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Nils van Meinen ist seit einem tragischen Unfall seiner Frau alleinerziehender Vater zweier Kinder. Politisch engagiert, bekommt er überraschend die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen und seine Ansichten, Ideale und Ideen zu erklären. Damit trifft er nicht nur auf Zustimmung in der Gesellschaft, sondern auch auf Ablehnung, bis hin zu gewaltbereiter Gegenwehr, die ihn, seine Familie und seine neue Liebe Sophia in Gefahr bringt. Er bewegt, verändert, scheitert und riskiert sein Leben.
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für mich ...
Illustrationen von Sonja Zydel
„Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“
Mahatma Gandhi
Das erste Duell
Der Fahrstuhl
Venedig – Eine kleine Renaissance
Die Rede seines Lebens
Das zweite TV-Duell
Der Wahlabend
Die ersten 100 Tage
Gescheitert? Rede zur Lage der Nation.
Der Rücktritt
In der Höhle
Der Schlussakkord
Noch 38 Minuten bis zum ersten TV-Duell. Nils van Meinen sitzt in der Maske. Er wird geschminkt, gepudert, seine dunklen, leicht grau melierten Haare werden zurechtgelegt.
Er ist der Herausforderer der Kanzlerin und wird gleich in einem direkten Aufeinandertreffen seine Ansichten, Ideale und Vorhaben begründen und verteidigen müssen. Er weiß, dass das ein fast unmögliches Unterfangen sein wird.
Er ist ein „politisches Leichtgewicht“, erst seit einigen Jahren in der Partei und steht einer Frau gegenüber, die sich über Jahrzehnte durchgesetzt hat und schließlich Kanzlerin geworden ist. Nils schätzt diese Frau. Sie hat eine Kraft entwickelt, ihre Widersacher aus dem Rennen zu werfen, und das Land nahezu alleine gelenkt, zwar aus seiner Sicht, ohne wirklich etwas zu verändern, unauffällig, aber letztlich gefährliche Klippen umschifft; keine neuen Akzente gesetzt, aber auch keine Fehler gemacht. Er hatte als Beobachter zeitweise das Gefühl, es spielt keine Rolle, wie ihr Kabinett zusammengesetzt ist, Hauptsache, sie steht ihm vor, ja fast die Wahl des Koalitionspartners schien in diesem Zusammenhang zweitrangig.
Und heute werde ich diese Frau herausfordern, fast schon etwas lächerlich, auf jeden Fall anmaßend. Erstaunlich, dass ich hier bin, unwirklich; ich bin nicht sicher, ob es richtig ist.
Es ist nicht mehr viel Zeit, bis zum Beginn des Duells, Erinnerungen gehen ihm durch den Kopf, wie vor ungefähr 1 ½ Jahren an einem Sonntagmorgen das Telefon klingelt.
Sie liegen noch im Bett, aneinander gekuschelt. Gestern war Josephines 16. Geburtstag.
Wer muss denn Sonntag so früh anrufen?
Er löst sich vorsichtig von Sophia und greift nach dem Telefon.
Frank Adameit grüßt ihn: „Guten Morgen Nils, ich will nicht lange herumreden. Ich will dich zum Kanzlerkandidaten machen.“
Eine Pause, eine lange Pause.
Hat er das gerade wirklich gesagt?
