Crow Kingdom - Tino Falke - E-Book

Crow Kingdom E-Book

Tino Falke

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Beschreibung

In einem Vergnügungspark zu arbeiten war für Jessica immer ein Traum, doch nach über zehn Jahren zwischen Achterbahnen und Fast-Food-Restaurants ist sie es leid, im Rabenkostüm zu tanzen und den Gästen mit aufgesetztem Lächeln eine heile Welt vorzugaukeln. Wie die anderen Angestellten hasst sie ihre Arbeit, den Park und den Besitzer – so sehr, dass sie beschließen, den schönsten Ort der Welt in Schutt und Asche zu legen. Während die Planung für den Tag der Zerstörung läuft, wird Jessica nicht nur unerwartet mit der Rückkehr einer Ex-Freundin und eines Jugendfreundes konfrontiert, sondern auch mit ihrer ganz persönlichen Verbindung zum Park. Denn wer für eine bessere Zukunft sorgen will, muss sich früher oder später der eigenen Vergangenheit stellen.

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Danksagung
Biografie

Crow Kingdom

Tino Falke

Content Notes

Bei Triggerwarnungen oder Content Notes handelt es sich um die Benennung von sensiblen Themen, damit die Leser*innen selbst die Verantwortung ergreifen und sich entscheiden können, ob sie einen bestimmten Text (in einer bestimmten seelischen Verfassung) lesen wollen.

Blut/Wunden/Verletzungen (auch grafisch) – auch bei Kindern, Unfall, Tod, Diskriminierung (Fatphobia, Demenz), Suizid, Feuer, Gewalt gegen Kinder und Tiere, Stalking, Autounfall, Sex

© 2021 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein13/2021

Covergestaltung: Christian Günther | Tag Eins - Atelier für digitale MedienLektorat: Anke Höhl-KayserPrinted in the EUISBN TB 978-3-95869-467-5ISBN ebook 978-3-95869-468-2

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie unsere Webseite:amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Corinna

και ό κολοιος ην παλιν κολοιος.

Und die Krähe war wiederum eine Krähe.

~ Aesop

1

Das Feuerwerk hat aufgehört, und einen Moment lang wird der Park nur vom Licht des Vollmondes beleuchtet, da explodiert neben mir ein weiteres Burgerrestaurant und besprüht Dutzende Katzen mit kochendem Fett.

Ich kann nicht anhalten. Während das Kreischen der Tiere zwischen den Ruinen des 3D-Kinos und brennenden Souvenirshops verschwindet, laufe ich in Richtung Geisterhaus. Ich muss Donnie finden, bevor ihm etwas zustößt.

Natürlich wäre das alles viel einfacher, würde ich nicht ein 14 Kilo schweres Ganzkörper-Rabenkostüm tragen. Der riesige Fiberglas- und Schaumstoffkopf liegt in Bellmores Büro, also kann ich zumindest atmen, doch der Rest drückt mir gegen den Rücken, scheuert meine Schulterwunde auf, verlangsamt jede Bewegung. Immer wieder erwischt der Wind die Flügel und droht mich umzuwerfen. Ich hinterlasse eine Spur aus schwarzen Federn. Schwerfällig laufe ich an der Gokartbahn vorbei und muss unweigerlich an all die Vorträge von Donnie denken. An Verstümmelungen und Todesfälle, die Risiken und Nebenwirkungen der Vergnügungsindustrie. All die Leute, deren letzte Tat es war, die Arme in die Luft zu werfen, um den Fahrtwind besser zu spüren, oder sich Zuckerwatte in den Mund zu stopfen.

Im Niagara Go-Karts and Mini Putt in Kanada wurde 2006 ein zwölfjähriges Mädchen skalpiert, als ihr Pferdeschwanz in den Motor ihres Gokarts geriet.

2009 starb eine 18-Jährige in Großbritannien, stranguliert von ihrem eigenen Schal, der sich auf dem Cambridgeshire Raceway ebenfalls in einem Kartmotor verfangen hatte.

Unsere Gokartbahn wird niemanden mehr verletzen. Die halbe Strecke ist abgesackt, die bunten Wagen liegen verschüttet in einem Graben, der vor einer Stunde noch ein Untergrundtunnel für das Personal war. Während ich versuche, den Rissen und Löchern im Boden auszuweichen, kommt mir eine Gruppe Parkgäste entgegen. Ihre »I ♥ Corona Kingdom«-Shirts sind blutverschmiert oder verkohlt, ihre Taschen voll mit Andenken an den schlimmsten Tag ihres Lebens. Sie weinen und schreien und versuchen, zu den Ausgängen am Rand des Geländes zu gelangen. Ich bin die Einzige, die in Richtung Parkmitte läuft, schwer atmend und durchnässt von der Hitze im Innern des Kostüms. In den riesigen Füßen schwappt mir mein Schweiß um die Knöchel. Haar klebt mir an der Stirn und im Nacken. Stöhnend vor Schmerzen erreiche ich das Geisterhaus.

Vincents Villa thront auf einem Hügel, umgeben von gekrümmten Zedern, umrahmt von einem Eisenzaun. Das alte Gebäude sah schon immer einsturzgefährdet aus, jetzt steht es in Flammen. Bruchstücke eingestürzter Wände liegen auf den Schienen von Lunaphobia. Der Weg der Achterbahn führt steil in das verfallene Haus und durch eine Öffnung im Hügel wieder ins Freie, wie immer. Anders als sonst setzt eine Fahrt jetzt nahtlos an die vorherige an. Das Geschrei derer, die schon wer weiß wie lange darauf gefangen sind, ist bereits stillem Jammern gewichen. Unser Plan sah anders aus.

