Cyberkrank! - Manfred Spitzer - E-Book
SONDERANGEBOT

Cyberkrank! E-Book

Manfred Spitzer

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Digitalisierung unseres Alltags schreitet immer weiter voran – mit fatalen Auswirkungen. Anhand neuer wissenschaftlicher Studien zeigt der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer, in welchem Maß diese Entwicklung unsere Gesundheit bedroht. Wir werden cyberkrank, wenn wir den digitalen Medien die Kontrolle aller Lebensbereiche überantworten, stundenlang Online Games spielen und in sozialen Netzwerken unterwegs sind. Stress, Empathieverlust, Depressionen sowie Schlaf- und Aufmerksamkeitsstörungen sind die Folgen. Kinder werden in ihrer Motorik und Wahrnehmungsfähigkeit geschädigt. Computersucht, Internetkriminalität und Mobbing verbreiten sich immer mehr. Manfred Spitzer informiert über alarmierende Krankheitsmuster, warnt vor den Gesundheitsgefahren der digitalen Technik und erklärt, wie wir uns schützen können. Sie interessieren sich für Themen rund um Gesundheit und einen bewussteren Lebenswandel? Auf unserem Portal einfachganzleben finden Sie praxisnahe Ratschläge rund um die Themen Gesunde Ernährung, Achtsamkeit und Work-Life-Balance. Immer mit dem Ziel Berufs- und Privatleben leichter zu gestalten und neue Inspiration zu finden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 526

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Manfred Spitzer

Cyberkrank!

Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungVorwortEinleitungZivilisation und KrankheitCyberDie Cyberlobby macht CyberstressÜberflutung oder Übermacht?Erkennen, Vorbeugung und Therapie1 . ZivilisationskrankVom Jäger und Sammler zum BauernÜbergewichtEnergie und BelohnungSucht und EssenKäsekuchen-, Würstchen-, Schokoladen-SuchtSucht ist stärker als AngstWerbungZusammenhang – Mechanismus – KonsequenzFazit2 . Smartphones im CyberspaceDas Schweizer Taschenmesser des InformationszeitaltersMultitasking und UnaufmerksamkeitMultitasken – immer und überallDaddeln statt denkenM-Learning: Smartphones im Unterricht?Fazit3 . CybersuchtStoffgebundene und nicht-stoffgebundene SuchtComputerspielsuchtInternet- und ComputerspielsuchtInternetabhängigkeitFacebook-SuchtSmartphone-SuchtFazit4 . Big Data, Big Brother, und das Ende der PrivatheitBig BrotherTerror – Angst – ÜberwachungBig Data und Deep LearningDas Ende der PrivatheitFluchen ist ungesundManipulieren geht über StudierenCybercrime: Opfer 2.0 und Täter 2.0Belohnte (Ver-)ÄußerungFazit5 . CyberstressAkuter NotfallDie Kontrolle fehltTechnostressSmartphone-StressStress mit FacebookCybermobbing und CyberstalkingFazit6 . CyberangstSoziale ÄngsteNomophobieFoMOEmpathie versus AngstFacebook als KatastrophenhilfeFazit7 . CyberchondrieTendenz zur Hypochondrie?Eskalation durch UnwissenSuchen setzt Wissen vorausFazit8 . Digitale Kindheit: unsinnlich und sprachlosSinnlichkeit: Auf die Zusammenhänge kommt es anE-Books für Kinder?Imitation: Sinnlichkeit und Bewegung, vom Einzelnen zum AllgemeinenVom sinnlichen Be-Greifen zum DenkenTablets für Babys?Fazit9 . Digitale Jugend: unaufmerksam, ungebildet und unbewegtLernfähigkeit und LebensalterAufmerksamkeit: ein wichtiges, knappes GutBildschirme für die Bildung?Bildschirme und BewegungsmangelFazitEpilog10 . Digital schlaflosMediennutzung und SchlafdefizitSchlafstörer Handy und SmartphoneMechanismenSchlaf und GedächtnisSchlaf und DiabetesFazit11 . CybersexSextingInternetpornographieSex on demandFazit12 . Digital depressiv und einsamBildschirme und Depression: multiple MechanismenEmpathieverlustSmartphones: Risiken und NebenwirkungenEinsamkeit, Demenz und TodFazit13 . Was tun?AufklärungGegen die Sucht: Schutz oder technische Selbstüberlistung?Verschenken?Verzichten?Verbieten?Argumente und GegenargumenteOffline: Luxus oder Langeweile?FazitDankLiteraturBildnachweis
[home]

Für Anna, damit sie gesund bleibt

[home]

Vorwort

Digitale Informationstechnik ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig; sie prägt mittlerweile unser Leben. Schon vor einigen Jahren verbrachten junge Menschen in Deutschland gut sieben Stunden täglich vor Bildschirmen (TV, Computer, Video, Spielkonsole). Die rasante Verbreitung des Smartphones während der vergangenen fünf Jahre hat dies nur in einer Hinsicht geändert: Das Ausmaß der Nutzung digitaler Informationstechnik wurde noch einmal massiv in die Höhe getrieben, denn ein Smartphone trägt man stets bei sich – es ist immer griffbereit. Man fragt einen Passanten nicht mehr nach dem Weg oder einen Bekannten nach der Lösung eines kleinen Problems (»Wie bediene ich diese Waschmaschine?«), sondern man stellt die Frage seinem Smartphone und erhält aus »der Wolke«, wie die gigantischen Datenspeicher irgendwo in den Wüsten dieser Welt gern genannt werden, innerhalb von Sekundenbruchteilen eine Antwort. Dabei hinterlassen wir Spuren im Cyberspace, die registriert, gespeichert und analysiert werden. Selbst wenn Sie Ihr Smartphone nur als Taschenlampe benutzen, sammelt und sendet es Daten über Sie, und spätestens seit dem Sommer 2013 wissen wir dank der Enthüllungen des NSA-Mitarbeiters Edward Snowden, dass diese Daten auch ausgewertet, verkauft und missbraucht werden.

Was macht das alles mit uns? Im vorliegenden Buch gehe ich dieser Frage nach. Es ist nicht das erste Buch, in dem ich mich mit der Frage zu den Auswirkungen der Veränderungen unserer Lebensgewohnheiten durch die Medien beschäftige. Im Jahr 2005 habe ich das Buch Vorsicht Bildschirm publiziert, in dem ich die negativen Folgen des Fernsehkonsums für Körper und Geist verdeutlicht habe. Damals betrug der durchschnittliche Fernsehkonsum gut drei Stunden täglich, was mir sehr viel erschien, insbesondere wenn man Kinder und Jugendliche in Betracht zieht, die zur Schule gehen, um dort für das Leben in unserer Gesellschaft ausgebildet zu werden. Wer jede Woche etwa 35 Stunden Schulunterricht hat, wobei eine Schulstunde nur eine Dreiviertelstunde dauert und nur an fünf Tagen in der Woche unterrichtet wird, verbringt 26,25 Stunden in der Woche mit dem gesamten Schulstoff, d.h. täglich 3,75 Stunden. Damals entsprachen die drei Stunden vor dem Fernseher also knapp der täglich mit dem gesamten Schulstoff verbrachten Zeit. Dass diese zeitliche Parität etwas bedeutet, lag aufgrund der Erkenntnisse der Gehirnforschung zu Neuroplastizität und Lernen schon damals gut sichtbar auf der Hand. Die Frage, der ich vor zehn Jahren in meinem Buch nachging, war daher, ob die damals bereits vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse dies auch zeigen konnten. Sie konnten es, so das Ergebnis meiner Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur: Fernsehen macht tatsächlich dick, dumm und aggressiv. Wer behauptet, dass dies nicht der Fall sei, der leugnet wissenschaftliche Tatsachen – etwa wie jemand, der behauptet, die Erde sei eine Scheibe, um die sich die Sonne dreht.

Das Buch fand einige Beachtung; es wurde in den Medien zerrissen, und ich wurde persönlich diffamiert und denunziert. Das Gleiche passierte – allerdings in noch viel heftigerem Ausmaß – nach der Publikation meines zweiten Buchs zum Thema »Risiken und Nebenwirkungen von Bildschirmmedien«, das den Titel Digitale Demenz trug. Ich war plötzlich ein »Krawall-Psychiater«,[1] der »mit verkürzten und falschen Behauptungen durch die Lande reist und das Sommerloch 2012 nutzt, um mit dieser demagogischen Vereinfachung sich und sein Buch zu vermarkten«, wie das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg in einer vom Kultusministerium in Auftrag gegebenen Stellungnahme[2] zu meinem Buch schrieb. In dieser mit Steuergeldern finanzierten Schmähschrift (Titel: Der Spitzer geht um, weder mit Angaben zu den Autoren noch mit Datum) liest man dann weiter, dass ich mich »um des billigen Effektes willen an unseren jungen Menschen« versündige und eine »sachliche Auseinandersetzung mit den Problemen« verhindere.[3] Das genaue Gegenteil war jedoch der Fall. Von »digitaler Demenz« sprechen heute viele, wenn es um unerwünschte Effekte von digitaler Informationstechnik geht. Erst vor wenigen Tagen publizierte ein Marktforschungsinstitut eine repräsentative Umfrage unter tausend Deutschen zu »Merkfähigkeit und digitalen Erinnerungsfunktionen« mit dem Titel: Digitale Demenz: Was merken sich die Deutschen im Digitalen Zeitalter noch. Erschreckend wenig, lautet kurz zusammengefasst deren Ergebnis.[4]

Der mediale (auch öffentlich-rechtliche[5]) Shitstorm des Sommers 2012 konnte nicht verhindern, dass Digitale Demenz gelesen und verstanden wurde – von älteren Kollegen aus akademischen Kreisen bis hin zu Realschülern (»ist ja voll krass«, schrieb mir einer). Waren die Meinungen kurz nach Erscheinen des Buches noch deutlich in Kritik und Zustimmung gespalten, so überwiegt mittlerweile die Zustimmung deutlich, wie die folgende Grafik zeigt. Sogar Internet-Befürworter wie der Blogger und Journalist Sascha Lobo, die mich noch vor drei Jahren vehement wegen meiner kritischen Haltung angriffen haben, schlagen mittlerweile kritische Töne gegenüber moderner Informationstechnik an.[6]

Veränderung des anhand von Amazon-Kundenrezensionen rekonstruierten öffentlichen Meinungsbildes zum Buch Digitale Demenz. Waren einige Tage nach dessen Erscheinen (37 Rezensionen am 6. August 2012; schwarze Säulen) die sehr negativen (ein Stern: 9 Bewertungen) und die sehr positiven (fünf Sterne: 14 Bewertungen) Meinungen etwa gleich verteilt, so zeigt eine entsprechende Abfrage knapp drei Jahre später (157 zusätzliche Rezensionen am 10.7.2015; graue Säulen) ein ganz anderes Bild. Die Anzahl der zustimmenden Rezensionen stieg im Vergleich zu den Verrissen deutlich stärker an und liegt bei über 80 Prozent.