„Nils, bist du noch am Telefon?“
„Ja, ich bin am Telefon, ich weiß nur gerade nicht, ob ich schon wach bin.“
„Ich weiß Nils, ich habe als Parteivorsitzender die Möglichkeit, selbst ins Rennen zu gehen, aber ich glaube, meine Partei, unsere Partei, hat mit dir mehr Möglichkeiten, mehr Chancen. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich gebe damit natürlich eigene Ambitionen auf. Was sagst du?“
Nils hält inne, ihm gehen Gedanken durch den Kopf. Er ist doch erst seit 3 Jahren als offizielles Parteimitglied in der SPD. Er war gefühlt schon in der SPD, seitdem er politisches Interesse entwickelt hat. Er wurde von seinem Ur-Großvater vorbereitet. Ein Mann, eine beeindruckende Persönlichkeit, der in der Kaiserzeit aufgewachsen ist, den Ersten Weltkrieg überlebt hat und das Scheitern der ersten deutschen Demokratie miterleben musste. Er war mit seinem Bruder schon früh in die SPD eingetreten, in die Partei, die als einzige gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat, die versucht hat, zu verhindern, was dann kommen sollte. Er hat während der Nazi-Herrschaft mit seiner Familie Juden bei sich versteckt. Nils erinnert sich noch an den Satz: „Jeder, der es wissen wollte, wusste es.“ Er war damals 8 Jahre alt und hat diesen Satz erst viele Jahre später verstanden. Sein Ur-Großvater wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für die Entnazifizierung in Berlin-Zehlendorf eingesetzt, sein Bruder ist von den Nazis in den späten 1930er Jahren gefoltert worden und an den Folgen gestorben. Sein Ur-Großvater starb als Nils 10 Jahre alt war, sehr früh in seinem Leben, für Nils viel zu früh, aber spät genug, um ihn politisch zu prägen.
Nils hat nach seinem Parteieintritt sukzessive Aufsehen erregt. Zunächst in Bremen auf lokalen Veranstaltungen des Ortsvereins, dann auf dem darauffolgenden Parteitag der SPD in Hamburg. Er hat eine Rede gehalten, die nachwirkte. Er hat Missstände angesprochen, innerhalb der Gesellschaft, innerhalb seiner Partei. Er hat mit seinem charismatischen Auftreten Eindruck gemacht, sich Verhör geschafft, teilweise auch Neid geweckt und viele verschreckt. Dennoch galt er schnell als neuer Hoffnungsträger seiner Partei. Viele seiner Parteimitglieder, die sich selbst nicht für „geeignet“ hielten, beziehungsweise wussten, dass sie keine Möglichkeit erhalten würden, an die Macht zu kommen, unterstützten Nils. Er könnte es schaffen, hieß es, ohne dass es jemand „laut“ ausgesprochen hat.
Es hat geholfen, sich bisweilen zurückzuhalten. Er hat seine Überzeugungen und Vorstellungen noch nicht in aller Klarheit und Deutlichkeit zur Diskussion gestellt. Er wollte sie behutsam vorstellen, sie „einwirken“ lassen, Gedankensamen sähen, in der Hoffnung, sie würden keimen.
Er hat das für sich insgeheim das „Gorbatschow-Prinzip“ genannt.
Glasnost, Perestroika wären nie in den späten 1980er Jahren real geworden, wenn Michail Gorbatschow nicht der Parteilinie innerhalb der KPdSU zunächst gefolgt wäre, wenn er zu früh seine Liberalität in einer Gruppe illiberaler „Betonköpfe“ preisgegeben hätte. Er wurde Staatssekretär der Partei, und erst danach hat er seine Ideale formuliert und, bis zu einem gewissen Grad auch umsetzen können.
Du musst zunächst mit dem Strom schwimmen, um an die Macht zu kommen, um dann deine Ideale und Vorstellungen zu verwirklichen.
Nils hat sich in den letzten Jahren gebremst. Er hat seine Vorstellungen und Programme angedeutet, aber nie ausformuliert, um nicht die Bevölkerung und auch seine Partei zu überfordern. Ja, er ist das Projekt, sein Projekt, berechnend angegangen. Er wollte an Einfluss gewinnen, er hat nie gelogen, aber nie seine Gedanken bis in die letzte Eindeutigkeit ausformuliert. Er wäre sonst wohl nicht aufgestellt worden.
„Frank, ich weiß nicht, ob du dir gerade und unserer Partei einen Gefallen tust, aber ich nehme an!“
Noch etwa 30 Minuten bis zum TV-Duell.