Ich kann Donnie nirgends sehen, also laufe ich zwischen den falschen Grabsteinen entlang und durch den versteckten Personaleingang, dann bahne ich mir den Weg in Richtung Dachgeschoss. Wie die kolossale Achterbahn nebenan, wie alle anderen Attraktionen, ist auch die Geisterbahn noch in vollem Gange. Durch die Boxen hallt das hohle Gelächter unsichtbarer Gespenster, lange tot, doch noch immer mit Einfluss auf die Lebenden. In den Pausen zwischen Wolfsheulen und Kettenrasseln hört man die echten Schreie der Menschen draußen im Park. Ich kann nur hoffen, dass sich niemand mehr in den Sargwagen befindet und durch den brennenden Teil der Villa gefahren wird. Es sollte nie irgendwer zu Schaden kommen.

Der Weg hinter den Kulissen ist teilweise von weiteren Feuern versperrt, also zwänge ich mich zwischen der Dekoration am Streckenrand auf die Schienen der Geisterbahn. Die Särge fahren langsam, ich muss nicht befürchten, überrollt zu werden, doch je weiter ich komme, umso gefährlicher wird der Weg. Ich laufe durch einen Teil der Attraktion, der einem düsteren Wald nachempfunden ist. Zu beiden Seiten der Strecke stehen mannshohe Puppen zwischen den brennenden Baumattrappen, Zombieversionen der Tiere aus dem Park, die sich bewegen und unerwartet auf die Wagen zuschnellen können. Was sonst selbst Kinder kaltlässt, ist jetzt zu grotesken Mischwesen verwachsen und offenbart die Mechanik unter den Fassaden aus Gummi und Plastik. Frosch und Dachs sind aneinandergelehnt und in einer Umarmung verschmolzen, ihre Gesichter tropfen auf den Boden, ihre Roboteraugen drehen sich ziellos hin und her. Schabe ist auf den Rücken gefallen und rudert mit den dünnen Metall­armen, als würde sie wirklich versuchen, wieder aufzustehen. Bevor ich das Ende des Gangs erreicht habe, zuckt eine der Puppen auf mich zu, halb untoter Schwan, halb entblößte Maschine. Obwohl um mich herum alles zerfällt, kann ich nicht anders, als kurz einzufrieren. Der mechanische Zombieschwan schlägt mit den Flügeln und bewegt wortlos den Schnabel, dann verschwindet er wieder in der Waldkulisse. Ich verharre eine Sekunde, zwei, drei, aber es ist sinnlos, darauf zu warten, dass sich mein Puls wieder beruhigt. Zwischen den künstlichen Bäumen hindurch gelange ich zurück in den Gang nur für Personal.

Natürlich muss ich an den Six Flags Great Adventure-Park in New Jersey denken. Im Spukschloss dort war 1984 eine Glühbirne ausgefallen, und ein Gast hatte versucht, mit einem Feuerzeug für Licht zu sorgen. Die Schaumstoffwände der Attraktion fingen Feuer, und acht Teenager kamen ums Leben. Die Hälfte der Überlebenden erlitt Rauchvergiftungen. Würde man Donnie fragen, er könnte einem das genaue Datum und die Namen aller Opfer nennen.

Ich versuche, nicht zu tief einzuatmen, während ich die Treppe zum Dachboden hinaufsteige, dann habe ich es geschafft. Keuchend stolpere ich durch die Tür in unseren Pausenraum. Außer mir ist niemand da. Auf der Couch liegt Biancas Jacke. Auf dem Tisch davor steht ein einsamer Becher Corona Cola. Es riecht nach Rauch. Ich zerre den Vorhang vom großen Rundfenster, dem einzigen Fenster im Raum, zwei Etagen über dem Eingang zu Vincents Villa, und öffne es für frische Luft. Normalerweise soll der Vorhang immer geschlossen bleiben, ansonsten könnten alle im Park sehen, dass in den flauschigen Tierkostümen ganz normale Menschen stecken, die in ihren Pausen rauchen und sich unterhalten, ganz alltäglich, als befänden sie sich nicht am schönsten Ort der Welt. Die verbliebenen Gäste haben allerdings anderes zu tun, als in meine Richtung zu schauen.

Donnie ist nicht hier, aber vielleicht ist er noch in Sichtweite, also stelle ich mich auf den schmalen Balkon vor dem runden Fensterrahmen und blicke in den Park hinaus. Erst jetzt sehe ich das gesamte Ausmaß der Zerstörung. Wo vorher die Personaltunnel verliefen, ziehen sich nun metertiefe Schneisen durch den Park. Was vom Feuerwerk verschont wurde, wird nach und nach von den brennenden Katzen entzündet. In der Ferne explodiert ein weiterer Royal Raven Burger. Nur die Schwanenboote auf dem See sind von alledem unberührt. Zwischen den weißen Zweisitzern treiben Dutzende Körper, zu weit weg, als dass ich erkennen könnte, ob sie noch leben. Dahinter ragt das Riesenrad in den Nachthimmel, ein träge rotierender Lichterkranz, nachdem alle Gondeln durch das Feuer am Eingang der Attraktion geführt wurden. Nichts läuft auch nur annähernd, wie Aram es sich vorgestellt hat.

