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Iben Albinus

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Beschreibung

 Der Nummer-1-Bestseller aus Dänemark       Im Frühling 2011 reist die dänische Menschenrechtsaktivistin Sigrid Melin nach Damaskus, um sich im Auftrag einer Telekommunikationsfirma in dem krisengebeutelten Land für Demokratie und Frieden zu engagieren. Der Job kommt ihr gelegen, und sie trifft Reem, eine syrische Studienfreundin, die sie seit einem tragischen Ereignis in Kopenhagen nicht mehr gesehen hat.    Endlich finden die Frauen wieder zusammen in der Stadt, wo die Jasminbäume blühen und die Hoffnung auf eine politische Reform die Menschen erfüllt. Aber Reems Loyalität gilt der falschen Seite, sie leitet einen Sicherheitsdienst und unterhält enge Verbindungen zur Regierung um den brutalen Diktator Baschar al-Assad. Verzweifelt versucht Sigrid, das Richtige zu tun, doch sie verstrickt sich und alle, die ihr lieb und teuer sind, immer tiefer in eine tödliche Verschwörung. Und  bald steht Sigrid vor der größten moralischen Herausforderung ihres Lebens: Schützt sie die anderen – oder doch sich selbst?  

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Seitenzahl: 605

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Iben Albinus

Damaskus

Thriller

Aus dem Dänischen von Kerstin Schöps

Hoffmann und Campe

Für meine Familie – Frederik, Anton und Toke

Prolog

Juni 2011

Ein Spatz hüpfte durch die Gitterstäbe. Da wusste Sigrid, dass sie auf dem Weg zu ihr waren.

Die Krümel des Fladenbrotes lockten die Vögel an, die hereinflogen, wenn die Gefängniswärter die Stahltüren zum Frauentrakt öffneten.

Sie hatte versucht, auf der dünnen Matratze zu schlafen. Vergeblich. Sie setzte sich auf. Es war Zeit, sich bereit zu machen. Sie fröstelte und redete sich ein, dass es am Luftzug lag.

Denn eigentlich war es Sommer in Damaskus. Vor zwei Tagen hatte sie noch ohne Jacke im Park neben dem Nationalmuseum gestanden und ihr Gesicht in die Sonne gehalten, um ihre Sommersprossen hervorzulocken, während neben ihr aufgekratzte Schüler und Schülerinnen unter den üppig weißblühenden Jasminsträuchern Selfies machten.

Hinter die Gefängnismauern des Al-Khatib drang kein Sonnenstrahl. Sigrid befand sich im gefürchtetsten Gefängnis der Stadt, direkt unter dem Hauptquartier des mächtigen syrischen Geheimdienstes, dem Mukhabarat, geführt von Präsident Baschar al-Assads Schergen.

Eine Neonröhre tauchte Sigrids Zelle in gelbliches Licht und färbte die dunklen Flecken auf dem Betonfußboden grün. Es fiel ihr schwerer, sich an die Blutflecke ihrer Vorgängerinnen zu gewöhnen als an den Gestank von eingetrockneten Exkrementen, der aus dem Loch in der Ecke kam.

Sigrid hatten sie bisher verschont. Noch. Wahrscheinlich, weil sie eine diplomatische Krise auslösen würden, wenn sie mit ihrer Zigarettenglut auch nur in ihre Nähe kämen.

Sie hatte sich die Mühe gemacht, die Läuse aus der Matratze zu pulen und eine nach der anderen zwischen ihren Fingernägeln zu zerquetschen. Aber die fiesen kleinen Teufel hatten es trotzdem geschafft, ihre langen roten Haare zu bevölkern, und sie musste sich sehr zusammenreißen, sich nicht die Kopfhaut blutig zu kratzen. Sie hatte Hunger; ihre letzte Mahlzeit, am Abend zuvor, hatte aus einer halben Schale Reis und einem hart gekochten Ei bestanden. Ohne besonders großes Engagement hatte sie sich tagsüber an Liegestützen versucht. Unter Umständen könnte es ihr Leben retten, wenn sie fit war. Außerdem musste sie sich mit irgendetwas die Zeit vertreiben. Aber es fühlte sich vollkommen absurd an, und so hatte sie gleich wieder aufgehört.

Sigrid hatte Angst, war nervös. Sie sprach sich Mut zu, sagte sich, dass ihre Chancen nach wie vor gut standen.

Nein, Sigrid hatte keinen Grund zu klagen. In der Zelle schräg gegenüber, die genauso groß war wie ihre, quetschten sich mehr als zwanzig Frauen auf engstem Raum zusammen. Drei mal sechs Meter. Die Einzelhaft hatte Sigrid vermutlich ihrer Herkunft zu verdanken, sie war die einzige westliche Frau in dem Gefängnis. Sie hatte die anderen Insassen gestern nur kurz gesehen, als sie in ihre Zelle geführt worden war. Wenn die Gefangenen miteinander sprachen, bekamen sie Schläge von den Wärtern. Aber Sigrid konnte sie aufgebracht flüstern hören, wenn es zu Auseinandersetzungen kam. Einerseits hatte das in all der Einsamkeit etwas Tröstliches, andererseits schämte sich Sigrid für ihre Sonderstellung und ihre komfortablere Unterbringung.

Al-Khatib war weit über die Grenzen von Syrien hinweg berüchtigt. Aus diesem Grund wollte der Nachrichtenchef wahrscheinlich auch verhindern, dass sie die Erlebnisse der syrischen Insassen weitererzählen konnte. Für Sigrid war ihre Isolation ein eindeutiger Hinweis darauf, dass sie bald wieder entlassen werden würde. Auf freiem Fuß war sie wertvoller für sie. Sie zwang sich, so zu denken. Sonst. Sonst würde sie verrückt werden. Sie musste sich zusammenreißen. Es könnte alles viel schlimmer sein.

Sigrid stand auf und schlüpfte barfuß in ihre Schuhe. Sie ärgerte sich darüber, dass sie bei ihrer Verhaftung in der Lobby des Hotels Four Seasons ihre Bürokleidung von NorCom getragen hatte, einen unbequemen Hosenanzug und Schuhe mit Absätzen. Allerdings könnte ihr Erscheinungsbild bei dem Verhör von Vorteil sein. Wie ein Kostüm einem Schauspieler dabei hilft, seine Figur zu verkörpern. Sie schielte den Gang hinunter; noch war niemand zu sehen. Hatte sie sich geirrt? Der Spatz war bisher immer ein verlässliches Zeichen gewesen.

Sie kannte das. Sie hatte es schon einmal erlebt. Gefängniszelle. Verhöre. Damals hatte sie gedacht, sie würde sterben. Und dass Victor mit sechs Jahren seine Mutter verlieren würde.

»Aber du hast überlebt«, redete Sigrid sich Mut zu. Doch es funktionierte nicht. Ihre Zuversicht hatte erste Risse bekommen.

Damals hatte Sigrid in einem Gefängnis im Nahen Osten gesessen. Sie war davon überzeugt gewesen, das nächste Folteropfer zu sein. Doch im Unterschied zu diesem Mal war sie seinerzeit vollkommen unschuldig gewesen. Damals hatten die Iraker sie für eine Spionin gehalten und sich geirrt. Die Syrer hingegen hatten sie jetzt nur wegen zivilen Ungehorsams im Zuge der Unruhen verhaftet. Aber wussten sie auch von dem anderen?

Sie musste an Victor denken. Ihren geliebten, kleinen, großen Victor, den sie vor ihrer Abreise von der Ungefährlichkeit ihres Auftrages hatte überzeugen musste. Hatte er gestern im Hotel in Beirut umsonst auf sie gewartet oder war Andreas rechtzeitig über ihre Verhaftung informiert worden, sodass sie die Reise hatten stornieren können? Sie sah Victors Gesicht vor sich, seine Enttäuschung über die verdorbenen Sommerferien. Sigrid war sich sicher, dass Andreas ihren Sohn und die Stieftochter mit einer Notlüge hatte beruhigen können. Aber Andreas würde wissen, wo sie sich befand und außer sich sein vor Sorge. Die Schuldgefühle waren unerträglich. Wie konnte sie ihnen das nur antun? Ihr verdammter Gerechtigkeitssinn, schon wieder hatte er dafür gesorgt, dass alles schiefgelaufen war. Sie hatte die im Stich gelassen, die sie am meisten liebte.

Das Universum hatte zweifellos eine Rechnung mit ihr offen. Sigrid Melin, geborene Johansen, achtunddreißig Jahre alt, aus Aabyhøj, einem Vorort von Århus. Eines Tages würde es an ihre Tür klopfen, da war sie sich sicher. Der Tag der Abrechnung würde kommen. Sigrid hatte schon lange das Gefühl, dass sie es nicht verdiente zu leben. Sie hatte sich damit abgefunden. Aber Victor hatte es nicht verdient, ohne Mutter aufzuwachsen.

Sie hörte ein lautes Scheppern. Das war die Stahltür, die wieder geschlossen wurde. Sigrid ließ enttäuscht die Schultern sinken. Offenbar war es noch nicht so weit.

Dann zerriss ein Schrei die Stille. Es folgte ein lautes Geräusch, etwas Hartes schlug gegen etwas Hartes. Ein weiterer Schrei. Eine Frau. Die Geräusche kamen aus dem Trakt hinter der Stahltür am Ende des Ganges, sie drangen durch Metall, Stein und Beton bis tief ins Herz. Sie dachte, ihres würde aufhören zu schlagen.

Was, wenn sie hier sterben würde? Die Schreie hallten in ihren Ohren. Das gelbe Licht der Neonröhre flimmerte in ihren Augen. Angst erfasste ihren Körper, und sie klammerte sich an die Gitterstangen. Im Reflex entleerte sich ihre Blase, ergoss sich in einem warmen Strahl in ihre Hose und ein süßlicher, scharfer Gestank stieg ihr in die Nase.