Nils versucht, sich zu entspannen, zu konzentrieren, aber das ist kaum möglich. Es ist laut, hell, ein Stimmengewirr, die Spannung des bevorstehenden Ereignisses ist überall zu spüren. Alles wirkt auf ihn surreal, er ist angespannt, er nimmt alles mit jedem seiner Sinne wahr, er beobachtet seine Umgebung, die Personen, die sich wie in Zeitlupe um ihn bewegen. Er nimmt Gerüche wahr, Gerüche von Parfüm, Rasierwasser, er riecht die Menschen um sich herum. Jeder hat seinen eigenen Geruch. Er ertappt sich dabei, darüber nachzudenken, ob die Gerüche zu dem Äußeren der Personen passen. Er beobachtet seine Umgebung, als wenn er im Kino sitzen würde und gespannt ist, wie der Film endet.
Er fühlt sich wie ein Raubtier, das auf der Lauer liegt.
Die Bevölkerung hat das Recht, ihn nun besser kennenzulernen, er wird seine Meinungen erklären und die Kanzlerin fordern. Wenn man ihn wählen will, dann soll jeder wissen, was er oder sie zu erwarten hat.
„Herr Dr. van Meinen, möchten Sie etwas trinken, oder darf ich Ihnen sonst etwas anbieten?“, fragt Anneliese, die für das Wohlbefinden und den Service der Eingeladenen verantwortlich ist. Er schreckt aus seinen Gedanken auf.
„Nein, danke!“
Das Stimmengewirr wird lauter. Nils vermutet, dass die Kanzlerin eingetroffen ist und in einem der Nebenräume vorbereitet wird. Christine Gremmel ist seit 4 Jahren Kanzlerin und Vorsitzende der Konservativen und durchaus beliebt in der Bevölkerung. Sie hat in ihrer bisherigen Amtszeit wenig verändert, aber auch kaum Fehler gemacht. Sie ist 56 Jahre alt, Mutter von 2 Kindern, anscheinend glücklich verheiratet, so genau weiß das niemand, da sie mit Ihrem Privatleben nie wirklich aufgefallen ist.
„Herr Dr. van Meinen, noch 24 Minuten!“
Nils verlässt den Raum, er will versuchen, so gut es geht, noch eben etwas Ruhe zu finden, Luft zu schnappen und möglichst noch eine Zigarette zu rauchen. Vor der Tür des Treppenhauses stehen 2 Security-Beamte, denen er sein Vorhaben andeutet. Christian Heitmann besteht darauf, ihn zu begleiten, und geht mit Nils die Treppe hinunter, um durch einen Hinterausgang ins Freie zu gelangen. Es ist ein lauer Sommerabend im August, die Sonne erhellt noch den Hinterhof, und Nils zündet sich eine Zigarette an. Er fängt mit dem Security-Mann ein seichtes Gespräch an. Christian Heitmann fragt: „Wie geht es Ihnen, Herr van Meinen?“ Nils antwortet: „Geht so, aber nenn mich Nils. Weißt du, ich habe Angst“, offenbart sich Nils und ist selbst über seine Offenheit verwundert. „Ich befürchte, mich zum Gespött der ganzen Bevölkerung zu machen und vielleicht darüber hinaus.“
„Sie, äh, du hast schon einige kuriose Ansichten“, entgegnet Christian Heitmann mit einem süffisanten Lächeln. „Einige davon gefallen mir, bei anderen bin ich mir nicht sicher, ob sie nicht naiv sind“, auch Christian wundert sich ob seiner Offenheit. Er spricht immerhin gerade mit dem Herausforderer der Kanzlerin, den er auch erst seit einigen Minuten kennt. „Ich glaube, viele Deiner Punkte wirst du nicht einmal als Kanzler durchsetzen können!“
„Vermutlich hast du Recht, aber sollte man es nicht zumindest versuchen?“
Die Hintertür geht auf, und der Aufnahmeleiter ruft Nils zu: „Herr Dr. van Meinen, es ist soweit, Sie müssen hochkommen!“
Christian lächelt Nils zu und verabschiedet sich mit einer Handbewegung und bemerkt: „Viel Glück!“, bleibt aber hinter Nils und folgt ihm schützend.