Erst jetzt fällt mir auf, dass auch die Parkmusik noch läuft. Um das Geisterhaus stehen keine der Lautsprecher, aber wenn die Schreie der Fliehenden kurz verstummen, wenn ich das Echo von Herzschlag und Stoßatmung im Innern des Kostüms für einen Moment ausblenden kann, dann höre ich unsere Hymne. Was übertönt wird, könnte ich im Schlaf ergänzen.

Der Rabe fliegt, die Sonne lacht!

Ein Ort, der alle fröhlich macht!

Stets Spiel und Spaß und niemals Nacht

Im Königreich Corona!

Ein Rattern hinter mir verrät, dass sich wieder einer der Lunaphobia-Züge der Villa nähert. Das Schluchzen der darauf Gefangenen kommt näher, dann folgt ein Krachen, als die Trümmer auf den Schienen gerammt und weggeschleudert werden. Der Zug rast abwärts, und Sekunden später sehe ich ihn aus der Öffnung unten am Hügel rauschen. Ich sehe Flammen aus den Fenstern im Erdgeschoss züngeln. Ich sehe die falschen Grabsteine auf dem falschen Friedhof, und zum ersten Mal, seitdem die Zerstörung begonnen hat, kommt mir der Gedanke, dass ich hier vielleicht gar nicht lebend rauskomme. Vielleicht bin ich beim Versuch, Donnie zu finden, in mein eigenes Verderben gelaufen. Wenn irgendjemand überlebt, kann er schon morgen auch meinen Namen in einen der Plastiksteine vor dem Geisterhaus meißeln.

Hier ruht Jessica Fawkes – Tochter, Freundin, Prinzessin von Corona.

Der zerfallende Vergnügungspark vor mir, er hätte mein Königreich sein können. Ich hätte alles besser machen können. Stattdessen hinterlasse ich der Welt nur brennende Ruinen unter heranziehenden Gewitterwolken. Ich war dabei, als der Park gebaut wurde, und jetzt wird das Letzte, was ich in meinem Leben sehen werde, sein Ende sein. Das Letzte, was ich hören werde, unablässig singend aus den fernen Lautsprechern, ist Sonja.

Explosionen, Schreie, das Rattern von Achterbahnen und die Stimme der einen Frau, die all das erträglich gemacht hat. Dies ist mein Abschiedslied.

Blitz und Donner. Pauken und Trompeten.

Und eine kleine Geige.

2

Genauso wie Schneeflocken nur Abwasser und Schweiß sind, nur verdampfte Spucke und Urin, die später gefroren zur Erde zurückkehren, so ist der Park auch nur von außen bunt und schön. Je mehr man darüber erfährt, umso weniger will man wissen.

Willkommen in Corona Kingdom!

Sobald die Eingangspforten unter dem großen Torbogen geöffnet werden, strömen auch schon die Ersten herein. Zur Linken wartet bereits ein Souvenirshop. In der Wechselstube zur Rechten kann man sein Geld gegen die Währung des Parks eintauschen.

Der Torbogen ist strahlend gelb, am äußeren Rand ragen gleichfarbige Stäbe in alle Richtungen. Sonnenstrahlen. Denn in Corona Kingdom scheint immer die Sonne. Nirgends ist es so schön wie hier. Die Parkregeln sagen, ich muss alle Eintretenden anlächeln, nachdem ich ihre Tickets kontrolliert habe. Ich gebe ihnen einen Faltplan des Geländes und wünsche ihnen viel Spaß. In Scharen pilgern sie auf die Welcome Avenue.

Geschrien wird nur aus Freude. Gelaufen wird nur, um so bald wie möglich alles zu sehen. Es wird noch Monate dauern, bis wir den Park in Schutt und Asche legen werden.

Die Straße, auf die man zuerst gelangt, bietet noch keine echten Attraktionen. Zu beiden Seiten öffnen Geschäfte und Restaurants ihre Türen. Die Geschäfte bieten nichts als Merchandising, die Restaurants nichts als Fast Food. Bevor das erste Fahrgeschäft überhaupt in Sichtweite kommt, soll die Kundschaft bereits die Hälfte ihres Geldes ausgeben. Die bunten Plastikmünzen und Scheine, die man im Park bekommt, sind unhandlich groß und unangenehm grell, damit die Leute sie möglichst schnell wieder loswerden wollen. Nur einer der vielen Tricks von Bellmore, um den Umsatz zu steigern. Doch was Jasper Bellmore beschließt, ist Gesetz. Er ist der Gründer des Parks. Der König von Corona.

Jeder weiß, dass es in den Rabe-Büchern kein Königreich gibt. Die Kinderbuchtrilogie, auf der all das basiert, handelt von simplen Tieren im Wald, doch für den Vergnügungspark war das nicht genug. Es ist so sinnvoll wie Schlumpf Safari Tours oder Planet Astérix, aber den Leuten, die uns besuchen, ist das egal. Hauptsache, wir bieten ihnen rasante Achterbahnen, bunte, laute Paraden und Fotogelegenheiten mit all ihren Lieblingsfiguren.

