieses Wort legte, als wäre es ein Zauberspruch, ein Bann, unter dem, wie sie wusste, sein ganzes Leben gestanden hatte. Für Friedhelm wäre es anders nicht lebenswert gewesen.
Möller geriet nicht in Verlegenheit. »Die größten Kunstwerke schafft immer noch die Natur.«
»Ihre flügelschlagende Natur hat auf die Kunst doch allenfalls runtergeschissen, mit Verlaub.« Friedhelm wedelte mit dem Stock, als müsste er noch im Musikzimmer eine lästige Taube vertreiben. »Die Mona Lisa wurde nun einmal nicht von einem Braunkehlchen gemalt.«
»Von Ihnen aber auch nicht«, parierte Möller. »Wenn ich da nicht falsch unterrichtet bin.«
Die Köpfe der Runde fuhren in fasziniertem Grusel zu dem Impresario hinüber.
»Jungs, jetzt reicht es aber.« Katia stand entschlossen auf. Sie legte Friedhelm die Linke auf die Schulter und streckte die Rechte dem Ornithologen entgegen. »Geben Sie mir die Prospekte, ich bringe das im Gartenausschuss ein. Dort ist es gut aufgehoben. Und im Gegenzug geben Sie uns den Polonius. Der Umwelt zuliebe. Einverstanden?«
»Für die Umwelt tu ich alles«, sagte der Ornithologe, überließ ihr die Faltblätter und sank erleichtert wieder auf seinen Stuhl.
»Vielleicht«, meldete sich in dem Moment des fragilen Friedens der Anarchist zu Wort, der einen guten Streit offenbar anregend fand, »vielleicht könnten wir ja auch alles andersrum machen, auch so ein Ding, das wir mal ausprobiert haben, damals in Nicaragua. Alle Männer spielen Frauenrollen, alle Frauen die Männerrollen. Ich als Ophelia zum Beispiel. Hähä!«
»Tjaaa, die Opheliaaa!« Der Lehrer zwinkerte in die Runde. »Wer wird denn nun erwählt, als berühmteste Wasserleiche der Welt?«
Friedhelm hatte schon den Mund geöffnet.
Da ertönte ein gellender Schrei von der Tür: »Sie ist tot!«
6
Da war sie endlich: Irma Blauhut. Nicht ohne Neid gestand Katia sich ein, dass die Gute bei aller Gekünsteltheit doch einen ausgeprägten Instinkt für einen guten Auftritt besaß.
Wie immer, wenn Irma einen Raum betrat, gab es Aufregung und Geflatter, wobei unklar war, wie so viel Unruhe von nur einer Person ausgehen konnte. Doch die Fülle an Schals, Umhängen und Ketten, die sie trug, ermöglichte ihr ein quasi multipersonales Agieren. Wenn Irma den Frühstücksraum durchquerte, hatte man leicht das Gefühl, einer Völkerwanderung beizuwohnen. Auch heute war die Gesamtwirkung überwältigend.
Keine Federboa, notierte Katia im Geiste. Dafür trug Irma ein unförmiges, in ihre Chiffonschals gewickeltes Paket in den Armen, so, wie eine Nymphe eine Zauberschale gehalten hätte. Oder Salome die Platte mit dem Kopf Johannes des Täufers. Sie trug das Paket hingebungsvoll und anklagend zugleich, trug es bis in die Mitte des Stuhlkreises und sank dort mit anmutiger Geste in einem Berg von Stoff zu Boden. Doch die Tränen auf ihrem Gesicht waren echt.
Alle neigten sich auf ihren Sitzen vor. Die Gräfin hielt es für nötig, ihre Brille aufzusetzen.
»Wer soll tot sein?«, fragte der Zahnarzt skeptisch.
»Na, sie!«, rief Irma mit brechender Stimme und wies auf das Paket, das in ihrem Schoß ruhte.
In dem Moment begriff Katia, dass ihre unguten Vorahnungen berechtigt gewesen waren. Was Irma auf ihre unnachahmliche Weise in den Armen hielt, war ein echter, ein trauriger kleiner Leichnam.
»Aber das ist ja ein Köter!«, rief der Anarchist erstaunt aus, der noch nicht lange genug im Haus Silberblick lebte, um Irmas Mops zu kennen.