Unter großer Kraftanstrengung gelang es ihr, sich zu beherrschen. Sie stieß sich vom Gitter ab und stellte sich breitbeinig in die Mitte ihrer Zelle. Sie atmete tief ein und drückte gleichzeitig auf ihre Meridianpunkte. Eins-zwei-drei, wie ging das noch mal? Sie musste sich verdammt noch mal zusammenreißen und die Hose unter dem Wasserschlauch abspülen und –

Sie hörte Schritte.

Verdammt. Jetzt würden sie ihre Angst doch zu sehen bekommen.

Der Gefängniswärter baute sich vor den Gitterstäben auf und öffnete mit einem klappernden Schlüsselbund die Zellentür. Auf Arabisch befahl er ihr, sich zu beeilen, so viel konnte sie verstehen. Er wies sie an, ihre Sachen in der Zelle liegen zu lassen, was entweder eine Machtdemonstration war oder ein schlechter Witz, denn die Tasche hatten sie ihr bei der Verhaftung abgenommen. Dann entdeckte er die Pfütze zu ihren Füßen, rümpfte die Nase und sagte etwas, was sie nicht verstand. Seinem fiesen Grinsen nach zu urteilen, war es besser so.

Sigrid trat hinaus auf den Gang, der Wärter stieß sie vor sich her. Sie musste so schnell wie möglich hier raus. Dafür musste sie das Verhör überstehen. Sich nicht unterkriegen lassen. Alles hing davon ab. Es sei denn, ihr Kontakt hatte sie verraten, dann würde auch NorCom sie nicht retten können.

Alles abstreiten. Alles oder nichts. Sie musste unbedingt ihr Temperament zügeln und durfte keinesfalls sagen, warum sie eigentlich nach Damaskus gekommen war.

Erster Teil

»Mögest du Reichtum erwerben, Weisheit erlangen und Schönheit gewinnen. All das verdirbt allein der Hochmut, wenn er sich dazugesellt.«

Inschrift auf einem Bogen im Krak des Chevaliers, einer Kreuzritterburg im Nordwesten von Syrien

Februar 2011

1

Das morgendliche Bad im Øresund gab Sigrid für einen kurzen Moment das Gefühl, normal zu sein. Gerade heute hatte sie das besonders nötig. In zwei Stunden würde sich entscheiden, wie ihre nächste Zukunft aussah, und sie trug die volle Verantwortung für das schlechte Blatt in ihrer Hand.

Als sie kurz nach halb sieben die Umkleidekabine verließ, lag der Strandpark noch ruhig in der winterlichen Dunkelheit. Wie immer zelebrierte Sigrid das Ritual und genoss diesen Anblick. Für sie war Helgoland der schönste Ort in Kopenhagen. Die türkisfarbene Badeanstalt lag am Wasser auf Amager, was nicht direkt beste Lage war, auch wenn die Immobilienmakler tapfer das Gegenteil behaupteten. Für Sigrid war das Naturbad ein Ort der Freiheit. Ein Ort, an dem ihre Dämonen ihr nichts anhaben konnten.

Unter dem Badesteg hingen Eiszapfen, und auf dem Wasser schwamm eine dicke, körnige Eisschicht. Der Wind war beißend kalt auf Sigrids Haut, die noch weißer war als sonst. Aber sie genoss das Gefühl, die kalten Planken unter den Füßen zu spüren. An der Treppe hing ein Thermometer. Drei Grad minus. Ihre Hände drohten am Geländer festzufrieren, als sie langsam ins Wasser hinunterstieg. Die Kälte drang in ihre Nervenbahnen. Sie schloss die Augen und ließ sich treiben. Dann tauchte sie auch ihren roten Dutt ins Wasser. Eine Sekunde lang. Dann richtete sie sich wieder auf. Die Wärme schoss durch ihren Körper. Das Dopamin folgte gleich hinterher, und Sigrid befand sich in jenem Zustand des Vergessens, den sie mit Glück verband.

Vor der Sauna blieb sie stehen, zögerte. Der warme Raum hatte etwas Verlockendes, und sie hatte große Lust, alles auszuschwitzen. Dann drang Lachen nach draußen. Damit hatte sich das erledigt. Sie war außerstande, die neugierigen oder – noch schlimmer – abwertenden Blicke zu ertragen. Ein Windstoß packte sie, sie musste sich am Geländer festhalten. Dann stolperte sie auf vor Kälte zitternden Beinen an der Sauna vorbei zu den Umkleidekabinen. Das war die Konsequenz, wenn man in einem überregionalen Fernsehsender für einen Skandal gesorgt hatte und der Beitrag viral gegangen war. Das war der Preis.

Sigrid machte sich Vorwürfe. Sie hatte viele Jahre harter Arbeit – ihre und die anderer – bei Amnesty International aufs Spiel gesetzt, weil sie vor laufender Kamera die Fassung verloren hatte. Sie wagte kaum sich auszumalen, wie hoch der Preis wirklich sein würde.

Nachdem sie ihre Wasserflasche geleert hatte, schlüpfte sie in ihre Standarduniform, die sie in Dänemark mit leichten Abwandlungen sommers wie winters tragen konnte. Jeans, T-Shirt, Strickpullover und anlässlich der Kälte ihre gefütterten UGGs. Auf der Brücke, die über das Wasser führte, das Helgoland von den schneebedeckten Flächen auf Amager trennte, blieb sie stehen und warf einen Blick über die Schulter. Sie seufzte. So viel zur gelungenen Flucht aus der Wirklichkeit.

Obwohl es noch früh am Morgen war, herrschte schon reger Verkehr auf der Straße, die zum Kopenhagener Flughafen führte. Irgendein Idiot war mit seinem Auto über die Grünfläche gefahren und hatte direkt vor der Brücke geparkt. Ein mattschwarzer Volvo mit weißen Ledersitzen. Die Scheinwerfer waren eingeschaltet. Typisch.

Die Fahrertür öffnete sich. Zuerst erschien eine Papphalterung mit zwei Kaffeebechern von Starbucks, dann der Fahrer. Sigrid spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Das war unmöglich.

»Bist du wahnsinnig, bei diesem Wetter schwimmen zu gehen?«

Der Mann lächelte sie frech an. Er war sonnengebräunt, trug sein sonnengebleichtes Haar halb lang und sah übertrieben förmlich aus in seinem Anzug und Kamelhaarmantel. Für Sigrid blieb die Zeit stehen. Ihr alter Freund und Kommilitone.

»Magnus?«

Sie umarmten sich, so gut es eben ging mit einer Papphalterung in der Hand.

»Was machst du denn hier? Und woher weißt du, dass ich hier bin?«

»Facebook. Du postest doch mehrmals in der Woche Fotos von der Badeanstalt.« Magnus Christiansen zeigte mit der Hand aufs Meer, dann reichte er Sigrid einen Kaffee.

Sie schaute tadelnd auf den Einwegbecher und schüttelte den Kopf, dann sagte sie selbstironisch: »Wenn es ums Eisbaden geht, werde ich nun mal zur Missionarin.«

Er legte den Kopf schief und sah zu seinem Wagen.

»Wollen wir uns nicht kurz ins Auto setzen und reden?«

»Ich muss noch ein Meeting vorbereiten, deshalb …« Sie unterbrach sich selbst. »Lebst du nicht eigentlich in Stockholm?«

Er nickte und bot ihr an, sie nach Hause zu fahren, damit sie sich auf der Fahrt unterhalten könnten. Während er sprach, hielt er ihr den Kaffeebecher erneut hin. Seine Miene sagte »Jetzt nimm schon«.

Sigrid lehnte dankend ab, schließlich war sie mit dem Fahrrad da. Aber dann griff sie doch nach dem Becher und stieg in den Wagen, zehn Minuten mehr oder weniger würden schon nicht schaden.

»Warum verabreden wir uns nicht zum Kaffeetrinken nach der Arbeit, wie normale Menschen?«, sagte sie und hob theatralisch eine Augenbraue. »Du hast ja wohl nicht vor, mir ein dubioses Jobangebot zu machen, oder? Ich bin bis heute nicht drüber hinweg, dass du jetzt auf der dunklen Seite der Macht arbeitest.«

Er warf die Arme in die Luft. Sie kannte seine lässige, jungenhafte Art so gut.

»Warum denn so defensiv, Johansen?«

Sigrid lachte. Sie waren Freunde geworden und geblieben, obwohl er zu der Sorte von Menschen gehörte, um die man einen großen Bogen machen sollte, wenn einem das eigene Wohlbefinden am Herzen lag. Was sie ebenfalls nicht leugnen konnte, war die Tatsache, dass sie in ihn verknallt gewesen war. Nach einer Party war sie mit ihm in seinem Studentenzimmer gelandet, aber statt wilden Sex zu haben, hatten sie sich einen monty-python-reifen Schlagabtausch geliefert, wessen Kindheit in den linksliberalen siebziger Jahren die schlimmere gewesen ist. Magnus war ein zackiger Idealist, den es zu den internationalen Brennpunkten zog, statt an den Schreibtisch, um seine Prüfungen vorzubereiten. Am Ende hatte er alle damit überrascht, als er seine buddhistischen Tattoos verdeckte, seine linken Ansichten ablegte und erst beim Militär Dolmetscher für arabische Sprachen wurde und sich später dann als Unternehmensberater mit Schwerpunkt Lobbyismus betätigte. Das entsprach nicht der Laufbahn, die er vor Augen hatte, als er zusammen mit Sigrid seine Abschlussarbeit über die moderne Geschichte des Mittleren Osten schrieb. Sigrid hatte ihn das letzte Mal auf der Titelseite einer Beilage in einer Wirtschaftszeitung gesehen, als er zum stellvertretenden Direktor eines gigantischen Telekommunikationsunternehmens ernannt wurde. Das hatte im Freundeskreis von damals nicht unbedingt Begeisterungsstürme ausgelöst.

