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Seit dem letzten Fall, bei dem seine Frau ermordet wurde, ist Kommissar Römer nur noch ein Schatten früherer Jahre. Durch interne Umstrukturierungen wird sein Arbeitsumfeld umgekrempelt. Da bekommt er das Angebot, ein neu zu schaffendes Dezernat einzurichten. Er nimmt das Angebot an. Durch Zufall stoßen sie auf einen Fall, der sie auf die Spur eines Serientäters bringt. Dieser hatte bisher auf perfide Art die Polizei ausgetrickst. Römer und sein Team werden gezielt in ihren Ermittlungen behindert, kommen dem Täter aber Stück für Stück näher. Das glauben sie zumindest.
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Seitenzahl: 605
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Seit dem letzten Fall, bei dem seine Frau ermordet wurde, ist Kommissar Römer nur noch ein Schatten früherer Jahre. Er lässt seine Arbeit schleifen. Alles ist ihm egal.
Aufrecht hält ihn nur die Verantwortung für seine traumatisierte Tochter Svenja, die er regelmäßig in der Klinik besucht.
Durch interne Umstrukturierungen wird sein Arbeitsumfeld umgekrempelt.
Da bekommt er das Angebot ein neu zu schaffendes Dezernat einzurichten.
Aufgabe der neuen Abteilung ist es, Altfälle, in einem möglichst multiprofessionellen Team, zu bearbeiten.
Römer entscheidet sich für den Wechsel und stellt sein Team zusammen.
Durch Zufall stoßen sie auf einem Fall, der sie auf die Spur eines Serientäters bringt. Dieser hatte bisher auf perfide Art die Polizei ausgetrickst.
Römer und sein Team werden gezielt in ihren Ermittlungen behindert, kommen dem Täter aber Stück für Stück näher.
Das glauben sie zumindest.
Michael Heidtke, geboren 1951 in Berlin, erlernte nach der mittleren Reife den Beruf des Fernmeldehandwerkers. Nach 15 Jahren als „Strippenzieher“ bei der Post, absolvierte er das Studium der Sozialarbeit erfolgreich und arbeitete in diesem Beruf bis zur Rente.
Seine Hobbys sind Filme, Musik, Lesen, Motorradfahren und Schreiben.
Als Leser kann man nur hoffen, dass er mit der Vielfalt seiner Ideen noch häufig die Tastatur seines Computers zu Höchstleistungen herausfordern wird.
Covergestaltung: Conrad Sielaff
Dank für die Unterstützung geht an Dagmar und Herrn Matt-Tietze
Noch stark verschwitzt saß er in seinem Sessel mit einem Glas Rotwein in den Händen. Obwohl es ihn nach einer erfrischenden und säubernden Dusche drängte, wollte er erst auf die gelungene Aktion mit sich selbst anstoßen und ein wenig zur Ruhe kommen.
Es war nicht das erste Mal gewesen und er hatte sich eine gewisse Routine zugelegt, aber da er nur alle zwei bis drei Jahre tätig werden musste konnte er nicht wirklich von Übung sprechen. Außerdem gab es viele Unwägbarkeiten, bei denen das Zufallsprinzip alles über den Haufen werfen und ihn in eine missliche Lage bringen konnten.
Er hatte die zu entsorgenden Frauen in seinen Van gelegt und war zur Heidestraße in den Wedding gefahren. Es war Donnerstag und er wusste, dass die vier neuen Damen ihren Kegelabend hatten. Und wie immer hatten sie telefonisch ein Taxi bestellt. Nachdem er bei der Taxizentrale angerufen und den Auftrag in eine kleine Seitenstraße in der Nähe umgelegt hatte, war es für ihn ein leichtes gewesen den Fahrer mit einen Elektroschocker außer Gefecht zu setzen und in den Kofferraum zu verfrachten. Dann war er zur Kegelbahn gefahren und hatte die Frauen aufgelesen, die vollkommen unbesorgt einstiegen.
Er hatte auf gesellig gemacht, ihnen gesagt, dass dies für heute seine letzte Tour sei, er hätte Geburtstag. Sie waren in ausgelassener Stimmung und ließen sich schnell überreden mit ihm mit einem Piccolo aus Pappbechern anzustoßen.
Sie schliefen schneller ein, als er erwartet hatte.
Nachdem er die vier an einem einsamen Straßenstück betäubt hatte war er zu seinem Van gefahren und hatte sein Beutegut ausgetauscht. Die betäubten Frauen kamen in seinen Van, wo er sie entkleidete und anschließend zur Sicherheit fesselte und knebelte. Dann schnitt er ihnen noch büschelweise Haare ab und einige Fingernägel.
Den vier nackten Leichen zog er die Kleidung der Frauen an, setzte sie im Taxi auf die Sitze und hängte ihnen die Taschen der betäubten Frauen um.
Der Tanklastzug hatte noch dagestanden, wo er ihn ausgekundschaftet hatte am Ende der Heidestraße. Er hatte das Taxi ca. 100 Meter dahinter geparkt. Zu dieser späten Abendzeit parkte hier sonst keiner mehr mitten in dem Industrieviertel. Er war zu dem Tanklaster gegangen, den er am Abend zuvor schon präpariert hatte und hatte mit einem Schlüssel verschiedene Muttern gelöst, die Hahnsperre geöffnet und einen Hahn so weit aufgedreht, bis Benzin aus einem Stutzen tropfte. Dann war er wieder zum Taxi gegangen.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war hatte er den betäubten Taxifahrer hinter das Steuer gesetzt, den Wagen gestartet und den Fuß des Fahrers auf das Gaspedal gestellt, von außen auf die Kupplung getreten, einen Gang eingelegt und die Kupplung hochschnellen lassen.
Er hatte schnell beiseite springen müssen, um von dem losschießenden Taxi nicht mitgerissen zu werden. Der Wagen war ungebremst in den Tanklaster gerast.
Nachdem er die abgeschnittenen Haare und Fingernägel auf dem Asphalt verteilt hatte, schüttete er Benzin aus einem Kanister in den Innenraum des schrottreifen Taxis und warf er ein Streichholz in die Benzinlache.
Das Streichholz erlosch.
Ein Wagen kam mit hoher Geschwindigkeit die Straße entlang gerast und er musste sich hinter dem Wagen ducken, um nicht gesehen zu werden.
Nervös hatte er ein weiteres Streichholz aus dem Päckchen gefingert, es entzündet und in die Benzinlache geworfen.
Diesmal klappte es. Schnell schlugen die Flammen hoch und fraßen sich in den Innenraum des Autos vor.
Er war losgelaufen auf das Gelände einer Spedition. Da es hier nichts zu holen gab, gab es auch keinen Wachmann. Neben einen riesigen Haufen Altreifen gab es einen kleineren Haufen mit alten Kanistern. Hier hatte er seinen abgestellt und war weitergelaufen bis zum Spreeufer, das nur 100 Meter entfernt war.
Dann war er am Ufer bis zum Hauptbahnhof gelaufen. Kurz bevor er dort ankam, hatte er von hinten eine Detonation gehört, kurz darauf waren Sirenen zu hören und Blaulicht hatte von der Straße zu ihm hinüber geflackert. Am Hauptbahnhof hatte er den Uferweg verlassen und war auf die Straße gegangen und hatte sich unter die Reisenden gemischt.
Auch wenn er irgendjemanden aufgefallen sein sollte, was sehr unwahrscheinlich bei dem regen Treiben war, dann würde die Polizei mit der Personenbeschreibung wenig anfangen können, zu gut war seine Verkleidung gewesen.
Auf Umwegen war er zu seinem Wagen gelaufen und hierher gefahren. Dann hatte er die neuen Gäste, wie er es nannte, in ihre Zellen gebracht und die Türen gut versperrt, nicht ohne ihnen noch ein Schlafmittel gespritzt zu haben.
Und jetzt saß er zufrieden in seinem Sessel und ließ das Geschehene in seinen Gedanken Revue passieren.
Es hatte diesmal lange gedauert, bis er die richtigen Zielpersonen gefunden und eine Fülle von Informationen gesammelt hatte.
Eigentlich würde er jetzt gerne duschen und den Abend bei einem guten Wein und einen spannenden Film ausklingen lassen, aber er musste seine neuen Gäste noch in ihr neues Leben einweisen.
Er lächelte. Das war jedes mal spannend wie die ersten Reaktionen waren. Wie stark das Aufbegehren war und wann sie sich mit ihrer neuen Situation abfanden.
Nachdem er ausgetrunken hatte stand er auf, duschte und rasierte sich und zog einen Anzug an. Vor dem Spiegel stehend band er sich seine Krawatte um und war zufrieden über das, was er im Spiegel erblickte. Dann nahm er den Ordner, der auf dem Schreibtisch lag und ging hinunter in den Keller.
Der hintere Kellerraum zu dem er sich begab war als kleine Werkstatt eingerichtet. Eine Werkbank stand in der Mitte und eine kleine Tischkreissäge. An einer Wand hing ein umfangreiches Werkzeugarsenal. Eine große Pressspanplatte lehnte an der gegenüberliegenden Wand. Er trug sie vorsichtig zur Seite. Hinter der Platte befand sich eine Eisentür mit einem eisernen Rad in der Mitte. Er drehte an dem Rad und die Tür ließ sich öffnen.