So hoffe ich, mit dem vorliegenden Buch, das thematisch deutlich weiter gefasst ist als die zuvor erwähnten Titel, auf noch mehr offene Ohren und »kritische Köpfe« zu stoßen. Es geht hier nicht »nur« um die Auswirkungen digitaler Medien auf unseren Verstand, sondern um die Auswirkungen auf unsere seelische und körperliche Gesundheit insgesamt. Und es geht nicht »nur« um das Fernsehen oder den Computer, sondern vor allem auch um das Schweizer Messer des 21. Jahrhunderts: das Smartphone.

Wer Phantasie hat, der kann sich ausmalen, was geschieht, wenn Milliarden von Menschen alle sieben Minuten auf ihr Smartphone schauen, irgendetwas damit tun und dabei Spuren hinterlassen, die von den weltweit reichsten und mächtigsten Firmen ausgewertet werden, um noch mächtiger und vor allem noch reicher zu werden. Es gibt auch bereits detaillierte Überlegungen dazu, was geschehen könnte, wenn die geballte Rechenleistung der Wolke demnächst die unserer Gehirne übersteigt (Achtung: Das ist nichts für schwache Nerven!). Einen kleinen Vorgeschmack erhielt ich ganz persönlich im Verlauf einer längeren Autofahrt am 1. Februar 2015. Ich hörte den Deutschlandfunk und zuweilen noch die Nachrichten auf anderen Sendern. Es war zwar ein ganz normaler Tag, aber meinem Radio zufolge war das Leben ein einziger digitaler Alptraum: Die Nachrichten drehten sich u.a. darum, dass der kanadische Geheimdienst CSIS den Bürger digital noch mehr ausspioniert als der amerikanische Geheimdienst NSA; und es ging darum, dass Facebook seine Geschäftsbedingungen ändert, um den deutschen Bürger noch gezielter mit personalisierter Werbung versorgen zu können. Die Sendung »Das digitale Umarmen: Das Internet als Wille und Vorstellung« im Deutschlandfunk war keineswegs eine an Schopenhauer orientierte philosophische Betrachtung des Internets, sondern ein Schreckensszenario zum »kaputten«, »gescheiterten«, »unentrinnbaren« und uns »kontrollierenden« Datennetzwerk. Das Verbrauchermagazin im Nachrichtensender des Bayerischen Rundfunks (b5-aktuell) berichtete dann über »Zweifel an elektronischer Gesundheitskarte« (die volle neun Jahre nach der geplanten Einführung im Jahr 2006 noch immer nicht funktioniert) und über den »Verbraucherärger der Woche: Gehackt im Namen von Microsoft« (wo vor indischen Trickbetrügern gewarnt wurde). Im wenig später auf b5-aktuell ausgestrahlten Computermagazin lauteten die Themen dann: »Wie Stars mit Hackern umgehen«, »Wie sehr uns Smartphones beim Fahren ablenken«, und nochmals wurde ausführlich über weltweite Cyberspionage berichtet. HILFE!, dachte ich gegen Ende der Autofahrt.

Um all dies geht es in diesem Buch aber nicht. Vielmehr habe ich hier ausgeführt, was wir aufgrund der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse heute bereits zu den krank machenden Auswirkungen des digitalisierten Lebens wissen. Die Vielfalt, Tiefe und Breite der Erkenntnisse hat mich bei der Arbeit an diesem Buch selbst mehr als überrascht, denn Wissenschaft ist ihrer Natur gemäß kein schnelles Unterfangen. Allerdings ist die Datenlage zur Cyber-Pathologie im Jahr 2015 deutlich klarer als noch drei Jahre zuvor. Deshalb ist der Handlungsbedarf auch noch dringlicher, und aus diesem Grund geht dieses Buch hinsichtlich der thematischen Weite und der wissenschaftlichen Erkenntnisse erheblich über Digitale Demenz hinaus.

Es geht dabei nicht um Technologiefeindlichkeit, sondern um unerwünschte Nebenwirkungen – wie in der klassischen Pharmakologie. Auch da hat die Dosis nicht nur positive und erwünschte Wirkungen, sondern auch Nebenwirkungen. Dass diese für jüngere und ältere Menschen unterschiedlich sein können, ist ebenso aus der Pharmakologie schon lange bekannt. Würde jemand ein unerforschtes Medikament einfach unreflektiert einnehmen? Oder – schlimmer noch – nach Bekanntwerden deutlicher Nebenwirkungen bei jüngeren Menschen es seinen Kindern verabreichen? Und wenn einer Zweifel hegte, wen sollte er fragen, die Pharmaindustrie oder einen Kinderarzt?

Im Vorwort der neuesten Studie zur Mediennutzung von drei- bis achtjährigen Kindern steht: »Die vielleicht wichtigste Erkenntnis vorneweg: Die Frage nach dem ›Ob‹ ist in der Praxis abgehakt und realitätsfremd. Kinder bewegen sich bereits autark in der digitalen Welt. Rund 1,2 Millionen 3- bis 8-Jährige sind regelmäßig online. Kinder, die noch nicht lesen und schreiben können, erkennen entsprechende Symbole, die ihnen den Aufruf von Webangeboten ermöglichen.«[7] Dieses Buch hält dagegen: »Realitätsfremd« ist derjenige, der die Augen vor den krank machenden Auswirkungen verschließt. »Autark« sind Kinder im Netz genauso wenig wie Erwachsene, schon gar nicht, wenn sie noch nicht lesen oder schreiben können und ihre Kritikfähigkeit noch nicht ausgebildet ist. Dass sie dennoch »Angebote aufrufen«, stimmt – leider –, wie die Eltern erfahren, wenn sie später dafür bezahlen müssen.

Um die Bildung der jungen Menschen – der wichtigsten Säule nicht nur unserer Wirtschaft, sondern unserer gesamten Gesellschaft – müssen wir uns kümmern und um ihre Gesundheit ebenfalls. Wenn wir dies einigen sehr reichen Firmen überlassen, denen ihre Profite wichtiger sind als das Wohl der nächsten Generation, versündigen wir uns an unseren Nachkommen. Dies tun wir in anderen Bereichen schon, hinterlassen wir unseren Nachkommen doch einen Planeten, der ein Paradies war und mittlerweile zu einer Müll- und Abraumhalde verkommen ist. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Müll in der Landschaft oder Müll in den Köpfen, aber ich weiß, dass beides die Chance auf Bildung, Autonomie, Freiheit, Gesundheit und Glück wesentlich einschränkt. Wir dürfen weder die Köpfe noch die Gesundheit unserer Kinder dem Markt überlassen!

 

Ulm, im Juli 2015

Manfred Spitzer

[home]

Einleitung

Vor etwa 12000 Jahren haben wir Menschen damit begonnen, zivilisiert zu leben: Heute werden wir nicht mehr von der Sonne geweckt, sondern vom Wecker. Wir gehen ins Bad, wo wir uns mit warmem Wasser waschen, und frühstücken in angenehm klimatisierten Räumen eine Nahrung, die weit entfernt produziert und aufbereitet wurde – man denke nur an die Wege und Produktionsschritte, die ein lediglich mit Butter bestrichenes Brötchen vom Feld und der Kuh bis zu unserem Esstisch hinter sich hat. Dann fahren wir mit Bahn, Bus oder Auto »zur Arbeit«, so bezeichnen wir den spezialisierten, oft hochtechnisierten Ort der Produktion und Verteilung von Waren und Dienstleistungen. Nach der Heimfahrt verbringen wir den Abend zu Hause – viele von uns allein[8] – und lassen uns in der verbleibenden Freizeit in vielfältiger Weise von Schauspielern unterhalten, also von fremden Menschen, deren Verhalten in der Regel erfunden, mit viel Mühe aufgezeichnet und medial verbreitet wird. Oft meinen wir diese Menschen besser zu kennen als unsere direkten Nachbarn. Wir sitzen nicht mehr mit unserer Gruppe am Lagerfeuer vor der Höhle.

Zivilisation und Krankheit

Die Annehmlichkeiten unserer Lebensbedingungen liegen auf der Hand. Ihre Nebenwirkungen – von Angst und Bewegungsmangel über Einsamkeit und Entfremdung bis hin zu Zivilisationskrankheiten – sind weitaus schwieriger zu fassen. Denn negative Auswirkungen entfalten sich nicht unmittelbar, sondern über längere bis sehr lange Zeiträume hinweg. Nun neigen Menschen dazu, den Spatz in der Hand mehr zu schätzen als die Taube auf dem Dach; das heißt, bei der Frage »Esse ich jetzt Vanilleeis oder lebe ich lieber einen Tag länger?« entscheiden sich nahezu alle Menschen für das Eis. Der Fachausdruck hierfür heißt Diskontierung der Zukunft: Menschen entwerten Ereignisse in der Zukunft, die Gegenwart ist ihnen am wichtigsten. Eine Annehmlichkeit in der Gegenwart übertrifft eine größere Annehmlichkeit, die sich in der Zukunft einstellen würde, wenn man auf die kleine Annehmlichkeit in der Gegenwart verzichtet.