Der Mops war Teil einer weiteren Politik des Hauses, die besagte, dass das Halten von Haustieren förderlich für die geistige und seelische Gesundheit sei. Man hatte dabei an anschmiegsame Katzen gedacht, an kluge Papageien, pflichtbewusste Blindenhunde mit goldenem Herzen.
Nicht gerechnet hatte man mit einen misanthropischen Mopsmischling mit unheilbarer Flatulenz, dessen überdimensionales Ego ihn nach jedem schnappen ließ, der nicht die Flucht ergriff. Er war allgemein verhasst, doch Irma liebte ihn wie ein leibliches Kind.
»Meine Ophelia«, klagte sie und gab den runden Körper frei, der jetzt vor aller Augen dalag, auf der Seite, die kurzen Beine von sich gestreckt. Katia trat näher und betastete ihn. Er fühlte sich kalt an und steif wie ein schlecht gearbeitetes Stofftier. Offenbar hatte die Totenstarre bereits eingesetzt.
»Meine Güte!«, entfuhr es dem Lehrer, vor Schreck reimlos. »Das Tier ist tatsächlich hinüber.«
Irma heulte auf. »Niemand von euch hat sie geliebt.«
»Jetzt stehen Sie doch erst mal auf.« Katia gab sich Mühe, die Weinende auf die Beine zu bringen, und führte sie zu einem Stuhl. Dann kehrte sie zurück und deckte den Hund mit einem liegen gebliebenen Schal ab. »Es tut uns sehr leid«, sagte sie und setzte sich neben Irma. Ihr Blick ermahnte die anderen, bis sie schließlich widerwillig nickten.
»Ich wusste gar nicht, dass sie Ophelia hieß«, wunderte Friedhelm sich.
»Wieso«, fuhr Irma auf, »wieso sollte sie nicht Ophelia sein? Sie hat immer schon Ophelia geheißen. Immer.«
»Ich dachte nur, ich hätte Sie mal Fluffy rufen hören.« Friedhelm hob abwehrend die Hände.
»Floffy«, korrigierte Irma la Douce ihn. »Phloffy mit ph, um genau zu sein, die Kurzform von Ophelia eben.«
»Ach«, erwiderte Friedhelm Klemp.
Rasch fragte Katia: »Aber wie ist das denn nur passiert?«
Irma beruhigte sich nach einigen weiteren Schluchzern so weit, dass sie erklären konnte, sie habe Phloffy gestern wie immer kurz vor Mitternacht noch einmal in den Park hinausgelassen. Was gefahrlos möglich war, da ihn eine hohe Mauer umgab. »Ich hab mich einfach schlafen gelegt und die Terrassentür für sie offen gelassen, wie immer«, fuhr Irma fort. »Wenn ich morgens aufwache, liegt sie dann neben mir. Aber heute Morgen nicht.«
Irma berichtete von ihrer Suche im Park. »Ich sah unter den Rosen nach.« Sie stand auf und ging umher, mit klagender Miene unsichtbares Unterholz beiseiteschiebend. »Ich schaute unter die Vergissmeinnicht.«
Friedhelm kam das vertraut vor. Er blätterte im Manuskript; tatsächlich: vierter Akt, fünfte Szene: Ophelias Wahnsinn. Sie wandelt umher und verschenkt Blumen, erst Rosen, dann Vergissmeinnicht. Alle Achtung! Sollte Irma die Textstelle etwa zur Vorbereitung gelesen haben? Bei Shakespeare kämen als Nächstes Fenchel und Raute. Im Park nicht vorhanden, aber das wäre sicher kein Problem für ein von Shakespeares Genie animiertes Vorstellungsvermögen.
»Ich suchte zwischen den Dahlien.«
Doch nicht. Leicht enttäuscht klappte Friedhelm den Textband zu.
»Dann fand ich sie. Tot. Ermordet.« Für das letzte Wort hatte Irma ihre Stimme noch einmal dramatisch erhoben.
»Mord?« Jemand lachte unsicher.
Das war wieder einmal so eine Irma-typische Behauptung, dachte Katia verärgert. Gewiss, der Mops war alles andere als beliebt gewesen. Aber so eine Tat war doch niemandem im Heim zuzutrauen. Wenn man selbst dem Tod nahe war, neigte man nicht dazu, das Leben leichtfertig zu verkürzen, weder das eigene noch das der anderen. Oder?