»Ich heiße nicht mehr Johansen, sondern Melin.«

»Ja, ja, schon gut. Ich würde auch lieber mit dir einen Kaffee nach der Arbeit trinken wie normale Menschen, aber mein Flieger geht bald.«

Sigrid nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie kaufte nie Kaffee von Starbucks oder einer anderen kommerziellen Marke, außer am Flughafen. Plötzlich schmeckte der Kaffee, stark und mit warmer Milch, nach Reise und Abenteuer.

»Weshalb bist du hier?«

»Ein dubioses Jobangebot.« Magnus hielt ihr seine Visitenkarte hin.

Sigrid sah aus dem Fenster, es hatte wieder angefangen zu schneien.

»Wenn das so ist, muss ich dir gestehen, dass ich seit meinem Auftritt in den Nachrichten gestern nicht mehr so hoch im Kurs stehe.«

»Das haben wir mitbekommen.«

Sie sah ihn an, versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Aber Magnus wedelte nur mit der Visitenkarte.

»Wenn du Interesse hast, dann ruf mich an.«

Sigrid schüttelte den Kopf, wusste nicht, was sie davon halten sollte.

»You underestimate the power of the dark side.« Magnus schenkte ihr ein Lächeln. Es wirkte. Auch nach so vielen Jahren noch.

»Wenn du meinst. Ich bin super zufrieden bei Amnesty. Und ich werde ganz bestimmt nicht für ein großkapitalistisches Unternehmen in Stockholm arbeiten. Aber wir können uns gerne wiedersehen – wenn du vorher anrufst, statt mich vor Sonnenaufgang zu stalken.« Sie öffnete die Beifahrertür. »Danke für den Kaffee.«

»Der Job ist nicht in Stockholm, Sigrid.« Magnus klang auf einmal sehr ernst. »Sondern in Damaskus.«

Sigrid sah, wie ihre Finger nach der Visitenkarte griffen. Ihr war es unmöglich, die Erregung in ihrer Stimme zu unterdrücken, als sie ihm antwortete.

»In Damaskus?«

Dann zog sie die Wagentür wieder zu.

2

Der Schnee hatte den Garten in Weiß getaucht. Er leuchtete in der Dunkelheit, als Sigrid das Fahrrad durchs Gartentor schob. Vor dem Küchenfenster blieb sie stehen. Auf dem Küchentisch stand eine brennende Kerze. Andreas befüllte in Unterhemd und gestreifter Unterhose die Brotboxen, während er die beiden Teenager antrieb, die auf ihre Handys starrend über dem Frühstück hingen. Der Anblick berührte Sigrid. Das war ihre Familie. Gleichzeitig aber erwachte das altbekannte Gefühl, dass sie dieses Glück nicht verdient hatte.

Sigrid ging ins Haus und steckte den Kopf in die Küche, sagte guten Morgen. Sie wuschelte Victor durch seine roten Haare, er antwortete mit einem Grunzen, für das man das absolute Gehör benötigte, um etwas zu verstehen. Sommer warf ein »Hallo« in ihre Richtung und widmete sich dann wieder der Aufgabe, ein Selfie zu bearbeiten, auf dem sie deutlich älter aussah als ihre fünfzehn Jahre.

»Du warst aber lange weg?« Andreas’ schwedischer Akzent wurde stärker, wenn er besorgt war. Er goss ihr einen Kaffee ein und tauschte den Becher gegen einen Kuss. Sie nannte ihn einen zu groß geratenen Chorknaben, wenn sie ihn damit ärgern wollte, dass er sich nur einen Vollbart stehen ließ, um männlicher auszusehen. Es wurde auch nicht dadurch besser, dass er sein kurzes hellbraunes Haar mit einem zurückgegelten Seitenscheitel trug. Er duftete nach warmer Haut und geschmolzener Butter, die sich in seinem Bart versteckt hatte.

»Du bist eine echte Glucke, Andreas.«

»Hallo? Ist da jemand schon früh am Morgen frech?«, erwiderte Andreas, klang aber nicht besonders empört.

»Ist doch wahr, Papa.« Sommer sprang ihrer Stiefmutter zur Seite.

»Ja, und? Ein richtiger Mann kann auch mal Glucke sein, stimmt’s, Victor?«

Victor war Sigrids Sohn aus einer früheren Beziehung, aber Andreas und er waren sich in den vergangenen acht Jahren sehr nah gekommen. Der Vierzehnjährige wirkte nicht ganz bei der Sache, aber vielleicht war er auch nur, wie so oft, sehr weise und hielt sich raus, wenn die Situation es erforderte.

»Whatever.« Victor schnappte sich seine Brotbox, warf seiner Mutter und seinem Stiefvater einen Luftkuss zu und ging in den Hausflur. Sommer folgte ihm, und kurz darauf liefen die Stiefgeschwister in dicken Daunenjacken und mit Schultaschen auf dem Rücken durch den Garten.

Die Küche war der beste Raum im Haus. Sie hatten zwischen einer schwammverseuchten Küche mit Laminatfußboden, einem fensterlosen Wohnzimmer und einem verfallenen Wintergarten vor der Terrasse die Wände rausgerissen, und jetzt stand der Esstisch, an den sich Sigrid setzte, vor großen Fenstern. Sie hielt ihren Kaffeebecher mit beiden Händen, als könnte die Wärme ihre Nervosität schmelzen lassen.

Andreas stellte ihr ein Stück frisch gebackenes, mit Butter bestrichenes Sauerteigbrot hin. Dann lehnte er sich gegen den Küchentisch und wartete auf ihr Urteil. Mit vollem Mund nickte sie.

»Saulecker!« Sie legte das Brot zurück auf den Teller. Sie war nicht besonders hungrig.

Andreas sah ihr beim Kauen zu.

»Ist es dir zu klitschig?«

Sigrid schüttelte energisch den Kopf.

»Auf keinen Fall. Das hat die beste Kruste, die ich je zwischen die Zähne bekommen habe.«

»Danke. Weniger ist manchmal mehr.« Er lächelte. Dann erlosch sein Lächeln. »Bist du bereit fürs Meeting?«

Sigrid hob die Augenbrauen.

»Das hoffe ich doch sehr.«

»Als Chefin von Amnesty muss man halt damit rechnen, hochengagierte Mitarbeiter zu haben«, sagte er.

Sigrid war sich da nicht so sicher. Sie war für neun Uhr zu einem Meeting mit der Generalsekretärin einbestellt worden. Es war unmöglich gewesen, aus der Mail ihrer Chefin herauszulesen, wie die Sigrids gestrigen Auftritt vor laufender Kamera aufgefasst hatte.

»Du kannst dich doch dafür entschuldigen und versprechen, dass es nie wieder vorkommt. Jeder kann doch mal ausflippen, wenn man mit so einem Thema zu tun hat?« Andreas sah sie liebevoll an.

Das war ihr Einsatz.

»Wenn es schiefgeht, hätte ich sogar ein Angebot für einen neuen Job.«

Andreas sah sie erstaunt an.

»Wie kann das sein? Nach gestern?«

»Echt jetzt? Das war doch wie ein Hilfeschrei nach einem neuen Job. Nein, ein alter Freund aus dem Studium ist vorhin bei der Badeanstalt aufgetaucht. Er wusste von Facebook, dass ich dort schwimmen gehe.«

Andreas hob kopfschüttelnd die Schultern.

»Der scheint echt verzweifelt zu sein.«

»Die brauchen jemanden mit meinem Profil.«

Sie wischte sich ein paar nicht vorhandene Brotkrümel vom Sweatshirt.

»Er ist Chef der Geschäftsentwicklung für NorCom und arbeitet in deren Dependance in Syrien.«

»In Syrien? Und was um Himmels willen hat das mit dir zu tun?«

»Du siehst doch, was im Mittleren Osten passiert – die Menschen in Tunesien und in Ägypten zeigen der Welt via Twitter und Facebook, was bei ihnen los ist. Offenbar fokussiert man sich in Sachen Corporate Social Responsibility jetzt auf die Telekommunikation.«

Andreas verzog das Gesicht. »Also, ich unterschreibe alles. Das ist richtig und gut. Aber war das bisher nicht so, dass die CSR nicht wirklich was mit Unternehmerischer Sozialverantwortung zu tun hat, sondern nur dazu dient, dass die Firmen mit der einen Hand den Ablass zahlen, um mit der anderen tun und lassen zu können, was sie wollen?«

»Er sagte, dass sie das unternehmerische Handeln neu denken wollen – die CSR neu aufstellen. Etwas verändern.«

»Und da kommst ausgerechnet du ins Spiel?«

»Man hat mich gebeten, mich für den Posten der stellvertretenden Geschäftsführerin in der Abteilung Soziale Verantwortung zu bewerben«, sagte sie. »NorCom will dem syrischen Volk Zugang zum Internet ermöglichen und sich in den Geschichten vom arabischen Frühling sonnen«, fügte sie ein bisschen zu schnell hinzu. »Obwohl Syrien davon nicht wirklich berührt ist. Aber sie werden es bestimmt nicht tun, ohne dass die Welt von ihren guten Taten erfährt.«

»Verzeih mir, aber darf ich noch mal zurückspulen? Du hast Syrien gesagt?«

»Damaskus. Drei Monate vor Ort, dann geht es zurück ins Büro nach Skandinavien.«

»Und was ist mit all der Kraft, Zeit und Energie, die du in Amnesty investiert hast?«

Sigrids Stimmung kippte.

»Ich habe sechs Jahre meines Lebens damit verbracht, Kommata in Gesetzesentwürfen zu verschieben, die niemals umgesetzt werden.«

Andreas’ Augen leuchteten.

»Wir könnten für eine Zeit lang in Stockholm leben?«

»Und du könntest bei der Zeitung aufhören und endlich dein Buch schreiben.«

»Und ich könnte dir das Gewächshaus bauen, das du dir für dein Altenteil wünschst.«

»Ein Gewächshaus wäre das Allergrößte«, sagte sie und musste lächeln. Er war sechsunddreißig und sie zwei Jahre älter. Bis zur Rente war noch ein bisschen Zeit.