Nachdem die Menschentraube, die schon vor der Parköffnung am Eingang stand, sich auf der Welcome Avenue verteilt hat, nähern sich meine Kolleginnen und Kollegen in den Kostümen. Die ikonischen Figuren lösen bereits Jubel aus, als sie den Fahnenmast am Ende der Straße passieren. Während sie auf die begeisterten Kinder und Erwachsenen am Sonnentor zukommen, hissen zwei Angestellte die Flagge mit dem Logo des Parks – der Silhouette eines Raben, aufwärts fliegend, vor einem gelben Kreis.

Die Flagge muss zügig und mit einem Lächeln gehisst werden. Sie darf nicht den Boden berühren. Sie darf nicht beschmutzt oder beschädigt werden.

Alles muss perfekt sein. Wer gerade Reinigungsschicht hat, muss den ganzen Tag lang Müll aufsammeln. Zum Glück wechseln wir uns ab. Kundschaft begrüßen, Burger braten, Klos putzen – mit Ausnahme von Reparatur und Wartung ist kein Bereich exklusiv, wir alle sind abwechselnd für jede Aufgabe zuständig. Letzte Woche war ich es, die im Rabenkostüm den Arm um wildfremde Menschen legte, um für Fotos zu posieren. Diese Woche überreiche ich den Ankommenden Identifikationsarmbänder und teile ihnen mit, wo sie schon jetzt Andenken kaufen können. Die Hauptfigur des Parks wird heute von Carmen verkörpert.

Natürlich trägt sie nicht dasselbe Kostüm. Der Rabenkopf, ein schwerer Glasfaserball mit Schaumstoffpolsterung innen und Fleeceüberzug außen, lässt sich nur chemisch reinigen, und sobald man eine halbe Stunde in dem schweren Ganzkörperanzug herumgelaufen ist, ist der Geruch der letzten Schichten wieder da, allen Sprays und Lufterfrischern zum Trotz. Keine der Reinigungsmethoden wirkt. Man erreicht lediglich, dass einem fortan schlecht wird, wenn man Duftbäumchen riecht, und schließlich findet man sich damit ab, stundenlang den eigenen alten Schweiß zu atmen. Damit jeder ein eigenes Kostüm hat, hängen in unserer Umkleidekabine zwei Exemplare von jedem. Jetzt wackelt je eines auf den Platz am Haupteingang zu.

Die Leute sind begeistert. Niemand scheint zu merken, dass Frosch fehlt.

Die beliebtesten Figuren sind sofort umringt, neben dem Raben natürlich vor allem der Schwan. Ein kleines Mädchen drückt sich an Hase und bringt ihn fast zu Fall. Teenager machen Fotos mit Fledermaus und Spinne. Direkt neben mir unterschreibt Fuchs auf einer Postkarte, direkt auf einem Autogramm von Dachs, der bereits über die unleserliche Si­­gnatur von Taube gekritzelt hat. Keiner von ihnen sieht, was er tut. Die meisten Vogelkostüme erlauben es, durch den offenen Filzschnabel die Füße der Parkgäste zu sehen. Der langhalsige Schwan und die anderen haben hingegen nur ein schmales Sichtfenster, bedeckt mit Nylon, kaum sichtbar, wenn man nicht darauf achtet. Nur mit Mühe erkennt man die Gesichter der Angestellten dahinter. Ich schaue hinüber zum Schwan und treffe Sonjas Blick. Während die nächste Gruppe sie umzingelt, zwinkert sie mir zu. Die Leute lächeln für die Kamera, und ich weiß genau: Obwohl es niemand sehen kann, lächelt Sonja mit.

Niemand spielt Schwan, wie sie es tut. Trotz der klobigen Füße gelingt es ihr, zwischen der Kundschaft umherzugleiten, statt zu watscheln wie die meisten anderen. Wenn sie sich für Fotos hinter ihre Fans stellt, hebt sie kurz die Schwingen, um sie dann sanft auf die Schultern der Posierenden sinken zu lassen. Obwohl der Schwanenkopf an einem langen, geschwungenen Hals hängt, wippt er nicht albern vor und zurück, wenn sie läuft. Und jedes Kind, das sich an sie drückt, bekommt eine echte Umarmung. Nicht, weil Sonja den Park oder die Arbeit schätzt, sondern weil es keinen Grund gibt, die Kinder zu enttäuschen, die von überall auf der Welt herkommen, um Rabe, Schwan und all die anderen Tiere zu treffen.

Die Leute lassen diese Nähe einfach zu. Niemand denkt daran, dass in den Kostümen echte Menschen stecken. Keiner der Mütter und Väter würde den alten Nestor in die Nähe ihrer Kinder lassen, doch sobald er das Bärenkostüm trägt, spielen sein Ausschlag und Haarausfall keine Rolle mehr. Auf der Straße wird Alexandra nachgerufen, dass sie aussieht wie ein Corona Chubby Meatball, doch als Eule bekommt sie einen Kuss nach dem anderen auf den Schnabel. In den Kostümen sind unsere Hautfarben egal. Niemanden kümmert, ob wir rasiert oder geschminkt sind.

Sonja hebt einen kleinen Jungen hoch und drückt ihn an sich. Sie ist blass und hat wieder Gewicht verloren, doch die Eltern mit der Kamera sehen nur einen humanoiden Schwan aus Stoff und falschen Federn. Sonjas Tattoos sind unter mehreren Schichten Kunststoff versteckt. Sie sagt kein Wort, wie all die anderen, doch ihre Stimme tönt aus allen Lautsprechern.