Dass dies schon immer so war, sieht man schon an den ersten Zivilisationskrankheiten vor mehr als 10000 Jahren (siehe hierzu Kapitel 1). Auch heute gibt es Zivilisationskrankheiten – wieder. Ganz neue und vor allem völlig unvorhergesehen auftretend. Mehr als jede andere Innovation jemals zuvor bestimmt digitale Informationstechnik unser Leben. Es weckt uns nicht mehr der Wecker, sondern das Smartphone (siehe hierzu Kapitel 2), mit dem wir auch schriftliche Botschaften verschicken und viele andere Dinge tun: Wir verabreden uns, finden mittels Suchmaschinen Antworten auf Fragen, lesen die Nachrichten, schauen fern, orientieren uns in einer fremden Stadt, erhalten Werbung, versenden Fotos unserer Erlebnisse und Freunde, hören Musik, machen Notizen oder verwalten unsere Termine. Demnächst wird das Smartphone auch unsere Heizung kontrollieren – sie einschalten, wenn es uns weckt, und ausschalten, wenn es bemerkt, dass wir das Haus verlassen –, es wird für uns den Kaffee-Automaten einschalten und Lebensmittel bestellen, wenn im Kühlschrank etwas für die Party fehlt, von der es aus unserem Terminkalender weiß. So kann es am Morgen vorher die Zahl der Freunde, die per SMS oder E-Mail zugesagt haben, ermitteln und die benötigten Mengen an Lebensmitteln und Getränken besorgen. Das Schlaraffenland erscheint dagegen mühselig und um Größenordnungen weniger »hip«.

Mittels Computern mit ihren deutlich größeren Bildschirmen erledigen wir einen Gutteil unserer Arbeit – unabhängig davon, ob wir Automechaniker, Finanzbeamter oder Chirurg sind. Die größten Bildschirme jedoch sind für unsere abendliche Unterhaltung vorgesehen; riesige HDTV-Fernseher mit 3-D-Brille und 5-Kanal-Stereo-Sound versetzen uns dann in andere Welten. Jeden für sich. Um das uns dann beschleichende Gefühl der Einsamkeit zu bekämpfen, sind wir zugleich in Facebook, Whatsapp, Instagram und Twitter und schauen nach, was die anderen machen. Dabei beschleicht uns nicht selten das unangenehme Gefühl, dass wir immer gerade dort sind, wo vergleichsweise gerade nichts los ist (siehe hierzu Kapitel 6). Wie begegnet man der Unzufriedenheit, Leere und Einsamkeit, die sich schleichend breitmachen und unser Leben fade und blass erscheinen lassen (siehe hierzu Kapitel 12) – gerade im Vergleich zur Buntheit des Lebens der anderen auf den uns umgebenden Bildschirmen?

Wenn die neue Technik einmal gerade nicht zur Verfügung steht, fühlen wir uns wie ein auf dem Rücken liegender, hilfloser und völlig vergeblich strampelnder Käfer. Das verlegte, verlorene oder gar geklaute Handy bewirkt Herzklopfen, Angst und Stress. »Lieber hacke ich mir die Hand ab, als auf mein Handy zu verzichten« – solche Bekenntnisse ihres sehr innigen Verhältnisses zur neuen Technik liefern vor allem junge Menschen immer wieder. Mehr als drei Viertel von ihnen sagen: »Wenn gerade nichts los ist, greife ich als Erstes zu meinem Handy.«[9] Dies alles sind bekannte Anzeichen von Sucht (siehe hierzu Kapitel 3), deren Verbreitung in manchen Ländern der Erde bereits sehr bedrohliche Ausmaße erreicht hat. Was kann man tun?

Wir glauben, dass unser aller Wohl und Wehe von der Beherrschung der neuen Technik unmittelbar abhängt. Und wer nicht mitmachen will, ist abgehängt oder kommt sich zumindest so vor. Jedenfalls werden einem entsprechende Signale gesendet. Die Älteren unter uns, die noch nicht in das digitale Leben hineingeboren wurden, tun sich oft schwer mit dem Erlernen des richtigen Umgangs mit Internet, PC, Smartphone & Co. Deswegen sind alle der Meinung, die Jungen sollen es besser haben, und dementsprechend müssten sie so früh wie möglich in die neue Technik eingeführt werden. So werden Tablets im Kindergarten, Smartphones und Spielkonsolen in der Schule sowie Laptops spätestens ab der fünften Klasse für eine gute Entwicklung der Kinder gefordert. Dies ist verständlich. Aber man übersieht dabei, dass die Entstehung von Sucht besonders im Kindes- und Jugendalter begünstigt wird. Erwachsene mit ihrem vollentwickelten Gehirn können einem Suchtstoff oder einer Verhaltenssucht widerstehen, Kinder nicht. Sie werden durch digitale Informationstechnik angefixt.

Hinzu kommen Bewegungsmangel, sensorische Verarmung, antrainierte Unaufmerksamkeit, fehlendes Training von nicht reflexhaft ausgeführtem, besonnenem Handeln, Sprachentwicklungsstörungen und eine geringere Bildung – alles nachgewiesene Auswirkungen digitaler Informationstechnik bei Kindern und Jugendlichen (siehe hierzu die Kapitel 8 und 9). Darüber hinaus beeinträchtigen die digitalen Medien auf vielfältige Weise den Schlaf (Kapitel 10) und das Sexualleben (Kapitel 11) – die einzelnen Mechanismen sind zum Teil schon bekannt oder derzeit Gegenstand der Forschung. Schon jetzt ist festzuhalten, dass sich mit der zunehmenden Digitalisierung unseres Lebens Unzufriedenheit, Depressionen und Vereinsamung stark ausbreiten (Kapitel 12).

Cyber

In diesem Buch wird das Wort »cyber« als Bezeichnung der Ursache für all diese durchgreifenden Veränderungen unseres privaten wie beruflichen Lebens verwendet. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bezeichnet die Steuerkunst des Seefahrers. Der Ausdruck wurde vom amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener in einem Buchtitel (Cybernetics) zur Bezeichnung der Wissenschaft von Steuerungs-, Kontroll- und Kommunikationsprozessen verwendet. Mit dem Aufkommen der modernen digitalen Informationstechnik bekam »cyber« laut Duden die Bedeutung »die von Computern erzeugte virtuelle Scheinwelt betreffend«. Es geht nicht um einzelne Komponenten der Hardware oder Software, sondern um das Gesamtsystem, einschließlich der Vernetzung mittels Internet. Erst dadurch werden unsere Computer besonders leistungsfähig, vor allem was den Zugang zu Informationen betrifft. Und erst dadurch betrifft die virtuelle Realität unser Erleben, Denken und vor allem unsere sozialen Beziehungen ganz real.

Die Verwendung der Vorsilbe »cyber« zur Bezeichnung pathologischer Zustände ist nicht neu, wie man am Beispiel der Cyberchondrie oder an bekannteren Zusammensetzungen wie Cybermobbing, Cybercrime, Cyberattacke oder Cyberdschihad sehen kann. Warum aber sollten Informationsmedien oder gar Informationen selbst krank machen? Zum einen, weil Menschen keine Computer sind und nicht »Informationen downloaden«, sondern Sachverhalte verarbeiten und verstehen. Und dies ist nur mit Vorwissen möglich, das man schon haben muss, um überhaupt mit neuen Medien sinnvoll umzugehen (siehe hierzu Kapitel 7). Zum anderen, weil zu den psychischen und sozialen Konsequenzen der digitalen Informationstechnik auch Angst, Unaufmerksamkeit, Stress, Schlaflosigkeit, Bewegungsmangel, Beziehungsprobleme, Ehescheidungen, Depression und Vereinsamung gehören. Zu all dem liegen neue, in den vergangenen drei Jahren erschienene Studien vor, die ich in den folgenden Kapiteln vorstellen werde.

Die Cyberlobby macht Cyberstress

Wie kommt es zu den genannten negativen Auswirkungen? Und warum gehen wir nicht dagegen vor? Wie sich zeigt, stehen beide Fragen in direktem Zusammenhang. Dafür ein Beispiel: Wann immer ich in den letzten Jahren mit Eltern über ihre Kinder und deren intensive Nutzung digitaler Medien sprach, fiel im Verlauf der Diskussion die Bemerkung: »Das ist heute einfach so. Alles ganz schrecklich, aber da kann man einfach nichts machen.« Mit Sätzen wie diesen wird im Grunde weniger ein Sachverhalt beschrieben als vielmehr der eigenen völligen Resignation und Hilflosigkeit Ausdruck verliehen. Sehr viele Menschen beschreiben ihre subjektives Erleben digitaler Informationstechnik in dieser Weise, als fühlten sie sich ihr vollkommen ausgeliefert – als fielen Computer, Spielkonsolen, Tablets und Smartphones wie Hagel vom Himmel, und wir müssten sie wehrlos annehmen wie ein schweres Schicksal.

Dieses Erleben ist – wie in Kapitel 5 ausführlich dargestellt wird – oft begleitet von diffuser Angst und zudem mit Stress verbunden. Zugleich sorgt eine sehr effizient im Verborgenen arbeitende Lobby dafür, dass wir jeden Tag medial mit Meldungen bombardiert werden, wie wichtig und nützlich digitale Medien in allen Lebensbereichen sind:

»Einsam? – Warum bist Du nicht auf Facebook?«

»Allein? – Warum machst Du kein Online-Dating?«

»Schulprobleme? – Da fehlt nur die richtige Lern-App!«

»Zu dick? – Du hast noch keine Diät-App?«

»Keine Zeit? – Hast Du nicht Deinen Kalender in der Cloud?«

»Krank? – Watson[10] hilft bei Diagnose und Therapie!«

»Hunger? – Von Fast Food bis zu Gourmet-Rezepten – alles online!«

»Kein Geld? – Online-Kredite sind schneller als jede normale Bank!«

»Keine Lust? – Dafür gibt es doch die Motivations-Apps!«

»Keine Lust und Zeit mehr für dein Smartphone? – Ausschalt-App gefällig?«

Man gewinnt den Eindruck, als fände das Leben im Grunde nur noch online statt, denn jede – wirklich jede! – unserer Aktivitäten ist nahezu selbstverständlich von digitaler Informationstechnik begleitet. Sogar zum bewussten Abschalten braucht man heute eine App. Wie schlecht gerade das klappt, sehen wir jeden Tag: Wo immer man Menschen trifft, sind sie mit ihrem Smartphone, Tablet oder Laptop zugange; sie sind verbunden mit der virtuellen Welt, im Kontakt mit vielen anderen ebenfalls online befindlichen Menschen und versorgt mit dem Zugang zu einem rasant wachsenden Informationspool. Die dieses neue digitale Leben ermöglichende Industrie ist die reichste der Welt. Daher hat ihre Lobby auch die tiefsten Taschen und kann dafür sorgen, dass wir täglich überall hören, sehen und lesen, wie gut – nein, wie mega-toll-krass – das alles ist.