»Ihr könntet mich dort unten besuchen kommen – nach der Hälfte der Zeit.«

Andreas nickte und schenkte Sigrid Kaffee nach. Seit sie alles umgestellt hatten und Andreas hauptsächlich für das Wohlergehen der Familie zuständig war, legte er großen Wert darauf, dass es allen gut ging. Als sie sich kennenlernten, war er Auslandskorrespondent für die große schwedische Tageszeitung Aftonbladet. Allerdings hatten sie ihm nie eine Festanstellung angeboten. Nachdem sie aus dem Mittleren Osten wieder nach Dänemark zurückgekehrt waren, hatte er sich verausgabt, um als Freiberufler genug zu verdienen. Als Sigrid dann den Posten bei Amnesty International bekam und feste Arbeitszeiten hatte, kümmerte hauptsächlich sie sich um die Kinder. Vor zwei Jahren wurde sie zur Leitenden Beraterin befördert, und die damit einhergehende Gehaltserhöhung erlaubte es Andreas, etwas kürzer zu treten. Er war ausgebrannt, träumte davon, nur noch Hausmann zu sein, mit bloßen Händen im Garten zu arbeiten und für Sommer und Victor da zu sein. So sah ihr momentaner Lebensentwurf aus, sie verdiente das Geld, er blieb zu Hause.

Andreas stellte die Kaffeekanne neben die Spüle. Plötzlich wich alle Farbe aus seinem Gesicht.

»Erinnerst du dich daran, was dir deine Psychologin gesagt hat?«, fragte er.

Sigrid spürte, wie sich eine Kälte in ihr ausbreitete. Es gab Nächte, in denen sie an nichts anderes denken konnte. An Angst und Schuld. An Schuld und Angst.

»Dass deine posttraumatische Belastungsstörung jederzeit durch ein Ereignis getriggert werden und zurückkommen kann?«, fuhr Andreas unbeirrt fort.

Sigrid suchte vergeblich nach einer unverfänglichen Antwort. Es war nicht leicht, ihm das zu erklären und gleichzeitig ihr Schuldgefühl verbergen zu müssen.

»Du verdienst das Geld für die Familie, ich weiß. Natürlich darfst du auch bestimmen, womit, aber …«

»Aber?«

»Ich weiß nicht.« Andreas schüttelte den Kopf. »Ich habe mir, ehrlich gesagt, Sorgen gemacht, als du in der Sendung so ausgeflippt bist.«

»Ich dachte, jeder kann doch mal ausflippen, wenn man mit so einem Thema zu tun hat?« Sigrid konnte kaum die Enttäuschung in ihrer Stimme unterdrücken. Sie stand auf und warf den Rest der Brotscheibe in den Mülleimer.

Andreas riss die Augen auf.

»Sigge! Hör auf!« Dann nickte er, wie er es immer tat, wenn er sich beruhigen wollte. »Ich muss dich das fragen. Findest du das unangemessen? Was ist, wenn sich die Unruhen dort unten nach Syrien ausbreiten?«

Sie gab nach. Räumte ein, dass er recht habe. Sie würde den Job nicht annehmen.

Andreas aber sah alles andere als erleichtert aus.

Sigrid wollte sich gar nicht ausmalen, welche Bilder durch seinen Kopf jagten.

Sigrid kauert zitternd vor Angst in der Ecke des Schlafzimmers, sie hat eine Flasche Wodka getrunken und sich in die Hosen gemacht.

Sie nahm ihn in die Arme.

»Ich kriege das bei Amnesty wieder hin.«

3

Die dänische Sektion von Amnesty International befand sich im obersten Stockwerk eines Backsteinhauses mit Aussicht auf das Gerichtsgebäude. Eine Tatsache, die Sigrid immer gut gefallen hatte, weil es daran erinnerte, dass die Organisation ins Leben gerufen worden war, um für die Rechtssicherheit der Menschen weltweit zu sorgen. Sie schloss ihr Fahrrad an den Ständer am Gammeltorv und überquerte die Vestergade, eine Straße mit vielen Nachtclubs und Bars. Sie war voller Müll, Zigarettenstummel und Flaschen, Sigrid stieg über zertretene Bierdosen und die Scherben einer Flasche Bacardí Breezer. Kopenhagen fühlte sich oft an wie eine Party, zu der man leider zu spät gekommen war. Sie tippte den Tür-Code ein und betrat den fast altersschwachen Holzfahrstuhl, der sie langsam und quietschend in den vierten Stock brachte.

Die Nervosität rauschte in Sigrids Ohren, und ihr gestriger Wutausbruch pochte hinter ihren Schläfen. Sie zerstören die Gesundheit zwölfjähriger Kinder für den Rest ihres Lebens, weil Sie nichts anderes interessiert, als billige T-Shirts zu verkaufen. Sie holte tief Luft und legte eine Hand auf ihren Solarplexus. Sie hatte Andreas versichert, dass sie alles unter Kontrolle hatte. Hoffentlich hatte sie sich nicht geirrt.

Noch war niemand da, sie hatte einen kleinen Vorsprung, obwohl Magnus’ unerwartetes Auftauchen ihre Morgenroutine durcheinandergebracht hatte. Sigrid warf ihre Tasche auf den Schreibtisch, setzte sich und wippte unruhig mit dem Fuß. War ihr Verhalten wirklich so schlimm gewesen?

Die Pressechefin hatte sie vor der Sendung gebrieft. Sie waren alle Fragen einzeln durchgegangen, damit sie für alle Eventualitäten eine strategische Antwort parat hatte. Was für Sigrid dasselbe war wie eine banale, gleichgültige Antwort – die den Kindern, die durch die Chemikalien der Textilindustrie schwere Schäden erlitten, kein bisschen half.

Warum auch hatte der Sender die beiden Gäste in demselben Raum untergebracht? Sie hatte in der Maske gesessen. Der plappernde Stylist war gerade dabei gewesen, Sigrids Sommersprossen mit einer Foundation zu übersprühen, als die Pressechefin des Textilunternehmens reinkam. Da sie ihren Kopf wegen des Spraymanövers in den Nacken gelegt hatte, konnte Sigrid sie nur aus dem Augenwinkel sehen. Langes, schimmerndes silbergraues Haar, schwarze Stilettos und einen Einwegbecher mit einer grünen Flüssigkeit. So kann das Böse also auch in Erscheinung treten. Das Böse telefonierte, offensichtlich in Unkenntnis, dass ihre Kontrahentin in der bevorstehenden Diskussionsrunde nur einen Meter entfernt saß. Oder sie wusste es ganz genau. Und setzte es ein. Das musste man ihr lassen: Wenn Letzteres zutraf, dann hatte es den erwünschten Effekt gehabt.

»Unsere Verträge sind wasserdicht, die können uns gar nichts«, sagte sie ihrem Gesprächspartner. Sigrid spitzte die Ohren, und das Böse plapperte ungebremst weiter. »Eine von den Menschenrechtsidioten aus der Policy-Abteilung. Irgendetwas mit Melin.« Die Frau hörte der Person am anderen Ende der Leitung zu. Dann ergriff sie wieder das Wort. »Selbstverständlich. Das ist nicht unser Problem, wenn die da drüben nicht mehr Stundenlohn zahlen können. Sie haben nichts gegen uns in der Hand. Was in Dhaka passiert, bleibt in Dhaka.« Die Pressechefin kicherte und beendete das Telefonat. Sie drehte sich in dem Augenblick um, als der Make-up-Artist seine Arbeit beendet hatte, und sah Sigrid ins Gesicht.

»Ups!«, entfuhr es ihr. Sie blinzelte.

Als sie ins Studio geführt wurden, war der Nachrichtensprecher gerade im Begriff, einen Live-Beitrag über den arabischen Aufstand in Kairo abzumoderieren. Er hatte über den Widerstand der Bevölkerung gesprochen und über den Polizeistaat, der mit voller Härte zurückschlug. Und über die Tausende von Menschen, die dem Regime trotzten und Freiheit forderten. Was hätte sie dafür gegeben, in Kairo zu sein und für die Menschenrechte zu kämpfen, als in dieser Sauna von Studio zu sitzen.

Die Frau mit dem silbernen Haar, das Böse, hatte den Vortritt.

»Wir schätzen die Arbeit von Amnesty International sehr und verstehen den Wunsch, verbindliche Richtlinien aufzusetzen, die alle Unternehmen vor Ort dazu verpflichten, die Menschenrechte auf ihre Tagesordnung zu setzen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die dänische Wirtschaft sich dieser Aufgabe längst verschrieben hat. Wir bei Brand Leader führen mehrmals im Jahr Kontrollen bei unseren Lieferanten durch. Wir übernehmen Verantwortung für unsere Geschäfte und benötigen keine Regierung als Babysitter.«

Der Moderator nickte und wandte sich Sigrid zu.

»Was sagt Amnesty International dazu? Ist die Wirtschaft nicht in der Lage, eigenverantwortlich zu handeln, ohne – wie Kirsten Engel es formulierte – die Regierung als Babysitter zu benötigen?«

Die rote Lampe der Kamera, die auf Sigrid gerichtet war, ging an. Die Hitze nahm zu. Sie spürte, wie der Schweiß zwischen ihren Brüsten hinunterlief.

Der Moderator wartete auf eine Antwort.

»Sigrid Melin?«

Wie bei einer Handgranate, die erst vier Sekunden nach Ziehen des Sicherheitsstiftes detoniert, dauerte es vier Sekunden, bis Sigrid in die Luft ging. Die verbale Munition, die sie vorbereitet hatte, hatte die Kraft einer Granate und schickte eine Druckwelle aus schweren Anschuldigungen gegen Kirsten Engel.