»Unmöglich«, sagte die Gräfin und fasste damit die allgemeine Meinung in Worte. »Warum sollte jemand so etwas tun?«
»Und wie soll das gehen?«, fragte der Lehrer. »Ich meine, was ist nur geschehen?« Offenbar hatte er sich von seinem ersten Schreck erholt. »Sie wird wohl einen Herzinfarkt gehabt haben, oder nicht?« Er griff sich an das eigene Organ, an dem bereits vier Stents saßen.
»Sie war kerngesund.« Diesen einen Satz sprach Irma mit bodenständiger Sicherheit. »Außerdem war sie erst vier.«
»Meist ist der Mensch im Spiel, wenn ein Tier zu Schaden kommt«, erklärte der Vogelkundler. »Vor allem in kulturnahen Zonen. Sie sterben in Windrädern, vergiften sich auf pestizidgesättigten Äckern, verlieren ihr Brutgebiet.«
»Na, dann ist es ja gut, dass wir hier nicht allzu viel Kulturnähe zu bieten haben«, ätzte Friedhelm.
»Meine arme Ophelia!« Irma rief die Runde zum Thema zurück.
Wieder starrten alle auf die kleine Leiche. Mord oder Nichtmord?
Katja fasste einen Entschluss. Zu Irmas und ihrer aller Bestem musste dieser Fall möglichst rasch geklärt werden. Und sicher gab es eine ganz einfache Lösung. »Wenn Sie sich das Tier einfach mal anschauen würden, Herr Doktor Hänfling, bitte. Nur zur allgemeinen Beruhigung.«
»Was wollen Sie?«, sagte Hänfling und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Ich bin Zahnarzt.«
»Das schließt doch anatomische Grundkenntnisse nicht aus«, meinte Katia.
Der Zahnarzt lachte ratlos. »Sie wissen aber schon, dass ich bestenfalls den Tod durch stumpfe Gewalteinwirkung bestätigen kann? Nicht aber, ob dieser zufällig, durch vorsätzliche Fremdeinwirkung oder in suizidaler Absicht geschah. Wenn’s kein Herztod oder Rattengift war …«
Irma jaulte auf.
»Bitte«, wiederholte Katia tadelnd und hielt die Trauernde fest.
Der Zahnarzt zuckte mit den Schultern. »Ich wollte es nur gesagt haben.« Dennoch stand er auf und trat an die Leiche heran. Er drückte hier, presste dort. Nach einer Weile drehte er Ophelia herum.
Alle hielten den Atem an, niemand hatte den Blick gesenkt.
»Oha«, sagte er endlich. Und dann: »Hat jemand ein Skalpell? Oder ein Taschenmesser?«
Die Gräfin schüttelte den Kopf. »Mein Waidwerkzeug liegt auf dem Zimmer.«
Die Psychologin reichte wortlos ein Nagelpflegeset an.
»Niemand vergeht sich an meiner Phloffy!« Irma war aufgesprungen und starrte auf das ledergebundene Etui.
»Keine Sorge«, rief der Zahnarzt. »Es wird nicht wehtun. Wenn mir mal jemand …«
Der Neue sprang dem Zahnarzt bei. Gemeinsam hoben sie die Hundeleiche auf und legten sie auf das abgedeckte Klavier, wo der Zahnarzt im Stehen arbeiten konnte.
»Zieht doch mal die Vorhänge weiter auf«, bat er. »Ich benötige mehr Licht. Wenn ich jetzt meinen Spiegel hätte.«
Der Lehrer reckte sich, um die schweren alten Samtvorhänge so weit wie möglich zurückzuschieben. Der Vogelkundler fand in einer seiner vielen Funktionstaschen eine knisternde Thermodecke aus Folie, die entfaltet und unter den kleinen Leichnam gelegt wurde. Alle traten so nahe heran, wie es auf der schmalen Bühne möglich war.
»Ach, armer Yorick«, murmelte Friedhelm, der sich an die Grabszene im Hamlet erinnert fühlte. Der Leichnam eines Mopses, der Schädel eines Narren – erinnerten nicht beide an die lächerliche Sterblichkeit des Menschen, zumindest irgendwie?