Du weißt, dass du willkommen bist,

Wo jeder wahrhaft fürstlich ist!

Fliegst du davon, wirst du vermisst,

Im Königreich Corona!

Es ist etwa zu diesem Zeitpunkt, dass in der Ferne Frosch sichtbar wird. Noch fällt es keinem auf, doch hinter dem Fahnenmast nähert sich die grüne Figur, eindeutig zu spät und sehr viel schneller, als es die Parkordnung erlaubt. Bellmores Regeln besagen, dass die Angestellten sich an die Schrittgeschwindigkeit der Kundschaft anpassen müssen. Um nicht den Anschein einer Bedrohung zu erwecken, ist es verboten, auf andere zu- oder von ihnen wegzulaufen. Schnellere Bewegungen sind nur gestattet, wenn jemand in Not ist und Hilfe benötigt. Diese Woche trägt Aram das Froschkostüm. Und allem Anschein nach sind ihm die Parkregeln im Augenblick egal.

Die ersten Jubelrufe von der Welcome Avenue machen auch die Leute um mich herum auf ihn aufmerksam. Nach Rabe und Schwan ist Frosch die beliebteste Figur aus den Büchern. Dutzende Handys richten sich auf den Verspäteten und filmen, wie er angelaufen kommt. Kinder springen ihm entgegen und rufen seinen Namen. Und Hunderte sehen mit an, wie Aram die erste Besucherin greift und ihr ins Gesicht schreit. Er lässt sie los und rennt zum nächsten Gast, packt ihn mit seinen dicken grünen Handschuhen und ruft etwas aus dem Inneren des Froschkopfs. Ich lächle weiter und gebe den Neuankömmlingen ihre Lagepläne. Ich heiße sie willkommen und wünsche ihnen einen sonnigen Tag.

Aram läuft indessen auf den Platz am Haupteingang. Er stolpert über seine eigenen Füße, stürzt und rollt in die Menschentraube. Die Umstehenden lachen und machen Selfies mit sich und dem gefallenen Frosch. Keiner hilft ihm auf, zu herrlich ist die Tollpatschigkeit ihrer Lieblingsfigur aus den Büchern. Als er sich wieder aufgerappelt hat, schüttelt er den nächsten Gast, und noch immer kommt nur Gelächter aus der Menge. Die Freudenschreie verstummen erst, als er nach dem ersten Handy greift. Nach und nach begreifen alle, dass der rasante Auftritt keine Showeinlage ist. Igel und Schabe versuchen, Frosch von der Kundschaft wegzuführen, doch was auch immer mit Aram los ist, er lässt sich nicht aufhalten. Igel geht zu Boden. Schabe wird nur knapp von Specht aufgefangen. Und Aram greift nach dem nächsten Gast.

Erst später erfahre ich, warum er erst so spät zur Begrüßungszeremonie erschienen ist. Wir alle wussten, dass Arams Freundin wieder schwanger war, doch mit der Entbindung hatten wir frühestens in drei Wochen gerechnet. Noch vor Beginn seiner Schicht hatte Aram mit ihr telefoniert. Die Wehen hatten eingesetzt, und ein Nachbar hatte sie bereits ins Krankenhaus gefahren. Währenddessen stand Aram in unserer Umkleidekabine, bis zum Hals in einem Froschkostüm mit seiner ganz persönlichen Duftnote. Die anderen hatten sich pünktlich auf den Weg zum Haupteingang gemacht. Bellmore kann den Auszug der Kostümierten von seinem Büro aus sehen, natürlich, und kam persönlich in die Kabine, als ihm der fehlende Darsteller auffiel. Alle Argumente halfen nichts, Aram musste sein Telefon abgeben und seine Schicht antreten.

Jetzt läuft er von Besucher zu Besucherin und versucht, ihnen die Handys abzunehmen. Ein Kind fängt an zu weinen. Softeis geht zu Boden, dann die ersten Telefone. Vergeblich versucht Aram, mit den riesigen Handschuhen nach den schmalen Geräten zu greifen.

»Es hat zu früh begonnen!«, höre ich seine Stimme aus dem Froschkopf.

Sobald er ein Handy zu fassen kriegt, wird es ihm wieder aus den Händen gerissen.

»Ich kann nicht schon wieder alles verpassen!«

Als seine erste Tochter geboren wurde, fuhr Aram einen der Wagen in der großen Parade zum 20-jährigen Parkjubiläum. Ein Großereignis, bei dem absolut niemand vom Personal entbehrt werden konnte. Während wir kostümiert um den Wagen tanzten, auf dem ein überdimensionaler Plastikrabe durch das Stadttor von Corona schritt, wartete Aram im Dunkeln unter der Konstruktion darauf, dass er endlich zu seinem Handy im Pausenraum laufen konnte. Die Geburt seiner zweiten Tochter verbrachte er im Ticketschalter vor dem Corona Kinderkarussell. Auch hier hatte Bellmore darauf bestanden, dass er bleibt. Keiner durfte Arams Schicht übernehmen. Private Telefonate sind untersagt. Und was der König befiehlt, haben wir zu befolgen.

Bellmore verdoppelt den Preis von Regenschirmen in den Shops, sobald dunkle Wolken aufziehen. Er erhöht erst den Salzgehalt in den Pommes und dann den Preis aller Getränke. Je tiefer man in den Park gelangt, umso weiter steigt der Wechselkurs für das Geldtauschen. Je heftiger eine Attraktion ist, umso teurer ist der Eintrittspreis für die Toiletten daneben. Die vielen Lichter, Farben und die konstante Musik sorgen dafür, dass man nicht in Ruhe zählen kann, wie viel man bereits ausgegeben hat.