»Sie lassen Minderjährige in giftigen Gasen arbeiten. Kinder! In Fünfzehn-Stunden-Schichten. Sie zerstören die Gesundheit zwölfjähriger Kinder für den Rest ihres Lebens, weil Sie nichts anderes interessiert, als billige T-Shirts zu verkaufen. In wenigen Tagen wird Amnesty International eine Untersuchung über die Zustände in Ihrem Unternehmen vorlegen, Kirsten Engel. Dann wird allen einleuchten, warum wir auch hier in Dänemark Gesetze brauchen, die dafür sorgen, dass solche Unternehmen wie Brand Leader bestraft werden.«

Ihr Mund war trocken, sie trank ihr Glas Wasser in einem Zug leer. Dann griff sie nach dem Glas des Nachrichtensprechers, der überrascht die Augen aufriss. Kirsten Engel nahm reflexhaft ihr Glas an sich. Dieses Detail hatte die Zuschauer in den Sozialen Medien besonders amüsiert.

Kirsten Engel ging wütend zum Gegenangriff über.

»Sie haben nicht die geringsten Beweise.«

»Aber bald.«

Es wurde mucksmäuschenstill im Studio. Der Moderator begann, nervös mit einem Kugelschreiber zu klicken.

»Das sind schwere Vorwürfe. Können Sie bestätigen, dass Amnesty International noch keine Belege für die Anschuldigungen hat, die Sie hier heute erheben?«

Auf Kirsten Engels Gesicht breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. Effektiver hätte sie ihre Widersacherin selbst nicht diskreditieren können.

Sigrid hatte vor laufender Kamera die Nerven verloren.

4

Sigrid wollte auf jeden Fall vor ihren Kollegen im Büro zu sein, um sich für deren Fragen, was in der Nachrichtensendung passiert war, zu wappnen. Die Wartezeit aber war unerträglich. Vielleicht würde frischer Kaffee helfen, bis Marianne Sabroe auftauchte.

Als sie aber die Gemeinschaftsküche betrat, stellte sie verunsichert fest, dass die Generalsekretärin schon an der Kaffeemaschine stand. Der große Raum sollte den Mitarbeitern die Möglichkeit bieten, hier in Ruhe ihre Brote zu essen. Die meisten aber aßen an ihren Schreibtischen vor dem Computer. Der Kaffeevollautomat hatte deshalb die Funktion des Dorfangers übernommen. Ein sozialer Treffpunkt, wo man im Laufe eines neun- bis zehnstündigen Arbeitstages ein nettes Wort mit den Kollegen wechseln konnte. Aber Marianne sah nicht aus, als hätte sie das vor.

»Guten Morgen, Sigrid.« Kein Lächeln.

»Guten Morgen, Marianne. Du bist aber früh dran heute.«

Ohne zu antworten, goss Marianne Kaffee in zwei Becher mit dem Amnesty-Logo, eine brennende, mit Stacheldraht umwickelte Kerze. Einige der jüngeren Kollegen hatten sich sogar ein Tattoo mit dem Logo stechen lassen.

»Wie trinkst du ihn? Nimmst du Milch?«

»Danke. Aber ich hatte schon Kaffee.«

Wortlos bekam Sigrid einen Becher in die Hand gedrückt.

»Ich gehe davon aus, dass du dich erklären willst?«, sagte Marianne.

Sigrid nickte stumm und folgte ihrer Chefin aus der Kaffeeküche.

Die Generalsekretärin hatte bei ihrem Amtsantritt vor einem Jahr das schöne Eckzimmer angeboten bekommen, mit Blick auf den Platz und die grünen Kupfertürme der Vor Frue Kirche. Aber sie hatte dankend abgelehnt. Stattdessen hatte sie dafür gesorgt, dass sie und alle Mitarbeiter in einem Großraumbüro zusammenarbeiteten. Wenn einen nur protzige Aussichten und schicke Essenseinladungen zu Höchstleistungen anspornten, dann hatte man nichts bei Amnesty International zu suchen, war Marianne Sabroes Überzeugung. Das hatte Sigrid schwer imponiert.

Was sie allerdings irritierte, war, dass die Generalsekretärin ihre Führungsrolle als ein persönliches Martyrium zu verstehen schien. Und Mariannes stechende Augen und der kleine spitze Mund machten das alles auch nicht besser. Sie sah aus wie ein beleidigter Vogel in einem Zeichentrickfilm.

Bevor die Stelle an Marianne Sabroe herangetragen wurde, hatten sie Sigrid aufgefordert, sich auf den Posten zu bewerben. Aber sie wollte nicht. Sie wollte ihre Mission, ihren Auftrag, nicht dafür verkaufen, Unternehmen für ihre Missachtung der Menschenrechte zur Rechenschaft zu ziehen – sie wollte keine Frühstücksdirektorin werden. Wahrscheinlich wusste Marianne gar nicht, dass Sigrid die erste Wahl des Vorstands gewesen ist. Wenn sie es allerdings wusste, hätte es jetzt bestimmt keine Bedeutung mehr.

Sie setzten sich auf die gelben zerschlissenen Ikea-Sofas, die am Fenster standen.

»Wie lange bist du schon in der Abteilung Business and human rights?« Die Frage war rhetorisch, vollkommen surreal und absurd.

Sigrid konnte nicht abschätzen, wie umfangreich und vernichtend die Zurechtweisung werden würde. Oder wie sie den merkwürdig feierlichen Unterton ihrer Chefin deuten sollte.

»Ich bin seit sechs Jahren dabei.«

»Und wie lange haben die UN und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit daran gearbeitet, sich auf die Richtlinien zu einigen, die sie bei der Konferenz in London letzte Woche vorgelegt haben?«

Sigrid musste sich zwingen, freundlich zu antworten.

»Seit den Neunzigern.«

»Und welche Position nimmt Amnesty der Wirtschaft und dem Wirtschaftsministerium gegenüber ein?«

»Marianne, worauf soll das hier hinauslaufen?«

Ihre Vorgesetzte lächelte angestrengt.

»Ich möchte dich bitten, meine Frage zu beantworten.«

Sigrid lächelte unterkühlt.

»Wir sind angehalten, den Unternehmen ein offenes Ohr zu schenken. Es ist wichtig, dass wir ein guter Gesprächspartner für sie sind. Sonst wird die Regierung nicht auf uns hören, wenn wir mit einem Gesetzesentwurf an sie herantreten.«

Marianne Sabroe nickte. Wenn die Generalsekretärin wütend wurde, senkte sie ihre Stimme. Vielleicht sollte das versöhnlich wirken, aber in Wirklichkeit klang sie nur beleidigt.

»Für wie clever ist vor diesem Hintergrund deine Entscheidung zu halten, in den Hauptnachrichten zu sitzen und ein großes, dänisches Unternehmen direkt anzugreifen? Ohne den geringsten Beweis für deine Kritik? Unsere Fälle müssen wasserdicht sein – wir erheben nur Vorwürfe, wenn wir uns absolut sicher sind. Wenn wir endlich eines Tages einen Gesetzesentwurf vorlegen können, was nützt uns der dann, wenn du vorher alle Unternehmer des Landes vor den Kopf gestoßen hast?«

»Das weiß ich alles, Marianne. Aber die Kinder in Bangladesch können nicht noch zehn Jahre lang darauf warten, dass die Politiker endlich handeln.«

Marianne schüttelte resigniert den Kopf.

»Amnesty International genießt großen Respekt, gerade weil wir nicht darauf aus sind, schnelle Siege einzufahren. Es ist weiß Gott schwer genug, Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen, auch ohne Mitarbeiter, die in Sendungen die Leute anbrüllen, die wir für uns gewinnen wollen. Politiker und Vorstände hören auf uns – weil wir glaubwürdig handeln und uns an rechtsstaatliche Prinzipien halten.«

Dem war kaum etwas entgegenzusetzen. Aber es gab nun mal Situationen, in denen man sein Wort erheben musste. Vor allem, wenn das Leben und die Gesundheit von Kindern auf dem Spiel standen.

»Es ist mit mir durchgegangen.«

»Ich habe die Schäden gesehen, von denen du sprichst. Es ist menschlich nur zu verständlich, wütend zu werden«, sagte die Generalsekretärin und stellte ihren Becher ab.

Sigrid rieb ihre schwitzigen Handflächen an der Hose ab. Hoffentlich war das hier bald vorbei.

»Gut, also ich muss noch ein paar Mails schreiben, bevor die in Dhaka Feierabend machen.« Sie nickte zu ihrem Arbeitsplatz, aber Marianne ignorierte sie.

»Ich muss dir leider mitteilen, dass dieses Gespräch eine Abmahnung ist. Du bekommst sie im Laufe des Tages auch noch schriftlich.«

Sigrid erstarrte.

»Es gibt keinen anderen Weg.« Mariannes Tonfall war überraschend leicht, es schien ihr nicht besonders leid zu tun. Oder suchte sie nur einen Weg, um eine unliebsame Konkurrentin auszuschalten?

Sigrid ließ die Moralpredigt, die folgte, stumm über sich ergehen. Was würde die dänische Wirtschaft – ganz zu schweigen vom Wirtschaftsminister – zu der Angelegenheit sagen? Im schlimmsten Fall würde der konstruktive Dialog abbrechen, den sie mit den Unternehmen aufgebaut hatten. Mariannes Redeschwall wurde von einem sanften Popsong unterbrochen. Sie sah auf ihr Handy, dann auf Sigrid.

»Das Ministerium. Ich muss da rangehen. Du hast verstanden, was ich gesagt habe?«

Sigrid stand mit ihrer Vorgesetzten zusammen auf.

»Kannst du kurz dranbleiben?«, fragte diese den Anrufer. Dann teilte sie Sigrid mit, dass sie gemeinsam mit der Pressechefin ein Medium aussuchen sollte, in dem sie sich öffentlich für ihr unmögliches Verhalten entschuldigen könnte. Sie würde erneut Stichworte vorgelegt bekommen. Marianne forderte sie auf, sich dieses Mal auch daran zu halten. Damit ließ Marianne sie stehen und widmete sich wieder mit schmeichelnder Stimme ihrem Gesprächspartner.