Hinter der Tür war ein kleiner leerer quadratischer Raum von rund viel mal vier Meter. Gegenüber war wieder eine Tür, ebenfalls mit einem Rad in der Mitte. Alte Beschriftungen an den Wänden ließen ahnen, dass es sich um den Zugang zu einem alten Bunker handelte.
Er öffnete auch diese Tür. Dahinter lag ein 10 Meter langer Gang. Auf der rechten Seite, in der Mitte des Ganges, befand sich wieder eine Tür. Neben der Tür hing ein Metallkasten, den er öffnete. Es war ein Schaltkasten mit verschiedenen Schaltern. Er legte zwei Schalter um und ein leises Klacken kam von der Tür. Dann nahm er zwei Sicherheitsschlüssel, die er in die zwei Schlösser steckte, die sich in der Tür befanden und drehte sie.
Die Tür wurde hörbar entriegelt. Er öffnete sie und ging in den dahinter liegenden beleuchteten Raum.
Der Raum maß über zwanzig Meter in der Breite und acht Meter in der Tiefe. Er blickte auf die sechs Eisenzellen, die wie Gefängniszellen aus einem amerikanischen Gefängnis aussahen. Jede Zelle war zwei Meter breit und 3 Meter Tief. Die Zellen hatten einen Abstand von rund einem Meter voneinander. Zwischen den rechten und linken drei Zellen betrug der Abstand gut zwei Meter. In der Wand gab es eine Tür.
Die Zellen mit den Nummern „1, 3, 4, 6“ waren möbliert, d. h. Es gab jeweils ein Bett, einen Tisch mit Stuhl, zwei kleine Schränkchen. An der Hinterseite stand ein WC in der Ecke und an der Wand hing ein Waschbecken. Zwei Zellen waren komplett leer bis auf das WC und das Waschbecken.
Auf den Stühlen der möblierten Zellen saßen gefesselt und geknebelt vier Frauen mittleren Alters. Sie hatten den Kopf auf der Brust und sahen aus, als ob sie schliefen. Bekleidet waren alle mit einem groben Leinenhemd.
Neben der Eingangstür stand ein großer Tisch mit einem Monitor darauf und einigen Kästchen. Davor stand ein Stuhl, neben dem Tisch stand ein gemütlich aussehender Sessel, in den er sich setzte und die Frauen beobachtete. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„Aufwachen die Damen“, er klatschte dabei in die Hände. Nachdem er das einige Male wiederholt hatte begannen die Frauen sich auf den Stühlen zu regen und die Augen zu öffnen.
Er sah in vier irritierte, verwunderte, verängstigte Gesichter und freute sich darüber. Dieser erste Augenblick der Erkenntnis hatte immer etwas Magisches, fand er und er genoss diesen Augenblick.
Nachdem alle vier Frauen klar zu sein schienen, was er nicht zuletzt aus den Bemühungen schloss an den Fesseln zu zerren, erhob er sich.
„Guten Abend die Damen. Ich begrüße sie recht herzlich in ihrem neuen zu Hause. Für die Unannehmlichkeiten, die sie bisher hatten und derzeit immer noch haben“, er deutete auf die Fesseln, „möchte ich mich in aller Form bei ihnen entschuldigen. Es ist aber eine sinnvolle Maßnahme, dass sie fixiert sind. Alles ist noch neu und aufregend für sie und es würde ein heilloses Durcheinander geben, wenn alle wild rumhampeln und drauflosreden würden. Jetzt erkläre ich ihnen ein paar Grundregeln die für sie in Zukunft sehr wichtig sein werden. Dann können sie sich in ihrem neuen Domizil erst einmal ausschlafen und morgen können sie beginnen sich auch mental einzurichten. Bei unserem nächsten Gespräch dürfen sie dann auch Fragen stellen.“ Er machte eine Kunstpause und sah in die Runde. Die vier Gesichter wirkte auf ihn, wie vier Fragezeichen. Allerdings Fragezeichen, die viel Angst ausstrahlten.
„Wie die Abläufe hier detailliert sind erfahren sie noch, heute geht es um einige grundsätzliche Sachen. Wenn sie den Kopf zu Tisch wenden, sehen sie eine kleine Mappe darauf liegen. Morgen nach dem Ausschlafen dürfen sie..., nein ich empfehle es dringlich, sie zu lesen. Da stehen Regeln und Abläufe drin. Sie sind jetzt sehr aufgeregt und da geht doch einiges beim Zuhören verloren. Ich bin der letzte, der dafür kein Verständnis hat“, er lächelte mitfühlend in die Runde, „aber ich erwarte schon ihr Bemühen sich Fortzubilden, was ihren Aufenthalt hier anbelangt.“
Wieder eine Pause, in der er die ängstlichen, teilweise panischen Blicke der Frauen genoss.
„Regel 1“, fuhr er fort, „da ich ihr Gastwirt, Vermieter, nennen sie es wie sie wollen, bin und auch ihr Ernährer, bin ich für die Ausgestaltung ihrer Unterkunft und ihres Lebens verantwortlich und damit auch weisungsbefugt.
Regel 2. Gesprochen wird nur, wenn von mir ausdrücklich erlaubt.
Regel 3. Mit den ihnen zur Verfügung gestellten Möbeln und allen anderem ist pfleglich umzugehen. Mutwillige Zerstörungen haben Konsequenzen.
Regel 4. Ich lege Wert auf Sauberkeit, das heißt, jede von ihnen ist für die Reinheit ihrer Unterkunft zuständig.
Regel 5. Das was von mir angeordnet wird, wird unverzüglich umgesetzt.
Das sind erst einmal die wichtigsten Grundsätze unser zukünftig gemeinsamen Zeit.
Nun wird sich die eine oder andere Fragen was das für Konsequenzen sind, die bei Übertretung einzelner Regeln folgen. Jetzt möchte ich dazu nur sagen, lassen sie sich überraschen. Nur soviel, die Überraschung wird in keinem Falle schön für sie sein. Vertrauen sie einfach meiner Erfahrung und halten sie sich an alles, was angeordnet wird und wir werden die besten Freunde werden“, seine Stimme triefte vor Ironie, „aber ich gehe von ihrer Vernunft aus, und von ihrer Einsicht in die unverrückbare Tatsache, dass sie sich hier in meinem Refugium befinden und ich die Spielregeln aufstelle.
So, das wäre es in aller Kürze fürs Erste. Wir werden noch oft und lange die Zeit für Gespräche und Plaudereien und andere schöne Sachen haben und ich möchte sie heute, an ihrem ersten Tag nicht über Gebühr strapazieren. Ein letztes noch, sie brauchen sich keine Mühe zu geben und zu schreien. Es kann sie hier unten niemand hören. Der einzige Erfolg wird sein, dass sie irgendwann Halsschmerzen haben. Rumbrüllen ist übrigens auch verboten, aber das können sie ja alles morgen nachlesen. Ich werde sie dann morgen Abend wieder besuchen. Essen und Trinken finden sie in den weißen Schränken.“
Damit stand er auf, nahm eine Flasche und einen Becher vom Tisch und begab sich in die erste Zelle. Nachdem er den Knebel entfernt hatte wollte die Frau etwas sagen. Er hob nur den rechten Zeigefinger, schaute sie kalt an und sagte, „Pst, keinen Ton.“ Die Frau schwieg ängstlich. Er goss etwas Flüssigkeit in den Becher und setzte ihn ihr an den Mund und goss etwas hinein. Als sie nicht gleich schlucken wollte, hielt er ihr den Kopf nach hinten und die Nase zu. Die Frau schluckte. Er ging von Zelle zu Zelle und flößte allen das Getränk ein. Dann ging er wieder in die erste Zelle, wo die Frau bereits zusammengesackt war. Er band sie los und hievte sie auf das Bett. Anschließen deckte er sie zu, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und wünschte eine gute Nacht.
Als alle in ihren Betten lagen und schliefen betrachtete er zufrieden sein Werk.
Dann verließ er den Raum, nachdem er das Licht ein wenig herunter gedimmt hatte, schloss die Tür wieder sorgfältig ab und verließ den Keller.
Hauptkommissar Römer betrat sein Büro und ging zu seinem Schreibtisch. Genauer ausgedrückt muss man sagen, dass er sich zu seinem Schreibtisch schleppte.
Ein undeutliches, „morgen“, grummelte er noch und ließ sich dann schlaff in seinen Stuhl fallen. Er war nicht der Erste, was ihn nicht wunderte, da es schon fast zehn Uhr war.
Beate Kroll seine Kollegin saß hinter ihrem Schreibtisch und telefonierte. Sie blickte hoch zu ihm und warf ihm einen Blick zwischen Tadel und Mitleid zu. Römer stellte fest, dass die Augenringe, die sie in der letzten Zeit geziert hatten langsam zurückgingen.
Beate war schon seit über drei Jahren in seiner Abteilung und es hatte sich so etwas Ähnliches wie ein Vater-Tochter-Verhältnis entwickelt. Sie hatte ein hübsches Gesicht, kurze dunkle Haare und einen durchtrainierten Körper. Römer wusste, das dieser Körper eine Mogelpackung war, wie sie es selbst einmal formuliert hatte. Sie sah sehr sportlich aus, war es aber überhaupt nicht. Sport war ihr ein Gräuel.