Meine Stimme wird er bekommen.
Nils geht auf die Tür zu, hinter der sich die Bühne befindet. Die Kanzlerin ist bereits am Stehpult auf der Bühne. Sie trägt ein dunkelgraues Kostüm, hat ihre schulterlangen, dunkelblonden Haare hinten hochgesteckt. Sie sieht freundlich und vertrauenserweckend aus. Er geht auf sie zu mit einem zurückhaltenden Lächeln und reicht ihr die Hand. Die Kanzlerin schaut ihm kurz in die Augen, hält seinem Blick aber nicht lange stand, der Händedruck erfolgt pflichtgemäß. Nils geht auf die Moderatoren zu, reicht ihnen nacheinander die Hand, begrüßt sie freundlich und begibt sich hinter seinem Pult. Ihm ist bewusst, dass die Moderatoren eine wesentliche Bedeutung für den Fortgang und Ausgang der heutigen Veranstaltung haben werden.
Und er wird so recht behalten.
Es sind 5 Moderatoren, 3 Frauen und 2 Männer. Katrin Caspari und Hanna Erhard sind vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen vorgeschlagen worden, Herbert Franz und Silke Ertmann vertreten das private Fernsehen. Karl Bentmann ist freier Journalist und Publizist und soll mit „des Volkes Stimme“ in die Fragerunde eingreifen. Es ist hell und sehr warm durch die Scheinwerfer, Nervosität erfüllt den Raum.
„Noch eine Minute!“, erklingt es aus einer Ecke. Es wird still, niemand wagt mehr zu sprechen oder zu flüstern. „… 5,4,3,2 „, ein Handzeichen;
Auf Sendung! Millionen werden das Folgende beobachten.
Katrin Caspari blickt in Kamera 1, beide Kandidaten sind im Hintergrund erkennbar: „Guten Abend meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zum ersten TV-Duell des Jahres, 4 Wochen vor der Wahl. Ich begrüße die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Frau Dr. Christine Gremmel, und ihren Herausforderer, Herrn Dr. Nils Arthur van Meinen.“ Eine weitere Kamera übernimmt, sie nähert sich zunächst der Kanzlerin und schwenkt dann über zu Nils. „Wir haben in den letzten Wochen einen außergewöhnlichen Wahlkampf erlebt“, führt Katrin Caspari fort, die nun wieder im Zentrum der Kamera ist. „was auch an den ungewöhnlichen Ideen des Herausforderers liegt. Wir werden heute die Möglichkeit haben, diese besser zu verstehen und die entsprechende Einschätzung der Kanzlerin erfahren. Meine Kollegen Hanna Erhard, Herbert Franz, Silke Ertmann und Karl Bentmann darf ich ebenfalls begrüßen, die mit mir dieses TV-Duell gemeinsam leiten werden.“ Die Moderatorenrunde wird nun nacheinander in Szene gesetzt. „Sie beide werden insgesamt jeweils eine Redezeit von 30 Minuten haben, und am Ende können Sie für eine Minute ihre Standpunkte zusammenfassen! Herr Dr. van Meinen, ich möchte mit Ihnen beginnen, wie …“
„Katrin, bitte nenne mich Nils!“
„Herr Dr. van Meinen, das möchte ich nicht!“, entgegnet Katrin Caspari, für einen Moment irritiert.
„Warum nicht?“, beharrt Nils.