Überflutung oder Übermacht?

Weil nun aber – wie die Amerikaner sagen – das Gras immer auf der anderen Seite des Zauns grüner ist, also irgendwo immer mehr los ist als gerade bei uns, haben viele Menschen ständig das Gefühl, etwas zu verpassen. Dabei schlafen gerade viele junge Menschen schon deutlich weniger, als für sie gut wäre (dieser Trend zeichnete sich bereits vor zehn Jahren, also schon vor der Erfindung des Smartphones, ab). Sie sind oft chronisch müde (und werden langfristig krank), weil sie das Gefühl haben, nicht mehr folgen zu können, und resignieren.

Die verbreitete Bezeichnung für diesen Zustand – Informationsüberflutung – ist ihrerseits tückisch, verwehrt sie uns doch gerade die Einsicht in die tatsächlichen Vorgänge. Man kann nämlich das Gehirn gar nicht mit Informationen überfluten, denn es macht lange vorher schon die Schotten von selbst dicht! Wir können aber beständig das Gefühl der eigenen Unfähigkeit und Ohnmacht erleben, bei jedem Blick auf das Smartphone in der Hand, auf den Bildschirm am Arbeitsplatz oder den Riesenfernseher zu Hause: Die Freunde feiern, die Konkurrenz arbeitet nach Feierabend noch an der Lösung, und auf fünfhundert anderen Kanälen läuft vielleicht gerade ein besserer Film. Wir hecheln hinterher und wissen zugleich, dass wir keine Chance haben.

Darüber hinaus hinterlassen wir bei jeder Nutzung moderner Informationstechnik eine digitale Spur, die von anderen verfolgt, gespeichert und ausgewertet werden kann und – das wissen wir spätestens seit den Enthüllungen des ehemaligen Mitarbeiters des US-Geheimdienstes National Security Agency (NSA) Edward Snowden – tatsächlich auch ausgewertet wird. Weltweit. Jetzt. Uns alle betreffend.

Aufmerksame Eltern wissen nur zu gut, wie sehr das digitalisierte Leben ihren Kindern schadet, ihnen die Zeit stiehlt, die sie für andere, ihrer Entwicklung förderliche Tätigkeiten – spielen, Sport treiben, musizieren, malen, basteln, draußen herumtoben, auf Bäume klettern etc. – nicht mehr haben. Wenn man mit Eltern spricht, bekommt man irgendwann immer die folgende resignierte Aussage zu hören: »Die anderen haben das alles doch auch, und mein Kind soll kein Außenseiter werden.« Wenn die Eltern wüssten, dass die Nutzung digitaler Geräte in der Freizeit genau dazu führt, dass Kinder und Jugendliche zu Außenseitern werden, wie entsprechende Studien klar zeigen, würden sie mit Sicherheit anders handeln. Schließlich wollen alle Eltern immer nur das Beste für ihr Kind. Resignation vor einer Übermacht führt also dazu, dass Eltern ihren Kindern schaden – wissentlich und mit schlechtem Gewissen!

Diese Übermacht der anderen gibt es jedoch im Grunde gar nicht. Tatsächlich sehen Eltern ja täglich, in welchem Maß digitale Medien ihren Kindern schaden. Aber eine scheinbar übermächtige Lobby sorgt dafür, dass wir täglich daran erinnert werden, dass Computerspiele klug machen, Computer und Internetanschlüsse für jeden Schüler und Studenten bereitstehen müssen, öffentliche Bildungseinrichtungen mit WLAN ausgestattet werden müssen – und dass das digitalisierte Leben uns insgesamt eine rosige, sorglose Zukunft bereiten wird. Böse Zungen behaupten, dass Politiker nur deswegen dabei so bereitwillig mitmachen, weil sich ein kritikloser dummer Bürger leichter regieren lässt. Aber ich glaube nicht an Verschwörungstheorien.[11] Als Psychiater kenne ich mich mit so etwas aus und kann aus Erfahrung nur sagen, dass fast immer dann, wenn eine böse Macht im Spiel zu sein scheint, letztlich doch nur die Dummheit und Ahnungslosigkeit von Menschen am Werke sind – zuweilen kommt noch ein Schuss Egoismus und kriminelle Energie hinzu.

Erkennen, Vorbeugung und Therapie

Digitale Informationstechnik kann – direkt oder indirekt – neue Krankheiten hervorrufen oder zum häufigeren Auftreten schon bekannter Krankheiten beitragen. Hier ist zuallererst Aufklärung nötig: Was wissen wir? Was stimmt wirklich? Was ist Propaganda und Lobbyarbeit der reichsten Firmen der Welt, und was sind Lügen der Leute, die von diesen bezahlt werden? Doch Wissen reicht oft nicht, um richtig zu handeln. Vor allem dann nicht, wenn Sucht im Spiel ist. Daher müssen Eltern, Erzieherinnen und Lehrer nicht nur die leeren Phrasen der Werbung als solche erkennen, sondern auch die Krankheiten, die durch die übermäßige Nutzung digitaler Medien entstehen. Und es muss klarwerden, was man vorbeugend tun kann, bevor das Kind in den sprichwörtlichen Brunnen fällt, und wie man therapeutisch vorgeht, wenn dies bereits geschehen ist. Davon handelt dieses Buch.

Die Ohnmacht der Menschen gegenüber den Maschinen wird vielleicht nirgends besser deutlich als im Märchen von den Wissenschaftlern, die einen intelligenten Computer gebaut hatten. Die erste Frage, die sie diesem stellten, lautete: »Gibt es einen Gott?« Der Computer antwortete: »Ja, jetzt gibt es einen«, und ein Blitz zuckte vom Himmel und zerstörte den Schalter, mit dem man den Computer hätte ausschalten können.

[home]

1. Zivilisationskrank

Zivilisationskrankheiten dürfte es eigentlich gar nicht geben, denn Zivilisation bedeutet Wohlstand, und der wiederum geht mit besseren Lebensbedingungen einher. Gesicherte Versorgung mit Nahrung, Kleidung, Wärme und Schutz, sauberes Wasser aus der Leitung und Systeme für Abwasser und Abfall sind neben der gesamten medizinischen Versorgung Teil unserer Zivilisation; sie haben unser Leben verbessert und deutlich verlängert.

Nun gibt es aber heute Krankheiten, die es in vorzivilisierter Zeit nicht gab; nicht umsonst werden sie »Wohlstandskrankheiten« genannt. Einige von ihnen sind im Hinblick auf Ursachen und Konsequenzen mittlerweile gut untersucht; man weiß daher auch, wie man ihnen begegnen könnte. Dennoch: Wer heute einen Supermarkt betritt und vor den vollen Regalen steht, der kommt kaum auf die Idee, dass die dort angebotenen Nahrungsmittel Krankheiten verursachen können. Warum ist das so, und wie kam es dazu?

Zivilisation ist mit technischem und wissenschaftlichem Fortschritt verbunden. Heute denken wir dabei vor allem an das Internet oder die Raumfahrt, in die Vergangenheit zurückblickend an die industrielle Revolution, die Aufklärung, den Buchdruck oder die Seefahrt – mit jeweils allen Konsequenzen für Bildung, Erhaltung und Ausgestaltung von arbeitsteiligen großen Gemeinschaften, ohne die Zivilisation überhaupt nicht möglich ist. Kaum jemand denkt bei Zivilisation an ein paar Menschen, die in grauer Vorzeit wahrscheinlich an mehreren Orten der Welt etwa gleichzeitig auf die Idee kamen, ihre Nahrung nicht einfach nur zu sammeln, sondern selbst anzubauen.

Vom Jäger und Sammler zum Bauern

Bis vor etwa 10000 bis 15000 Jahren lebten die Menschen ziemlich gesund. Es gab auch nur noch einige tausend, wie genetische Analysen zeigen. Dies ist entweder auf eine längere Kälteperiode vor über 100000 Jahren zurückzuführen oder auf einen Vulkanausbruch auf Sumatra vor etwa 75000 Jahren. Eine globale Katastrophe hätte also beinahe die gesamte Menschheit ausgelöscht.

Noch vor 10000 Jahren betrug die Weltbevölkerung nur 5 bis 10 Millionen, stieg dann jedoch rapide an, als die Menschen damit begannen, »sich die Erde untertan« zu machen. Sie überließen ihre Versorgung nicht mehr dem Jagen und Sammeln – und damit dem Zufall –, sondern kontrollierten durch Ackerbau und Viehzucht die Art und Menge dessen, was sie produzierten und aßen. Dies führte zu einem rasanten Bevölkerungswachstum und einer damit verbundenen enormen Verdichtung der Bevölkerung; es entstanden arbeitsteilige und dadurch wirtschaftlich enorm effektive Gesellschaften.