Römer war eher ein Kopfmensch, Beate eher ein Bauchmensch. Diese Kombination hatte sich beruflich als sehr vorteilhaft erwiesen. Ihre gemeinsamen Erfolge konnten sich sehen lassen. Sie waren ein gutes Team gewesen.
Bis vor sechs Monaten.
Der Fall, an den sie gearbeitet hatten schien klar und einfach zu sein. Eine Krankenschwester hatte todkranken Patienten Sterbehilfe gegeben. Als sie verhaftet werden sollte wurde sie entführt. Römer war ratlos was das Motiv und den Täter anging. Dann bekam er über seine Frau ein Päckchen, in dem sich ein Finger der Krankenschwester befand. Im Laufe ihrer Ermittlungen wurde deutlich, dass hinter der Entführung nur ein Mitarbeiter der Polizei stecken konnte. Als sie dabei waren die Schlinge zuzuziehen wurde Römers Frau brutal misshandelt und ermordet und seine Tochter entführt.
Römer wurde in eine Falle gelockt. Der Täter, Oberinspektor Habermaas, ein Kollege, leitender Mitarbeiter der Sitte und drei seiner Freunde hatten sich schon als Jugendliche bei den Pfadfindern zusammengefunden. Römer, der als Jugendlicher auch bei den Pfadfindern war, erwischte sie dabei, wie sie gerade ein Mädchen vergewaltigen wollten und meldete dieses. Die vier flogen sofort raus und bekamen eine Anzeige. Sie schworen sich an ihm zu rächen. Nicht nur an ihm, auch an anderen, die sie aus ihrer Sicht in ihrem Leben ungerecht behandelt hatten.
Im Laufe der Jahre starben einige Personen durch fingierte Unfälle oder verschwanden. Habermaas der Anführer der Gruppe hatte einen ganz besonderen Hass auf Römer, da dieser ihm auch noch seine erste große Liebe, Römers spätere Frau Sybille, ausgespannt hatte. Die Rache an Römer sollte für Habermaas der große Showdown werden, so hatte er es geplant. Dafür musste er seine Freunde opfern, was er ohne mit der Wimper zu zucken tat.
Als er seinen Plan in die Tat umsetzte, ahnte er nicht, dass Römer ihn auf einem alten Photo identifiziert hatte. Bevor die Falle zuschnappen konnte hatte er Römer und seine Tochter Svenja in einer Bank in seine Gewalt gebracht. Als die Polizei die Bank stürmte, wollte er Römer zwar töten, schoss ihm aber nur in die Schulten, bevor er selbst im Kugelhagel starb.
Ab da war für Römer nichts mehr wie früher. Die Schussverletzung war nicht existenzbedrohend, die seelischen Verletzungen schon.
Noch im Krankenhaus hatte er einen Zusammenbruch und verbrachte fast drei Monate in einer Klinik für Psychosomatik und Traumata. Eigentlich hatte er alles hinschmeißen wollen. Er war kein Mensch mehr aus dieser Welt. Wäre er alleine gewesen, er wäre wahrscheinlich nie wieder zu seiner Dienststelle zurückgekehrt. Aber da war noch seine Tochter Svenja. Die neben ihrer Mutter gefesselt gesessen hatte, als diese vergewaltigt und abgeschlachtet worden war. Das hatte ihr Geist nicht verkraftet und einfach abgeschaltet.
Seit dem Vorfall war sie in einer psychiatrischen Klinik untergebracht, wo sie den ganzen Tag nur da saß und vor sich hin starrte. Für Svenja musste er da sein. Dieser Gedanke hielt Römer am Leben und ließ ihn jeden Morgen zur Arbeit gehen.
Obwohl Römer weiterhin offiziell Kommissariatsleiter war hatte Beate die Fäden in die Hand genommen, zuerst vertretungsweise für die Zeit seiner Abwesenheit. Als er vor vier Wochen, nach drei Monaten wiederkam, änderte sich daran nichts. Römer war zwar körperlich anwesend, aber er ermittelte nicht. Seine Haupttätigkeit bestand darin, dass er Akten wälzte und die Ablage pflegte.
Er wurde von den anderen mitgetragen, das war ihm bewusst. Ihm war auch bewusst, dass dieser Zustand endlich war. Wie oft in den letzten Wochen hatte er sich vorgenommen diesen Zustand zu ändern, aber spätestens, wenn er das Dienstgebäude betrat waren alle guten Vorsätze verschwunden, als hätten sie nie existiert.
Er starrte auf den Berg Akten, der vor ihm lag. Alles Altfälle, die entweder nicht aufgeklärt worden waren, oder wo schlicht kein Verbrechen erkennbar war. Wo z. B. die Frau beim Fenster putzen von der Leiter gefallen war. Leider nicht ins Zimmer, sondern nach draußen und wo sie sich das Genick gebrochen hatte, was zu ihrem Tod geführt hatte.
Solch einen Fall hatte Römer gerade vor sich liegen. Der Mann hatte mit dem Vorfall nichts zu tun, er war nachweislich auf der Arbeit gewesen. Sonst gab es niemanden, der der Frau einen Stoß gegeben haben konnte. Ein Unfall, der eine dicke Akte produziert hatte, die nun vor ihm auf dem Schreibtisch lag und auf endgültige Bearbeitung wartete.
Er nahm die Akte und legte sie auf den Stapel mit den Fällen, die keine waren. Dann verharrte er kurz, denn er musste an den Ehemann denken, den man von der Arbeit weggeholt hatte, um ihm zu sagen, dass er nun alleine leben müsse, da seine Frau tot sei. Wie gut konnte er sich in die Verzweiflung des Mannes hineinversetzen. In diese Leere, die sich immer weiter ausbreitete und sein Leben bestimmte.
„Und Henning, alles klar?“ Beate hatte gesehen, dass Römer hinter einer Akte immer mehr erstarrte und riss ihn aus seinem aufkeimenden Selbstmitleid.
„Doch, warum auch nicht?“ kam es schleppend von ihm. Dann griff er zur nächsten Akte. Ein äthiopischer Asylbewerber wurde verdächtigt als Schleuser zu arbeiten. Der Mann hatte schwarz am Hafen gearbeitet. Und dann gab es da einen Container mit sechs Leichen. Alle beim Transport erstickt. Man konnte dem Mann nichts nachweisen, außerdem griffen hier verschiedene Zuständigkeiten zwischen der Kripo, dem Zoll und der Ausländerbehörde ineinander. Nach Römers Meinung war in dem Fall schlampig ermittelt worden. Obwohl er selbst keinerlei Motivation verspürte hier weiter zu recherchieren legte er die Akte auf den Haufen mit den Fällen, denen man nochmals nachgehen sollte.
„Soll sich doch die Ausländerbehörde darum kümmern“, dachte er und griff zur nächsten Akte.
„Wie ist es mit Frühstück, Henning?“ die Frage kam von Beate und überraschte ihn. Hatte sie etwa die ganze Zeit gewartet bis er die Akte durchgesehen hatte, um das eben begonnene Gespräch fortzusetzen?
Römer musste feststellen, dass er von seiner Umwelt immer weniger wahr nahm.
„Richtigen Hunger habe ich nicht, mein Kaffee reicht mir eigentlich“, kam es ablehnend vom ihm.
Sie sah ihn kalt an. „Gut. Wenn du nicht willst. Ich würde aber gerne mit dir heute Abend essen gehen, es gibt aus meiner Sicht etwas zu bereden“, kam es so kalt, wie ihr Blick war. Er wollte schon nach einer Ausrede in seinem Kopf suchen, aber genau dieser Blick von ihr sagte, dass sie außer seinem Tod keine andere ablehnende Erklärung akzeptieren würde.
„Nun?“ drängte sie.
Er zögerte.
„Wenn´s denn sein muss.“ Jeder andere hätte von ihm eine Abfuhr bekommen, aber bei Beate fehlte ihm aus unerfindlichen Gründen der Mut. Obwohl, gerade mit Beate hätte er gerne das Gespräch vermieden. Sein ganzes Verhalten und, dass das nicht so weiter gehen konnte, war ihm bewusst. Aber auch, dass er einer Konfrontation mit Beate nicht ständig ausweichen konnte.
„Also gut“, stimmte er brummend zu.
„Heute um 18 Uhr im Deichgrafen“, sagte sie bestimmt. „Ich habe noch einen Termin und werde gegen 15 Uhr heute abhauen. Soll ich dich hier abholen oder treffen wir uns dort?“
Römer, der wenig Lust hatte bis 18 Uhr im Büro zu hocken sagte, „ne, ich komme rum.“
Beate nickte nur und widmete sich ihrem Monitor, Römer nahm die oberste Akte von seinem Schreibtisch und stierte vor sich hin. Der Inhalt interessierte ihn nicht wirklich.
Wieder so ein Fall, wo schlampig vorgegangen worden war. So etwas sah Römer schon an der Art, wie die Akte aufgebaut und geführt worden war.
Ein Autounfall vor gut zwei Monaten. Ein Taxi war in einen Tanklaster gerast, explodiert und ausgebrannt. Die fünf Insassen hatten keine Chance gehabt. Sie wurden mehr oder weniger am Unfallort eingeäschert.