Bunte Parkwährung liegt auf dem Boden verteilt, Kuscheltiere, auslaufende Pappbecher. Aram hat inzwischen seine Handschuhe abgeworfen und wählt auf einem ergatterten Telefon die Nummer seiner Freundin. Die meisten, die Frosch vorher zugejubelt haben, widmen sich den übrigen Figuren, die Sonja an das andere Ende des Platzes geführt hat. Hinzugekommene Angestellte entschuldigen sich für den Vorfall und verteilen Gutscheine für Pizza und Souvenirs.

»Ich will nur wissen, ob es ihr gut geht«, murmelt Aram, dann betreten drei Männer der Parksicherheit den Platz. Er hält das Handy an seinen ewig lächelnden Tierkopf. Die eigentliche Besitzerin wartet mit verschränkten Armen, bis die Wachmänner den Frosch umzingelt haben. Er versucht zu fliehen und wird sofort gefasst, strampelt sinnlos mit den Beinen und verliert im Gerangel den Kopf. Ein paar Jugendliche nutzen die Gelegenheit für Fotos, doch die meisten Leute im Umkreis sehen automatisch weg. Die Leute wollen nicht wissen, wer unter den Masken steckt. Was hinter den Fassaden lauert. Ein drolliger fiktiver Frosch ist ihnen lieber als ein verzweifelter echter Mann, der es nicht ertragen kann, die Geburt seines ersten Sohnes zu verpassen.

Auch ich sehe nur die Hälfte, weil ich weiter Neuankömmlinge begrüßen muss. Ich erkläre ihnen, für welche Attraktionen sie mit dem Armband Vergünstigungen erhalten. Ich zeige ihnen auf dem Faltplan, wo sie gerade sind. Dann rollt mir etwas gegen mein Bein.

Es ist der Kopf des Froschkostüms. Die Wachmänner haben Aram fest im Griff, das Handy ist wieder bei der Besitzerin. Mit einer Gratis-Schirmmütze verschwindet sie im Park.

Bevor die nächsten zu Begrüßenden durch den Eingang kommen, hebe ich den Froschkopf auf. Ich unterdrücke ein Würgen, als mir der Gestank aus dem Innern entgegenschlägt, dann laufe ich zu Aram und den Sicherheitsmännern. Sie bewegen sich so schnell, wie es die Parkordnung erlaubt, in Richtung der nächsten geheimen Tür zum Personalbereich. Mein Freund zwischen ihnen ist in sich zusammengesunken, ohne Widerstand lässt er sich mitschleifen. Auch wenn niemand hinschaut, muss sein Gesicht verdeckt werden. Die Kostümierten müssen anonym bleiben. Sobald ich die Gruppe erreiche, stülpe ich ihm den Froschkopf über.

Ich bleibe stehen und atme durch. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Kopf schief sitzt. Das versteckte Sichtfenster befindet sich an Arams Ohr. Er kann nicht sehen, wie andere Angestellte die verstreuten Essensreste und Spielzeuge aufsammeln. Wie die Kundschaft schon wieder herumläuft, als wäre nichts geschehen. Wie am schönsten Ort der Welt ein weiterer sonniger Tag beginnt.

Blind unter drei Kilo Schaumstoff und Fiberglas wird er abgeführt.

3

Noch bevor das erste Rabe-Buch mir zum besten Freund meiner Kindheit verhalf, sorgte es dafür, dass ich mir beide Beine brach.

Das Cover des Buchs zeigt den Vogel auf einem Ast, am rechten Rand ist noch der Baum dazu zu sehen. Hinter dem Raben, kreisrund in der Mitte des Covers, strahlt die Sonne. Rabes Flügel sind gespreizt. Er sieht glücklich aus.

Als ich Rabe im Wald kennenlernte, gab es noch keine Fortsetzungen. Kein internationales Franchise mit Vergnügungspark, Filmen und Tausenden von Spielzeugen. Alles, was die Kinder aus der Nachbarschaft und ich hatten, war die eine Geschichte des kleinen Raben, der durch Zufall die Stadt Corona findet und sich mit den Waldtieren anfreundet, die dort leben.

Wir bastelten Kostüme aus Pappkartons und erfanden neue Abenteuer für die Tiere, die bereits im ersten Band auftauchen. Fuchs und Frosch, Bär und Specht, Hase und Eichhörnchen. Und Rabe natürlich. Dass im Buch nichts Spannendes passiert, hielt uns nicht davon ab, uns Geschichten auszudenken und sie immer wieder nachzustellen. Tagsüber im Kindergarten, abends dann in den heimischen Gärten, bis es dunkel wurde und unsere Eltern uns nach Hause zurückholten. Wir malten die Bilder ab und bettelten jeden Abend darum, dass uns die Geschichte noch mal vorgelesen wird.

Wir waren ein Fanclub, ohne es zu wissen. Ein Kult, ohne überhaupt daran zu denken, dass es jemanden gab, der all das geschrieben hatte. Unsere heilige Schrift war 28 Seiten lang und durchgehend vierfarbig illustriert.