Der Zahnarzt neigte sich vor, die aufgeklappte Nagelschere in der Hand, und näherte sie einem Schmutzfleck auf Phloffys Fell, der rot gerändert war. »Oha! Wenn mich nicht alles täuscht …«, begann er und versenkte vorsichtig das Metall in dem Fleck, der sich somit als Loch erwies, ziemlich kreisrund und von Blut umgeben. Katia überlief eine Gänsehaut.
»Die Feile bitte. Nein, das ist die Hornhautraspel. Ich meine das schlanke Gerät mit der Spitze.«
Der Anarchist reichte die Feile an, die ebenfalls in dem Kadaver verschwand, um darin hin und her zu rühren, unter Irma la Douce’ gequälten Seufzern. Schließlich holte der Zahnarzt, zwischen Scheren- und Feilenspitze balancierend, ein kleines, konisches Objekt hervor, das dunkelgrau schimmerte. »Na bitte«, sagte er triumphierend.
Alle starrten das Ding an. »Eine Patrone«, stellte der Anarchist fest.
Das Wort zog Kreise wie ein Stein, der ins Wasser fiel. Es sprach vom Töten. Es sprach von vorsätzlicher Gewalt. Es sprach davon, dass jemand unter ihnen lebte, der eine Waffe besaß und bereit war, sie auf ein Lebewesen zu richten.
»Unglaublich«, murmelte Katia, und ihr Blick suchte den von Friedhelm. Er hatte ihnen ja versprochen, der Hamlet würde ihrer aller Leben verändern. Doch dass es so schnell geschehen würde …
»Ja, schnöder Mord, wie er aufs Beste ist. Doch dieser unerhört und unnatürlich!« Friedhelm strahlte. Sollte noch einmal jemand behaupten, dass der Kunst, dass Shakespeares Worten keine prophetische Kraft innewohnte. Als Nächstes verspürte er Schmerzen im linken Fuß. »Warum treten Sie mich?«
Ehe Katia die Frage beantworten konnte, trat die Gräfin vor. »Das nehme wohl am besten ich«, sagte sie und griff nach dem kleinen Objekt, um ihre gichtige Hand fest darum zu schließen. »Mit Munition kenne ich mich aus.«
7
Alle zuckten zusammen, als die Tür des Musikzimmers sich ohne Ankündigung öffnete. »Herr Dr.Hänfling, Ihr Magenmittel.«
Bogdan, einer der Tagespfleger, kam mit seinem Rollwagen herein. Der Anarchist war geistesgegenwärtig genug, den Schutzbezug des Klaviers zurückzuschlagen, sodass der Ophelias Leiche und das Obduktionsbesteck notdürftig verbarg. Die Theatergruppe stellte sich davor wie ein Mann. Ein donnernder Akkord ertönte. Die Psychologin war auf die Klavierbank geglitten, hatte die Abdeckung geöffnet und energisch in die Tasten gegriffen. Dann erklangen die ersten, melancholischen Töne von Auferstanden aus Ruinen. Die Truppe lächelte, so rasch und gut sie es vermochte.
»Geht es allen gut?«, fragte Bogdan und baute seine athletische Gestalt vor ihnen auf.
Sie nickten, einhellig und stumm.
»Prima, denn jetzt kommt der gute Stoff.«
Steifbeinig löste sich der Zahnarzt aus der Gruppe und stakste zum Stuhlkreis zurück, wo der Pfleger ihm ein Mundspray reichte, das er in einer kleinen Sprühflasche extra für ihn angemischt hatte. Der Anarchist war mitgekommen und verfolgte ungeniert die ganze Prozedur. Er nahm das Fläschchen vom Wagen, aus dem die Spraydose befüllt worden war, las das Etikett und grinste.
»Tetrahydrocannabinol. Für den Magen ist das aber nicht.« Bewundernd betrachtete er den Zahnarzt. »Reines Cannabis. Wie haben Sie das hingekriegt?«
Der Zahnarzt griente. »Ganz einfach, ich mach eine Chemo. Sonst hilft nichts gegen die Nebenwirkungen. Aber sagen Sie es den anderen nicht.«
»Alles klar.« Der Anarchist nickte und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Vergessen Sie’s«, sagte Bogdan und streckte seinerseits die Hand aus.