Für den leitenden Beamten war der Fall anscheinend so klar oder unwichtig, dass er nur das notwendigste unternommen hatte. Warum die Akte jetzt vor Römer lag, erschloss sich ihm nicht. Hätte längst ins Archiv gehört. Warum Beate das nicht längst getan hatte? Er wusste es nicht und er musste sich eingestehen, dass es ihn auch nicht weiter interessierte. Er wollte auch keine Diskussion aufkommen lassen und legte die Akte auf den Stapel „nochmal überarbeiten“.
Der Tag schleppte sich dahin und Römer stapelte brav Akten.
Nach dem Frühstück war Bast gekommen. Philip Bast, Oberkommissar und langjähriges Mitglied der Ermittlungsgruppe. Trotzdem war er immer so etwas wie ein Fremdkörper geblieben. Mit seiner etwas überheblichen Ausstrahlung und seiner distanzierten Art hatte er alle Annäherungsversuche seiner Kollegen abgeblockt.
Mit Römer hatte er sich überworfen, als er sich in ein kleines Einzelbüro abgeschoben gefühlt hatte. Im Grunde hatte das nichts mit ihm zu tun gehabt. Nierstein, der Kommissariatsleiter, hatte Römer einen EDV Fachmann, der auch noch Psychologe war, aufs Auge gedrückt. Römer war nicht begeistert gewesen. Beate schon.
Da Bast da gerade in Urlaub gewesen war, wurde Singer, so hieß der neue Mitarbeiter, an den Schreibtisch von Bast gesetzt. Als Bast aus dem Urlaub kam, fühlte er sich von den Veränderungen überrumpelt und ignoriert. Bast wusste zwar, dass Nierstein hinter dieser Veränderung steckte, aber Römer hatte ihn nicht verteidigt, er hatte ihn einfach abgeschoben.
Jetzt, wo Römer am Boden zerstört war, wirkte Bast noch arroganter. Man grüßte sich. Weitergehende Konversation fand nur statt, wenn es sich beruflich nicht vermeiden ließ. Beide schienen mit der Situation gut leben zu können. Beate konnte das nicht. Sie war nicht auffällig harmoniesüchtig, aber die kühle Ignoranz, die Römer und Bast umgab, wenn sie aufeinandertrafen, nervte sie schon.
Gegen 14.30 Uhr kam ein junger Bereitschaftspolizist um Beate zu ihrem Termin abzuholen.
„Bis heute Abend, Henning. Tschüss Philip“, verabschiedete sich Beate von ihren Kollegen und verließ das Büro.
Römer und Bast blieben zurück. Das war immer eine ungute Bürobesetzung, fand Römer. Er fühlte sich gehemmt in Bast´s Anwesenheit in seine dumpfe Fantasiewelt zu versinken und so packte er kurz nach Beates Verschwinden seine Sachen und verließ mit kurzem Gruß das Büro.
Er war unentschlossen, wohin er gehen sollte. Er konnte sich die Zeit in einer Kneipe vertreiben, bis er mit Beate verabredet war. Aber er wollte nicht angetrunken bei ihr erscheinen. Also machte er sich auf den Weg nach Hause. Es waren nur gut fünf Minuten Fußweg in die Bastianstraße.
Der Wedding war nicht sein Traumbezirk gewesen, aber da während seiner Abwesenheit das neue Kommissariat „Nord“ in die neuen Diensträume gezogen war, bot es sich an in der Nähe eine Wohnung zu suchen.
Da er keinerlei Ansprüche gestellt hatte, war es nicht schwer gewesen eine kleine Wohnung zu finden. Sie lag in einem leicht heruntergekommenen Berliner Altbau im zweiten Stock. Seitenflügel, Außenklo, ein gewaltiger Abstieg zu dem Häuschen im Grünen, dass er mit Sybille bewohnt hatte.
Der alte Arbeiterbezirk hatte sich zu einem Multi-Kulti-Bezirk gewandelt. In der Badstraße herrschte fast rund um die Uhr ein reges Treiben.
Für Römer waren diese Eindrücke neu gewesen. Er hatte vorher im Süden Berlins in einem kleinen Einfamilienhaus gelebt. Hier hatten er und Sybille die Kinder, Svenja und Arne, großgezogen. Hier waren sie älter geworden und beabsichtigten hier auch alt zu werden.
Die Katastrophe, die in Römers Leben einbrach hatte ihm nicht nur die Frau genommen. Habermaas hatte das Haus angezündet, es war ausgebrannt. Nichts, was es an persönlichen Erinnerungen gegeben hatte, hatte die Flammen überstanden.
Daran wurde er jedes mal erinnert, wenn er jetzt seine Wohnung betrat. Wenn man sich die herrschende Unordnung wegdachte, dann blieben spärlich möblierte Räume, ohne etwas Persönliches. Kalt und steril. Römer hatte sich schon oft gedacht, dass er nur deshalb nicht aufräumte, damit es etwas wohnlicher war. Aber vielleicht war das auch nur eine fromme Ausrede, weil er zum Aufräumen zu faul war.
Faul im klassischen Sinn war er überhaupt nicht. Ihm fehlte die Motivation. Wie bei so vielem, eigentlich bei allem.
Er setzte sich auf die Couch und starrte auf den Fernseher. Als es Zeit war zu gehen, stand er auf, zog sich die Jacke an und machte sich auf den Weg zum Deichgrafen.
Peter saß in einem Raum der gefüllt war mit Überwachungsmonitoren, Computern und anderem technischen Gerät. Den sogenannten Technikraum. Über die Monitore und beobachtete er die Frauen.
Neben ihm saß Roger, der einige Altlasten entsorgt hatte und die ersten Tage nach der Entführung nicht anwesend gewesen war.
Die Frauen waren jetzt seit fast vier Wochen ihre „Gäste“, wie er es auszudrücken pflegte. Nach anfänglichen Aufbegehren hatten sie sich schnell seinen Regeln und Anordnungen gefügt. Je nach persönlichen Temperament ging es unterschiedlich schnell voran.
Sie hatten viele Ideen gewälzt, wie sie ihrem Gefängnis entkommen konnten. Es waren teilweise verwegene Pläne gewesen, die sie sich da ausgedacht hatten. Er hatte das mit viel Freude verfolgt. In seinem Überwachungsraum konnte er sie beobachten und belauschen. Davon ahnten sie nichts. Natürlich flüsterten sie häufig, da sie befürchteten, er könne vor der Tür stehen und sie belauschen. Das Flüstern nutzte nicht viel. Die Technik war heutzutage so gut, dass auch die leisesten Töne klar und deutlich übermittelt wurden, das Restlicht in der Nacht ließ auch noch passable Videoaufnahmen zu.
Er schlug das Buch auf, in dem er die persönlichen Daten der Frauen erfasst hatte. Bei jeder hatte er stichpunktartig besondere Vorfälle und Gedanken notiert.
In den ersten zwei Wochen konnte er im steten Wechsel alle Gemütszustände zu denen Menschen fähig waren bei seinen Damen beobachten. Es gab Phasen, wo es einen rasanten Wechsel zwischen Hysterie und tiefer Depression gab.
Zum Anfang gab es das übliche Weinen und Betteln. Was wurde ihm nicht alles versprochen.
Wilde Spekulationen über ihre Entführung wurden angestellt. Lösegeld schied schnell aus. Alle vier waren weit entfernt davon begütert zu sein. Auch als er auch nach einigen Tagen, trotz ihrer Befürchtungen, keinerlei Anstalten gemacht hatte sich ihnen sexuell zu nähern verwarfen sie auch die These, er wolle sie vergewaltigen.
„Einer ihrer Irrtümer“, nahm er freudig zur Kenntnis. Im Laufe der Tage mussten sie feststellen, dass sie Dauergäste bei ihm sein würden. Einzig die Hoffnung, dass die Polizei sie suchen und befreien würde hielt sie aufrecht. Er hatte ihnen die Zeitungsartikel von dem verheerenden Autounfall mit fünf Toten zum Lesen gegeben natürlich nicht gezeigt. Auch eigenen Todesanzeigen bekamen sie nicht zu sehen. Sie wussten nicht, dass ihre Vorgängerinnen an ihrer Stelle beerdigt worden waren und kein Mensch nach ihnen suchte. Er verfolgte amüsiert ihre geäußerten Hoffnungen auf eine mögliche Befreiung. Zu gegebener Zeit würde er diese Hoffnungen zerstören.
In dem tiefen Loch, in dem sie, trotz allem Wunschdenken, psychisch steckten, lag die Befürchtung nicht weit, dass ein schwaches Gemüt dem Leiden selbst ein Ende setzen könnte.
Er hatte ihnen klar gemacht, dass eine einzelne Leiche nicht in sein Planungsschema passte. Sollte einer Selbstmord begehen, so würde er erst wieder hinunter kommen, wenn auch die anderen gestorben wären. Sie würden jämmerlich verdursten. Danach würden sie eben entsorgt werden.
Er war sich sicher, dass fortan jede einzelne auf die anderen aufpassen würde, wenn diese einen besorgniserregenden Tiefpunkt hatten. Ein schneller Austausch war schließlich auch nicht in seinem Interesse. Außerdem waren sie ein interessantes Gemisch aus sehr verschiedenen Charakteren.