Die Anzahl der auf der Erde lebenden Menschen lag um Christi Geburt schon bei 300 Millionen, blieb dann etwa tausend Jahre lang konstant und stieg bis zum 16. Jahrhundert auf etwa 500 Millionen. In den folgenden dreihundert Jahren verdoppelte sich die Menschheit auf eine Milliarde und stieg in den nächsten zweihundert Jahren bis 1999 auf 6 Milliarden an (siehe Abb. 1.1). Im Jahr 2011 schon waren es 7 Milliarden, und für das Jahr 2015 geht man von 7,3 Milliarden Menschen aus.[12]

1.1

Entwicklung der Anzahl der auf der Erde lebenden Menschen über die Zeit

Mit der Änderung des Lebensstils vom umherziehenden Jäger und Sammler zum sesshaften Bauern und der damit verbundenen Umstellung der Ernährung kam es zu einer für jeden Einzelnen unmerklichen, insgesamt jedoch dramatischen Zunahme von Krankheiten.[13] Die bei Ausgrabungen weltweit untersuchten Knochenfunde belegen eindeutig, dass die Körpergröße der Menschen mit der Sesshaftwerdung deutlich abnahm (siehe Abb. 1.2). Insbesondere die längeren Röhrenknochen von Menschen, die vor 10000 bis 8000 Jahren lebten, sind deutlich kürzer als die bei älteren Funden und zeigen zudem mehr Anzeichen von Mangelernährung. Die Bestimmungen des Knochenalters bei ausgegrabenen Skeletten zeigen auch, dass die Lebenserwartung beim Übergang vom Jäger und Sammler zum Bauern zunächst abnahm.

Neben den Knochen können auch die Zähne des Menschen Jahrtausende überdauern.[14] Die Untersuchungen von bei Ausgrabungen gefundenen Schädeln und Zähnen zeigen wie die Knochen ein düsteres Bild des Übergangs vom Jäger und Sammler mit seinen (zum Todeszeitpunkt) gut erhaltenen Zähnen zum nahezu zahnlosen Bauern. In Ägypten beispielsweise fand man einen klaren Zusammenhang zwischen der Zunahme von Größe und Reichtum der Gesellschaft und der gleichzeitigen Zunahme von Zahnkaries. Diese Zunahme war ernährungsbedingt: Statt von Obst und Gemüse sowie gelegentlich Fisch und Fleisch lebten die Menschen vor allem von Brot, also von Getreide.

1.2

Körpergröße von Frauen und Männern im Verlauf der vergangenen 30000 Jahre[15]

Mit dem sesshaften Leben des Menschen in größeren Gemeinschaften kamen also neue Krankheiten auf. Verursacht wurden sie durch die veränderte und vergleichsweise einseitige Ernährung und dadurch bedingte neu aufgetretene Mangelerscheinungen: Vitaminmangel, Eiweißmangel bzw. Mangel an bestimmten notwendigen Eiweißbestandteilen (Aminosäuren), Calciummangel und Mangel an manchen essenziellen Fetten. Das Leben war nun zwar besser planbar und berechenbar, aber der Preis dafür war eine schlechtere Gesundheit des Einzelnen. Der Mensch bezahlte diesen Preis, weil ihm gar nicht auffiel, was geschah. Es geschah eben einfach – langsam und damit unbemerkt.

Die Menschheitsgeschichte verzeichnet zahlreiche andere Krankheiten, die auf veränderte Lebensbedingungen zurückzuführen sind. Die Römer stellten die Wasserversorgung der Bevölkerung mit dem Bau riesiger Wasserleitungen sicher, wobei das Wasser u.a. auch durch Rohre aus Blei floss. Und so litten viele Römer an einer chronischen Bleivergiftung. Mit dem Aufkommen weiß gestrichener Wände in Wohnungen wurde die Giftigkeit von Blei dann erneut zum Problem, denn schon kleine Mengen reichen aus, um der Gehirnentwicklung eines Kindes nachhaltig zu schaden.[16] Je höher die Konzentration von Blei im Blut eines Kindes ist, desto geringer seine Intelligenz. Als die Giftigkeit von Blei bekannt war, wurde die Verwendung in der Wandfarbe verboten. Keiner fragte damals, ob man nicht vielleicht doch eine halbe Wand im Kinderzimmer weiß lassen könne, weil das doch so schön aussähe. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden auch die Bleiverbindungen im Benzin aus den gleichen Gründen weitgehend abgeschafft.

Asbest galt lange als wunderbarer Baustoff, weil seine mikroskopisch kleinen Kristalle das Ausbreiten von Feuer verhindern. Erst später erkannte man, dass diese Kristalle tödliche Lungenkrankheiten verursachen können. Mit Asbest gebaute Häuser und Hochhäuser wurden daher abgerissen. Niemand sagte damals: Die Gebäude haben wir nun mal, da kann man nichts machen.

Als die Röntgenstrahlen erfunden wurden, durchleuchtete man sich gegenseitig zum Spaß auf Partys. Etwa ein halbes Jahrhundert dauerte es, bis man die krebserregende Wirkung von Röntgenstrahlung klar erkannt hatte, und nochmals gut drei Jahrzehnte dauerte es dann, bis man die letzten Geräte zur Durchleuchtung der Füße aus den Kinderabteilungen (!) der Schuhgeschäfte verbannte.

Nicht viel anders war es beim Rauchen, dessen Risiken im Hinblick auf die Entwicklung von Lungenkrebs ebenfalls in den fünfziger Jahren klarwurden. Bis sich diese Einsichten gesellschaftlich durchsetzten und bis dann etwas geschah (Werbeverbote, Rauchverbote), vergingen dann noch fünf Jahrzehnte. Dies ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass es sich beim Rauchen um eine Sucht handelt und dass es eine ganze Industrie gibt, die am Tabakkonsum gut verdient. Von den Tabakkonzernen wurden gezielt Falschmeldungen gestreut und einige Wissenschaftler dafür bestochen, beschwichtigende Gutachten zu verbreiten[17] – auch in Deutschland, bis hin zum Chef des Bundesgesundheitsamts.[18] »Obgleich Deutschland im Umweltschutz international eine Führungsrolle einnimmt, hat es die Tabakindustrie in Deutschland erfolgreich verstanden, die Umsetzung der Erkenntnisse über die Schädlichkeit des Passivrauchens in wirksame Gesundheitspolitiken zu verhindern. Sie bediente sich hierzu einer sorgfältig geplanten Kollaboration mit Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern und eines ausgeklügelten PR-Programms, das in den 1970er Jahren eingeleitet wurde und seitdem still betrieben wird«,[19] heißt es hierzu in einem insgesamt sehr lesenswerten Dokument einer amerikanischen Gesundheitsbehörde.

Übergewicht

Sprich man heute von Zivilisationskrankheiten, so sind vor allem Herz- und Gefäßkrankheiten, Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes (Typ 2) sowie manche Krebsarten wie Lungenkrebs und Darmkrebs gemeint. Sie sind bedingt durch unsere täglichen Essgewohnheiten (zu viel und das Falsche), mangelnde Bewegung und gesundheitsgefährdende Neigungen (z.B. Schlafmangel oder Rauchen). Wenn das Verhältnis von aufgenommener Energie (Nahrung) und verbrauchter Energie (Bewegung) nicht mehr stimmt, speichert unser Körper die Differenz in Form von Fett.

Wie repräsentative Daten des Berliner Robert Koch-Instituts zeigen,[20] waren vor etwa zehn Jahren in Deutschland 15 Prozent (entsprechend 1,9 Millionen) Kinder und Jugendliche übergewichtig, 6,3 Prozent davon (800000) krankhaft übergewichtig, was man auch als adipös bezeichnet. Der Anteil der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen nimmt mit dem Alter zu (Abb. 1.3) und hat sich innerhalb von 20 Jahren nahezu verdoppelt.

1.3

Anteil der übergewichtigen (grau) und krankhaft übergewichtigen (schwarz) Kinder und Jugendlichen verschiedener Altersgruppen in Deutschland. 9 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen sind bereits übergewichtig, 15 Prozent der Sieben- bis Zehnjährigen und 17 Prozent der 14- bis 17-Jährigen. Die Häufigkeit von krankhaftem Übergewicht beträgt bei den Drei- bis Sechsjährigen 2,9 Prozent und steigt über 6,4 Prozent bei den Sieben- bis Zehnjährigen bis auf 8,5 Prozent bei den 14- bis 17-Jährigen.

Eine Arbeitsgruppe der Universitätskinderklinik in Ulm konnte in den letzten Jahren einen leichten Rückgang des Übergewichts bei Schulanfängern feststellen, wobei man allerdings eher von einer Stabilisierung auf leider hohem Niveau sprechen sollte.[21] Zwischen Jungen und Mädchen gibt es dabei keinen Unterschied, wohl aber im Hinblick auf soziale Schicht und Migrationshintergrund: Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus sind von Übergewicht und Adipositas besonders häufig betroffen, Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund auch, Kinder von Müttern mit Übergewicht oder Adipositas ebenfalls. Identische Beobachtungen werden auch in anderen Ländern gemacht, beispielsweise in Großbritannien, wo neueste Daten aus einer Studie mit 13287 Kindern und Jugendlichen vorliegen.[22] Wie Abbildung 1.4 zeigt, ist dort Übergewicht ein noch größeres Problem als hierzulande.

1.4

Anteil der übergewichtigen (grau) und krankhaft übergewichtigen (schwarz) Kinder und Jugendlichen in Abhängigkeit vom Alter in Großbritannien

Weltweit sind 155 Millionen Kinder im Schulalter übergewichtig. Bereits vor fünf Jahren sagten Gesundheitsfachleute voraus, dass die Generation der derzeit jungen Menschen die erste ist, deren Lebenserwartung im Gegensatz zu den Eltern geringer ausfallen wird.[23]

Unter den erwachsenen Europäern ist Übergewicht bei den Deutschen am häufigsten.[24] Weltweit gibt es die meisten Übergewichtigen in den USA, wo der Anteil auch bei den Jungen und Mädchen bei über 30 Prozent liegt. Bei erwachsenen Amerikanern liegt die Quote des krankhaften Übergewichts sogar bei über 30 Prozent. Nach einer großen Studie zur Gesundheit der Amerikaner aus dem Jahr 2012 ist dort die Lebenserwartung der Menschen in der Tat mittlerweile rückläufig – erstmals seitdem hierzu überhaupt Daten erhoben werden. Besonders auffallend ist dieser Trend in der Unterschicht der weißen Bevölkerung, wo die Lebenserwartung bei Frauen zwischen 1990 und 2008 um fünf Jahre und bei Männern um drei Jahre zurückging.[25] Eine neue Studie aus Kanada mit etwa 4000 krankhaft übergewichtigen Menschen mit einem BMI von mehr als 35 ergab eine Verminderung von deren Lebenserwartung um bis zu acht Jahre.[26]

Als es noch Hungersnöte gab, sicherte Übergewicht das Überleben! Dem zivilisierten Menschen hingegen bringt es den Tod: Übergewicht führt zu erhöhtem Blutdruck und Blutzucker, was langfristig zu Herz- und Gefäßkrankheiten führt. Herz- und Hirninfarkte sind hier die häufige Folge. Das wissen die Menschen. Warum verhalten sie sich dann so und nehmen das Gesundheitsrisiko – den vorzeitigen eigenen Tod (!) – in Kauf?