„Ich kenne sie nicht gut genug und möchte gerne beim ‚Sie‘ bleiben,“ – sie hat sich wieder gefasst – „aber wir können, anders als ich es geplant habe, hierzu die erste Frage stellen: Sie schlagen tatsächlich vor, dass ‚Sie‘ in der deutschen Sprache abzuschaffen? Ist es Ihnen damit ernst?“
„Ja, ich denke, dass die Menschen sich schneller näherkommen, wenn sie sich duzen. Es schafft eine menschlichere Atmosphäre; man ist schneller bereit, Persönliches preiszugeben und damit, seinen Mitmenschen besser kennenzulernen. Den Vorwurf, um das gleich anzuschließen, der damit einhergehenden, möglichen Respektlosigkeit teile ich nicht.“ Nils lässt eine kurze Pause und fährt dann fort. „Mein Vorgesetzter in früheren Jahren, als ich in den Niederlanden arbeitete, hat mich von Beginn an geduzt, so wie es in den Niederlanden üblich ist, und ich ihn ebenso, und dennoch habe ich ihn stets als Vorgesetzten respektiert! Das ‚Sie‘ wird weiterhin Bestand haben in der deutschen Sprache, aber ich möchte gerne das ‚Du‘ fördern!“
„Dann soll ich Sie auch nicht mit Ihrem Doktortitel anreden? Wollen Sie den Doktortitel im Allgemeinen auch gleich abschaffen?“, kontert Katrin Caspari, die ein leicht verkrampftes Lächeln zeigt und glaubt, den Kandidaten erstmals in eine schwierige Lage gebracht zu haben.
„Nein, warum auch?“, fragt Nils trocken zurück. „Der Doktortitel besagt nichts anderes, als dass jemand für längere Zeit an einer bestimmten Thematik gearbeitet, Ergebnisse geliefert und dokumentiert hat. Das ist in der Regel sinnvoll, aber muss nicht zwangsläufig mit dem Namen verschmelzen! Das macht aber niemanden zu einem wertvolleren Menschen und muss daher nicht an der Türklingel stehen.“ Katrin Caspari zögert kurz und wendet sich dann an Christine Gremmel.
„Frau Bundeskanzlerin, wollen Sie hierzu Stellung nehmen?“
„Frau Caspari, ehrlich gesagt: Nein!“, antwortet sie; ihre Ablehnung zu dieser Thematik unverhohlen ausdrückend. „Ich halte diese Ansicht für lächerlich und würde gerne meine Redezeit für sinnvollere Themen aufsparen!“
Nils zuckt innerlich zurück, sein Blick senkt sich kurz.
Das geht ja gut los, das ist wohl das 1:0 für die Kanzlerin, aber ich werde das durchziehen!
Silke Ertmann schaltet sich nach einem Blickkontakt mit Katrin Caspari in die Gesprächsrunde ein: „Frau Bundeskanzlerin, Ihr Herausforderer hat gewagte Ansätze zum Thema Steuer- und Finanzpolitik. Er möchte Privatpersonen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 1 Million Euro zwingen…“ Nils unterbricht: „Silke, ich möchte niemanden zu irgendetwas zwingen. Ich möchte Einkommensmillionäre motivieren, sich einzubringen.“ Sie fährt fort, diese Bemerkung scheinbar ignorierend. „.. 30% ihres Vermögens darüber hinaus in einen Fond einzuzahlen, aus dem dann gemeinnützige Projekte finanziert werden. Das klingt doch eigentlich ganz gut?“
Die Kanzlerin wartet einen Moment, möchte die kommenden Worte überlegt und mit Bedacht vorbringen. „Das sind für mich keine neuen oder bahnbrechenden Forderungen; die Wohlhabenden in unserer Republik zahlen bereits hohe Steuern, und einen Zwang zur Abgabe halte ich für falsch!“
„Ich möchte auch keinen Zwang!“, fährt Nils dazwischen, seine Mimik verzieht sich leicht. Hat sie mir nicht zugehört?