Er blickte in seine Aufzeichnungen:
Bettina Herold, 43 Jahre alt, verheiratet, einen Sohn, Hendrik, 19 Jahre alt, eine Tochter Laura, 17 Jahre alt. Hausfrau, gelernte Bankkauffrau, aber seit der Geburt des Sohnes nicht mehr berufstätig. Der Mann, Rolf, 45 Jahre alt, Versicherungskaufmann Alleinverdiener.
Konstitution: 1,7 Meter groß, 77 kg Gewicht. Leicht füllig mit großem Busen. Helle, rosige Haut, unmodische Dauerwelle, blondes Haar. Typisches Heimchen am Herd. Trotz guter Schulbildung etwas schlicht und geschwätzig.
Rita Lochnow: 46 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder, mit eigenem Haushalt und Familie haben. Verkäuferin, Mann Jochen 49 Jahre alt, Briefträger.
Konstitution: 1,8 Meter groß, 65 kg Gewicht. Hager und faltig. Wirkt immer leicht verkniffen. Rechthaberisch.
Luise Pröll: 43 Jahre alt, lebt mit einem Mann zusammen, 46 Jahre, Kurierfahrer. Keine Kinder, arbeitet im öffentlichen Dienst im Büro.
Konstitution: 1,65 Meter groß, 55 kg Gewicht, wohl proportioniert, sehr weiblich, sinnliche Ausstrahlung, modischer Typ, eher oberflächlich.
Gabriele Tenner: 44 Jahre alt, geschieden seit 6 Jahren, alleinerziehende Mutter von 2 Kindern, Lageristin
Konstitution: 1,7 Meter groß, 85 kg Gewicht, neigt zum Alkohol, unförmig verfettet, wirkt immer leicht ungepflegt und verbittert.
Neben diesen Aufzeichnungen lagen noch diverse Zettel mit kurzen Vermerken über die Frauen und ihren Verhaltensweisen und ihrem Leben in der Freiheit. Bisher hatte er nicht die Zeit gefunden alle Informationen in ein Dossier über die einzelnen Frauen zusammen zu fassen. In der nächsten Woche hatte er ein paar Tage Urlaub geplant und diese Zeit würde er nutzen um alle Informationen ordentlich zu bündeln.
Roger, der die Frauen beinahe rund um die Uhr beobachtet hatte, war ihm dabei eine große Hilfe gewesen.
Sie hatten vereinbart, dass die ersten drei, vier Wochen so etwas wie die Ankommensphase sein sollte, das hatte sich bisher bewährt. Die Frauen sollten die Regeln lernen und sich an ihren neuen Tagesablauf gewöhnen.
Daneben konnte auch Peter langsam seine Erregung steigern, wenn er die Frauen beim Umziehen und Waschen beobachtete.
Wirkliche Gespräche hatten bisher nicht stattgefunden. Das was er mit ihnen besprochen hatte bezog sich immer nur auf „Formalitäten“, wie er es nannte. Die Fragen, mit denen sie ihn in ihrer Hilflosigkeit bestürmt hatten, hatte er bisher einfach ignoriert.
Kleinere Regelverstöße hatte er mit Nahrungs- uns Lichtentzug bestraft. Er hatte in seiner Kindheit selbst miterleben dürfen, wie die Wirkung einer solchen Strafe war. Im dunklen Keller sitzen und nichts zu Essen und zu Trinken zu haben macht jeden gefügig. Das hatte bei ihm und bei Roger geklappt und bisher auch bei den Frauen, die bisher in ihren Kellern gewohnt hatten.
Noch ein paar Tage und dann würde die nächste Phase beginnen.
Aber davon ahnten die Frauen nichts.
Um kurz vor sechs stieg Römer aus der U-Bahn an der Station Amrumer Straße und ging die Torfstraße entlang bis zum Nordufer. Der Deichgraf war in den achtziger Jahren eine sogenannte Studentenpinte gewesen und hatte sich dieses Flair erhalten. Das Essen war im Allgemeinen gut, aber was diese Lokalität besonders auszeichnete war der gebackene Camembert.
Um diese Zeit herrschte nicht eben Großbetrieb und Römer nahm an einem etwas abgelegenen Tisch Platz. Die Bedienung hatte ihm gerade die Karte gebracht, als Beate kam. Sie steuerte auf seinen Tisch zu und nahm Platz.
„Wie ich sehe bist du auch gerade gekommen, oder bestellst du dir schon das Dessert?“ fragte sie leicht grinsend.
„Ich sitze schon seit Stunden hier und fresse mich durch die Menüs“, kam es von Römer lakonisch, dann widmete er sich wieder der Karte, klappte sie zu und reichte sie Beate. Die legte sie jedoch, ohne sie geöffnet zu haben, auf den Tisch.
„Ich esse sowieso den Camembert, bin halt, zumindest in dieser Hinsicht, sehr konservativ.“
„Ich auch“, kam es von Römer.
Die Kellnerin kam an den Tisch und beide gaben ihre Bestellung auf. Dann herrschte erst einmal Schweigen.
„Und was gibt es so wichtiges, dass du mich unbedingt heute so dringend sprechen wolltest“, unterbrach Römer, der es nicht wirklich wissen wollte, dass Schweigen.
Beate musterte ihn und er spürte bei ihren Blicken ein Unbehagen.
„Willst du mir in dieser netten Umgebung freundlich klar machen, dass es so nicht weiter geht und ich mich verabschieden sollte?“
Die Kellnerin stellte die Getränke auf den Tisch und besah sich die Beiden.
„Anscheinend findet hier gerade ein Trennungsgespräch statt“, dachte sie bei sich. Das war nicht ungewöhnlich. In Kneipen fanden einige die große Liebe, andere beendeten sie, das war alltäglich. Sie hatte Verständnis für die junge, gutaussehende Frau. Was wollte sie auch mit diesem alten, verbrauchten Mann?
„Wo die Liebe halt hinfällt, in diesem Fall auf die Nase“, dachte sie und entfernte sich in Richtung Tresen.
Beate blickte Römer in die Augen.
„Ja und nein. Ich will mit dir Reden, weil ich nicht nur deine Kollegin bin, sondern auch deine Freundin. Als diese hast du mein Mitgefühl, als diese möchte ich dir helfen, als diese möchte ich dir auch ab und zu in den Arsch treten. Ich möchte, dass es dir, trotz allem, besser geht, ach was sag ich, dass es dir gut geht. Aber dafür musst du in die Pötte kommen.“ Beate begann sich in eine Art Rage zu Reden.
Bevor sie weiter Reden konnte hakte Römer ein.
„Soll ich lieber von mir aus kündigen?“
Jetzt platzte Beate der Kragen.
„Hörst du mir überhaupt zu? Ich habe mit dir als Freundin geredet. Kündigen, abhauen. Aus den Augen aus dem Sinn. Ist ja auch ganz einfach. Du bist doch das beste Beispiel dafür, dass das eben nicht so einfach geht. Seit Monaten trauerst du Sybille nach. Das ist ja auch verständlich und legitim, aber du machst nichts anderes. Du bewegst dich keinen Millimeter. Meinst du mir steckt das was geschehen ist nicht auch in den Knochen, auch wenn es dich natürlich ungleich härter getroffen hat. Meinst du ich trauere nicht auch um Sybille. Meinst du die Sache mit Bernd hat mich kalt gelassen oder lässt mich kalt? Ich versuche mein Leben zu leben und renne überall gegen Mauern. Von dir kommt nichts, aber auch gar nichts und Bernd verleugnet mich und verweigert jeden Kontakt zu mir. Kannst du dir nicht vorstellen, dass es auch anderen Menschen beschissen geht? Mir zum Beispiel.“ Beate unterbrach ihre Tirade, derweil das Essen auf den Tisch gestellt wurde.
Die Bedienung, die Teile mitbekommen hatte machte sich so ihre Gedanken über die Dreiecksbeziehung, die anscheinend gerade in die Brüche ging.
Römer saß bedrüppelt da. Er wusste, dass Beate Recht hatte. Bis zu jenem Unglückstag hatte er sich Beate gegenüber immer so ähnlich wie ein väterlicher Beschützer gefühlt. Er hatte mit Sorge beobachtet, wie sich Singer und Beate immer näher gekommen waren. Singer, ein Computerfachmann und Psychologe war seiner Abteilung zugeordnet worden.
Da Römer weder mit Computern noch mit Psychologen etwas anfangen konnte, begegnete er Singer mit einer schroffen Ignoranz. Computer waren für ihn neumodischer Kram und Psychologen Hirnklempner. Trotzdem war er nicht umhin gekommen die Erfolge von Singer anerkennen zu müssen. Römer hätte nie für möglich gehalten, was man alles so über das Internet herausbekommen konnte.
An sich war Singer kein unsympathischer Typ. Er hatte nur den falschen Beruf aus Römers Sicht und er war ihm zugeordnet worden und hatte damit Verwerfungen in Römers Team ausgelöst. Es hatte einfach Veränderungen gegeben und genau das hatte Römer gehasst.
Beate und Singer waren ihre Liaison auch sehr vorsichtig angegangen. Auch wenn es ihm schwergefallen war, so hatte Römer sich doch eingestehen müssen, dass Singer Beate gut tat. Dann war es zur Katastrophe gekommen. Bei der Schießerei bei seiner Befreiung hatte Singer ein Querschläger erwischt. Der fünfte Lendenwirbel war zerstört und Singer von der Hüfte abwärts gelähmt. Seitdem saß er im Rollstuhl.