Sigrid sah aus dem Fenster und blinzelte in die tiefstehende Februarsonne, die den weiten Weg bis zu den roten Dachfirsten der Stadt geschafft hatte. Ihre Chefin wollte sie loswerden. Und Sigrid hatte ihr mit Seidenband und Schleife den perfekten Anlass dafür geliefert.

 

Den Rest des Tages verbrachte sie damit, auf ihren Monitor zu starren. Erst als es dunkel wurde und das Büro sich geleert hatte, verließ auch sie ihren Arbeitsplatz. Sie atmete die eiskalte Luft tief in ihre Lungen und stellte fest, dass es wieder angefangen hatte zu schneien. Eine dicke weiße Schicht hatte sich über die Stadt gelegt. Der Schnee ließ Sigrid wehmütig an die weißen Winter ihrer Kindheit denken.

Ohne auf die Zeit zu achten, schob sie ihr Fahrrad nach Hause, wählte einen Umweg. Sie war durchgefroren und nass, als sie kurz nach halb acht das Haus betrat und Hallo rief. Neben der Eingangstür lagen zwei Holzschlitten im Schnee. Drinnen duftete es nach Mandarinen und Kakao.

»Wir waren Schlitten fahren!« Victor hatte nasse Haare und rote Wangen. »Warum hast du nicht auf meine Nachrichten geantwortet?«

Verwundert holte Sigrid ihr Handy aus der Jackentasche. Zwölf neue Nachrichten. Die meisten von der Arbeit. Zwei von Victor. Eine von Andreas, der fragte, wie es gelaufen war.

»Entschuldige, mein Schatz. Ich war den ganzen Tag in Besprechungen«, log Sigrid. »Und ich hatte mein Handy auf lautlos gestellt.«

»Okay.« Victor runzelte die Augenbrauen.

Sigrid nahm sich eine Mandarine aus der Schale, damit die anderen nicht sehen konnten, wie sehr sie zitterte.

»Und, wie ist es gelaufen?« Andreas musterte sie vorsichtig.

»Wir wollen ein FIFA-Turnier spielen. Machst du mit?« Sommer sah Sigrid fragend an, die die unbeantworteten Nachrichten als Ausrede benutzte, aber dann die Andeutung eines Versprechens gab, später dazuzustoßen.

Das Badezimmer im Keller stammte noch aus den siebziger Jahren und war mit lila Kacheln gefliest. Bis heute hatten es die Renovierungsarbeiten noch nicht erreicht. Mittlerweile war es Sigrids Refugium. Während das Wasser in die Badewanne lief, stand sie mit geschlossenen Augen daneben. Von oben drangen die gedämpften Laute der PlayStation und ihrer Benutzer durch die Dielen. Sommer jubelte, Victor fluchte und Andreas lachte. Nichts würde sie lieber tun, als nach oben zu gehen und sich ein unterlegenes Fußballteam auszusuchen. So wie sie es immer tat, weil sie ihr leidtaten und niemand mit ihnen spielen wollte. Es endete immer gleich, sie wurde von den Topclubs in Grund und Boden gespielt. Ihr ganzer Körper zitterte, und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Für die meisten wäre es am Ende nur ein Job. Aber für Sigrid war das nicht so einfach.

Plötzlich tauchte Reem in ihren Gedanken auf, obwohl sie schon so lange nicht mehr an sie gedacht hatte. Und auch nicht an das, was sie beide getan hatten. Das verfolgte sie wie ein giftiger Schatten. Ob Reem noch in Damaskus war?

Ob sie auch unter Albträumen litt?

Sigrid schälte sich aus ihren nassen Klamotten und blieb einen Augenblick nackt stehen. Kalte Haut. Gänsehaut. Der Tag war eine einzige Katastrophe gewesen. Es fühlte sich an, als wäre sie um Jahre zurückgeworfen worden im Wettlauf mit ihrem Schuldgefühl. Die Ziellinie rückte von Mal zu Mal weiter weg. Sie wollte nur eins. Büßen. Dafür büßen, was damals geschehen war.

Langsam ließ sie sich in das heiße Wasser gleiten. Tauchte auch den Kopf unter die Oberfläche, alle Geräusche wurden gedämpft. Dann ließ sie los, und alles löste sich auf, was sie so angestrengt zusammengehalten hatte.

März 2011

5

Das Hauptquartier von NorCom hatte ein preisgekröntes Architekturbüro entworfen, das Sigrid aus einem Magazin über Skandinavisches Design kannte. Das Telekommunikationsunternehmen residierte am Stadtrand von Stockholm, wo sie am Vormittag gelandet war. Sie hatte sich freigenommen. Nur Andreas wusste, dass sie in Schweden war. Er hatte sich darüber gefreut, dass sie die Gelegenheit für das Meeting nutzte. Allerdings interessierte ihn vor allem das Finanzielle. Wenn Sigrid das Doppelte verdienen würde, könnte er nämlich kündigen und endlich dieses Buch schreiben. Aber seine Begeisterung war ambivalent – ihre auch. Niemand konnte vorhersagen, ob der arabische Aufstand auf Syrien übergreifen würde.

Es hatte etwas Befreiendes, nicht im Büro zu sein. Ihre Kollegen schlichen um sie herum, eine unausgesprochene Warnung lag auf ihrem Tisch. Noch unberührt.

In der Welt der NGOs gab es nichts Schlimmeres, als von einem großen Unternehmen vereinnahmt zu werden. Denn das bedeutete, dass man moralisch von der übermächtigen, bösen Wirtschaft manipuliert wurde. Viele Telekommunikationsunternehmen verwendeten Materialien aus Konfliktregionen bei der Produktion, veredeltes Metall aus der Demokratischen Republik Kongo, und finanzierten auf diesem Weg den Bürgerkrieg im Land. NorCom aber hatte auf dem Nachhaltigkeits-Index die besten Bewertungen. Sie hatten früh damit begonnen, Lieferketten zu etablieren, an denen es nichts auszusetzen gab. Das hatte Sigrid natürlich überprüft. Aber sie war nicht unbefangen, als sie das Hauptquartier betrat, das eher wie in ein biozertifiziertes Spa aussah als wie ein börsennotiertes Unternehmen.

Ein Assistent aus der Personalabteilung, mit blonden, gegelten Haaren und viel zu engem Anzug, empfing sie und begleitete sie auf einem kurzen Rundgang durch NorComs Herrlichkeiten: Solarzellenanlagen, grüne Pflanzenbiotope und Schreibtische, die nach Arbeitsende automatisch an Stahlseilen unter die Decke gezogen wurden.

»Den Feierabend soll man zu Hause verbringen mit seiner Familie. Man kann aber auch seine Kinder in unser Fitness- und Spaßcenter einladen. Dort gibt es Videospiele, Tischtennis und Billardtische«, erklärte er. »Auch für Menschen mit Behinderungen.«

»Die politische Korrektheit ist in Schweden zu einer Religion geworden, oder?«, erwiderte Sigrid.

Der Assistent zuckte mit den Schultern. Die Äußerung einer unterbezahlten, dänischen NGO-Mitarbeiterin in einem Anzug von H&M ließ ihn kalt, bemerkte Sigrid und lächelte.

Der junge Schwede nutzte diesen kleinen Riss in ihrem Panzer.

»Ja, darauf sind wir auch sehr stolz. Ich sollte an dieser Stelle nicht Nokia zitieren, aber we are in the business of connecting people. Alle wollen online sein.« Abrupt blieb er stehen. »So, da sind wir auch schon.«

Das Messingschild auf der Eichentür verriet, dass sich dahinter Göran Wolgers befinden würde, der Geschäftsführer von NorCom.

»Sind Sie sicher? Gleich beim ersten Gespräch zum Chef?«, fragte Sigrid verwundert.

»Wir haben drei Monate lang erfolglos Bewerbungsgespräche geführt.«

»Meinen Sie, es ist klug, mir das zu erzählen?«

»Sie sehen aus, wie jemand, der sich verlaufen hat. Vielleicht ist das die beste Voraussetzung.«

Sigrid bat um einen Moment, um sich zu fassen. Dieser Job machte ihr Angst, denn sie wollte ihn unbedingt.

 

Die Strategie, die NorCom in Syrien verfolge, sei erst der Anfang, erläuterte Hannah Svensson. Sie war die stellvertretende Pressechefin. Als eines der führenden Telekommunikationsunternehmen Skandinaviens fühlten sie sich verpflichtet, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

»Unser Glaubenssatz ist in etwa so: It’s a human right to be online«, sagte sie mit dem charakteristischen, weichen »j« der Schweden für den Anfangsbuchstaben von human.

Das klang fast zu einfach, um wahr zu sein. Aber Sigrid gefiel die Absicht, die dahintersteckte. Als Lobbyistin für Amnesty International hatte sie gelernt, dass Unternehmen und Investoren – wie Warren Buffett und Bill Gates – das Leben vieler Menschen verändern konnten, wenn sie wollten. Weitaus effektiver als viele der NGOs.

Das war einer der Gründe, warum sie gekommen war.

Während Hannah Svensson sprach, schielte Sigrid zu Göran Wolgers rüber. Er hatte bisher noch nichts weiter gesagt, außer einem neugierigen Willkommen beim Händeschütteln. Als er den Blick hob und sie ansah, drehte sie schnell den Kopf weg.

Svensson kam langsam zum Punkt: »Ihre fachliche Kompetenz und Erfahrung und Ihre Kenntnisse über die Levante machen Sie besonders interessant für uns. Erzählen Sie uns doch bitte, wie Sie die Aufgabe angehen würden, für NorCom eine Strategie für eine Unternehmerische Sozialverantwortung zu entwickeln.«

Sigrid verschränkte die Arme. Sie war sich ihres Fehltritts vor laufender Kamera durchaus bewusst und wählte ihre Worte mit Bedacht. Sie entschied sich dafür, offensiv vorzugehen. Zunächst nickte sie Hannah Svensson respektvoll zu, dann wandte sie sich direkt an Göran Wolgers.