In dem Jahr, in dem der Bau des Parks begann, verbrachten wir den Sommer damit, im Wald über Bäche zu springen, nach echten Exemplaren der Tiere aus dem Buch Ausschau zu halten und auf Bäume zu klettern, um wie der Rabe auf dem Cover vor der Sonne die Schwingen auszubreiten. Meine Mutter half mir, Flügel aus Karton auszuschneiden und Griffe für meine Arme anzukleben. Mein Vater besorgte die Farbe, um das Gebastelte schwarz anzumalen. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass ich wirklich versuchen würde zu fliegen, doch das nächste Mal, dass ich mit den anderen Kindern unterwegs war, suchten wir gemeinsam den höchsten Baum in der Nachbarschaft.

Noah war zu diesem Zeitpunkt noch einer unter vielen, nur eines von Dutzenden Kindern, die manchmal beim Spielen dabei waren und manchmal nicht. Heute hängen die Fotos von unseren Parkausflügen noch immer am Kühlschrank, doch damals wusste ich wahrscheinlich nicht einmal seinen Namen. Dass wir Fans desselben Buchs waren, genügte als Gemeinsamkeit. Unsere Eltern verband, dass sie Abend für Abend dieselbe Geschichte vorlesen mussten.

Rabe im Wald beginnt damit, dass ein einsamer kleiner Rabe orientierungslos im Wald umherirrt. Man erfährt nicht, woher er kommt, aber schon die erste Begegnung zeigt, dass er noch nie ein anderes Tier getroffen hat. Als er an einem Teich einen Frosch sieht, begreift er nicht, dass zwei Tiere im selben Wald so unterschiedlich aussehen können. Trotzdem freunden beide sich an, und schon bald wird Rabe nach Corona eingeladen – eine kreisrunde Stadt auf einer Lichtung, in der es niemals dunkel wird.

Meine Mutter erklärte mir damals, was das Wort bedeutet: Strahlenkranz. Ein Name für den leuchtenden Ring, den man während einer Sonnenfinsternis sehen kann. Für goldene Kronen mit abstehenden Zacken oder einen Heiligenschein. Rund und strahlend, in alle Richtungen. Natürlich ist die Corona auch Teil der Sonne selbst.

Sie stand hoch am Himmel, als sich die Kinder um den Baum versammelten, den wir ausgesucht hatten. Ich schnallte mir meinen Schnabel um, einen gelb angemalten Plastikbecher mit Gummiband, und fing an zu klettern. Meine Spielkameraden errichteten indessen einen Haufen aus trockenem Gras und Buschwerk, auf dem ich landen sollte. Schnell waren sie nur noch farbige Flecken am Waldboden. Grüne Frösche, orange Füchse, braune Bären und Hasen, wild mit den Armen wedelnd, während ich immer höher stieg. Ich rutschte auf einen Ast und sah in Richtung Sonne.

Das Gute ist, wenn man in so einem Moment geblendet wird, muss man nicht sein bisheriges Leben an seinem Auge vorbeiziehen sehen. Das Schlechte ist, dass man so auch nur eingeschränkt in der Lage ist, die Landung zu zielen.

Trotzdem breitete ich die Flügel aus. Und sprang.

In den Jahren danach haben Noah und ich alle Attraktionen des Parks kennengelernt, vom Käfer-Chaos-Autoscooter bis hin zur gewaltigen Lunaphobia, doch der Adrenalinrausch war nie größer als bei meinem ersten freien Fall.

Ich landete auf den Füßen, rammte mir das Gesicht gegen die Knie und rollte auf die Seite. In meiner Erinnerung schreien nur die anderen Kinder, die meisten liefen sofort davon. Eine Sekunde, zwei, drei, dann bemerkte ich den Knochen, der aus meinem linken Bein ragte, und stimmte in das Geschrei mit ein. Meine Hose färbte sich, dunkel im Schritt, rot um die Knie, und noch mehr Kinder nahmen Reißaus.

»Vielleicht solltest du lieber wegschauen«, hörte ich die Stimme eines Jungen.

Verschwommen sah ich, dass er der Einzige war, der bei mir geblieben war. Zwischen mir und dem verfehlten Grashaufen stand Noah.

Als Rabe nach Corona kommt, wird er sofort von den anderen Tieren begrüßt. Die Zeichnungen zeigen humanoide Tiere, alle gleich groß, Specht wie Bär wie Eichhörnchen. Sie alle freuen sich über den neuen Nachbarn, Rabe zieht sofort in eines der vielen gelben Häuser in der Stadt. Warum in Corona so viele Häuser leer stehen, wird nicht erklärt. Dass dort immer die Sonne scheint, muss man beim Lesen einfach hinnehmen. Die Bücher sind nicht perfekt, aber immerhin haben sie nie jemanden getötet wie der Park.

Offensichtlich habe ich den Sturz überlebt und kann heute wieder laufen. Als ich jedoch schreiend und weinend unter der Sommersonne am Rand unseres Dorfs lag, sah Noah keine andere Möglichkeit, mich zu meinen Eltern zu bringen, als mich zu ziehen. Er griff nach den Enden meiner Flügel und begann, mich durch den Wald zu schleifen.

Macht das nicht zu Hause nach. Macht das am besten überhaupt nicht nach.

Jede noch so kleine Erhebung im Waldboden erschütterte meine Beine, jedes Loch und jeder Stein auf dem Weg ließ mich mehr in meinen zerdrückten Plastikschnabel schreien. Schon bald rissen die Flügel, und Noah zog mich an meinen Handgelenken. Wir sahen keine Tiere auf diesem Ausflug.