Er lebte in einem Heim für körperbehinderte Menschen und verweigerte jeden Kontakt nach außen, speziell zu Beate. Sie hatte sich in den letzten Monaten häufig bemüht mit Singer zu sprechen. Dieser hatte jedoch jedes mal abgelehnt. Wenn sie hingefahren war, hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen und das Gespräch verweigert. Römer hatte mitbekommen, wie sehr Beate darunter litt. Es ging Römer sehr schlecht damit, dass er Beate keinen Beistand leisten konnte, aber er steckte ja selbst in einem, aus seiner Sicht viel tieferem, Loch, aus dem er nicht herauskam.
„Henning, bist du noch da?“ Beate riss ihn aus seinen Gedanken.
„Tschuldige. Es tut mir ja auch leid, aber was soll ich denn machen?“ „Es tut ihm leid“, grollte Beate, „es tut ihm leid. Von deinem Leid tun habe ich auch nichts, wenn du nicht bald mal den Arsch hoch kriegst“, sie hatte das nicht so scharf sagen wollen, es war einfach aus ihr herausgeplatzt.
Er zuckte zurück und versank in sich.
„Hör zu Henning, auch wenn du es nicht glaubst, ich verstehe deine Situation. Du hast deine über alles geliebte Frau auf bestialischen Weise verloren. Deine Tochter musste das mit ansehen und sitzt seitdem schweigend in der Klappse. Dein Haus ist komplett ausgebrannt, das heißt all die persönlichen Erinnerungsstücke sind einfach weg. Du fängst bei Null an. Ein ganz neues Leben beginnen, ohne das alte zu vergessen. Das muss dein Ziel sein. Wenn du das nicht angehst und aus der Vergangenheit herauskommst wirst du genau so untergehen wie diese Vergangenheit.“ Beate schwieg
„Du hast Arne in der Aufzählung vergessen“, entgegnete Römer der händeringend nach einer Antwort gesucht hatte, die zur Ablenkung dienen konnte. In Form von seinem Sohn Arne meinte er diese Ablenkung vom eigentlichen Thema gefunden zu haben.
Arne von dem er so enttäuscht war. Als das Drama geschah war Arne im Urlaub irgendwo in Südeuropa unterwegs. Als er drei Tage nach dem Inferno nach Hause kam hatte ihn Beate vom Flughafen Tegel abgeholt und war mit ihm zu Römer gefahren, der zu dieser Zeit noch im Virchow Krankenhaus lag.
Beate war verwundert gewesen, wie kühl Arne reagiert hatte. Römer hatte das erst gar nicht wahrgenommen. Jeder verarbeitete die Information, dass die eigene Mutter auf bestialische Weise ermordet worden war anders, aber Arnes Verhalten wurde auch im Laufe der Zeit nicht besser.
Er machte seinen Vater regelrecht Vorwürfe, dass das ganze gerade jetzt geschehen musste, wo er mitten bei seiner Diplomarbeit war. Um seine Schwester kümmerte er sich auch nicht. Ein einziges Mal war er in den letzten Monaten bei ihr in der Klinik gewesen. Um ihn, seinen Vater, kümmerte er sich auch weiter nicht. Das einzige längere und emotionsgeladene Gespräch ging um Geld.
Arne war der Meinung, das ihm sein Erbteil durch den Tod seiner Mutter zustehen würde. Haus und Inventar waren schließlich abgebrannt und die Versicherung würde eine schöne Stange Geld zahlen. Römer war entsetzt über den kalten Materialismus seines Sohnes. Zu dem Zeitpunkt des Gespräches hatte er noch nicht einmal alle Formalien erledigt um die Versicherungssumme zu bekommen. Er hatte andere und wichtigere Sorgen, als Geld.
Als Römer seinem Sohn sagte, dass er beabsichtige alles Geld in Svenjas Heilung stecken zu wollen, war der Streit eskaliert, weil Arne auf seinen Anteil pochte. Er war der Meinung, dass die Krankenkasse für die Heilung seiner Schwester zuständig sei. Sollte er, sein Vater, da auch noch privat Geld investieren, so könne er das gerne tun, aber dann von seinem eigenen Anteil. Römer war sprachlos und entsetzt gewesen, wie berechnend und kalt sein Sohn war.
„Und so was wird demnächst als Sozialpädagoge auf die Menschheit losgelassen“, fuhr es ihm schmerzhaft durch den Kopf, er hatte nicht nur seine geliebte Frau verloren, sondern dem Anschein nach auch seinen Sohn.
Im Streit trennten sie sich.
Wenige Tage danach war Römer zum Notar gegangen. Sie hatten ein Testament hinterlegt. Sybille hatte es so gewollt.
„Damit ist dann alles ordentlich geregelt“, hatte sie damals gesagt. Römer hatte zugestimmt, obwohl es ihm herzlich egal gewesen war. Der Notar klärte Römer auf, dass sie ein sogenanntes Berliner Testament gemacht hatten. Laut diesem ist der überlebende Partner alleiniger Erbe. Gedacht war die Variante, dass der verbliebene Partner nicht das eigene Haus verlassen und verkaufen muss um die erbberechtigten Kinder auszahlen zu können. Römer war überrascht gewesen, was er da unterschrieben hatte.
Wäre der Eklat mit seinem Sohn nicht gewesen, er hätte ihm natürlich auch einen Teil des Geldes gegeben, aber jetzt eröffnete er auf den Namen seiner Tochter ein Konto, damit alles darauf fließen konnte.
Die Reaktion von Arne, als dieser von dem Testament erfuhr, war der endgültige Bruch des Vater-Sohn Verhältnisses.
Auch wenn Römer das immer lapidar abtat, so wusste Beate doch, das Römer darunter litt. Er hatte wirklich seine ganze Familie verloren.
„Stimmt, ich habe Arne vergessen in der Aufzählung, aber die Botschaft ist die gleiche. Mensch Henning, ich will nicht so einen blöden Spruch, wie „das Leben geht weiter“ anbringen, aber wenn du in deiner Trauer um Sybille und auch Arne versacken willst, dann reißt du Svenja auch mit. Du gehst mehrmals die Woche zu ihr. Du bist ihr einziger Halt. Vielleicht bist du auch der einzige, der ihr aus ihrer Isolation helfen kann. Du lässt dir die Extrabehandlungen in Bonnies Ranch einiges Kosten. Was soll denn daraus werden, wenn du aufhörst zu arbeiten und dich dem Suff hingibst. Wie lange hältst du dieses Leben durch. Und dann lebst du letztendlich von ihrem Geld, welches sie für ihre Behandlungen vielleicht noch bitter nötig hat. Oder glaubst, dass du dann als versoffener Philipp Marlowe für Arme in einem zugerauchten Büro nur den Schlapphut aufsetzen musst um die dicken Aufträge zu bekommen? Wenn du für dich schon den Arsch nicht hochbekommst, dann wenigstens für deine Tochter.“
Römer musste schlucken. Beate hatte ihn an seinem einzigen wirklich wunden Punkt erwischt. Und sie hatte vollkommen Recht, mit dem was sie sagte. Das ärgerte ihn nicht nur ein bisschen.
Beate sah den leichten Groll in Römers Gesicht aufziehen.
„Oh, der Herr hat ja auch Gefühle jenseits von Leid“, sagte sie und grinste dabei Römer breit an. Jetzt stahl sich auch in Römers Gesicht der Ansatz eines Lächelns. Es war schon immer eine Stärke von Beate gewesen ihn aus manch finsterer Stimmung mit ihrem heiteren Wesen herauszuholen. Er rang sich auch ein wenig Bewunderung ab, dass sie es auch jetzt, wo sie eigene Probleme hatte, schaffte ihn nach Monaten das erste Lächeln abzutrotzen.
Er wurde wieder ernst.
„Hör zu Beate, rein vom Ratio hast du Recht. Alle Argumente gegen das, was du mir gerade gesagt hast sind nicht nur fade, sondern fadenscheinig. Aber es gibt eben auch noch das andere und das sitzt ganz tief drinnen und raubt mir den Atem. Ich bin so mit mir beschäftigt, das da kein Platz mehr für das Leben draußen da ist.“
Beate nickte verstehend.
„Ich weiß und ich erwarte jetzt auch kein Wunder. Wichtig ist doch erstmals, dass du akzeptierst, dass etwas geschehen muss. Das ist der erste Schritt. Ich bin dir gerne behilflich dabei auch den zweiten Schritt zu versuchen, wirklich etwas zu verändern. Aber du musst das wollen.“
„Wollen ist die eine Sache“, entgegnete Römer, „aber können?“
„Auch wenn es natürlich nicht ewig gehen kann, aber Zeit hast du. Nicht nur wir in der Abteilung auch Nierstein trägt das mit und solange der Leiter des Kommissariats hinter dir steht bist du auf der sicheren Seite, aber du weißt, dass die ganzen bevorstehenden Umstrukturierungen bei der Polizei auch neue Leute bedeutet. Vielleicht wird auch Nierstein ausgetauscht und dann könnte es eng werden.