„Wenn Sie freiwillig in einen Fond einzahlen wollen, dann können sie das bereits heute tun.“ Ihre Stimme klingt fest, sie ist sich ihrer Argumentation sicher. „Ich lehne diese Ideologie der Umverteilung ab! Die finanziell besser gestellten Personen haben sich ihr Vermögen in der Regel selbst aufgebaut und haben das Recht, selbst zu entscheiden, wie sie es einsetzen wollen!“
„Christine, das ist nicht ...“, fährt Nils ihr ins Wort und wird dann selbst unterbrochen.
„Herr Dr. van Meinen, würden Sie mich bitte mit Frau Dr. Gremmel oder Frau Bundeskanzlerin anreden!“
„Nein, Christine, ich schätze deine Arbeit und deine Funktion als Bundeskanzlerin und respektiere dich als Person, aber der Punkt ist...“
„Frau Ertmann, würden Sie bitte…“, wendet sich die Kanzlerin an die Moderatorin.
Nils fährt unbeirrt fort, jetzt kommt sein Thema: „…niemand braucht eine Yacht mit Hubschrauber-Landeplatz und eigenem Fußballverein, während Menschen hungern, wo auch immer auf der Welt. Niemand braucht mehrere Häuser, während Menschen ein Dach über dem Kopf suchen, wo auch immer auf der Welt. Niemand braucht mehrere Luxusautos, während Menschen nicht wissen, wie sie zur nächsten Wasserstelle kommen, wo auch immer auf der Welt. Ich habe nichts gegen Wohlstand, aber wenn die Wohlhabenden unserer Gesellschaft nicht selbst auf die Idee kommen, zu helfen, Christine, dann…“
„Frau Ertmann, bitte, würden Sie Herrn Dr. van Meinen auffordern, sich an die üblichen Höflichkeitsformen zu halten und mich entsprechend zu siezen!“ Die Kamera fährt auf die Kanzlerin, wendet sich dann Nils zu und endet schließlich bei der Befragten.
„Nils, Herr van Meinen, ich bitte Sie, die Bundeskanzlerin respektvoll anzusprechen!“
„Silke, ich denke, dass ich ihr respektvoll begegne!“ Nils weiß, dass er an der Grenze ist, mit dem Duzen zu übertreiben.
Ich muss beim Thema bleiben.
„Ich will darauf hinweisen, dass die Freiwilligkeit, das Allgemeinwohl finanziell zu unterstützen, motiviert werden muss. Jedem, der mehr als 1 Million Euro privates Jahreseinkommen hat, ist es zuzumuten, 30% seines Vermögens darüber hinaus in einen Fond einzuzahlen!“ Der Klang seiner Stimme wird eindringlicher. Es ist spürbar, dass er von dem Gesagten überzeugt ist. Er meint es ernst. „Die Einzahler dieses Fonds können dann selbst bestimmen, wie dieses Geld eingesetzt wird, in welche sinnvollen, globalen Hilfsmaßnahmen! Das sollte für mich auch die Kirchen einbeziehen, die über sehr viel Vermögen verfügen, was aus meiner Sicht sinnvoller und humaner genutzt werden kann. Dafür werde ich mich einsetzen!“
1:1?, ich bin nicht sicher.
„Das ist ja lächerlich“, fährt ihn die Kanzlerin an und wirkt dabei leicht irritiert. „Selbst, wenn Sie Bundeskanzler werden sollten…“, sie zieht es schon mal in Erwägung, denkt sich Nils und muss sich ein Schmunzeln unterdrücken. „…haben Sie ja gar nicht die Befugnis, die Kirchen hier finanziell einzubinden!“
„Das stimmt, Christine ...“, jetzt tatsächlich leicht überheblich lächelnd.
„Frau Ertmann, bitte, ich will so nicht angeredet werden!“
„Herr van Meinen, ich fordere Sie nochmals auf ...“, versucht eine etwas hilflose Moderatorin auf Nils einzuwirken.
Nein, jetzt bringe ich es zum Ende. Ich scheine die Bundeskanzlerin mit meinem Duzen zumindest leicht aus dem Konzept zu bringen!