Energie und Belohnung

Um dies zu verstehen, muss man sich mit dem Belohnungssystem im menschlichen Gehirn befassen (siehe Abb. 1.5). Dieses verleiht unseren Erfahrungen Bedeutung, indem es ihnen eine Bewertung zuordnet.[27] Denn sich herumschubsende Materieteilchen und Energie haben aus sich heraus keine Bedeutung, unser Erleben gibt ihnen vielmehr Bedeutung und hebt sie damit vom fließenden Erlebnisstrom ab. Ein Ereignis im psychologischen Sinn[28] gibt es streng genommen erst durch »Bedeutung«, denn erst dadurch wird es aus unserem Erlebnisstrom hervorgehoben und als einzelnes Ereignis im Gedächtnis abgespeichert. Durch solche hervorhebenden Bewertungen (in der englischen wissenschaftlichen Literatur spricht man von saliency) entstehen unsere Erinnerungen, die uns dabei helfen, uns in der Welt zurechtzufinden. Denn dazu müssen wir wissen, ob etwas für uns gut oder schlecht/böse[29] ist. Unser Gehirn, das sich durch seine Funktion permanent verändert, bildet daher nicht nur allgemeine Erfahrungen in sich ab (»Dunkle Wolken bringen Regen«; »Äpfel schmecken gut«), sondern auch einzelne Ereignisse (»gestern hat es kräftig gewittert«; »die Äpfel vom dritten Baum nach der Flussbiegung rechts schmecken besonders gut«). Diese werden zu Gedächtnisinhalten. So sind in diesem System Lernen und Lust eng miteinander verknüpft. In der Literatur wird dieses System je nach Blickwinkel und Erkenntnisinteresse auch als Lust-, Sucht-, Motivations- oder Belohnungssystem bezeichnet.[30]

1.5

Schematische Darstellung des Belohnungssystems im menschlichen Gehirn. Es arbeitet mit dem Neurotransmitter Dopamin, der im Hippocampus das Lernen beschleunigt und im präfrontalen Cortex die Kapazität der Informationsverarbeitung (Arbeitsgedächtnis) steigert. Dopamin bewirkt zudem im Nucleus accumbens eine Aktivierung von Neuronen, die Endorphine im Frontalhirn freisetzen, was mit positiven Emotionen einhergeht.

Anders ausgedrückt: Unser Gehirn betreibt einerseits unentwegt Statistik und schätzt bei seiner Arbeit dauernd allgemeine Werte ab, um letztlich vorhersagen zu können, was als Nächstes geschehen kann. Dieses Lernen allgemeiner Gesetzmäßigkeiten in der Welt ist andererseits vom Lernen von Ereignissen zu unterscheiden, die durch Bewertung im Gehirn aus dem Erfahrungsstrom hervorgehoben werden. Solche Ereignisse sind – wie auch die durch Erfahrung gelernten Regeln – das Ergebnis der beständigen geistigen Leistungen unseres Gehirns, haben jedoch eine andere logische Struktur und werden im Gehirn auch zum Teil auf andere Weise (und in anderen Modulen) hervorgebracht und verarbeitet.

Ob nun irgendetwas herausgehoben und als einzelnes Ereignis abgespeichert wird, hängt vom »Bedeutungsverleihungsprozess« ab, und den wiederum kann man in erster Annäherung als Summe der jeweils gerade vorhandenen Emotionen begreifen.[31] Das Verleihen von Bedeutung ist also eine Funktion des Gehirns. Wie bei allen körperlichen und geistigen Merkmalen (Größe, Intelligenz) gibt es auch im Hinblick auf diese Funktion (genetische und umweltbedingte) Unterschiede, die dazu führen, dass Menschen mehr oder weniger »von den Ereignissen umgetrieben werden« bzw. neugierig sind. Im Bereich der Psychiatrie gibt es sogar Krankheiten, die dieses System und den Neurotransmitter Dopamin, mit dem es arbeitet, betreffen, so dass entweder alles irgendwie zu viel Bedeutung bekommt oder nichts mehr von Bedeutung ist.

Ebenso wie die Funktion des Knochens nicht der Knochenbruch ist, besteht die Funktion des Belohnungssystems nicht darin – wie es dem unbedarften Leser eines Psychiatrielehrbuchs erscheinen mag –, psychische Störungen (wie Sucht, Schizophrenie oder Depression) zu verursachen. Zu seiner ganz normalen Funktion gehört einfach das Verleihen von Bedeutung und hierdurch die Begünstigung des Einspeicherns von Besonderheiten ins Gedächtnis.[32]

Eine besondere Bedeutung kommt hier der Nahrungsaufnahme zu, denn sie liefert uns die lebensnotwendige Energie. Daher gehört Nahrung (neben der Fortpflanzung) zu den wichtigsten natürlichen Reizen, die das Belohnungssystem aktivieren. Die Aufnahme von Nahrung ist ein lustbetonter Akt, und nicht nur im Tierversuch wirkt Nahrung belohnend, sondern auch beim Menschen.[33] Wie stark motivierend Nahrung auf Menschen wirken kann, weiß jeder, der schon einmal Kinder mit der Aussicht auf ein Eis zu Heldentaten motiviert hat oder selbst hungrig im Supermarkt einkaufen war.

So wundert es auch nicht, dass es zwischen pathologischem Essverhalten und dem Konsum von Suchtstoffen Parallelen gibt. Seit einigen Jahren hat die Gehirnforschung Erkenntnisse, die auf einen engen Zusammenhang zwischen Essverhalten und Sucht hinweisen. Es lohnt sich, dem im Detail nachzugehen, denn nur wenn man Funktionsabläufe und Mechanismen der Sucht versteht, hat man eine Chance, gezielt therapeutisch einzugreifen.

Sucht und Essen

Suchtstoffe aktivieren ebenfalls das Belohnungssystem und lösen damit ein angenehmes Empfinden aus. Sie missbrauchen das für Motivation und Lernen zuständige System für einen einzigen Zweck: dem Erzeugen von guten Gefühlen – und sonst nichts. Da suchterzeugende Stoffe das System deutlich stärker aktivieren können als psychologische Erlebnisse, kann das mit den Substanzen künstlich erzeugte angenehme Gefühl stärker sein als die mit Nahrungsaufnahme oder Sex verbundenen angenehmen Gefühle (siehe Abb. 1.6). Genau dies macht die Sucht zu dem, was sie ist: pathologisches, langfristig Leben zerstörendes Verhalten, das nur sehr schwer zu ändern ist.

1.6

Ausmaß der psychologischen (hellgrau) und der pharmakologischen (dunkelgrau) Aktivierung des Belohnungssystems im Tierversuch. Die Effekte gelten orientierend bzw. nur in erster Annäherung, denn sie sind abhängig von den Experimentalbedingungen im Einzelnen, insbesondere von der Dosis des Suchtstoffs. Man sieht deutlich das Problem der Sucht: Stoffe aktivieren das System stärker als Erlebnisse, so dass der Einfluss psychologischer Faktoren auf das Verhalten vergleichsweise sinkt (nach Wrase 2008 und Wise 2006).

Eine ganze Reihe von Studien[34] hat mittlerweile sowohl im Tiermodell als auch beim Menschen gezeigt, dass die Aktivierung des Belohnungssystems während der Nahrungsaufnahme mit der Freude beim Essen zusammenhängt und dass bei übergewichtigen Menschen diese Aktivierung geringer ist. Sie müssen daher mehr essen, um den gleichen belohnenden Effekt zu erleben. Nicht anders ist es bei Suchterkrankungen; auch hier ist das Belohnungssystem vermindert aktivierbar, so dass die betroffenen Personen zu Stoffen greifen, die es stärker ansprechen. Übergewicht rückt damit im Hinblick auf den Mechanismus, der es verursacht, sehr nahe zur Sucht.

Neuere Untersuchungen zeigen, wie sich eine sogenannte Cafeteria-Diät, d.h. eine kohlenhydrat- und fettreiche Nahrung (z.B. Käsekuchen, Würstchen, Schokolade, Pommes etc.), auf das Belohnungssystem und das Essverhalten auswirkt. Von dieser Nahrung ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass sie im Tierversuch (und beim Menschen auch) zu Übergewicht führt. Um ihren Einfluss auf das Belohnungssystem zu messen, pflanzte man Ratten Elektroden in deren Belohnungssystem ein und ließ sie sich selbst durch Knopfdruck an diesem Ort elektrisch stimulieren.

Wie seit Jahrzehnten bekannt ist, drücken die Tiere in dieser Versuchsanordnung die Taste bis zu 2000-mal pro Stunde.[35] Durch Veränderung der Stärke des elektrischen Reizes kann man nun die »Schwelle« bestimmen, bei der dieses Verhalten – die Taste drücken – gerade noch an den Tag gelegt wird (bei noch schwächeren elektrischen Reizen hören die Tiere auf, die Taste zu drücken), und hat damit ein Maß für die individuelle Aktivierbarkeit des Belohnungssystems (»Belohnungsschwelle«).