»Wenn ich ehrlich sein soll, und ich finde, das sollte man immer sein – beschäftigt mich gerade vielmehr, wie Sie für mich interessant sein könnten.«

Der Personalchef, langes graues Haar, Rollkragenpullover, sah aus wie ein dressierter Hippie. Er hatte die ganze Zeit stumm zugehört, jetzt entfuhr ihm ein abfälliges Schnauben.

»Traditionellerweise sind wir diejenigen, die die Fragen stellen«, belehrte er sie.

Göran Wolgers setzte sich seine Lesebrille auf. Die Hand, in der er einen Stapel Papiere hielt, wedelte dem Personalchef mit einer Geste zu, die ihm sagte, dass er sich nicht einmischen sollte. Der oberste Geschäftsführer von NorCom war ein gemütlich aussehender Mann Mitte fünfzig, der in seinem Outfit aus Jeans, Hemd und graumeliertem Vollbart eher wie ein Gymnasiallehrer aussah. Auf den ersten Blick dachte man nicht, dass man den Vertreter eines der wohlhabendsten Unternehmen des Landes vor sich hatte. Kleine Hinweise deuteten auf seinen Reichtum – die Lesebrille von Cartier zum Beispiel. Er war ein Mann von Welt, der seine Macht und seinen Einfluss herunterspielte. Offensichtlich aber hatte er Gefallen an Sigrid gefunden.

»Wir kennen Ihren Werdegang. Wir wissen, was Sie können. Deshalb haben wir auf Anraten unseres Chefs der Geschäftsentwicklung – ach so, stimmt ja, Sie kennen sich bereits – also auf Magnus’ Anraten haben wir Sie eingeladen. Ihr – sagen wir mal – leidenschaftlicher Auftritt im dänischen Fernsehen hat uns vor allem gezeigt, wie engagiert Sie in Sachen Menschenrechte sind. Ich kann nicht leugnen, dass wir gerne von Ihren politischen Überzeugungen profitieren und damit in Verbindung gebracht werden wollen. In Syrien wird demnächst eine neue Telekommunikationslizenz vergeben. Und wir wollen, dass Sie ab April in Damaskus sind.«

Sigrid registrierte den Blick, den der Personalchef und Hannah Svensson wechselten.

Göran Wolgers stand auf und stellte sich vor eine digitale Weltkarte an der Wand. Dünne Striche verbanden Stockholm mit allen großen Metropolen, die Karte sah aus wie das Streckennetz einer Fluggesellschaft.

In Sigrid brach sofort Reisefieber aus.

Göran Wolgers ließ sich nicht von der unverhohlenen Skepsis seiner Mitarbeiter abhalten, die den nahtlosen Übergang von Bewerbungsgespräch zu Jobangebot ungläubig verfolgten.

»Die heutige Informationstechnologie eröffnet Millionen von Menschen ungeahnte Möglichkeiten. Sie fördert offene Gesellschaften und die Demokratie. Sehen Sie sich doch nur einmal an, was für eine Bedeutung der Mobilfunk, das Internet und die sozialen Medien in Ägypten allein im letzten Monat für den Arabischen Frühling hatten.«

Er schaltete den riesigen Bildschirm an. Zu sehen waren Handyaufnahmen der Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo.

»Plötzlich konnten sich normale Leute organisieren und gegen das autokratische Regime demonstrieren. Mit dem Handy als Waffe. Wie hätten uns die jungen Frauen und Männer, die in den Diktaturen dieser Welt ihr Leben riskieren, ohne Facebook, Twitter und YouTube über die Ereignisse in ihrem Land berichten können? Ohne Mobilfunk und Internet wäre es wohl kaum zum Sturz der Regierung gekommen. Und jetzt schwelt der Widerstand in Syrien, heißt es. Wir wollen für sie da sein, wenn es losgeht.«

Sigrid hatte die Verschränkung ihrer Arme gelöst.

Göran Wolgers hatte das bemerkt und lächelte.

»Wir bieten Ihnen die Gelegenheit, der Demokratie im Mittleren Osten den Weg zu bereiten.«

 

Magnus stand im Flur vor einem Panoramafenster mit Blick über Stockholm. Eine zarte Frühlingssonne kämpfte sich durch die Wolkendecke. Sigrid stellte sich neben ihn, schloss die Augen und genoss die Sonne auf ihrem Gesicht.

»Willkommen an Bord«, sagte er, ohne seinen Blick abzuwenden.

»Was meinst du damit?«

Magnus’ unerschütterliche Selbstsicherheit provozierte Sigrid, denn sie war noch voller Zweifel.

»Ihr steht auf sehr dünnem Eis. Syrien hat zwar seine Tore geöffnet, um ausländische Unternehmen ins Land zu lassen. Aber sie unterliegen nach wie vor gewaltigen Sanktionen. Es gibt keine Aussichten für freie Wahlen. Und ohne Richtlinien für die unternehmerische Sozialverantwortung eures Ladens ist es …«

»Aber dafür wirst du doch jetzt zuständig sein.« Magnus neigte seinen Kopf zur Seite und lächelte. Aber dieses Mal konnte Sigrid ihm widerstehen.

»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher.«

Magnus stieß ihr den Ellbogen in die Seite.

»Aua, was soll das?«

»Was ist denn mit dir passiert? Früher warst du viel lustiger.« Er sah sie besorgt an. »Sechs Jahre bei Amnesty, kein Wunder. Da kann man schon mal depressiv werden. Immer diese schrecklichen Berichte über Ungerechtigkeiten. Das ist nicht leicht, kann ich mir vorstellen.«

Dann nickte er mit dem Kopf zu Göran Wolgers’ Büro.

»Aber er ist cool, oder? Obwohl er Schwede ist.« Dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ach, natürlich. Du magst die Schweden ja. Aber gib zu, dass es sich super anhört.«

»Natürlich tut es das. Kein Wunder, schließlich gehört ihr einer Branche an, die bekannt dafür ist, Blutdiamanten zu schürfen und Milliardenverträge mit Pandablut zu unterzeichnen.«

»Hey, erste Anzeichen von Humor!« Er schüttelte energisch den Kopf. »Ich kenne dich, Sigrid. Du hättest niemals auch nur einen Fuß in dieses Gebäude gesetzt, wenn du den Job nicht wollen würdest.«

Sigrid spürte einen Druck auf der Brust, das lief alles zu glatt für ihren Geschmack. Sie holte Luft, um seine Hoffnung zu zerschlagen, als er, ohne es zu wissen, seinen größten Trumpf ausspielte.

»Apropos, erinnerst du dich noch an Reem – Reem von der Uni?«

Schlagartig wurde Sigrids Mund staubtrocken. Sie konnte nicht sprechen.

»Reem Nemir?«, sagte Magnus und sah sie fragend an. »Wart ihr nicht ziemlich gute Freundinnen damals? Sie hat jetzt ihre eigene Sicherheitsfirma da unten. Sie und ihre Leute sind für unsere Sicherheit vor Ort zuständig.«

6

Natürlich hatte Sigrid das Abendessen vergessen. Und dann ausgerechnet mit diesem Paar!

Als sie zu Hause ankam, musste sie geduckt durch die Küche laufen, weil kreuz und quer Schnüre gespannt waren, auf denen selbstgemachte Lasagne-Platten zum Trocknen hingen. Auf dem Herd köchelte Andreas’ berühmtes Sugo vor sich hin. Der Koch war nirgendwo zu sehen, deshalb schenkte sie sich großzügig einen Rotwein ein. Sie schwenkte das Glas und hoffte, dass ihre grübelnden Gedanken in der dunkelroten Flüssigkeit verschwinden würden. Der Wein war schwer und intensiv im Geschmack, ein besonderer Tropfen, der für eine besondere Gelegenheit aufgehoben wurde. Sigrid entspannte sich langsam. Aber Magnus’ Worte arbeiteten in ihr weiter, mehr als ihr lieb war.

Andreas kam in die Küche geschlichen und gab ihr einen Kuss in den Nacken. Sie seufzte, während er sich ebenfalls ein Glas einschenkte.

»Und, wie ist es gelaufen?« Sein Blick fiel auf das Etikett der Flasche. »Barolo?! Hast du schon zugesagt?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte sie abwehrend und wich zurück.

»Aber du wirst zusagen?«

Es sah aus, als würde der Gedanke daran ihn mit voller Wucht überfallen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass er doch so sehr dagegen war.

»Nein, überhaupt nicht. Meine Zweifel werden eher immer größer.«

Er sah in sein Glas. »Du kannst immer noch die Abmahnung von Amnesty unterschreiben und bleiben. Du hast den Job noch.«

Sigrid schüttelte den Kopf.

Andreas trank einen großen Schluck.

»Okay. Ich habe keine Lust, jetzt darüber zu sprechen.« Er fing an, die Lasagne-Platten von der Leine zu nehmen.

»Warum hast du eigentlich Ines und Kasper zum Essen eingeladen?«

»Ähm, weil das unsere Nachbarn sind? Und weil wir mal dran waren.«

Ines hatte ihnen damals den Tipp gegeben, dass das Haus zum Verkauf stand. Andreas kannte sie aus seiner Zeit als Kriegsreporter, als er die dänische Armee in Basra begleitete und den ganzen Tag mit einer schusssicheren Weste herumrannte, auf der in großen Lettern PRESS stand.

Irak.

Der Brennpunkt der Welt, an dem Sigrid und Andreas sich kennengelernt hatten. In einer Zeit voller Geheimnisse. Wie eine Antwort auf die schwarzen Löcher des Universums.

Sie spürte, wie die Röte in ihre Wangen stieg. Sie würde zu gerne jetzt darüber sprechen. Über die Abmahnung, das Jobangebot, ihre Angst. Und über Reem und das Schreckliche, von dem er nichts wusste.

Andreas verkündete, dass die Gäste gleich kommen würden. Dann rief er nach Victor, der offenbar versprochen hatte, ihm bei der Béchamelsoße zu assistieren. Das war auch eine wirkungsvolle Methode, ein Gespräch zu beenden.