Widerstrebend zog der Anarchist das Fläschchen aus der Hose und gab es zurück. »War nur Spaß«, meinte er und schlenderte zurück zu den anderen.
»Und Sie proben also hier den Hamlet?«, fragte Bogdan, während er seine Utensilien zusammensammelte.
Es dauerte eine Weile, bis die Truppe sich darauf besann, dass das in der Tat ihr ursprüngliches Anliegen gewesen war.
»Ähm, richtig«, antwortete Friedhelm stellvertretend für sie alle und trat einen Schritt vor. Als er merkte, dass er die Hornhautraspel noch in Händen hielt, versenkte er sie rasch in den Taschen seines Jacketts.
»Cool«, sagte Bogdan und zog seine Gummihandschuhe aus. »Ich glaub, ich hab das mal mit Mel Gibson in der Hauptrolle gesehen. Will den Mord an seinem Vater aufklären und hat was mit seiner Mutter. Voll freudmäßig.« Er löste die Bremse seines Wagens, ehe er ihn anschob. »Und?«, fragte er zum Abschied und ließ seinen Blick über den Raum gleiten. »Wer ist Ihr Hamlet?«
Die künftigen Schauspieler sahen einander an. Richtig, die Hauptrolle in ihrem Drama war noch gar nicht vergeben. Wer würde der Hamlet sein? Wer würde sich die entscheidenden Fragen stellen? Und am Ende den Mord aufklären?
»Wer sonst als unsere allseits geschätzte Katia«, sagte Friedhelm. Er trat vor und hob ihre Hand, um einen chevaleresken Kuss anzudeuten. »Sie ist wie geschaffen für die Rolle.«
Von den anderen setzte erst zögernder, dann zustimmender Applaus ein.
»Dann werde ich Sie also im Auge behalten«, sagte Bogdan.
Katia Horenfeld wurde endgültig klar, dass ihre seltsame Vorahnung sie nicht getrogen hatte. Etwas Neues war geschehen, etwas Aufregendes. Etwas Beunruhigendes, das sie in seiner Bedeutung noch nicht ganz zu fassen bekam. Aber nun, da es begonnen hatte, würde es für sie kein Zögern geben. Es sollte also sein. Das Nichtsein käme noch früh genug.
8
Als die erste Probe beendet war und alle den Raum verließen, um in Richtung des Speisesaales zu streben, nahm Friedhelm an der Tür die Parade ab. Schließlich zog er einen Schlüssel heraus und verschloss die Tür. Er zwinkerte Katia zu.
Die schnappte nach Luft. »Der Schlüssel zum Musikzimmer. Ich dachte, der wäre verschollen, seit die Bassgeige ihn verloren hat.«
»Ist er auch«, gab Friedhelm zu. »Dies hier ist der Zweitschlüssel. Hab ich aus der Portiersloge geklaut.« Sehr zufrieden steckte er ihn ein. »Ich erlaube doch nicht, dass jemand heimlich in unseren heiligen Proberäumen herumstöbert.«
Er wies mit dem Kinn zum Eingang des Speisesaals, wo Agnes Vogeltanz, die Heimleiterin, mit einigen ihrer Bewohnerschäfchen plauderte. »Sie mischt sich ohnehin in alles ein.«
»Und Bogdan hätte uns vorhin beinahe ertappt, als wir den Hund auf dem Klavier hatten!«
»Nun, wir hätten es als Method-Acting ausgeben können. Eine sehr wirkungsvolle Methode übrigens. Schauspieler werden dabei angehalten, sich den Situationen, die sie spielen sollen, möglichst real auszusetzen, um sie gut nachempfinden zu können.« Der Impresario hatte zu einem seiner Lieblingsthemen gefunden und kam in Fahrt. »Sie stammt von dem berühmten Stanislawski, doch es sind auch Einflüsse der besonderen Körperlichkeit der Commedia dell’arte zu verzeichnen, die wiederum …«
Katia war nicht ganz bei der Sache. Sie hielt Ausschau nach Hans Grünsteudl, konnte ihn aber nirgends entdecken. Er konnte doch unmöglich schon wieder eine Mahlzeit überschlagen? Katia merkte, wie Unruhe sich in ihr ausbreitete.