Käsekuchen-, Würstchen-, Schokoladen-Sucht

Nachdem man die Belohnungsschwelle von jungen Ratten bestimmt hatte, wurden die Tiere per Zufall in Gruppen eingeteilt, so dass zwischen den Gruppen keine Unterschiede im Hinblick auf Körpergewicht (300 bis 350 g) und Belohnungsschwelle bestanden.[36] Danach erhielten die Tiere 40 Tage lang entweder das normale Rattenfutter oder Rattenfutter und eine Stunde täglich Cafeteria-Diät oder den ganzen Tag über die Cafeteria-Diät (18 bis 23 Stunden). Bei allen Tieren wurden während des ganzen Versuchs die Kalorienaufnahme, das Gewicht und die Belohnungsschwellen gemessen.

Wie erwartet kam es zu einer Gewichtszunahme in allen drei Gruppen, denn die Tiere waren noch jung und in der Wachstumsphase. Diese Gewichtszunahme war jedoch in Abhängigkeit von der Diät unterschiedlich stark ausgeprägt: Am deutlichsten war die Gewichtszunahme (mit ca. 160 g) in der Gruppe der Ratten auf permanenter Cafeteria-Diät, geringer (ca. 100 g) in der Gruppe mit nur einer Stunde Cafeteria-Diät täglich und am geringsten (ca. 80 g) in der Gruppe mit normalem Rattenfutter.[37]

1.7

Zunahme des Körpergewichts in Abhängigkeit von der Diät in den drei Gruppen im Zeitraum von 40 Tagen[38]

Parallel vollzog sich ein Anstieg der Belohnungsschwelle, das heißt, eine Abnahme der Empfindlichkeit des Belohnungssystems für belohnende Reize und damit auch für Nahrung (siehe Abb. 1.8).

1.8

Veränderung der Belohnungsschwellen in Abhängigkeit von der Diät in den drei Gruppen im Zeitraum von 40 Tagen[39]

Eine solche Abnahme der Empfindlichkeit des Belohnungssystems für belohnende Reize ist auch aus Tierversuchen zu den Auswirkungen der Suchtstoffe Kokain und Heroin bekannt. Die nahrungsbedingte Verstellung der Empfindlichkeit des Belohnungssystems braucht vergleichsweise längere Zeit, hält dafür aber auch länger an als eine entsprechende Verstellung durch die Suchtstoffe Kokain, Nikotin und Alkohol.

Sucht ist stärker als Angst

Eines der wesentlichen Merkmale der Sucht besteht darin, dass man bewusst negative Konsequenzen in Kauf nimmt, wenn man Suchtstoffe konsumiert. Um ein Beispiel zu geben: Jeder Raucher weiß, dass Rauchen ungesund ist. Im Tierversuch hat man dieses Merkmal der Sucht ebenfalls erforscht. Man bringt beispielsweise Ratten bei, sich vor dem Aufleuchten einer Lampe zu ängstigen. Dies geschieht dadurch, dass man den Tieren immer dann, wenn man die Lampe einschaltet, zugleich einen kleinen, aber schmerzhaften elektrischen Schock verabreicht. Sie lernen dadurch die Verbindung zwischen Licht und Schock und reagieren nach einer Weile allein schon auf das Licht der Lampe mit Angst.

Legt man nun Futter unter die leuchtende Lampe, dann fressen die Tiere nicht, denn die Angst ist stärker als der Hunger. Liegt unter der Lampe jedoch ein Suchtstoff, so stellt man fest, dass der Suchtstoff stärker ist als die Angst vor der Lampe: Sucht schlägt Angst!

Um nun die Auswirkungen der oben beschriebenen unterschiedlichen Diäten auf diese Weise zu untersuchen, wurden erneut Ratten mit den drei Diäten über 40 Tage gehalten und ihnen dann Angst vor der leuchtenden Lampe beigebracht. Anschließend erhielten die Tiere einzeln Zugang zur Cafeteria-Diät, die jedoch ganz in der Nähe der Lampe plaziert wurde. Diejenigen Tiere, die in den 40 Tagen zuvor nur Rattenfutter bekommen hatten, gingen nicht zum Fressen – die Angst überwog. Bei denjenigen, die Rattenfutter und nur für eine Stunde täglich die Cafeteria-Diät erhalten hatten, war das ebenfalls so. Die Ratten der Gruppe, die ausschließlich von der Cafeteria-Diät gelebt hatte, machten sich dagegen an den Käsekuchen, die Würstchen und die Schokolade heran, trotz ihrer Angsterfahrung mit der Lampe daneben. Negative Konsequenzen ihres Suchtverhaltens waren ihnen also – menschlich gesprochen – egal. Sie wollten die ihnen bekannte und vertraute Nahrung unbedingt und ohne Rücksicht auf Verluste zu sich nehmen. Sie waren süchtig danach.

»Wie bei suchterzeugenden Stoffen auch, führt der ungehinderte Zugang zu Cafeteria-Nahrung zu dem Aufsuchen von Belohnung, das offenbar zwanghaft erfolgte, denn das Verhalten wurde durch einen Hinweis auf erfolgende Bestrafung nicht unterdrückt«, schreiben die Autoren eines Kommentars zu diesem Experiment.[40]

Halten wir fest: Suchtartiges Essverhalten entsteht bei ungehindertem Zugang zu einer wohlschmeckenden hochkalorischen Ernährung. Der Mechanismus besteht in einer Verstellung des Ansprechens des Belohnungssystems auf Nahrung, so dass für den gleichen belohnenden Effekt (immer) mehr gegessen werden muss.

Menschen unterscheiden sich genetisch im Hinblick auf das Ansprechen ihres Belohnungssystems. Ein vermindertes Ansprechen des Systems ist daher ein Risikofaktor für die beschriebene Entwicklung, denn es erleichtert das Hineinschlittern in den Teufelskreis aus Käsekuchen, geringerem Belohnungseffekt, noch mehr Käsekuchen usw. (siehe Abb. 1.9).

1.9

Teufelskreis zum krankhaften Übergewicht

»Unsere Daten zeigen, dass eine Unterfunktion des Belohnungssystems bei Ratten dann entsteht, wenn diese willentlich eine wohlschmeckende Cafeteria-Diät zu sich nehmen, wie sie auch von Menschen gegessen wird, und dass diese Effekte immer schlimmer werden, je mehr sie an Gewicht zunehmen. […] Eine solche diätinduzierte Belohnungsunterfunktion kann zur Entwicklung von krankhaftem Übergewicht beitragen, indem sie die Motivation zum Konsum hochkalorischer, belohnend wirkender Nahrung steigert, um dem Zustand geringer Belohnung entgegenzuwirken. […] Unsere Daten sprechen dafür, dass krankhaftes Übergewicht und Drogensucht einen gemeinsamen zugrunde liegenden Mechanismus aufweisen«, schreiben die Autoren über ihre Ergebnisse und fügen hinzu: »Zusammengenommen stützen unsere Daten die Idee, dass zwanghaftes Essverhalten bei […] dauerndem Zugang zu einer hochkalorischen Diät entstehen kann, analog zur Kokainsucht.«

Wenn Kokain und Käsekuchen ganz ähnliche Auswirkungen auf Verhalten haben und diese Effekte letztlich über den gleichen Mechanismus im Gehirn bewirkt werden, dann wird es höchste Zeit, dass wir diese Erkenntnisse ernst nehmen und handeln! Warum? Weil es hierzulande wie in anderen hochindustrialisierten Ländern eine Epidemie gibt, die katastrophale Ausmaße angenommen hat und Hunderttausenden Menschen den Tod bringt: Die Rede ist nicht von AIDS oder Ebola, sondern vom Übergewicht!

Wer als Kind oder Jugendlicher schon übergewichtig ist, der ist als Erwachsener mit großer Wahrscheinlichkeit auch übergewichtig[41] – mit all den gesundheitlichen Folgen wie Diabetes, Bluthochdruck, (in der Folge) Herz- und Gehirninfarkte, Krebs und Erkrankungen der Wirbelsäule und des Bewegungsapparats.[42]

Werbung

Warum aber essen Kinder ungesunde Nahrung? Nicht zuletzt, weil sie ständig von der Werbung dazu aufgefordert werden. Nahrungsmittel sind die mit Abstand am häufigsten beworbene Produktfamilie in der an Kinder gerichteten Werbung. Allein in den USA gibt die Werbewirtschaft jährlich 10 Milliarden Dollar zur Beeinflussung des Essverhaltens von Kindern aus, vor allem in Form von Fernsehwerbung.[43] Kinder unter fünf Jahren sehen jährlich mehr als 4000 Werbespots für Nahrungsmittel.[44] Oder anders ausgedrückt: Während des Zeichentrick-Unterhaltungsprogramms an einem typischen Sonntagmorgen sehen Kinder im Durchschnitt alle fünf Minuten einen Nahrungsmittel-Werbespot,[45] und nahezu alle im Fernsehen beworbenen Nahrungsmittel sind ungesund.[46]

Dass Fernsehkonsum dick macht, ist seit über 30 Jahren bekannt[47] und durch mittlerweile mehr als 50 entsprechende Studien belegt, wie eine Zusammenfassung aus dem Jahre 2004 zeigt, die in der weltweit anerkannten medizinischen Fachzeitschrift Lancet unter dem Titel Wir programmieren Fettleibigkeit in der Kindheit publiziert wurde.[48] Dabei geht die Ursachenkette vom Fernsehen zum Übergewicht – wer fernsieht, wird dick – nicht umgekehrt! Amerikanische Wissenschaftler fanden zudem heraus, dass die Werbung für ungesunde Nahrungsmittel in entsprechenden Unterhaltungssendungen für die fernsehbedingte Fettleibigkeit mitverantwortlich war: Mit jeder Extrastunde Fernsehkonsum im Jahr 1997 war der BMI im Jahr 2002 11 Prozent höher, unabhängig vom gesehenen Programm oder den sportlichen Aktivitäten des Kindes.[49] Auch für Deutschland liegen Daten vor: Verbringen Vorschulkinder mehr als zwei Stunden täglich vor elektronischen Bildschirmmedien, dann erhöht sich ihr relatives Risiko, übergewichtig zu sein, um 70 Prozent.[50]

Man konnte weiterhin in einer großen Längsschnittstudie berechnen, dass 17 Prozent des Übergewichts der Erwachsenen auf das Konto des Fernsehkonsums in der Kindheit gehen.[51] Umgerechnet auf die 60000 bis 120000 Menschen, die jährlich durch Übergewicht zu Tode kommen, bedeutet dies, dass hierzulande jährlich ca. 10000 bis 20000 Menschen an den Folgen von Übergewicht sterben, an dessen Entstehung Fernsehwerbung ihren bedeutsamen Anteil hatte. Diese Werte geben Größenordnungen an und lassen sich aus vorhandenen publizierten Daten berechnen. Projiziert man die Effekte in die Zukunft, muss von einer deutlichen Steigerung dieser Zahlen ausgegangen werden. Zudem lässt sich aus den vom Bundesgesundheitsamt veröffentlichten Zahlen berechnen, dass die Kosten von durch Fernsehwerbung ausgelöstem Übergewicht pro Jahr 15 Milliarden Euro betragen.