Ich weiß nicht, ob meine Schreie weit genug zu hören waren oder ob ein paar der anderen Kinder ihre Eltern informiert hatten, aber schließlich kamen uns Erwachsene entgegen. Sie trugen mich nach Hause, ohne weitere Erschütterungen, sie riefen einen Krankenwagen und redeten beruhigend auf mich ein. Erst hier gelang es mir, das Bewusstsein zu verlieren.

Als ich wieder erwachte, waren die Knochen gerichtet, die OP erfolgreich und ich in einem Krankenhausbett in einer Nachbarstadt. Sobald die Schwellungen abgeklungen waren, wurden meine Beine in Gips und Schienen gepackt. Ich verbrachte vier Wochen im Krankenhaus. Und sobald ich Besuch empfangen durfte, klopfte ein kleiner Junge an der Tür. Er trug kein Tierkostüm, doch unter seinem Arm klemmte Rabe im Wald, und er wollte wissen, wie es mir ging.

Und so habe ich Noah kennengelernt.

Wir kannten das Buch auswendig, doch jedes Mal, wenn er mich besuchte, brachte er es mit. Wir lasen gemeinsam, wie Rabe sich über den buschigen Schwanz des Eichhörnchens wundert. Wie er lernt, dass Frosch sich gern im Wasser aufhält und sein Ruf eine Meile weit zu hören ist. Dass Specht mit seiner langen Zunge Insekten aus den Bäumen in der Umgebung saugt. Ohne es zu merken, lernten auch wir eine Menge über den Wald und ein halbes Dutzend seiner Bewohner.

Mein Großvater war damals Förster im Dorf und bestätigte mir später, dass all die Angaben im Buch der Wahrheit entsprachen. Arne Guðmundsson, der Autor, hatte sich keine Fehler erlaubt. Sein Buch war so lehrreich wie unterhaltsam.

Nachdem ich nach Hause entlassen wurde, kam Noah weiter regelmäßig vorbei. Ich musste fast drei weitere Monate im Bett liegen – wahrscheinlich vor allem, weil meine Eltern zu besorgt um ihre einzige Tochter waren, nicht aufgrund ärztlicher Empfehlungen. Doch obwohl ich so auch das Ende des Sommers in meinem Zimmer verbrachte, hätte die Zeit spannender kaum sein können. Es war knapp eine Woche vergangen, da stürmte Noah in mein Zimmer.

»Sie bauen einen Park!«, rief er und warf mir eine Zeitung entgegen. Wir waren noch nicht einmal eingeschult und konnten das Rabe-Buch nur lesen, weil wir den Inhalt so oft gehört hatten, doch Noahs Mutter hatte ihm alles Wichtige aus dem Artikel erklärt.

»Einen echten Vergnügungspark! Mit Achterbahn und Karussell! Alles Mögliche! Weil der, der das Buch geschrieben hat, der hat hier gewohnt!«

Ein Foto neben dem Artikel zeigte zwei Männer, die sich die Hand geben, zwischen ihnen ein Spaten im Boden. Links stand Guðmundsson, der Autor und Zeichner von Rabe im Wald. Rechts ein Mann im Anzug, dem der entstehende Park gehören sollte. Jasper Bellmore, der bald darauf Bellmore Studios gründen würde, fast 30 Jahre jünger als heute und mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne.

Heute weiß ich, dass ein großer Teil des Parks bereits fertiggestellt war. Das Land nördlich unseres Dorfs wurde Jahre im Voraus vorbereitet, es wurden Straßen gebaut und Wasser- und Stromleitungen verlegt. Und während ich bewegungsunfähig in meinem Bett neben dem Fenster lag, während draußen der Sommer endete und der Herbst begann, sahen Noah und ich mit an, wie in Sichtweite meines Elternhauses der Rest hinzugefügt wurde. Von meinem Kinderzimmer aus verfolgten wir mit, wie Kräne errichtet wurden und nach und nach die ersten Attraktionen wuchsen. Der Park begann klein, die Fahrgeschäfte, die vom zweiten und dritten Rabe-Buch inspiriert wurden, kamen erst später. Trotzdem war zu dieser Zeit nichts interessanter als die Entstehung von Corona Kingdom.

Wir saßen am Fenster wie Raffaels Engel, unsere Madonna waren ferne Stahlkonstruktionen, die sich nach und nach als Achterbahnen und Freifalltürme entpuppten. Ich hatte genug von freiem Fallen, doch unsere Aufregung ließ sich nicht dämpfen.

Was ich auch erst heute weiß, ist, dass der Bau nur so schnell vonstattenging, weil Bellmore keine Genehmigungen dafür einholen musste. Wie Walt Disney 1967 setzte er vor Gericht durch, dass sein Land als Kommune gilt, die von seiner Firma verwaltet werden darf. Wie das Reich der Maus in Florida und viele andere Privatunternehmen, die ihrem Umland Vorteile verheißen, ist sein Park ganz offiziell eine Stadt, die über ihre eigene Polizei, Rechtsprechung und sonstige Bürokratie entscheiden kann. Was die Verträge erklärt, mit denen es der Belegschaft später schwer bis unmöglich gemacht wurde, einfach zu kündigen. Doch noch wollte niemand weg. Wir wollten endlich hinein!