»Die Stanislawskische Methode war übrigens auch in Hollywood sehr beliebt«, erklärte Friedhelm Klemp derweil. »James Dean und Marilyn Monroe haben Method Acting angewendet. Wenn auch nicht mit einem Mops.«
»Hehe! Wer redet hier über die Möpse der Monroe?« Der Anarchist quetschte sich zwinkernd an ihnen vorbei.
Wütend starrte Friedhelm ihm nach. Rosencrantz & Guildenstern, die Figuren, die der Anarchist verkörpern würde, starben im Stück einen raschen Tod. Gut so.
»Also, das Method-Acting …«, wollte er fortfahren, doch Katia stand nicht mehr an seiner Seite. Zu seinem Erstaunen war sie zu der Heimleiterin hinübergegangen.
»Herr Grünsteudl?« Frau Vogeltanz blinzelte, offenbar überrascht von Katias Frage. »Aber der ist doch in den Urlaub gefahren. Er braucht Sonne, hat er gesagt. Er hat ja auch ganz bleich ausgesehen, wie er da gestern Abend mit seiner Reisetasche vor mir stand. Fast wie ein Gespenst, der Arme.« Jetzt schaute sie mit dem rundäugigen Ernst drein, den man sich zurechtlegte, um mit Kindern schwere Themen zu besprechen.
»In den Urlaub?«, fragte Katia ihrerseits verwundet nach. Hans war noch niemals in Urlaub gefahren. Er war Landwirt gewesen; die machten keinen Urlaub. So etwas war in deren Leben nicht vorgesehen. Sie konnte sich nicht einmal an die Erzählung von einem Ferienaufenthalt erinnern.
»Ja, Urlaub.« In der Stimme der Heimleiterin lag ein Seufzen, das Sehnsucht sein mochte. Sie versuchte zu lächeln, doch unter ihrem Auge zuckte es. »Wenn ich mich richtig erinnere, sprach er von der Costa Brava. Sie entschuldigen mich.«
»Na also, dann wäre das ja geklärt.« Friedhelm war hinter Katia getreten und klang sehr zufrieden. »Es gibt eben Menschen, denen ist ein überfüllter Strand wichtiger als die Kultur.« Er schnalzte mit der Zunge und bot ihr den Arm.
»Aber …«, sagte Katia und hängte sich ein. Es wollte ihr nicht einleuchten. Den ganzen Weg zu ihrem Tisch hinweg grübelte sie. Zu deutlich hatte sie die Zusage von Hans Grünsteudl im Ohr, zu offensichtlich war seine Freude gewesen bei dem Gedanken, er und sie könnten gemeinsam auf der Bühne stehen, sogar ein wenig errötet war er. Und sie hatte gedacht … weiß der Himmel, was sie geglaubt hatte. Fort ohne ein Wort, wie der Lehrer es wohl formuliert hätte. Offenbar hatte sie die Bedeutung, die ihre nachmittäglichen Teestunden für ihn besessen hatten, überschätzt.
Friedhelm schob ihr den Stuhl zurecht.
Sie nahm Platz und legte sich die Serviette über die Knie.
9
Das Getöse des allgemeinen Geplauders im Speisesaal setzte kurz aus, als Frau Vogeltanz vortrat, um Ruhe bat und an den Dia-Abend erinnerte, der auf all diejenigen wartete, die es schafften, länger als bis 19Uhr wach zu bleiben.
»Es handelt sich um den beliebten ›offenen Projektor‹«, flötete die Vogeltanz. »Also bringen Sie ruhig alle Ihre Dias mit. Unser Herr Stürbichler wird sie gerne einlegen.« Applaus ertönte. Herr Stürbichler war ein erprobter Publikumsmagnet.
»Zwanzigmal Weihnachten mit Tante Frieda«, stichelte Friedhelm und nahm sich eine Scheibe Brot. »Und fünfzehnmal Entenfüttern am Gardasee.« Er bot ihr die Butter an.
»Das spart die Blutdrucksenker«, meinte Katia, nahm von der Butter und verdrängte das Bild eines blassen, kranken Hans Grünsteudl mit einem Koffer in der Hand.