In deiner derzeitigen Verfassung würde jeder Amtsarzt dich freistellen. Ansonsten sehe ich keinen Zeitdruck, jedenfalls nicht von meiner Seite. Es hat ja auch über zwei Monate gedauert, bis wir jetzt zum ersten Mal miteinander sprechen. Mir ist nur wichtig, dass ich sehe die Richtung stimmt und du arbeitest an dir.“ Beate griff über den Tisch nach Römers Hand und hielt sie, derweil sie ihm fest in die Augen sah.
Die Kellnerin nahm die anscheinende Wiedervereinigung dieses ungleichen Paares mit Kopfschütteln zur Kenntnis.
„Und jetzt lass uns nicht mehr über unsere Dramen reden, sondern den Abend genießen.“ Damit bestellte Beate noch zwei Bier.
„Wie war das mit Nierstein“, wollte Römer wissen, der neugierig geworden war, „der geht weg?“
„So habe ich das nicht gesagt. Er hat so was mal angedeutet, dass es bei den ganzen geplanten Veränderungen sein könnte. Also nichts Definitives. Ich glaube er befürchtet es eher, als das er es weiß. Niemand weiß ja wirklich genaueres über die Planungen.“
Römer fand den Gedanken nicht erquickend. Ihm waren Veränderungen grundsätzlich zuwider. Den Umzug des Kommissariats von Tempelhof in den Wedding hatte er von der Klinik aus beobachtet. Die Planungen waren schon seit dem Frühjahr gelaufen und der tiefere Sinn des Umzuges hatte sich keinem der Beteiligten erschlossen. Über personelle Veränderungen der Führungsebene schwirrten zwar seit längerem Gerüchte durch die Büros, aber Römer war jetzt bei dem Gedanken entsetzt, dass Nierstein gehen könnte. Sie waren nicht wirklich befreundet, aber sie hatten sich schon in jungen Jahren auf der Polizeischule kennengelernt und ihre Wege hatte sich seitdem immer mal wieder gekreuzt bis Nierstein vor fünf Jahren die Leitung des Kommissariats übernommen hatte. Seitdem arbeiteten sie eng zusammen und hatten lockeren privaten Kontakt. Römer grauste bei dem Gedanken, dass auf dem Chefsessel irgendein technokratischer Schnösel Platz nehmen könnte.
Römer war klar, dass sein Verbleib im Dienst bei einem Personalwechsel endlich sein würde. Sehr endlich.
„Na ja, warten wir mal ab, was noch alles passiert“, versuchte er sich selbst zu beruhigen, was ihm nicht wirklich gelang.
„Mein Bauch sagt mir: Nichts Gutes“, entgegnete Beate, was nicht zur Beruhigung Römers beitrug. In vielen Fällen die sie bearbeitet hatten, hatte Beates untrügliches Bauchgefühl zur Lösung geführt.
„Sie liegt verdammt oft richtig“, fuhr es Römer durch den Kopf. Diesmal konnte er dieser Begabung von Beates Bauch nichts
Positives abgewinnen.
„Ach, da fällt mir ein, Paulsen hat vorhin angerufen, du möchtest ihn bitte zurückrufen. Es klang dringend“, wechselte Beate schnell das Thema. Sie hatte das Gefühl Römer ein klein wenig aus seinem Loch geholt zu haben, da wollte sie ihn mit blöden Personalien nicht wieder reinschubsen.
„Aha“, entfuhr es Römer. Er hatte gerade, was Paulsen betraf, ein zwiespältiges Gefühl.
Paulsen hatte er vor vielen Jahren kennen gelernt. Er war Römers Ausbildungsleiter. Nach der Ausbildung blieb der Kontakt bestehen und Paulsen wurde so etwas wie ein Mentor für Römer. Manchmal auch ein Beichtvater. Es gab zwischen ihnen eine große Vertrautheit und doch auch eine klare Distanz. Das lag daran, dass Römer sich unter Paulsen einordnete. Es begann als Schüler-Lehrer Kontakt und wurde so etwas wie ein Vater-Sohn Verhältnis. In der Öffentlichkeit wahrten sie immer eine gewisse Distanz und siezten sich, wenn fremde zugegen waren. Waren sie alleine gingen sie zum Du über.
Selten hatte Paulsen sie privat mit seiner Frau auch besucht und auch freundschaftlichen Kontakt zu Sybille gehabt. Selten, weil Paulsen sehr beschäftigt war. Nach Jahren im Polizeidienst hatte er sich der Politik verschrieben und war im Sommer, in einem Alter, wo andere in Rente gehen, als Abgeordneter in den Senat eingezogen.
Seit den dramatischen Stunden hatte Römer keinen Kontakt zu Paulsen gehabt. Er sei auf Kur hatte Römer gehört. Auch nach den vier Wochen, die eine Kur normalerweise dauert, hatte sich Paulsen nicht bei Römer gemeldet, was dieser mit Wehmut, Unverständnis und Enttäuschung zur Kenntnis nahm. Irgendwie hatte er von Paulsen ein anderes Verhalten erwartet.
„Ich ruf mal an“, war seine vage Reaktion.
„Es hat sich wirklich dringend angehört“, sagte Beate. „Ich weiß, dass du enttäuscht bist, dass er sich bisher nicht gemeldet hat, aber schmolle jetzt nicht und schieb´ das nicht auf die lange Bank. Er hat bestimmt gute Gründe dafür. Es gibt wenig Menschen zu denen ich ein uneingeschränktes Vertrauen habe. Paulsen ist einer davon, auch wenn ich kaum mehr als zwanzig Sätze mit ihm gewechselt habe.“
„Ich ruf ihn nachher an“, versprach Römer.
Die nächste halbe Stunde füllten sie mit oberflächlichen Geplauder, wobei beide erfolgreich bemüht waren kein kritisches Thema anzuschneiden.
Um kurz vor acht verließen sie den Deichgrafen und Beate ließ es sich nicht nehmen, trotz seiner Proteste, Römer mit ihrem Auto bis vor seine Haustür zu fahren.
Er lief gedankenverloren über den Hof in den Seitenflügel und stieg die drei Treppen bis zu seiner Wohnung hoch. Draußen war es unangenehm nasskalt, im Flur schlug ihm trockene, lauwarme Luft entgegen.
Er hatte, bevor er gegangen war, die Elektroheizung angeschaltet. Obwohl sie auf Hochtouren lief war es nur mäßig lau im Zimmer, das ihm als Büro, Schlaf- und Wohnzimmer diente. Er hatte zwar einen Kachelofen, aber nach drei vergeblichen Heizversuchen hatte er sich einen Radiator zugelegt.
Mit Sorge dachte er daran, wie die Raumtemperatur sein würde, wenn es draußen harten Frost geben würde. Er musste sich dringend um eine Einweisung in die Bedienung des Kachelofens kümmern.
Jedes Mal, wenn er nach Hause kam und seine Wohnung betrat konnte er seinen Abstieg vom Häuschen im Grünen in diese Bruchbude plastisch erleben. Alle guten Vorsätze, wenn er sich denn welche vorgenommen hatte, brachen spätestens beim Betreten seiner Wohnung in sich zusammen.
Auch heute zog es ihn zum Kühlschrank. Er öffnete die Tür und besah sich die Biervorräte. Dann gab er sich einen Ruck, schloss den Kühlschrank, ging zum Küchentisch und warf die Kaffeemaschine an.
Mit einer warmen Tasse Kaffee begab er sich ins Wohnzimmer und setzte sich in seinen Sessel. Vor sich hatte er das Telefon gelegt. Nachdem er seine Tasse halb leer getrunken hatte griff er zum Telefon und wählte die Nummer von Paulsen. Nachdem es dreimal geläutet hatte wurde abgenommen.
„Paulsen“, meldete sich eine Stimme, die Römer kaum erkannte.
„Herbert Paulsen?“ fragte Römer unsicher.
„Hallo Henning, ja ich bin's. Bin ein bisschen erkältet. Schön, dass du so schnell anrufst. Jetzt müsste ich dir tausend Fragen zu deiner Befindlichkeit stellen, aber am Telefon halte ich das nicht für angemessen. Ich würde mich gerne mit dir treffen, wie schaut es morgen bei dir aus?“
Römer fühlte sich leicht überrumpelt, aber auch erleichtert. Er telefonierte ziemlich ungern und sehr persönliche Sachen am Telefon zu besprechen war ihm ein Gräuel.
„Ich mag jetzt am Telefon auch kein Geplauder, ich hol mal meinen Kalender“, damit legte er den Hörer auf den Tisch und begab sich zum Schreibtisch um seinen Kalender zu holen. Eigentlich war diese Aktion sinnlos, denn er hätte genauso gut auch ein leeres Blatt Papier aus dem Drucker nehmen können. Auf dem stand genauso viel, wie in seinem Terminkalender, nämlich nichts.
Wahrscheinlich lag das an der jahrzehntelangen Konditionierung, dass er bei der Terminabsprachen seinen Kalender zu Rate zog, auch wenn es nichts gab, was zu Rate gezogen werden konnte.
„Morgen geht es“, sagte er in den Hörer, „wann und wo sollen wir uns treffen?“ wollte er dann wissen.