Was sich nur schwer in Heller und Pfennig messen lässt, ist das Leid der Betroffenen: Das Tückische am Risikofaktor Übergewicht besteht gerade im Kindes- und Jugendalter darin, dass deutlich mehr Zeit für ungünstige Auswirkungen vorhanden ist als beim Auftreten im Erwachsenenalter. Wer sein Übergewicht erst mit 60 bekommt, hat gute Chancen, vor seinem Herzinfarkt oder Schlaganfall auf andere Art zu sterben. Diese Hoffnung kann man beim Vorliegen der Risikofaktoren in der Kindheit nicht haben. Man kann sich also recht sicher sein, dass die das Leben verkürzenden Auswirkungen auch eintreten werden. Dies bestätigt eine große norwegische Studie, in die 230000 Jugendliche zwischen 1963 und 1975 aufgenommen wurden. Dicke Jugendliche sterben früher; bei dicken Mädchen ist das Risiko für einen Herzinfarkt-Tod vor dem fünfzigsten Geburtstag um den Faktor 3,7 erhöht, bei dicken Jungs um den Faktor 2,9. Ebenfalls verdoppelt bis vervierfacht ist bei dicken Kindern das Risiko für einen frühen Tod durch Darmkrebs, Schlaganfall und Diabetes.[52]

Zusammenhang – Mechanismus – Konsequenz

Es ist eine Sache, die Existenz eines statistischen Zusammenhangs aufzuzeigen, und eine ganz andere Sache, den Mechanismus des Zusammenhangs aufzuklären. Dass etwas so ist, sagt noch nichts darüber aus, warum etwas so ist. Dass Fernsehen dick macht, ist lange bekannt; dass der Mechanismus auch über die Werbung vermittelt ist, wird hingegen erst mit neueren Daten nahegelegt. Sie passen gut zu bereits vorliegenden Kenntnissen zum Lernen, zu den Auswirkungen von Werbung bei Kindern und zu den oben beschriebenen Erkenntnissen der Gehirnforschung zum pathologischen Essverhalten als einer Form von Sucht.

Kinder lernen sehr schnell – was immer wir ihnen an Inhalten anbieten. Experimente an Kindern im Vorschulalter zeigten, dass diese den Inhalt von Werbespots nach nur wenigen Darbietungen gelernt hatten und sich dem Produkt gegenüber entsprechend positiv verhielten: Sie fanden es gut und wählten es aus.[53] Auch generalisieren Kinder über mehrere Produkte, so dass eine werbebedingte positive Einstellung gegenüber einem Produkt sich auf andere ähnliche Produkte überträgt, wie man bereits seit nahezu vier Jahrzehnten Werbungsforschung weiß.[54] Zudem weiß man, dass Kinder über Medien hinweg generalisieren, also eine Fernsehfigur beispielsweise auf der Schokoladenpackung problemlos wiedererkennen.

In den USA beginnen Kinder mit dem Fernsehen im Alter von durchschnittlich neun Monaten, und 90 Prozent aller Kinder sehen bereits vor dem Alter von zwei Jahren regelmäßig fern.[55] Entsprechend wird Fernsehwerbung gezielt an diese Gruppe gesendet, was u.a. zur Folge hat, dass ein Kind bei Schuleintritt mehr als zweihundert Markennahmen bzw. die entsprechenden Produkte kennt.[56] Daten aus dem Jahr 2015 zeigen für Deutschland und die USA, dass der Trend zu noch früherem Umgang mit Bildschirmmedien anhält – und dies gilt auch für Computer, Tablets und vor allem für Smartphones.[57]

Bei Kindern ist der kritische Verstand noch nicht entwickelt, weswegen sie den Auswirkungen der Werbung schutzlos ausgeliefert sind. Nachdem die Kinder dadurch an die üblichen in der Werbung gepriesenen Nahrungsmittel gewöhnt wurden, kommen sie nur noch sehr schwer davon los. Die oben beschriebenen Studien zum Zusammenhang zwischen Suchtverhalten und pathologischem Essverhalten machen verständlich, warum diejenigen, die als junge Menschen viel Fernsehwerbung gesehen haben, gar nicht anders konnten, als gewissermaßen sich selbst immer wieder mit Sucht erzeugender Nahrung »anzufixen« (um einen Terminus aus der Drogenszene zu gebrauchen). Denn wer die beworbenen Produkte isst, so zeigt die Gehirnforschung, verstellt damit langfristig sein Belohnungssystem und muss für den gleichen belohnenden Effekt immer mehr essen. Der Mechanismus von Fernsehwerbung geht damit über die üblichen Lernprozesse hinaus: Man »lernt« nicht nur Produkte und Markennamen sowie damit verbundene Assoziationen und sogar Verhaltensweisen.[58] Nein, man wird sogar süchtig nach einer bestimmten Form von Nahrung, die besonders reich an Fett und Zucker ist und für deren Dauerkonsum unser Gehirn evolutionär nicht vorbereitet ist.

So wird verständlich, wie vernunftbegabte Menschen, die wissen, wie ungesund und vor allem auch unangenehm (psychisch und physisch) ein erhöhtes Körpergewicht ist, dennoch viel essen und dick werden. Ich glaube nicht, dass die Nahrungsmittelkonzerne dies wussten, als sie damit begannen, bestimmte Lebensmittel in großem Stil an Kinder zu verkaufen und zu bewerben. Aber es hat sehr gut funktioniert und satte Gewinne generiert. Gesamtgesellschaftlich ist jedoch die Übergewichtsepidemie ein Desaster: Sofern jemand nämlich erst im Alter dick wird, wird er die Komplikationen seiner verhaltensbedingten Stoffwechselstörung in aller Regel nicht erleben (und daher auch nicht durchleiden müssen). Wenn man aber schon als Kind zu dick ist, hat der Organismus alle Zeit der Welt, die dadurch verursachten chronischen Krankheiten (betreffend Herz-Kreislauf, Krebs, Knochen, Gelenke bis hin zu chronischen psychischen Störungen) und deren Komplikationen zu erleben, oder besser: zu erleiden, und letztlich daran auch zu sterben. Mit dem Übergewicht ist es daher wie mit Alkohol und Nikotin: Zwar nimmt die Gesellschaft Steuern ein, aber die Schäden und die damit einhergehenden finanziellen Verluste für die Gesellschaft sind weitaus größer als die Einnahmen. Vom chronischen Leiden – den Schmerzen, Einschränkungen und Ausfallserscheinungen – einmal ganz abgesehen.

Die Konsequenz liegt auf der Hand: An Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Nahrungsmittel sollte verboten werden. In Schweden ist jegliche an Kinder gerichtete Werbung seit mehr als zwei Jahrzehnten untersagt.[59] Weil das Problem des Übergewichts in Großbritannien so groß ist (siehe Abb. 1.4), darf dort seit 2008 im Fernsehen in Sendungen vor 21 Uhr nicht mehr für Junk-Food geworben werden. Gesundheitsgruppen hatten sich für ein vollständiges Werbeverbot für Junk-Food ausgesprochen. Die Werbewirtschaft und die werbefinanzierten Privatsender kritisierten die Maßnahmen aber als zu weitgehend, vor allem mit dem Argument, dass ein solches Werbeverbot Arbeitsplätze gefährde. Aus meiner Sicht sollte man sich jedoch über jeden abgeschafften Arbeitsplatz freuen, an dem Arbeit verrichtet wird, deren »Früchte« das Leid und der Tod vieler Menschen der nächsten Generation sind. An Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Nahrungsmittel führt zu dauernder Verunsicherung von Eltern, die für ihr Kind das Beste wollen, dies aber gegen die Werbung und damit gegen ihr Kind durchsetzen müssen. »Es kann für Eltern sehr schwer sein, das richtige Essen für ein kleines Kind auszuwählen: Preis, Bequemlichkeit, Angebot, Bekanntheit, Komfort, Belohnung und Gruppendruck konkurrieren allesamt mit dem Ziel, das Beste für die Gesundheit des Kindes zu tun«,[60] heißt es in einem Editorial im medizinischen Fachblatt Lancet vom 20. Februar 2010. Auch in Südkorea, einem weiteren Land, in dem an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Nahrungsmittel verboten ist, hat man dies begriffen.

Wie lange müssen wir hierzulande noch warten, bis etwas geschieht? Sollten wir wirklich wider besseres Wissen auf dem Standpunkt »das ist nun mal so, gegen Werbung kann man nichts machen« verharren? Wenn wir uns in Deutschland zu einem Verbot für an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Nahrungsmittel durchringen könnten, würde das langfristig jedes Jahr 15 Milliarden Euro Gesundheitskosten einsparen, und es entfiele eine direkte Ursache für 10000 bis 20000 Todesfälle (!), wie sich aus Daten berechnen lässt, die nicht zuletzt vom deutschen Gesundheitsministerium publiziert werden. Wir haben schon aus deutlich geringeren Anlässen Gesetze gemacht.

Fazit