»Sehen Sie das Zucken an ihrem unteren Augenlid?«, fragte Friedhelm und wies mit dem Messer in Richtung Heimleiterin. »Irgendwann werden wir die Frau antreffen, wie sie die Dekorationen von den Flurwänden abreißt, Tonpapier abfackelt und dazu Revolutionslieder singt, mit wild gelöstem Haar! Das ist doch eine verführerische Vision.«
Jetzt musste Katia doch lachen. »Vielleicht sollte man sie auf ein Glas Wein einladen und ihr eröffnen, dass wir alle nur Menschen sind.« Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu. Einer der Vorteile, mit Friedhelm an einem Tisch zu sitzen, war es, dass dort stets eine Flasche guten Rotweins wartete. Das und eine lebhafte Konversation.
Auch Friedhelm hob seinen Kelch. »›Du weißt s’ist all’n gemein: was lebt, muss sterben‹«, zitierte er seinen geliebten Shakespeare. »›Kommt kurz zur Erd, um Ewiges zu erwerben.‹« Er schmeckte dem Wein nach. »Mmh, der Syrah ist nicht übel, nicht übel.«
Frau Vogeltanz, auf dem Weg nach draußen, kam gerade an ihrem Tisch vorbei, als sie stehen blieb. Ihr tadelnder Blick galt diesmal allerdings nicht der Weinflasche auf Friedhelms und Katias Tisch.
»Aber meine liebe Frau Wieprecht«, rief die Heimleiterin, gebannt auf die kleine alte Frau am Nebentisch starrend. »Sie haben da etwas auf dem Kopf.«
Frau Wieprecht, in beiger Dehnbundhose und Strickjacke über ihren Hagebuttentee gebeugt, schaute auf. Auf ihren weißen Dauerwellenlöckchen thronte ein glitzerndes Weißgold-Diadem. »Ich weiß«, sagte sie.
Fassungslos starrte Agnes Vogeltanz sie an.
Katia neigte sich vermittelnd hinüber: »Wofür soll sie es aufheben? Es werden nicht mehr viele Gelegenheiten kommen, bei denen es sich angemessen tragen ließe.«
»Sie meinen, das ist echt?« Agnes Vogeltanz schnappte nach Luft. »Aber das ist ja unverantwortlich!«
»Im Gegenteil«, erwiderte Katia. »Ich finde sogar, sie hat eine sehr verantwortungsvolle, gute Entscheidung für sich getroffen.«
»Ich werde mit dem Psychologen sprechen müssen.« Die Heimleiterin schüttelte vehement den Kopf. »Wir werden wohl den Demenztest wiederholen.«
Katia öffnete schon den Mund, aber Friedhelm legte ihr mahnend die Hand auf den Arm. »Das sind Posen, die leicht spielbar sind«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Machen Sie’s wie Hamlet. Tun Sie als ob.«
Also lächelte Katia nur, bis die Vogelsang weiterging. Friedhelm hatte recht: Ein Versuch, mit dieser Frau zu reden, wäre vergebens.
10
Den größten Teil der Mahlzeit verbrachte der Impresario mit Ausführungen darüber, wie herausfordernd es doch war, ein Stück von über vier Stunden auf 45Minuten herunterzukürzen. Oder 23Sprechrollen auf acht Schultern umzuverteilen, ganz abgesehen von all den Hofdamen, Soldaten, Matrosen, Boten, Schauspielern und natürlich: dem »Volk«. »Obwohl, davon haben wir ja jede Menge.«
Sie betrachteten die speisende Schar ihrer Mitbewohner. Ihr Volk. Wenig Schleppen und Hellebarden, dafür zahlreiche Krücken, Rollatoren und orthopädisches Schuhwerk. Keine üppigen Hauben, keine Kronen, von Frau Wieprechts trotzigem Diadem abgesehen. Die meisten der geneigten Köpfe waren karg, silbern und grau. Noch immer kamen Nachzügler. Und Hans Grünsteudl war nicht unter ihnen.
»Vergessen Sie es«, sagte Friedhelm, der ihren Blick auf die Menge missdeutete. »Da finden wir keine geeigneten Komparsen. Ich denke ohnehin an eine minimalistische Inszenierung: schwarze Bühne, kaum Requisiten.«
»Ich dachte eher daran«, unterbrach Katia ihn, die von Hamlet allmählich genug hatte, »dass womöglich einer von ihnen Irmas Hund erschossen hat.«