„Ich bin morgen fast den ganzen Tag in Britz. Im Britzer Schloss soll eine Begegnungsstätte mit Kulturangeboten entstehen und allen möglichen anderen Sachen und da..., ach was rede ich da? Ist doch egal wo ich wann und warum bin, es geht um die Location unseres Treffens. Also ich schlage vor..., wann machst du eigentlich Feierabend?“ wollte Paulsen wissen. „Ach da bin ich flexibel“, antwortete Römer.
„Hab ich befürchtet“, kam es von Paulsen, „aber egal, sagen wir um 17 Uhr. In der Fullhamer Allee gibt es einen Mexikaner. Bei dem kann man lecker und günstig essen kann, z. B. argentinisches Steak. Ist das OK?“
„Ja, müsst ich schaffen“, kam zögerlich von Römer.
Als Sybille noch lebte hätte er voll Enthusiasmus zugestimmt. Sybille war im Laufe der Jahre leicht in die esoterische Ökoecke geglitten. Sie hatte begonnen immer häufiger „gesundes“ zu kochen, wie sie es nannte. Römer glaubte ihr aufs Wort, dass das was sie des Öfteren kochte sehr gesund war. Er entstammte noch der Generation die gelernt hatte, dass Medizin nicht schmecken durfte. Und so wie ihm das sogenannte gesunde Essen schmeckte musste es einfach sehr gesund sein.
Oft war er im Dienst heimlich mit Beate zu Currywurstbuden und Pizzerien gefahren und hatte dort verbotener Weise geschlemmt. Argentinisches Steak war etwas ganz verbotenes gewesen, weil es aus Sybilles Sicht nicht nur ungesund war. „Wenn du später Gicht hast, wirst du an meine Worte denken“, sagte sie dann immer. Es war auch aufgrund des langen Transportes eine ökologische Katastrophe. Jetzt, wo ihn niemand mehr reglementierte hätte er locker alles essen können, wonach sein Gaumen stand. Aber jetzt, wo Sybille tot war kam es ihm wie Verrat vor. Als sie noch lebte, war es eine lässliche Schummelei gewesen.
„Wir können auch woanders hingehen, wenn dir das lieber ist“, sagte Paulsen, der ein feines Gespür für Stimmungen hatte und Römers leichte Abwehr spürte.
„Nein, das geht in Ordnung, wirklich“, sagte Römer schnell, nachdem die Gier sein Gewissen besiegt hatte.
„Gut, dann hole ich dich am U-Bahnhof Parchimer Allee um 17 Uhr ab. Und jetzt muss ich dich leider abwürgen, ich muss noch eine Rede für morgen vorbereiten.“
Sie verabschiedeten sich und Römer legte den Hörer auf. Er blieb dösend im Sessel sitzen und trank den inzwischen kühl gewordenen Kaffee. Er schaltete noch den Fernseher an und zappte sich durch die Programme die allesamt nur Schrott ausstrahlten. Hartz vier TV war schon der angemessene Name für den billigen Reality und Doku-Show Mist.
Er döste langsam weg, raffte sich dann auf und legte sich ins Bett. Bevor er einschlief war er sogar noch ein bisschen Stolz auf sich nichts Alkoholisches mehr getrunken zu haben an diesem Abend.
Am nächsten Morgen wurde er für seine Enthaltsamkeit belohnt. Er fühlte sich nicht ganz so zerschlagen wie üblich. Im Büro war er alleine, alle waren ausgeflogen.
Es hatte mal wieder eine Schießerei unter Rockern gegeben. Hells Angels gegen Bandidos war zur Zeit ein brenzliges Thema in der Stadt. Auf der einen Seite hatte Römer noch ein romantisch verklärtes Bild der wilden Gesellen auf ihren Motorrädern. Wenn er dann in der Realität sah, wie die wilden Gesellen mit Anzug im Autokonvoi zu Gerichtsterminen erschienen war diese Romantik verflogen, dann waren diese Typen einfach nur lächerlich. Zumal sich herumgesprochen hatte, dass ein Gutteil der Rocker keinen Motorradführerschein besaß.
Im Laufe des Tages sortierte er weiter die Akten, die sich neben seinem Schreibtisch stapelten. Der Haufen, der eigentlich noch weiter bearbeitet werden musste wuchs erheblich. An einigen Fällen blieb er länger hängen. Das waren in der Regel Fälle, wo jemand seine Ehefrau durch ein Gewaltverbrechen verloren hatte. Das waren die einzigen Fälle, die sein ganz persönliches Interesse weckten.
Den Mordfall Breuninger ließ er auf seinem Schreibtisch liegen. Nach Aktenlage war die junge Frau auf dem Heimweg vom Kino abends überfallen, ausgeraubt und ermordet worden. Der Ehemann hatte ein Alibi, er hatte auf die Kinder aufgepasst. Alle in Frage kommenden Verdächtigen wurde die Unschuld attestiert. Römer fand, dass einiges nicht stimmte. In dem Resümee des ermittelnden Beamten gab es für seinen Geschmack zu viele Vermutungen. Vielen Spuren war nicht nachgegangen worden. Frau Breuninger hatte ihrem Mann gesagt, sie wolle ins Kino. Das war nach Aussagen des Mannes nichts Ungewöhnliches. Diese Aussage war nicht hinterfragt worden. Eine Kinokarte hatte man bei ihr nicht gefunden. In den in Frage kommenden Kinos war nicht nachgefragt worden.
Vielleicht war sie ja ganz woanders gewesen. Vielleicht hatte sie sich mit einem Mann getroffen. Eine Untersuchung ob sie kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte wurde nicht vorgenommen. Und, und, und. Römer fand noch eine Reihe von Ansatzpunkten, denen man hätte nachgehen müssen.
Ein zweiter Fall weckte sein Interesse. Man hatte eine Frau und ein Kind tot aufgefunden. Die Frau hatte erst das Kind getötet und dann Selbstmord begangen. So stand es im Abschlussbericht. Auch hier gab es viele Fragen die anscheinend nie gestellt worden waren. So konnte die Identität der Leichen nicht geklärt werden. Beide dunkelhäutig, wahrscheinlich aus Afrika oder Amerika. Anhand des Aussehens und eines Gentests hätte man die Herkunft deutlich eingrenzen können.
Ihm fiel eine Akte vom Vortag ein, wo es um Schleuser aus Äthiopien und Eritrea ging. Es gab hier zeitliche Übereinstimmungen beider Fälle. Dem ist nicht nachgegangen worden. Beide Fälle waren auch von verschiedenen Abteilungen bearbeitet worden.
Aus Römers Sicht rächten sich hier die derzeit moderne Dezentralisierung. Es hieß immer, durch die EDV mit ihrer Vernetzung lassen sich alle Fälle in einmaliger Art zusammentragen und verknüpfen. Das mochte ja stimmen, nur tat das leider kaum jemand. Singer hatte das getan und viel erreicht. Er legte sie beiden Akten zusammen.
Bei dem Gedanken an Singer spürte er einen Stich in der Brust. Da war sie wieder, die düstere Realität.
Bevor er wieder in seinem persönlichen Keller versank, stand er auf und ging in die Kantine. Kantine war eigentlich übertrieben. Es gab einen Aufenthaltsraum mit Automaten für Kaffee, belegten Brötchen, auch aus einem Automaten und Süßkram. Der Kaffee ging so vom Geschmack. Da hatte es in den letzten Jahren bei den Kaffeeautomaten Fortschritte gegeben. Das konnte man von den Brötchen nicht behaupten. Er hatte mal eins gezogen. Das Wort Gummi traf den Zustand nicht genau, kam ihm aber sehr nah. Deshalb begnügte er sich mit einem Kaffee und einem Schokoriegel. Viel war hier nicht los. Hin und wieder sah er ein bekanntes Gesicht, man grüßte sich, das war's.
Er blätterte leicht gelangweilt in einer Zeitung, die jemand hatte liegen lassen. Der Winter begann Einzug zu halten und bestimmte die Schlagzeilen. Es war wie jedes Jahr. Kaum flog eine Schneeflocke so vor sich hin, schon brach der Verkehr zusammen. Unfälle häuften sich. Bei dickem Schnee und Glatteis, hatte er dafür Verständnis, aber schon die kleinste Veränderung im Klima schien die Autofahrer zu überfordern.
Nach der Lektüre ging er wieder ins Büro. Das Telefon klingelte einige Male. Beate rief an, um sich nach Römers Befinden zu erkundigen. Die Frequenz seines Grummelns schien sie zu beruhigen.
Ansonsten waren es nur Anfragen oder Kurzmitteilungen aus anderen Abteilungen.
Frau Schröter, die Leiterin der Kanzlei, rief an. Römer war alles andere als begeistert. Frau Schröter war eine resolute Frau und die zickigste, die er kannte. Keiner hatte gerne Kontakt mit ihr. Die Frau hatte mehr Haare auf den Zähnen als mancher Mann im Gesicht.
Das war der einzig positive Aspekt des Umzuges von Tempelhof in den Wedding. Frau Schröter war jetzt weit weg.
Sie wollte glücklicherweise nur etwas von Beate und als sie erfuhr, dass diese nicht da war, legte sie wortlos auf, was Römer mit Freude zur Kenntnis nahm.
Am frühen Nachmittag verließ ihn seine spärliche Lust. Er schnappte sich Mantel und Schal, schrieb Beate noch eine kurze Notiz, er sei mit Paulsen verabredet und spazierte durch die nasskalten Straßen nach Hause.