Ines Garder und ihr Mann Kasper Bertelsen arbeiteten als Operateure beim Nachrichtendienst, eine etwas langweilige Bezeichnung für Spion. Die beiden hatten allerdings nichts Langweiliges an sich, sie nahmen am Küchentisch Platz, und während der edle italienische Tropfen in den großen Weingläsern atmete, deckten die Gastgeber den Tisch. Im Hintergrund lief Disintegration von The Cure, und Wochenendstimmung legte sich über die Runde.

Ines hatte eine eher androgyne Figur, dunkle, kurze Locken und trug nur Weiß, Dunkelblau und Lippenstift. Dadurch sah sie aus wie eine Femme fatale aus einem Film noir mit einem einzigen scharlachroten Farbtupfer. Kasper war ein ehemaliger Offizier, immer glatt rasiert und durchtrainiert. Er war in Sigrids Alter, also etwa fünf bis sechs Jahre älter als seine Ehefrau. Er war nicht so gut aussehend wie Andreas, ruhte aber mehr in sich. Er war unverkrampft und redete gern und viel, hörte erst auf, wenn man ihn unterbrach. Das fand Sigrid besonders charmant an ihm. Ines hingegen beobachtete lieber, anstatt zu reden. Das nervte Sigrid wahnsinnig, aber Andreas zuliebe ließ sie sich das nicht anmerken.

Andreas und Ines waren sehr vertraut miteinander, und Sigrid hoffte, dass das ausschließlich mit ihrer gemeinsamen Zeit in Basra zu tun hatte. Der Irak war ein heißes Pflaster. Wenn Andreas damals für den Nachrichtendienst gearbeitet haben sollte, hatte er sich in Sigrids Augen in diesem Krieg auf die falsche Seite gestellt. Natürlich wurde darüber nie auch nur ein Wort verloren, wenn die vier gemeinsam am gedeckten Tisch saßen.

Beim Essen führte überraschenderweise Victor das Wort. In der Schule hatte er die Geschichte von ein paar syrischen Jungen in seinem Alter aufgeschnappt, die festgenommen worden waren, weil sie Graffiti an eine Mauer im syrischen Daraa gesprayt hatten. Als ihre Eltern ihre Kinder bei der Dienstwache abholen wollten, soll der Polizeichef gesagt haben, dass die Frauen allein kommen sollten, dann würden sie schon dafür sorgen, dass es bald ordentlichen Nachwuchs gäbe. Das Verbrechen, das den Jungen vorgeworfen wurde, bestand lediglich darin, dass sie zwei Schriftzüge an eine Wand gesprayt hatten. Der eine lautete Freiheit, der andere Du bist als Nächstes dran, Doktor.

Victor hatte viele Fragen zum Arabischen Frühling und zum syrischen Diktator Assad, der Augenarzt war, bevor er seinen Vater an der Spitze der Regierung ablöste. So erklärte sich auch der Spitzname, den die Sprayer benutzt hatten.

»Die sagen, dass sie hundertprozentig gefoltert werden!« Victor fuchtelte aufgebracht mit seiner Gabel, Tomatensoße flog durch die Luft. Sommer war diese Woche bei ihrer Mutter, deshalb saß Sigrids Sohn allein zwischen vier Erwachsenen, die ihn alle zärtlich und nachsichtig ansahen. Sigrid unterdrückte den Impuls, ihm die Soße vom Kinn zu wischen. Sie hatte von diesem Zwischenfall gelesen, so wie die anderen auch, aber Victors Entsetzen und Empörung, als Vertreter einer anderen Generation, hatte eine andere Qualität.

Sie unterhielten sich eine Weile über die Jasmin-Revolution in Tunesien, den Sturz der Diktatoren und die wilden Szenen aus Ägypten, die um die Welt gingen. Die Demonstrationen hatten sich ausgebreitet, in den Iran, den Jemen, als ob die ganze arabische Welt Morgenluft geschnuppert hätte.

»Mama, wenn du nach Syrien gehst, dann hoffe ich, dass du ihn aufhalten kannst. Das ist so ein Doofmann – der quält Kinder«, sagte Victor und schob sich eine Gabel Lasagne in den Mund.

Wie auf Kommando legten Andreas, Ines und Kasper ihr Besteck hin.

»Syrien?« Kasper reagierte als Erster.

Sigrid griff nach der gerade geöffneten Weinflasche und schenkte allen ein.

»Sigrid hat ein Angebot von NorCom bekommen, für deren Büro in Damaskus zu arbeiten«, sagte Andreas.

»Ich glaube, da brauche ich noch ein paar mehr Infos«, sagte Kasper grinsend.

Andreas und Sigrid sahen sich an, sie konnte seinen Blick nicht deuten. Wenigstens hatte sie jetzt die Gelegenheit, ihre Entscheidung zu erläutern, ohne Gefahr zu laufen, dass er das Gespräch beendete. Aber war es das, was sie wollte? Sie war sich darüber noch längst nicht im Klaren.

Andreas nahm einen Schluck Wein.

»Sie wird dabei sein, wenn NorCom überall in Syrien neue Telefonmasten aufstellt.«

»Nur fürs Protokoll: Ich habe noch nicht zugesagt.«

Ines und Kasper sahen sie fragend an, und Sigrid bemühte sich, den beiden einen kurzen Einblick in die soziale Nachhaltigkeitsstrategie der Firma zu geben, für die sie dann zuständig wäre.

Kasper lehnte sich ein Stück vor.

»Ich will ja nicht allzu neugierig wirken, aber hat das hier etwas mit deinem … neuen Promistatus zu tun, den du seit deinem Auftritt in den Nachrichten hattest?«

Sigrid war ihm sehr dankbar für die konstruktive Auslegung ihres Fauxpas, und sie musste laut loslachen, was alle anderen am Tisch ansteckte.

»Meine Mutter ist viral gegangen«, sagte Victor und erhob sein Colaglas, um anzustoßen. Die Erwachsenen taten es ihm mit ihren Weingläsern nach.

»Meine Chefin bei Amnesty ist von meinem neuen Promistatus, wie du es nennst, nicht so begeistert«, sagte Sigrid, trank den Wein aus und schenkte sich erneut welchen ein. Dieser Schluck schmeckte sauer und brannte im Magen, sie sollte eine Pause einlegen. Wasser trinken oder zumindest etwas anderes als Wein.

»Das kann ich gut verstehen. Du stiehlst ihr das Rampenlicht.« Kasper sah sie besorgt an.

Sigrid schielte zu der unterkühlten Diva an seiner Seite. Ines’ braune Augen hatten einen sonderbaren Glanz bekommen, den sie unmöglich deuten konnte.

Mit einem Seitenblick auf Victor wollte Sigrid Kasper andeuten, dass Kinder anwesend sind. Ihr Nachbar verstand den Hinweis sofort.

»Sag mal, Victor, was hältst du davon, wenn du schon mal den Tisch abräumst und danach in deinem Zimmer die PlayStation hochfährst? Dann komme ich gleich nach und werde dich so was von fertigmachen. Du darfst dir das Spiel aussuchen.«

Das musste er nicht zweimal sagen. Nachdem Victor die Teller scheppernd in die Spüle gestellt hatte, rannte er auf sein Zimmer.

Vielleicht lag es am Wein, sie hatten immerhin schon die dritte Flasche geöffnet, oder an dieser verdammten Situation, die schon so lange in ihr gärte. Sigrid hatte das große Bedürfnis, sich zu verteidigen und zu erklären. Sie erzählte deshalb von der Abmahnung, die auf ihrem Schreibtisch lag. Wenn sie unterschrieb, kam das einem Schuldeingeständnis gleich, und Marianne Sabroe würde hundertprozentig nur auf ihren nächsten Fehler warten.

»Ich habe sechs Jahre damit verbracht, Kommata in Gesetzesentwürfen und OECD-Berichten zu verschieben. Und es ist keine Veränderung in Sicht.« Sigrid stützte ihren Kopf auf die Hände.

»Und die Alternative? Wenn du den Job in Syrien annimmst?«, fragte Kasper.

»Das wäre auf jeden Fall ein echter, handfester Einsatz.«

Kasper nickte und erkundigte sich dann nach den Sicherheitsempfehlungen vor Ort. Solange Sigrid seine Fragen beantwortete, musste sie Andreas nicht ansehen, der ungewöhnlich still geworden war. Sie hatte es ihm fast unmöglich gemacht, seine Sicht der Dinge darzulegen, weil sie das Thema vor den Gästen angesprochen hatte. Sie wusste, dass er vor anderen kein Wort über ihre PTBS verlieren würde.

»Sie arbeiten mit einer hochqualifizierten Sicherheitsfirma zusammen.« Sigrid bemühte sich, ihre Stimme so neutral wie möglich klingen zu lassen, obwohl der Gedanke an Reem furchtbar wehtat.

»Und lustigerweise ist eine ehemalige Kommilitonin von mir die Chefin dieser Firma.«

»Okay. Die sind in Sachen Gleichstellung auch ganz schön weit vorne, was?«

Sigrid nickte.

»Das ist eine ziemlich säkularisierte Gesellschaft. Aber ich glaube, dass sie einen Heimvorteil hatte. Ihr Vater war irgend so ein hohes Tier und Diplomat.«

Kasper kam zu dem Schluss, dass Sigrid dort drüben in guten Händen wäre. Als er bemerkte, dass Andreas vollkommen verstummt war, ließ er das Thema fallen.

Eine ganze Weile herrschte Schweigen am Tisch. Spotify hatte sich einmal durch das Cure-Album gespielt und war mittlerweile zu den älteren Stücken von Pearl Jam übergegangen. Dann geschah etwas Bemerkenswertes. Ines öffnete ihren rotbemalten Mund und wandte sich an Sigrid.

»Ich habe totale Lust auf eine Zigarette, magst du mich mit nach draußen begleiten?«