„Ich werde als Bundeskanzler nicht die Befugnis haben, den Kirchen diese humanitäre Aufgabe anzuordnen, aber ich kann dafür sorgen, dieses Anliegen anzuregen und Aufmerksamkeit zu schaffen!“
Karl Bentmann bringt sich ein. „Nils …“
Aha, Teilziel erreicht.
„.. lass uns ein weiteres Thema ansprechen und diskutieren.“ Erstmals seit Beginn des TV-Duells richtet sich die Kamera großzügig auf Karl Bentmann. „du hast ja schon fast revolutionäre Ansichten, was den Umgang mit Tieren anbelangt. Willst du diese kurz erläutern?“
„Gerne Karl, und danke für die Anrede““, beginnt Nils mit einem leicht süffisanten Lächeln. „Ich möchte Tierversuche in der Bundesrepublik verbieten.“ Er hält inne; diese Aussage muss kurz wirken können. „Es gibt mittlerweile andere Möglichkeiten, beispielsweise in Modellen und Simulationen, neue Anwendungen zu testen. Und, wollen wir Menschen von Neuerungen in der Pharmazie und der Medizin profitieren, so sollten wir selbst auch bereit sein, im Rahmen von kontrollierten, klinischen Studien die Risiken der Erprobung einzugehen. Ich gehe noch weiter. Ich möchte darüber hinaus die Tierhaltung ändern. Tierfleisch wird zukünftig nur noch in den Konsum gelangen, wenn die Tiere nach artgerechter Haltung eines natürlichen Todes gestorben sind.“ Erneut hält Nils inne.
Es ist soweit. Ich werde nun meine Ansichten nicht mehr tarnen.
„In Indien werden Kühe nach Ende der Milchgebung weiter versorgt, sie werden gepflegt, bis sie im Alter von 20–23 Jahren sterben. Mir ist bewusst, dass Fleisch dadurch teurer werden wird, es wird anders und aufwendiger verarbeitet werden müssen, damit es schmackhaft bleibt. Der Verbrauch wird zurückgehen, und unsere Ernährungsgewohnheiten werden sich verändern. Wenn man sich die Tierhaltung anschaut, stellt man fest, sie ist überwiegend unethisch und verachtet Leben.“ Nils ist kurz verwundert, dass er nicht unterbrochen wird, weder von den Moderatoren noch von der Kanzlerin.
Ich darf weiterreden.
„Es hat mich immer gewundert, dass die christlichen Kirchen, die ja jedes von Gott geschaffene Leben für schützenswert halten, sich in diese Thematik nie wirklich eingebracht haben. Es ist lächerlich, dass Kannibalismus als, zwar zurecht, abstoßend betrachtet wird, wir aber Tiere züchten, quälen, abschlachten, um sie zu „fressen“. Hunde und Katzen zu töten und zu verzehren, ist in unseren Regionen ein Tabu, Kühe, Schweine und Geflügel dagegen scheinen wertloser und deren Leben weniger respektiert zu sein. Männliche Küken werden zu Millionen im Jahr geschreddert. Schreddern klingt so mechanisch zielführend; es ist die systematische Tötung von ökonomisch unrentablen Leben.“
Nils lässt eine Pause, die Macht der Pause, um das Erzählte wirken zu lassen.
„Das muss sich, meiner Meinung nach, ändern. Des Weiteren werde ich die Entwicklung von Produkten des Fleischersatzes fördern! Es gibt bereits schon weit fortgeschrittene Projekte, Produkte herzustellen, die geschmacklich tierischem Fleisch nahekommen und ähnlich nahrhaft, wenn nicht sogar gesünder sind.“
„Das ist ja lächerlich!“, unterbricht die Kanzlerin. Sie fühlt sich gefordert. Der Mann hat zu viel Redezeit.
„Christine, das ist nicht lächerlich, das ist visionär und innerhalb von wenigen Jahren realisierbar!“
„Herr Dr. van Meinen, ich möchte Sie letztmalig bitten, mich zu siezen!“